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Under these Scars

Teil Vier der BtB Serie
von

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He's gone

Sittiche schnatterten über ihren Köpfen, ihre grell apfelgrünen Flügel flatterten in lebhafter Aufregung inmitten der tiefen, smaragdgrünen Baumkronen und erzeugten eine Kakophonie gellender Töne und aufgeregten Affengebrülls. Fremde Geräusche. So ganz anders als das musikalische Zwitschern von Vogelgesang zuhause. 

 

Zuhause.

 

Neji zuckte bei diesem Gedanken innerlich zusammen. Jeder Schritt, den er machte, brachte das Konoha Team weiter von dem klar umrissenen Pfad der Heimreise fort. Entgegen strikter Befehle und wider besserer Einsicht folgte er seinem Bauchgefühl – was ihn wiederrum dazu brachte, Kiba zu folgen. 

 

Was niemals besonders ermutigend ist.

 

Nach seinem Byakugan zu schließen, schien Kibas Nase sie zu einer kleinen Tempelstadt zu führen, die drei Meilen südlich von Nogusas Gästeanwesen lag. Moosüberwucherte Wegweiser säumten hin und wieder zusammen mit einem Reisenden den sich windenden Pfad. Auf der letzten Meile waren es hauptsächlich Pilger gewesen. Über die vielen Jahre hinweg hatten fromme Fußgänger die Erde zu einer harten Straße zusammengestampft und so eine Reihe rauer Wege erschaffen, die sich durch das dichte Dschungelblattwerk des Bankon-no-Kuni schlängelten.

 

„Wird wärmer“, sagte Kiba. An Nejis Seite ritt der Hundeninja auf Akamarus breitem, weißem Rücken, die Nase in die Luft gestreckt und mit bebenden Nasenflügeln. „Siehst du irgendwas?“

 

„Eine Tempelstadt, noch etwa eine Meile entfernt“, informierte Neji ihn. „Vielleicht hat Nogusa die Kinder einem Waisenhaus oder einer Tempelanlage übergeben.“

 

„Lässig. Klingt nach einem Rastplatz mit kostenlosem Essen.“ 

 

Neji schüttelte den Kopf und erntete dafür einen streitlustigen Blick. Wenn er jetzt allerdings so darüber nachdachte, dann konnte er sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Kiba hingegen hatte ohne jeden Zweifel die exakte Uhrzeit seiner letzten Mahlzeit im Kopf. 

 

Mit einem knurrenden Kichern schien Kiba seine Gedanken zu erraten. „Weißt du, ich hab immer noch vor, ein Loch in deinen Geldbeutel zu brennen. Du schuldest uns allen immer noch ein Gratisessen. Scheinbar sind nur Shikamaru und Turteltaube dafür aufgetaucht. Was für eine Schande, dass wir ihn für diesen Ritt nicht mitgenommen haben.“

 

Da Neji annahm, dass Kiba nicht Shikamaru meinte, brauchte er eine Sekunde, um die Verbindung zu diesem idiotischen Spitznamen herzustellen. „Wenn dieser ‚Ritt‘ in einem Desaster endet, dann brauchen wir Naruto bei den anderen.“

 

„Optimismus. Du strahlst ihn geradezu aus.“

 

Das einzige, was Neji momentan ausstrahlte, war Anspannung. Sie lud die Luft um ihn herum auf und war wie ein magnetisches Feld, das es irgendwie trotzdem nicht schaffte, den Hundeninja abzustoßen, sondern nur seine dummen Witze anzog. Aber für die meiste Zeit war Neji für die Ablenkung dankbar. 

 

Es hielt seinen Verstand von Shikamaru fern. 

 

Er hatte Kiba mit einer knappen und bearbeiteten Version in sein Gespräch mit dem Schattenninja eingeweiht, behielt aber den Rest der Informationen ganz nah an seine Brust gedrückt…und da saßen sie jetzt, verankert und unbeweglich in seinem schwer schlagenden Herzen. Und was am meisten wog, war die unüberbrückbare Gegensetzlichkeit dieser Situation. 

 

Sollte er etwas finden, dann könnte er Shikamaru retten. 

 

Sollte er nichts finden, dann könnte er die Mission retten. 

 

Wir stehen immer an einem Scheideweg, Shikamaru…

 

Und schon wieder drehten sich diese beiden zerbrochenen Kompasse in seinem Kopf und Herzen in entgegengesetzte Richtungen. 

 

Neben ihm trommelte Kiba mit seinen Handflächen auf seinen Schenkeln einen planlosen Rhythmus. „Augenspion-“

 

„Nein.“

 

„Schon klar. Aber du hast nunmal den Augenvorteil.“

 

Der Rest der Reise verlief in geradezu seliger Stille. Als sie sich der Tempelstadt näherten, führte sie eine flach beplankte, von Ranken überwucherte Brücke über einen grünbraunen Wasserlauf. Ein Stück weiter unten ruderten Fährmänner flache Flöße gegen die träge Strömung. 

 

Da er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, deaktivierte Neji sein Byakugan. 

 

Glücklicherweise schien ihm Akamaru ohnehin die Schau zu stehlen. Barfüßige Kinder umrundeten den riesigen Ninken wie aufgescheuchte Streuner. Sie zeigten auf ihn und giggelten, bevor sie die Hauptmarktstraße davon stoben. Aufmerksam musterte Neji alles, während sie weiter liefen und besah sich die einstöckigen, hölzernen Gebäude und verschiedenen Verkaufsstände, die dicht an dicht die Straße säumten. Händler schlenderten auf und ab, nahmen Pilgergruppen ins Visier und hofften darauf, Amulette und religiöse Kunstgegenstände zu verkaufen, während Wandermönche in meditativer Stille unter Zeltvordächern saßen. 

 

Auf dem Marktplatz musste Kiba anhalten und sich neu orientieren, wobei sich seine Nase in einer Grimasse verzog. 

 

Neji spähte zu ihm. „Problem?“

 

Der Hundeninja schluckte und fuhr sich mit seiner Zunge über das Zahnfleisch. „Bin mir nicht sicher.“

 

Neji drängte ihn nicht weiter, da er wusste, dass eine Inuzuka ‚Olfaktorische Überlastung‘ oft dazu führte, dass Kiba das schmeckte, was er roch. Und gemessen an dem Gesicht des Hundeninjas, verhieß es nichts Gutes.

 

Vermute nicht.

 

Es war schwer, das nicht zu tun, vor allem nicht angesichts des tiefen Gefühls der dunklen Vorahnung, das ihn überhaupt erst zu Kiba getrieben hatte. Als sie weiterliefen, führte sie Kibas Nase westlich der Durchgangsstraßen einen moosbewachsenen Pfad entlang, der von hunderten kleiner, buddhistischer Statuen gesäumt war; alle davon waren gleichermaßen kahlköpfige Figurinen mit winzigen, roten Lätzchen, die um ihre leblosen, grauen Nacken gebunden waren. 

 

„Gruselig“, kommentierte Kiba. 

 

„Beschützer der Kinder“, erklärte Neji, während sein Blick über die zahllosen Statuen und bis zu der gedrungenen Tempelunterkunft vor ihnen wanderte. 

 

Es roch nach Holzrauch und ein schummriger Dunst hing zwischen den dicken Würgebäumen. Ein tiefes, resonantes Skandieren schwebte von jenseits der gigantischen Sanmon Tore heraus, die zur großen Buddha-Halle führten. Es erinnerte ihn an seinen kurzen Aufenthalt in dem Tempel außerhalb von Hanegakure. 

 

Abrupt blieb Akamaru stehen und stieß ein leises, nasales Winseln aus. 

 

„Das kann nicht stimmen“, murmelte Kiba.

 

Auch Neji hörte auf zu laufen und drehte sich halb zu ihm um. „Was ist los?“

 

Aber bevor Kiba antworten konnte, zog das Geräusch von Wehklagen Nejis Blick hinüber zu den Toren, wo ein spindeldürrer Mönch in weißen Trauergewändern eine kleine Prozession aus Sargträgern und Trauernden anführte; ein älteres Ehepaar, zwei Männer und drei junge Frauen. Mehrere kleine, in weiße Laken gehüllte Särge wurden hinaus getragen. 

 

Als er Neji erblickte, blieb der Mönch stehen und seine traurigen, alten Augen hoben sich überrascht. „Bist du für die Einäscherung hier?“, fragte er und beäugte die weißen Roben des Hyūga, bevor sich sein Blick Kiba zuwandte und leicht zusammenzog, als er seine schwarze Kleidung bemerkte. 

 

Rasch hob Kiba entschuldigend die Hände. „Oh, hey, Moment mal, nein, wir sind-“

 

„Bitte verzeih uns unser Eindringen, Hōshi-san“, unterbrach Neji elegant. Sein Blick zuckte flüchtig zu der Prozession, dann zurück zu dem Mönch. „Wir waren nur auf unserem Weg zum Butsuden, um eine Spende zu tätigen.“

 

Bei diesen Worten erhellten sich die Augen des Mönchs ein wenig. Er legte seine Handflächen aneinander und verneigte sich. „Ich danke euch für euer Mitgefühl. Dürfte ich euch vielleicht stattdessen bitten, an das Hongaku-in zu spenden? Sie brauchen es dringender.“

 

Neji verneigte sich respektvoll, bevor er sich wieder aufrichtete. „Das Hongaku-in?“

 

„Nun ja…“, raunte der Mönch sanft und gestikulierte mit seinem hageren Kinn in Richtung des trauernden Paares und der kleinen Versammlung. „Einer unserer ältesten Tempelrückzugsorte, der von diesem lieben Paar geführt wird. Sie sind verzweifelt über den Verlust der Kinder, die sie in ihre Obhut genommen haben. Eure freundliche Spende würde für die rituelle Reinigung aufkommen; Amulette und Shiryo-yoke Talismane, um sie in die Fenster zu hängen. Wir können ihnen das nicht bieten. Aber sie fürchten die hungrigen Geister.“

 

„Geister?“, fragte Neji und seine Eingeweide verkrampften sich bei der Erwähnung verlorener Kinder. 

 

Der Mönch nickte. „Geradeerst gestern haben sie eine Gruppe von sechzehn Waisenkindern in ihre Obhut genommen…“ Kopfschüttelnd strich der Mönch mit dem Daumen über die Gebetsbänder, die um seine Hände gewickelt waren und seine verwitterte Stirn zog sich über seinen kleinen, dunklen Augen zu leiderfüllten Falten zusammen. „Das ältere Ehepaar behauptet, dass die Kinder besessen waren…sie haben sich gegenseitig umgebracht und ihr Hongaku-in in ein Schlachthaus verwandelt.“ Mit den Gebetsbändern berührte er seine Stirn und wisperte ein rasches Gebet. „Amida…nicht einmal unsere Sutras können für ihren Platz im Reinen Land garantieren. Aber wir werden für sie beten. Ihre Seelen liegen jetzt in Enmas Händen.“

 

Bereits vor drei Sätzen hatte Neji aufgehört zuzuhören und sein Blut verdünnte sich zu einem eiskalten Strom. „Sich gegenseitig umgebracht?“, echote er, während er zu Kiba spähte. 

 

Der Hundeninja beobachtete aufmerksam und mit verkniffener Miene die Prozession. Akamaru drehte mit eingezogener Rute rastlose Kreise um ihn herum. 

 

„So wurde es uns gesagt“, erwiderte der Mönch sanft und klang dabei qualerfüllt. „Nur ein Kind hat es überlebt…und der Junge hat bisher nur wenig gesprochen. Was er aber gesagt hat, ist nicht ermutigend für seine Seele. Ich bete, dass er zu Amida findet, bevor es zu spät ist.“

 

Für einen Moment stierte Neji blicklos vor sich hin und sprach dabei an dem Schock vorbei, der sich wie ein Knoten aus Eis in seiner Kehle verkeilte. „Der Junge…dürfte ich ihn sehen?“

 

Überrascht zog der alte Mönch sein Kinn zurück und seine Augen verengten sich abschätzend. Vielleicht war es Nejis Angebot einer Spende an den Tempelrückzugsort, die ihn rettete. Oder vielleicht handelte der Mönch auch aus Mitgefühl mit dem Kind. Was auch immer der Grund war, Nejis Bitte wurde ihm gewährt.

 

„Wirst du wirklich eine Spende tätigen?“, murmelte Kiba an seiner Seite. 

 

Neji achtete überhaupt nicht auf ihn, sondern hielt seine Aufmerksamkeit auf den Mönch gerichtet, der sie einen schmalen, steinernen Fußweg entlang führte, der sich zwischen der Haupthalle und dem Wohntrakt erstreckte. Sie folgten dem Pfad an dem Glockenturm und den Sutra-Lagern vorbei und kamen zu einer gedrungenen Hütte, die aussah, als hätte sie einst als Teehaus gedient. Anstelle der papierenen Shoji war sie mit festen Holzpaneelen restauriert worden und eine dicke Planke diente als Riegel, der die Schiebetür verbarrikadierte. 

 

Auf halbem Weg zu der Hütte blieb Akamaru wie angewurzelt stehen, setzte sich hin und weigerte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu gehen. 

 

Kiba stupste seinen Ninken ohne irgendeinen Effekt immer wieder an, ging dann in die Hocke, schlang einen Arm um den flauschigen weißen Nacken und seufzte leise. „Okay, Kumpel.“

 

Neji spähte über seine Schulter und begegnete fragend Kibas Blick. 

 

Der Hundeninja schüttelte nur den Kopf. 

 

Weiter vor ihnen zog der Mönch einen Vorhang zur Seite, der über das von Bambus vergitterte Fenster gezogen war und bedeutete Neji mit einem sanften Winken der Hand, näher zu treten. „Wir mussten ihn hier herein treiben. Niemand von uns konnte nah genug an ihn heran kommen, um ihm die Waffe abzunehmen.“

 

Waffe?

 

Den Kopf fragend schiefgelegt trat Neji näher und spähte durch die Bambusstäbe hinein. Sofort versteifte er sich und seine Haut zog sich in einem Kribbeln straff. 

 

Götter…

 

Im Zentrum des schwach beleuchteten Raumes saß ein Kind, nicht älter als acht, mit überkreuzten Beinen auf dem Tatamiboden und schaukelte in einer Lache aus Dreck und Blut vor und zurück. Ein kleiner Flintdolch klemmte zwischen seinen dünnen, zitternden Fingern und damit ritzte er tiefe Rillen in die blutigen Strohmatten, während er wieder und wieder zu sich selbst murmelte. 

 

Kiba linste über Nejis Schulter und versteifte sich ebenfalls, seine goldfleckigen Augen weiteten sich. „Scheiße, Hyūga…“

 

Völlig fassungslos schüttelte Neji den Kopf. „Ich weiß.“

 

Worte versagten. So wie Hoffnung. Sie erlosch wie ein ausgetretener Funke. Da war absolut nichts hinter den Augen dieses Kindes außer Leere. Egal für was eine Seele der Mönch betete…sie war schon sehr lange fort. Für einen kurzen Moment schloss Neji die Augen, sah noch einmal die kleinen Steingesichter hunderter lebloser Statuen, die dazu gedacht waren, Kinder zu beschützen und er fragte sich, wie ein ganzes Pantheon aus Heiligen bei einer so singulären Aufgabe versagen konnte; war es denn wirklich zu viel verlangt, dieses eine, winzige Leben zu retten?

 

Du hast kein Recht, diese Frage zu stellen.

 

Nicht nach den Befehlen, die er bei diesen Gehegen gegeben hatte. Und plötzlich, unaufhaltsam, krachte die Enormität dessen, was er befohlen hatte, schwer gegen seine Rippen. Es verwandelte seine Lungen in Säcke aus Eisen. Für einige lange Sekunden schmerzte es, zu atmen. Waren die Wände innerhalb von Wänden nicht dazu gedacht, die Schuldgefühle in Schach zu halten?

 

„Dieser Dolch“, raunte Kiba plötzlich. 

 

Neji räusperte sich. „Was?“, fragte er heiser. 

 

„Dieser Flintdolch…“ Kiba ruckte mit dem Kinn über Nejis Schulter. „Genau so einen habe ich auf der Lichtung gesehen. Er steckte im Nacken eines Kindes.“

 

Neji brauchte einen Moment, um seinen Blick von dem blutigen Gesicht und den leeren Augen des Kindes fort zu reißen. Er spähte auf das Flintmesser, sah zu, wie es das Tatami aufriss, als das Kind zustach, zerrte, zustach, zerrte, wieder und wieder…und schon wieder dieses Murmeln, nur lauter jetzt. 

 

Neji verengte die Augen zu Schlitzen und neigte sein Ohr näher an das Fenster, um besser hören zu können. Und was er hörte, ließ den Atem in seinen schmerzenden Lungen einfrieren. 

 

„Es tut mir nicht leid.“

 

~❃~

 

Die Nagu hatten ihren Kerker tief in die Erde gegraben und ein von Steinen verstärktes, unterirdisches Netzwerk ausgehöhlt, das von Tunneln und feuchten, verliesartigen Zellen mit steilen Felswänden durchzogen war. Gusseiserne Gitter dienten als Zellentüren, wobei manche von ihnen kunstvoll wie Spinnennetze und andere so schlicht wie grob übereinander gelegte Stäbe waren. 

 

Ich frage mich, ob sie ihre Gefangenen hier unten nach Rang aufteilen…Luxuszellen für die extra bösen Buben…

 

Als Passagierin in Suis Körper spähte Ino durch die goldenen Augen der Nagu und musterte den ganzen Komplex aufmerksam, während sie hinter der silberhaarigen Chizuru und den Wächtern her marschierte. 

 

GOTT sei Dank sind sie zuerst reingegangen…

 

Hätte man ihr gesagt, sie solle die Führung übernehmen, dann wäre ihre Tarnung aufgeflogen. 

 

Aber glücklicherweise war sie als letztes eingetreten und befand sich gerade ganz am Ende der Prozession, während sie ihren eigenen, schlaffen Körper in Suis Armen hielt. Weiter vor ihr hing Chōji in den Armen zweier muskelbepackter Nagu mit steinharten Köpfen, keinen Nacken und Baumstämmen als Beine. Sie konnte hören, wie die Sandalen des Akimichi über die raue, unebene Erde kratzten, als er den Weg entlang geschleppt wurde.

 

Hoffentlich hat die Wirkung der Chakrapille nachgelassen, bis er wieder aufwacht…

 

Wenn nicht, würde sie sich für eine Weile in seinem Kopf einnisten müssen. 

 

Als sie einen weiteren Gang entlang marschierten, begann sich die Dunkelheit nach und nach zu einer schwefelgelblichen Düsternis zu lichten. Öllampen glühten über ihnen in dicken, bauchigen, von Schmutz und Motten bedeckten Laternen, deren Glas vor Alter gesprungen war. Die Laternen hingen von einer Decke aus dunklen, geschwollenen Baumwurzeln, die sich die ganze Länge des Durchgangs entlang zogen wie ein Rohrsystem, wobei ein paar Ranken hinab hingen. 

 

Die Luft hier schien dichter zu sein, schwerer und leicht klaustrophobisch. 

 

Ugh. Hier unten würde ich bekloppt werden.

 

Der Gedanke daran, dass Shikamaru in einer dieser schmutzigen Felshöhlen festsaß, ließ sie erschaudern. Aber ihr blieb nicht viel Zeit, um deswegen verängstigt zu sein. Vor ihr blieb Chizuru stehen und griff in die Tasche ihres kurzen, blauen Haori. Das Rasseln von Schlüsseln erscholl und zwei Türen schwangen auf. Die Muskelzwillinge schlurften durch die erste und zogen Chōji mit sich. 

 

Schätze mal, dass ich dann wohl Nummer zwei bin…

 

Ohne auf eine Aufforderung zu warten – was vermutlich nur Verdacht erregt hätte – bewegte sich Ino auf die angrenzende Zelle zu und legte ihren schlaffen Körper vorsichtig auf die flache Pritsche, die an der Wand befestigt war. Betont tat sie so, als würde sie die Handschellen anbringen und verließ die Zelle wieder, während sie aufmerksam die Beschaffenheit davon musterte. 

 

„Wir sollten lieber Katsu informieren“, sagte Chizuru, als sie sich auf dem Absatz umwandte. 

 

So schnell sie konnte dachte Ino nach und streckte Suis langen, ebenholzfarbenen Arm aus, um Chizurus Schulter zu packen und die Nagu mitten in der Drehung anzuhalten. „Du gehst ihn suchen“, befahl Ino. „Ich will hier sein, wenn die beiden aufwachen.“

 

Schnaubend spähte Chizuru über ihre Schulter und ein schmales Schmunzeln zupfte dabei an ihren Lippen. „War klar, dass du dich sofort auf die Gelegenheit zu einer Befragung stürzt.“ Sie ließ den Schlüsselbund um ihren Finger wirbeln und schob ihn dann über Suis Handgelenk. „Hier. Mach nichts, was ich nicht auch machen würde.“

 

Ino hatte noch nie gesehen, dass Sui lächelte und so hob sie einfach nur ihre Brauen in etwas, von dem sie hoffte, dass es eine ironische Miene war. Die andere Nagu schnaubte schon wieder, während sie winkte und den Muskelzwillingen folgte. Geduldig wartete Ino darauf, dass sie die Ecke umrundeten. Dann wartete sie noch etwas länger. 

 

Zwei Minuten…

 

Drei…

 

Nicht einmal ein Echo der Schritte blieb zurück. Und trotzdem ließ sie weitere zwei Minuten verstreichen, einfach nur, um sicher zu gehen und nutzte die Zeit, um Chōji zu überwachen. Er war immer noch ausgeknockt und eng gefesselt. Das erkaufte ihr etwas Zeit bis er aufwachte. 

 

Okay, Zeit, wieder zu wechseln.

 

Rasch sperrte sie die Zelle auf, in der ihr Körper gerade lag und rollte ihre schlaffe Gestalt vorsichtig von der Pritsche und in die Ecke. Als nächstes zog sie die leogemusterten Ellbogenschoner von Suis Armen, rollte sie zu einem festen Ball zusammen und stopfte ihn sich in den Mund, um einen Knebel zu formen. Als nächstes benutzte sie die Schärpe der Nagu Butai, um sie straff um ihren geknebelten Mund und Kopf zu binden. Nachdem sie das erledigt hatte, schloss sie die Fesseln um Suis Handgelenke und Füße, warf den Schlüssel in die Ecke, lehnte sich zurück gegen die Pritsche und holte tief durch die Nase Luft. 

 

Sorry, Sui. 

 

Ino presste die Lider aufeinander und zog sich aus dem Kopf der Ninjawächterin zurück, sodass sie sich direkt wieder in ihrem eigenen Körper befand. Dunkelheit. Taubheit. Schmerz. Licht. Sie erwachte ruckartig und ihre Brust hob sich, als hätte sie die Oberfläche von tiefem Wasser durchbrochen. Glücklicherweise erlangte sie schneller wieder die Kontrolle über ihren Körper als Sui über den ihren. Bevor die Nagu auch nur registrieren konnte, dass sie gefesselt und geknebelt war, verpasste Ino ihr einen chakrageladenen Schlag. 

 

Der Hieb riss Suis Kopf nach hinten. 

 

Ihre Lichter gingen aus und blieben aus. 

 

Ino verzog das Gesicht, als sie zurück taumelte und schüttelte sich das Stechen aus ihren Knöcheln. „Sorry“, wisperte sie. Sie meinte es ernst. Wenn Sui nicht gewesen wäre, dann würde sie sich jetzt in einer Welt des Schmerzes befinden, weil Chōji sie so heftig geschlagen hatte. Rasch schnappte sich Ino die Schlüssel, formte ein Schlangensiegel, begab sich sofort in ihr sensorisches Ninjutsu und wurde beinahe von Chōjis Chakra geblendet.

 

Whoa…!

 

Die Aura des Akimichi brannte heiß und rot, während sie die Nahrungspille verstoffwechselte. Es war wie eine Sonneneruption an der Peripherie von Inos Sinnen. Blendend und ablenkend. Energisch stimmte sie ihre Sinne feiner und scannte die Umgebung über ihre Zellen hinaus, um ihren Verstand auf der Suche nach Shikamaru weiter auszustrecken. Es fühlte sich an, als würde sie einen bedeckten Himmel nach einem einzigen Stern absuchen. 

 

Und mit Sicherheit half es da auch nicht, dass Neji Shikamarus Tenketsu blockiert hatte. 

 

Komm schon, Drückeberger…wo bist du?

 

Die Suche erstreckte sich in endlose Schwärze und gerade, als sie befürchtete, dass sie vielleicht noch einmal zurück in Suis Körper springen und die Einrichtung zu Fuß absuchen müsste, sah sie es. 

 

Das leichteste Flackern…

 

Ein kämpfender Funke gegen die Finsternis…

 

Hab ich dich gefunden!

 

Rasch schätzte Ino die Richtung seines Chakras ein, kehrte zu sich selbst zurück und öffnete langsam blinzelnd die Augen, um ihre Sinne zu orientieren. Sie brauchte ein paar tief durchatmende Momente, um ihre Chakrapfade zu beruhigen und dann war sie auch schon auf den Beinen und aus Suis Zelle hinaus, die sie hinter sich absperrte, bevor sie in Chōjis hinüber eilte und neben ihm in die Hocke ging. Mit beiden Handflächen umfasste sie seinen Schädel und fing an, kuratives Chakra in seine Tenketsu zu leiten, um sein System zu stabilisieren. 

 

„Komm schon, Chōji…“

 

Ein schwaches Ächzen kündigte seine Rückkehr an. 

 

Ino rutschte ein Stück von ihm weg, da sie einen weiteren, harten Schlag in die Magengegend befürchtete. Auch wenn seine Hände gefesselt waren, würde sie die Akmichi Stärke ganz sicher nicht unterschätzen. Wahrscheinlich könnte er diese Handschellen zerbrechen, wenn er es sich wirklich in den Kopf setzte. Aber glücklicherweise war das nicht der Fall.

 

„Bin ich tot?“, stöhnte er, als seine glasigen Augen elendig zu ihr aufsahen. „Fühlt sich an, als hätte ich eine Ninja Waffentasche gegessen.“

 

Schnaubend stemmte Ino die Fäuste in die Hüften und ließ angriffslustig die Hüfte einknicken. „Ich hab dir gesagt, dass du nicht das ganze Ding essen sollst. Aber Nöööö. Du denkst, du bist so super-“

 

„Habe ich irgendjemandem wehgetan?“

 

Diese Frage schnitt ihr mitten in ihrer Schimpfkanonade das Wort ab. Sie strich sich mit den Handflächen über ihren lilanen Rock und wischte damit auch die Frage beiseite. „Nicht einmal ein blauer Fleck, Großer.“

 

Chōjis Gesicht zuckte überrascht und etwas von dem Elend bekam Risse und fiel von ihm ab. „Wirklich?“
 

Aufmunternd tätschelte Ino seine Wangen. „Wirklich. Hab dir doch gesagt, dass es funktioniert.“

 

„Uh, nein, das hast du nicht. Eigentlich hast du gesagt, dass das eine wirklich schlechte Id-“

 

„Pfft!“ Ino fuchtelte mit ihren Händen herum, um die Worte abzuweisen, bevor sie noch einmal seine Tenketsu überprüfte und bewunderte, wie schnell sie sich wieder stabilisiert hatten. „Wenn ich doch nur Kohlenhydrate so verstoffwechseln könnte wie du Chakra. Denkst du, du hast alles im Griff?“

 

Chōjis Magen gab ein langgezogenes Grummeln von sich und gurgelte in einer Symphonie hoher Noten vor sich hin. „Au, das tut weh.“

 

Während sie seinen gepanzerten Bauch tätschelte, tat Ino leise ihr Mitgefühl kund. „Ninja Waffentasche, huh? Awww. Soll ich dir noch einen heilsamen Magenaufmunterer verpassen?“

 

„Nah. Ich würde vielleicht anfangen, Kunai zu furzen.“

 

„Chōji!“ Ino rümpfte die Nase und erschauderte, wobei sie nach den Schlüsseln angelte, um seine Fesseln zu lösen. Einen nach dem anderen probierte sie aus. „Ewww. Warum musst du mir so ekelhafte Gedanken in den Kopf setzen? Du bist schlimmer als Kiba.“

 

Perplex schmunzelnd hob Chōji seine Handgelenke und krümmte die Finger. Ino versuchte den nächsten Schlüssel und grinste, als die Handschellen abfielen. Rasch packte sie seine Hände und zog ihn auf die Füße, während sie ihn gleichzeitig nach Verletzungen absuchte. 

 

„Mir geht’s gut“, versicherte er ihr, auch wenn er etwas atemlos wirkte. „Hast du Shikamaru gefunden?“

 

„Irgendwie ja. Ich weiß den Bereich, wo er festgehalten wird, aber nicht die ganz exakte Stelle.“

 

„Dann lass uns lieber mal schauen.“

 

Nickend zeigte Ino den Weg und schob sich dabei die Schlüssel über ihr Handgelenk. Sie hatte bisher keine anderen Chakrasignaturen wahrgenommen, aber das bedeutete nicht, dass hier nicht doch irgendwo irgendwelche Nagu herum lungerten. Elitewächter wussten, wie sie ihr Chakra maskieren konnten. Und wenn sie Shikamaru nicht so gut gekannt hätte, dann wäre es mit seinen lahmgelegten Tenketsu ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, ihn zu lokalisieren. 

 

Das muss doch etwas wert sein…

 

Völlig egal, was gerade mit ihm abging, er war noch nicht so weit außer Reichweite gerutscht, dass er für sie nicht mehr wahrnehmbar war. Während sie sich an diese Hoffnung klammerte, navigierte sie sich und Chōji in die Richtung, in der sie seine Signatur gespürt hatte und der Rest wurde zu einer von Chōji unterstützten, manuellen Überprüfung der Zellen.

 

Wo bist du?

 

Leere grüßte sie am Maul jeder eisenvergitterten Höhle. Die Stäbe schienen sie in einer Reihe höhnischer Zähne anzugrinsen. Ino packte das kalte Metall einer leeren Zelle und Zweifel grub sich tiefer in sie. 

 

Nein. Ich weiß, dass ich ihn gespürt habe.

 

Er konnte nirgendwo anders sein. 

 

Schatten strichen über die Wände, als sie weiter suchten, sich schneller bewegten und unterschiedliche Reihen vornahmen, als sie sich aufteilten, um ihren Suchradius auszuweiten. Sie passierten Zelle um Zelle um –

 

Ein Zwinkern von Licht…

 

Das schwache Kratzen von Metall…

 

Ruckartig blieb Ino stehen und krallte ihre Finger um die Stäbe der vorbeistreichenden Zelle, um sich einen Schritt zurück zu reißen, als sie ihr Momentum weiter tragen wollte.

 

In ihrer Panik wäre sie fast daran vorbei marschiert…

 

Hätte beinahe das Funkeln des Konoha Hitai-ate verpasst, das auf den Ärmel eines schwarzen Rollkragenoberteils genäht war…

 

Hätte beinahe die beschattete Gestalt übersehen, die sich an der hinteren Zellenwand vor und wieder zurück zerrte, sein Körper so hart gegen den groben Stein gepresst, dass das Hitai-ate Funken schlug…

 

Hätte beinahe die Laken übersehen, die von der Pritsche gerissen und auf dem Boden verstreut worden waren…

 

Getränkt von Blut…

 

Oh Gott…

 

Dieses rot auf weiß Bild schnitt sich tief in sie. 

 

Japsend packte Ino das Eisengitter zwischen kalkweißen Fingern und drückte ihr Gesicht gegen die Stäbe, während ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte. „Shikamaru…?“

 

Er hielt inne, als ihr Schatten über ihn fiel und das Licht der Laternen blockierte, das in schwachen, bernsteinfarbenen Bändern über den kalten Steinboden floss. Ein scharf eingesogener Atemzug, ansonsten keine Reaktion. 

 

Ino versuchte es noch mal mit heiserer Stimme. „Shikamaru…ich bin’s.“

 

Wie gegen seine Zellenwand festgefroren hob sich Shikamarus Kopf langsam, langsam in einer Bewegung, die seine aufgerissene Wange und aufgeplatzte Augenbraue über das raue Gestein schleifte und dabei Blut verschmierte. 

 

Fassungslos schnürte sich Inos Kehle zu und ihre Augen weiteten sich. 

 

Was auch immer sie erwartet hatte, was auch immer sie befürchtet oder gehofft hatte zu finden. Es war nicht das. Der Mut, den sie noch vor wenigen Stunden aufgebracht hatte, schien sie jetzt vollständig zu verlassen, um sie verängstigt zurückzulassen, geschockt und…

 

Shikamaru…

 

Gott. Sie war bis an die Zähne bewaffnet mit Chōji hierher gekommen, bereit dazu, Shikamaru all seine Lügen vorzuhalten, all die kleinen Ausrutscher – nur um feststellen zu müssen, dass er vielleicht bereits viel zu weit abgerutscht war. 

 

Wohin abgerutscht? WOHIN gegangen?

 

„Shikamaru…?“

 

Zusammenzuckend drückte der Schattenninja seine Schulter noch härter gegen die Wand und fing an, seine Schläfe mit einem zähnebleckenden Zischen gegen den rauen Stein zu reiben, während er seine vernarbten und blutenden Knöchel aufwärts über die Wand zerrte, immer weiter nach oben, oben, oben, riss, bis Blut nass zwischen seinen Fingern hervorsickerte. 

 

HILF IHM!

 

Angestachelt von dem heftigen BOOM ihres Herzschlages bebten Inos Hände, als sie herum fummelte, um den richtigen Schlüssel zu finden. Das Rasseln und Klirren erscholl laut und schrill in der Stille; ein harsches Klang, Klang, Klang von Metall gegen die Stäbe. 

 

Shikamaru zuckte bei dem Geräusch unkontrolliert zusammen, drückte seinen Körper fester gegen die Wand und drehte seine Stirn in den blutverschmierten Stein, wobei er gleichzeitig seine flache Hand gegen den unnachgiebigen Fels rammte. Wieder und wieder und wieder und – 

 

„Shikamaru!“ Ino zog die Tür zurück und rannte zu ihm. So laut sie sich traute wisperte sie: „Hör auf!“

 

Er hörte nicht auf.

 

Sie versuchte es noch einmal mit demselben Effekt. 

 

Er hörte sie nicht.

 

Er hörte überhaupt nichts.

 

Verzweifelt schlang Ino ihre Arme um ihn, drückte sich gegen seinen Rücken und versuchte, ihn in einer Umarmung einzusperren, die stärker war als egal welcher Terror, der ihn gepackt hatte. „Stop…“, wisperte sie mit zusammengepressten Augen und ihre Körper zuckte bei jedem Hieb seiner Handfläche gegen den Stein zusammen. „Bitte, Shikamaru…bitte…es ist okay…bitte…bitte…wir sind hier, wir haben dich gefunden…“

 

Mit einem plötzlichen Ruck hörte er auf. „Neji…“

 

Überrascht flogen Inos Augen auf und für einen Moment war sie von der abrupten Regungslosigkeit und dem Namen, den er gekrächzt hatte, völlig überrumpelt. „Neji?“, flüsterte sie.

 

Ein Schauer jagte durch ihn. Und dann etwas anderes. Eine Welle, eine Sturzflut und Ino taumelte bei der immensen Hitze beinahe nach hinten, die von seinem Körper ausgestrahlt wurde. Die Erinnerung an seinen letzten hyperthermalen Anfall kam ihr wieder in den Sinn. 

 

Shit. Mit seinen blockierten Tenketsu…ist das richtig übel…

 

Rasch zog sie sich zurück, packte seine Flakjacke und versuchte, ihn zu sich zu drehen. „Shikamaru…“

 

Beim Ruf seines Namens drehte er sich leicht und wandte sich dann den Rest des Weges in einer langsamen, benommenen Bewegung um. Die Haut an seiner Wange war aufgeplatzt, sein Kiefer zerkratzt und die Schläfe mit klebrigem Rot verkrustet. Schweiß bedeckte seine zerrissene Stirn und ein langsam brennendes Fieber erhob sich hinter seinen Augen. 

 

Heftig getroffen holte Ino scharf und wässrig Luft und hob sanft eine Hand, um sie nah vor seinem zerfetzten Gesicht schweben zu lassen. Ihre Finger zuckten bei der unfassbaren Hitze, die es ausstrahlte. „Was ist nur mit dir passiert?“

 

Er gab ihr keine Antwort, gab überhaupt keinen Hinweis, dass er sie überhaupt gehört oder gesehen hatte. Sein Atem zitterte in abgehackten Strömen und er schien auf einen Punkt hinter ihr zu stieren, seine Wimpern flatterten und sein Blick war ohne irgendeinen Fokus – diese einst so scharfen und durchdringenden Augen waren nun bar jedes Bewusstseins, von Genervtheit, von Belustigung…von irgendetwas, abgesehen von den zerplatzten Kapillaren und blutunterlaufenem Weiß…

 

Gott, es tat so weh, ihn anzuschauen…

 

Ihn anzuschauen und ihn nicht zu sehen…ihren faulen, selbstsicheren, oft genervten, üblicherweise nörgelnden und dennoch immer geerdeten Drückeberger…er war fort. Verloren hinter rotschwarzen Augen, die direkt durch sie hindurch stierten, direkt an ihr vorbei zu irgendeinem weit entfernten Ort. Und Asuma war nicht hier, um ihn von dort zurück zu holen…einem Ort, von dem sie keine Ahnung hatte, wie sie ihn erreichen sollte. 

 

Sensei, bitte…sag mir, was ich tun soll…sag mir, was ich tun soll…

 

Es kam zu ihr. Fast schon unmittelbar. Als sie ihn jetzt so anstarrte und die Blutung in seinen Augen sah, da schaltete sich ihr Medizinermodus ein und die Dringlichkeit dessen, was sie tun musste, gellte durch ihren Verstand. Sie musste seine Temperatur senken. Sein Chakra kochte in ihm, ohne, dass es abfließen konnte, da all seine Tenketsu-Punkte verstopft waren. 

 

Ich brauche Chōji…

 

Aber zuerst musste sich Shikamaru hinsetzen – weg von der Wand, an der er sich scheinbar so entschlossen aufreiben wollte. Energisch zwang sich Ino zur Ruhe und bewegte sich mit unendlicher Sorgfalt, als sie leicht mit ihren Fingern Shikamarus Haarlinie berührte und ihn mit einem sanften Funken kurativen Chakras abtupfte. „Shikamaru?“

 

Bei dem Kontakt versteifte er sich schlagartig und hob seine Hand in einem schwachen Schwung, um seine blutigen Finger um die dünnen Knochen ihrer Handgelenke zu legen. Die Hitze seiner Handfläche sägte sich geradezu durch ihre Haut. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zurückzuzucken. 

 

„Shikamaru…?“

 

Blutunterlaufene Augen wanderten in einem langsamen Driften über ihr Gesicht. Es war ein blindes Suchen nach Wiedererkennen. Und die Verletzlichkeit in seinem nassen, roten Blick traf heftiger als der Schlag von Chōji, den sie vorhin einstecken musste und raubte ihr sämtliche Luft. 

 

Sie schenkte ihm ein schwaches, zittriges Lächeln und kämpfte um Worte. „H-hey, du. Ich bin’s. Ino.“ 

 

Sein Kopf neigte sich, als sich seine Miene in dem leichtesten Zucken anspannte. „Ino…?“

 

„Ja.“ Inos Augen leuchteten auf und Atem füllte sie in einem Rauschen. „Ja. Ich bin’s.“ Langsam drehte sie ihr Handgelenk frei und griff ihn sanft an den Ellbogen. „Du musst dich hinsetzen. Kannst du dich hinsetzen?“

 

Er fiel nach unten.

 

Machte einen einzigen, bebenden Schritt und klappte zusammen und als er fiel, drehte sich sein Körper. Rasch packte Ino ihn, aber sein Gewicht zerrte sie nach unten. Gemeinsam schlugen sie auf dem Boden auf, Shikamaru prallte von dem Stein ab und zuckte, als würde man ihn Elektroschocken, sein Körper kontrahierte und verrenkte sich zu unnatürlichen und bebenden Winkeln. 

 

Krampfanfall.

 

Reflexartig ging Ino in Aktion über. Rasch sammelte sie die blutigen Laken zusammen, schob sie unter seinen hin und her schlagenden Kopf und rollte ihn auf die Seite, während sie ihren eigenen Körper zwischen seine sich windenden Gliedmaßen und die Pritsche schob. 

 

Bind ihn nicht fest. Bind ihn nicht fest.

 

Der Drang war überwältigend, aber die Furcht davor, noch mehr Verletzungen zu verursachen, war weit schlimmer als die Notwendigkeit, ihn unten und ruhig zu halten. Oder ihn einfach nur zu halten. 

 

Denk vernünftig, denk vernünftig. Person auf die Seite rollen. Kopf polstern. 

 

Ihr medizinisches Training stabilisierte die Panik. Ohne nachzudenken hatte sie bereits die ersten beiden Schritte abgeschlossen. 

 

Einschnürende Kleidung lockern. Gegenstände entfernen, die zu Verletzungen führen können. 

 

Sie versuchte, seine Flakjacke auszuziehen, aber der Winkel machte es ihr unmöglich. Alles, was sie tun konnte, war, irgendwelche Aufschläge abzufedern. Sie spreizte die Schenkel und grub ihre Knie gegen den harten Untergrund, während sie näher rutschte und die Handflächen ausgestreckt hielt, um ihn wieder auf die Seite zu rollen, wenn er drohte, auf den Rücken zu zucken. 

 

Rede mit ihm. Beruhige ihn.

 

„Ssh…ist okay…das wird wieder…du wirst wieder…“ Ino stolperte über ihre lahmen Versicherungen und suchte nach Worten, aber ihre Hände schienen bereits zu wissen, was sie tun sollten, denn ihre Fingerspitzen kneteten zaghaft durch die dunklen, spitzen Strähnen. „Du bist okay…du bist okay…“

 

Er war so weit weg von okay, dass ihr die Lüge wie eine Klinge in der Kehle stecken blieb. Unter ihren federleichten Berührungen bebte und zuckte sein Körper und die Sehnen seines Halses traten so heftig hervor, dass Ino Muster in den Venen erkennen konnte. Sie sah den Puls, Puls, Puls seines brüllenden Blutes. Raue, angestrengte Schreie kratzten in seinem Rachen. Es waren tiefe, zerfetzende Klänge, die sich hinter seinen Zähnen verfingen. Er bog seinen Nacken nach hinten und stieß in rapidem Keuchen Luft durch die Nase aus. 

 

Gott, bitte…

 

Ino biss sich so hart auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte. Völlig instinktiv und unmittelbar glühte kuratives Chakra an ihren Handflächen. Er schien es geradezu aus ihr heraus zu ziehen, aus ihr heraus zu saugen. Seine Krämpfe beruhigten sich zu ruckartigen Beben und sein Körper versteifte sich. Und sie war so vertieft in die Energie, die er aus ihr heraus zog, dass sie gar nicht bemerkte, wie das Laternenlicht draußen langsam zu flackern begann. Sie war vollkommen ahnungslos von der Veränderung in der Luft, als die Zelle immer dunkler und kälter wurde. 

 

Alles, was sie fühlte, war die Hitze, die von seiner Haut ausgestrahlt wurde. 

 

Bitte…

 

Schweiß tropfte in Strömen von Shikamarus Stirn, rann die Konturen seines Gesichtes hinab und floss über seine aufgeplatzte Wange in die hagere Mulde, schimmerte rot und nass auf den angespannten Muskeln seines Kiefers. 

 

Bitte hör auf…

 

Seine Nase fing an zu bluten.

 

Bitte…

 

Das Weiß seiner Augen wurde vollkommen rot…

 

BITTE…

 

Das grüne, kurative Glühen an Inos Handflächen erstarb flackernd; es wurde kalt und dunkel und schwarz und fest und – oh mein Gott – es packte ihre Handgelenke mit zwei schlanken Schattenranken und drückte so fest zu, dass sie sehen konnte, wie ihre Hände dunkellila anliefen. 

 

W-was?

 

Schock rauschte durch sie. Ein feiner, eisiger Regen, der als kalter Schweiß aus ihren Poren brach, während ihre Augen aus ihren Höhlen traten. 

 

D-das ist…

 

Aber bevor ihr Hirn die Unmöglichkeit von dem verarbeiten konnte, was sie hier gerade miterlebte, schossen diese Ranken vipernschnell nach vorn, um sich um ihren Hals zu legen und ihren schrillen Schrei zu einem erstickten Gurgeln zu zerschmettern. Die Wucht dieser Attacke riss sie von Shikamaru fort und warf sie nach hinten gegen die Pritsche. Wimmernd schlug Ino Halt suchend um sich und kratzte an der Schattenschlinge, die sich immer enger um ihren Hals zusammenzog. 

 

Das pisste Es ziemlich an. 

 

Es drückte noch härter zu, die Ranke holte wie ein Lasso aus und schwang sie herum. 

 

Die Welt wurde in einem Wirbel um sie herum stockdunkel und Inos Wirbelsäule krachte brutal mit einem heftigen Krack gegen die gegenüberliegende Wand. Sie wäre nach unten gefallen, wenn sich die Ranken nicht zu einer Schattenhand zusammengefügt hätten, deren schwarze Finger sie an der Kehle packten und aufrecht gegen die Wand pinnten, zudrückten…zudrückten…

 

Und Shikamaru lag einfach nur da und bebte…

 

Schrie hinter zusammengebissenen Zähnen…

 

Schatten flossen um ihn herum wie Blut…

 

SHIKAMARU!

 

 

 

 



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