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O genki desu ka?

von

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O genki desu ka

お元気ですか?

– Was ist los? –
 

Kapitel 1
 

Dezember
 

Stirnrunzelnd betrachtete ich ihn, versuchte mir meine Besorgnis gleichzeitig nicht zu sehr äußerlich anmerken zu lassen.

Er sah schlecht aus. Er war zwar immer noch ein schöner Mann, soweit ich das beurteilen konnte, und unsere Fans würden mir definitiv beipflichten, dennoch sah er für seine Verhältnisse schlecht aus. Seine Haut wirkte fahl, fast durchscheinend und glänzte, als hätte er Fieber. War er krank?

Ich unterdrückte ein Seufzen, versuchte mich auf Kyos Worte zu konzentrieren, der gerade von Sexx George mit Fragen gelöchert wurde. Doch meine Augen machten sich selbstständig und blieben schlussendlich erneut an Toshiya hängen, der neben unserem Sänger auf einem der hohen Stühle saß und schweigend der Konversation folgte. Er hatte sich verändert. Wieder einmal.

Vor vier Wochen, beim Fotoshooting für den Fanclub-Kalender, hatten die Konturen seines Gesichts schärfer als sonst gewirkt, die Wangen fast schon eingefallen. Das hatte das erste Mal bei mir eine gewisse Besorgnis erregt, die nun erneut in mir hoch flammte, als ich ihn auf meinem Bildschirm betrachtete. Heute erschien sein Gesicht leicht aufgedunsen, generell sah er einfach fertig aus. Was war da los?
 

Ich versuchte mich an unser Treffen im November zu erinnern, das war inzwischen schon über anderthalb Monate her. Wir hatten den ganzen Abend zusammen mit Shinya im Restaurant gesessen, hatten getrunken, gelacht, einfach das Gefühl des Zusammenseins, das im letzten, halben Jahr so rar geworden war, gefeiert. Damals hatte Toshiya recht normal ausgesehen oder war ich einfach blind gewesen? Blind vor Freude meine Freunde und Kollegen endlich einmal normal treffen zu können? Oder hatte er sich nur nichts anmerken lassen und es ging ihm die ganze Zeit schon nicht gut? Danach hatten wir uns nur noch bei jenem Kalender-Shooting getroffen und bei dem Talk-Event im Zepp Nagoya vor zwei Wochen. Ich hatte nichts mitbekommen, war wohl zu aufgeregt gewesen, endlich wieder auf einer Bühne zu stehen, wenn auch nicht für ein Konzert, sondern nur für eine Gesprächsrunde. Alles andere war dabei in den Hintergrund gerückt.

Und heute?

Von seiner körperlichen Verfassung konnte ich nicht sonderlich viel erkennen – das hochgeschlossene Hemd und die Lederjacke kaschierten zu sehr, die Sonnenbrille lenkte von seinem Gesicht ab. Trotzdem...
 

Statt weiter vor mich hinzugrübeln und doch keine zufriedenstellenden Antworten zu bekommen, konzentrierte ich mich auf das Interview, zauberte sogar ein professionelles Lächeln auf meine Lippen, als George einige Worte an mich richtete. Ich konnte stolz auf mich sein. Denn anscheinend hatte mein Hirn wenigstens so weit dem Gespräch folgen können, dass ich angemessen reagieren konnte, obwohl ich vollkommen in der Betrachtung meines Bandkollegens versunken gewesen war. Vermutlich hätte ich einen besseren Eindruck von Toshiya gewinnen können, wenn ich ebenfalls vor Ort im Studio gewesen wäre, aber es hatte nicht sollen sein.

Dieses Livestream-Talk-Event für die Fans, passend zum Jahreswechsel, musste leider ohne mich stattfinden, denn blöderweise hatte der Besuch meiner Familie am vergangenen Wochenende zur Folge gehabt, dass ich in Quarantäne musste und nun zu Hause bleiben durfte. Auch wenn es mir soweit gut ging, aber Leichtsinn wurde nun mal bestraft, besonders in diesen Zeiten – das sah ich ein und würde definitiv daraus lernen. Aus diesem Grund begleitete ich das Interview von meinem Sofa aus, per Liveschaltung, während meine Bandkollegen gemeinsam im Studio saßen. Ich ärgerte mich über mich selbst, ich hätte sie wirklich gerne alle wiedergesehen und das nicht nur über den Bildschirm meines Laptops, aber nun gut, es war nicht zu ändern. Dafür hatte ich nun die Möglichkeit, sie genauer zu betrachten und mir ein ausführliches Bild davon zu machen, wie es ihnen aktuell ging.

Dem ersten Eindruck zufolge schienen sie die allgemeine Zwangspause bisher ganz gut gemeistert zu haben. Shinya war wie immer die Ruhe selbst und wirkte zwischen Kyo und Kaoru in seinem eleganten Mantel, als wäre er gerade frisch von einem Modeshooting ins Studio geschwebt. Ein Schmunzeln huschte über meine Lippen. Es passte zu ihm.

Kaoru neben ihm fühlte sich anscheinend in seiner Rolle als Leader pudelwohl. Entspannt thronte er in legeren Klamotten auf dem Stuhl, verfolgte alles mit Argusaugen und hielt auf charmante Weise wie immer die Fäden in der Hand.

Kyos Haare hatten seit unserem letzten Treffen überraschenderweise einmal nicht ihre Farbe gewechselt. Sie waren immer noch giftig grün und es juckte mir in den Fingern, beim nächsten Mal zu testen, ob sie unbeeindruckt weiter leuchteten, wenn man das Licht ausschaltete.

Allesamt sahen sie gut und entspannt aus, immer wieder erhellte ein Lächeln ihre Gesichter, wobei ich das bei Shinya mit seiner Maske nur vermuten konnte. Aber so wie sich seine Augen ab und zu verengten, war ich mir sicher, dass auch er lächelte und sich wohlfühlte. Allen ging es gut – bis auf Toshiya.

Abermals wanderte mein Blick zu ihm. Seine Schultern, verborgen unter der braunen Jacke, wirkten angespannt, seine Haltung verkrampft. Die Augen wurden von einer für seine Verhältnisse übergroßen Sonnenbrille verdeckt, doch ich war mir sicher, dass die Schatten unter ihnen ungewohnt dunkel waren. Was war mit ihm los?
 

Das Interview plätscherte vor sich hin. Wir waren alle überraschend gesprächig, vermutlich war es der relativ langen Zeit zu Hause geschuldet, dass wir alle aktuell einen gewissen Redebedarf hatten. Wer konnte es uns schon verübeln? Im Allgemeinen wurden wir oft als recht unsoziale Band verschrien. Jeder von uns war auf seine Art ein Eigenbrötler – der eine mehr, der andere weniger. Doch wir hatten aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und wussten mittlerweile, wie wir die anderen zu nehmen hatten, ohne aneinander zu geraten. Auch wenn es für Außenstehende nicht so aussah, wir standen uns inzwischen auf unsere eben unsoziale Weise näher denn je. Das hätte ich vor einigen Jahren definitiv noch nicht behaupten können, aber irgendwie hatten wir es geschafft nach diversen Streitereien enger zusammenzurücken.
 

Umso mehr besorgte mich Toshiyas Zustand. Unser Bassist hatte auf mich bisher meist wie das blühende Leben gewirkt, mal abgesehen von seiner Dauermüdigkeit. Gut, wenn ich an unseren gemeinsamen Livestream im Mai zurückdachte, da war er etwas neben der Spur gewesen, hatte sich nebenbei ein, zwei Bierchen mehr gegönnt, als es für ein Interview gut war. Dennoch hatten wir Spaß gehabt, viel geredet. Und hey, jeder durfte sich mal betrinken, auch wenn der Zeitpunkt vielleicht nicht unbedingt optimal gewählt gewesen war. Die Fans hatte es gefreut.

Und jetzt? Toshiya war für seine Verhältnisse sehr schweigsam, in sich gekehrt, obwohl er dennoch ab und zu ein kleines Lächeln zur Schau stellte. Zum wiederholten Mal beobachtete ich, wie er das Gesicht verzog und sich über die Stirn rieb, als hätte er Kopfschmerzen. Hatte er einen Kater oder doch nur eine Erkältung? War in den letzten Tagen etwas passiert, dass ihn aus der Bahn geworfen hatte?

Vielleicht sollte ich ihn später mal anrufen – wenigstens um zum neuen Jahr zu gratulieren.
 

*
 

Januar
 

Ich hatte ihn nicht angerufen. Warum, konnte ich nicht sagen, aber irgendwie war es mir nach Beendigung unseres Interviews nicht mehr als passend erschienen. Wir hatten ja zuvor erst geredet, es wäre sicher seltsam gewesen, wenn ich gleich darauf mit ihm telefoniert hätte. Außerdem: Womöglich hatte ich vollkommen überreagiert und Dinge gesehen, die überhaupt nicht da waren. Jeder hatte mal einen schlechten Tag. Aber dafür hatte ich eine kurze Line-Nachricht an Toshiya geschickt, mit allgemeinen Neujahrsgrüßen und anderem Geplänkel. Und natürlich auch mit der Frage, wie es ihm ging. Sein »Gut. Wie immer :)« war nichtssagend standardmäßig, aber wirklich glauben konnte ich ihm nicht.
 

Heute war der erste Tag, an dem ich meine vier Wände wieder verlassen durfte und natürlich musste sich der Winter genau jetzt von seiner unangenehmsten Seite zeigen. Das, was er in den letzten Wochen nicht geschafft hatte, holte er nun im Januar nach: nasskaltes Matschwetter, Regen und Schnee wechselten sich stündlich ab, gleichzeitig pfiff ein eisiger Wind durch die Straßen.

Glücklicherweise war das Izakaya gut beheizt. Vor den Fenstern war es inzwischen dunkel geworden, sodass wir von dem Geschehen draußen nichts mitbekamen. Da die Restaurants aktuell nur mit Sonderauflagen öffnen durften, war kaum etwas los. Dennoch hatten sich Kyo, Toshiya und ich in eine der hinteren Ecken verzogen, um nicht direkt auf dem Präsentierteller zu sitzen, sollten weitere Gäste kommen.
 

Nachdenklich nahm ich einen Schluck aus meinem Bierglas, nicht ohne meine beiden Bandkollegen, die mir gegenüber saßen und über irgendeinen Film diskutierten, aus den Augen zu lassen. Ich hatte nicht zugehört, zu sehr war ich damit beschäftigt, mein geheimes Sorgenkind zu mustern. Doch anscheinend machte ich mir umsonst Gedanken. Er sah besser aus. Zwar weiterhin mit dunklen Schatten um die Augen, aber nicht mehr so fertig wie vor zwei Wochen. Vielleicht hatte ich mich wirklich getäuscht.

„Willst du auch noch eins?“

Ertappt schreckte ich aus meiner Betrachtung hoch und starrte direkt in Kyos fragendes Gesicht. Es dauerte einige Sekunden bis ich begriff, dass er die nächste Getränkerunde aufgeben wollte. Ohne es zu registrieren, war mein Bier verblüffend schnell zur Neige gegangen und allmählich merkte ich das auch. Mein Körper fühlte sich seltsam weich an.

„Nein, danke. Ich nehm erst einmal ein Wasser“, lehnte ich schmunzelnd ab. Man musste ja nicht gleich übertreiben.

Toshiya lachte auf, während Kyo schulterzuckend der Angestellten ein Zeichen gab.

„Mensch, Die, machst du schon schlapp oder was?“

„Nein, nein, aber ich muss erstmal etwas essen.“

Wie zur Bestätigung gab mein Magen ein lautes Grummeln von sich, was Toshiya erneut zum Lachen brachte. Verdammt, was hatte er für gute Ohren?

Leise kichernd leerte er sein Glas, ehe er das nächste in Empfang nahm. Unwillkürlich fragte ich mich, sein wievieltes das jetzt gewesen war, ich hatte nicht aufgepasst. So wie seine Augen glänzten und die Wangen von einer leichten Röte überzogen wurden, vermutlich nicht erst das zweite. Doch ich schob den Gedanken beiseite.

War das heute nicht egal? Schließlich stießen wir darauf an, dass meine Quarantäne zu Ende war. Sei's ihm gegönnt.
 

*
 

Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte ich mich auf der Sitzbank zurück und schloss für einen Moment die Augen. Ich war pappsatt, mir war warm und in meinem Kopf machte sich ein leicht schwummriger Nebel breit. Ich hatte definitiv zu viel getrunken, dafür dass ich zu spät angefangen hatte, zu essen. Selbst Schuld. Aber es war lecker gewesen. Sehr sogar.

Ein sanfter Tritt gegen mein Schienbein holte mich aus meinem Dämmerzustand zurück, gleich darauf begegnete ich Kyos schiefem Grinsen.

„Nicht einpennen. Ich schlepp dich nicht nach Hause.“

Er klang auch nicht mehr ganz nüchtern.

„Nein, nein. Bin grad nur kurz dem Fresskoma erlegen.“

„Also hatte ich recht mit meiner Empfehlung?“

Er deutete mit dem Kinn auf meinen Teller.

„Ja, absolut. Ich glaube, ich werde nie wieder auf Fertiggerichte zurückgreifen können.“

Die hatten mich zwei Wochen lang über Wasser gehalten.

„Du könntest einfach mal lernen zu kochen. Dann würde selbst aus dem Fertigfraß noch etwas rauszuholen sein“, bemerkte Kyo trocken, ein kleines Schmunzeln saß ihm dennoch im Mundwinkel. Wenn es um Essen ging, konnte man Kyo definitiv als Gourmet bezeichnen und Fertiggerichte kamen ihm schon seit Jahren nicht mehr ins Haus. Ich musste zu meiner Schande gestehen, dass ich, was Kochen anging, zur Faulheit neigte und lieber essen ging, als mich selbst an den Herd zu stellen.

„Du kannst ja bei Kyo in Nachhilfe gehen.“

Toshiyas Lachen war schon seit einer geraumen Weile zu einem dauerhaften Kichern geworden, auch sein Blick wirkte ähnlich verschwommen, wie sich mein Kopf anfühlte.

„Ach, tu doch nicht so, als wärst du so gut darin.“

Mehr als ein lautes Lachen bekam ich nicht zur Antwort.
 

*
 

Das Arbeitsleben hatte uns wieder. Zum Glück. Auch, wenn sich einiges verändert hatte. Während der Aufnahmen zur neuen Single arbeiteten wir selten alle gleichzeitig im Studio, auch von unserer Crew waren nur wenige vor Ort. Es war ein komisches Gefühl, aber es ging voran und mittlerweile harmonierten wir nach all den Proben wieder perfekt zusammen. Beinahe bekam ich das Gefühl, dass es nie anders gewesen sei. Es waren noch knapp zweieinhalb Monate bis zur Veröffentlichung von »Oboro« und wir hatten genug zu tun. Endlich flogen die Tage wieder nur so dahin.

Klar, waren wir auch während des letzten dreiviertel Jahrs nicht komplett untätig gewesen, alles war im Hintergrund irgendwie weitergelaufen, aber es war nicht dasselbe und die meiste Zeit hatten wir dann doch mit Nichtstun verbracht. Außerdem war da diese Ungewissheit, wie es überhaupt weitergehen sollte. Ab wann durften wir Konzerte spielen? Neue Musik veröffentlichen? Generell mit den Fans interagieren und in unser altes Arbeitsleben zurückkehren? Wenigstens erstens und zweitens hatten sich geklärt.

Zur neuen Single gab es neben dem Musikvideo, das wir bereits abgedreht hatten, noch ein Konzert auf DVD dazu. Das erste seit Ende März. Fast ein ganzes Jahr ohne richtige Auftritte – etwas, das ich bisher für unmöglich gehalten hatte und nun zur Realität geworden war. Aber wir würden es schon schaffen, wir hatten schon ganz andere Sachen gemeistert. Zwar war das jetzige Konzert leider wieder ohne Publikum, aber immerhin durften wir gemeinsam auf der Bühne stehen. Und das war Motivation genug, sich in die Arbeit zu stürzen. Außerdem würden zeitnah weitere Konzertfilme folgen.
 

Je mehr Zeit ich nun wieder mit der Band verbrachte, desto öfter erwischte ich mich dabei, wie ich unbewusst ins Grübeln geriet. Egal, was ich tat, meine Augen schienen Toshiya regelrecht zu verfolgen, jede kleine Veränderung an ihm aufspüren zu wollen. Körperlich wirkte er fitter – die zu scharfen Wangenknochen und kantigen Gesichtszüge vom Spätherbst wirkten normaler, auch wenn er immer noch deutlich schlanker als zuvor war und phasenweise sehr angespannt und neben der Spur schien. Besonders nach Tagen, an denen wir einmal nicht bis spät abends zusammengehockt hatten, sondern früher gegangen waren. Was trieb er zu Hause? Wie ging es ihm wirklich? Denn mehr als die übliche Standardantwort erhielt ich nie von ihm, wenn ich ihn fragte.
 

„Was ist los, Die?“

Erschrocken fuhr ich zusammen, hätte beinahe mein Wasserglas fallen lassen, als ich plötzlich Toshiyas fragendem Blick begegnete. Mist, hatte ich ihn schon wieder angestarrt, ohne es zu merken?

Bevor ich mir eine passende Antwort zurechtlegen konnte, war er bereits quer durch den Proberaum gegangen und setzte sich zu mir auf das Sofa. Stirnrunzelnd sah er mich an, schien regelrecht in meinen Kopf sehen zu wollen, so intensiv wie er mich musterte.

Schnell sah ich mich um, doch wir waren im Moment fast alleine, die anderen waren während der Pause hinausgegangen. Nur Shinya saß in der Ecke an seinem Schlagzeug und telefonierte leise.

„Du bist heute irgendwie komisch. Bist du krank?“

Das könnte ich ihn ebenso fragen. Tat ich aber nicht, sondern nahm dafür lieber einen großen Schluck aus meinem Glas, um etwas Zeit zu schinden. Außer einem vielsagenden „Nichts. Alles gut.“ fiel mir keine kreativere Antwort ein. Es war deutlich, dass Toshiya mir nicht glaubte. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Ich war gerade nicht viel besser als er, rückte ebenfalls nicht mit der Sprache raus, was mir durch den Kopf ging.

Stattdessen fragte ich: „Und wie geht's dir?“

Die Falte verschwand, dafür wanderten die Augenbrauen verwundert nach oben. Ja, es mochte vielleicht etwas seltsam anmuten, wie wir hier Smalltalk führten. Gut, Smalltalk war etwas übertrieben, aber hey, ich durfte mich ja wohl noch nach dem Befinden meines langjährigen Bandkollegen erkundigen, oder nicht?

Nach einigen Sekunden des Schweigens hatte Toshiya anscheinend seine Irritation überwunden, sein Blick wurde noch ein wenig forschender.

„Sag mal, Die, geht's dir gut? Du bist heut so anders. Starrst Löcher in die Luft und als wirklich geistig anwesend kann man dich auch nicht bezeichnen.“

Jetzt war ich es, der seine Augenbrauen nicht unter Kontrolle hatte. Was sollte das denn heißen?

„Ich bin geistig anwesend und ja, mir geht's gut.“

Da machte ich mir Sorgen um ihn und dann das.

Dass ich etwas zu schnippisch geantwortet hatte, wurde mir in dem Augenblick klar, als ich es bereits ausgesprochen hatte. Die Lippen zusammengepresst, rutschte er ein wenig zur Seite.

Shit, so hatte ich das nicht gemeint. Er war doch derjenige, um den man sich Sorgen machen musste. Wieso kümmerte er sich dann um mich statt um sich selbst?

Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare und seufzte. „Tut mir leid. Ist wohl heute nicht ganz mein Tag.“

Er nickte, kurz darauf huschte schon wieder das typische Schmunzeln über sein Gesicht.

„Hab ich gemerkt.“

„Hm. Entschuldige.“ Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, ehe ich auf meine Frage zurückkam. „Und wie geht's dir?“

Einige Herzschläge lang sah er mich an – einfach nur schweigend, das Schmunzeln war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Keine Regung bewegte sein Gesicht, selbst der letzte Rest des Schalks, der sonst in seinen Augen wohnte, war weg. Da war nichts. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Stille und seine Reaktionslosigkeit verunsicherten mich.

War ich zu weit gegangen? War er jetzt doch sauer? Aber weswegen?

Gerade als ich mich erneut entschuldigen wollte, unterbrach er den Blickkontakt und stand auf, um zu seinem Bass zu gehen. Perplex saß ich da, wollte ihn zurückrufen, da drehte er sich noch einmal zu mir um. Da war es. Ein Lächeln. Eher matt, kaum erkennbar. Es erreichte seine Augen nicht. Mit einem Mal wirkte er so unglaublich müde.

„Mir geht's soweit gut, Die. Danke, dass du gefragt hast.“
 

*
 

Anfang Februar
 

Gebannt verfolgte ich das Interview auf dem Bildschirm, lauschte Joes Fragen und wartete ungeduldig auf Toshiyas Antworten. Mittlerweile lief der Stream schon über eine halbe Stunde und eigentlich hatte ich nur flüchtig reinklicken wollen, doch irgendwie war ich hängengeblieben und hatte jetzt sogar für den exklusiven Member-Teil bezahlt, der im Anschluss an den öffentlichen Part folgte. Innerlich konnte ich nur über mich selbst den Kopf schütteln. Wurde ich zum Stalker? Nein, eigentlich nicht. Vielmehr war meine Sorge um Toshiya in den letzten Wochen nicht weniger geworden. Es war ein ständiges Auf und Ab und nun, da wir uns wieder öfter sahen, war auch nicht zu leugnen, dass er sich verändert hatte. Ebenso wenig, dass es bei ihm wohl abends nicht immer nur bei einem kleinen Bier blieb. Warum sagte er nicht einfach, was mit ihm los war?
 

Heute war anscheinend ein guter Tag, auf den ersten Blick wirkte er normal und fit. Das helle Hemd, frisch aus seiner neusten Kollektion, schmiegte sich leicht an den Oberkörper und zeigte, dass er anscheinend kurzzeitig ein wenig zum Muskeltraining zurückgekehrt war – wenn auch nur von zu Hause aus und nicht in dem Maße wie früher. Aber es bekam ihm gut, was mich definitiv erleichterte. Nur das Gesicht verbarg er wie üblich hinter einer Sonnenbrille und in diesem Punkt musste ich den Fans, die den Livestream parallel kommentierten, beipflichten: Toshiya, setz deine Sonnenbrille ab. Wir wollen dein Gesicht sehen!

Eigentlich hatte ich gar nicht das Recht mich zu beschweren, da ich inzwischen ohne meine geliebten Sonnenbrillen kaum noch in der Öffentlichkeit anzutreffen war. Vielleicht sollte ich demnächst mal darauf verzichten, denn so wie ich es jetzt von der Zuschauerseite sah, war es wirklich schade, dass die Hälfte des Gesichts dahinter verschwand. Aber gut… bis zum nächsten Interview konnte ich ja das Ganze nochmal überdenken. Ich liebte meine Brillen einfach zu sehr.

In mir stieg ein seltsames Gefühl auf, als ich verfolgte, wie Joe eine der Bierdosen, die bereits die ganze Zeit über auf dem Tisch standen, öffnete und Toshiya anbot. Dabei wollte ich mich gar nicht wie eine überbesorgte Mutter aufführen – es war seine Entscheidung und er war erwachsen, dennoch… Irgendwie wollte der schale Geschmack auf meiner Zunge nicht weichen, als ich beobachtete, wie sie sich zuprosteten.

Wenigstens schien sich Toshiyas Befangenheit vom Anfang des Gesprächs gelöst zu haben. Immer wieder lachte er, brachte mich damit ebenfalls zum Lächeln. Er wirkte entspannt und hätte er vorhin nicht selbst zugegeben, dass er diese Art von Interviews nicht mochte, man hätte es nicht bemerkt. Er war Meister des Überspielens, hatte sich über die Jahre angewöhnt, sein Unwohlsein hinter einem Lachen zu verstecken und zwar so gut, dass selbst ich es immer wieder vergaß. Ganz anders als ich hatte er solchen Einzelinterviews, die vor Publikum stattfanden oder aufgezeichnet wurden, nie etwas abgewinnen können.

„Ich denke nicht, dass es überhaupt jemanden interessiert, was ich zu sagen habe. Oder was ich denke. Ich bin doch sowieso ein langweiliger Mensch.“

Das hatte er mir mal vor Jahren anvertraut. Ich hatte es völlig verdrängt, doch je länger ich dem Geschehen auf meinem Laptop folgte, desto mehr dieser Aussagen fielen mir wieder ein. Bei solchen Zweifeln war es kein Wunder, dass er vorher lieber zu etwas Prozentigem statt zum Wasser griff, um es für sich erträglicher zu machen. Er bevorzugte es einfach, während der Konzerte im Mittelpunkt zu stehen und damit unsere Fans zu begeistern, als sich jede Antwort bei den Interviews zweimal überlegen zu müssen. Unwillkürlich stieg in mir die Frage auf, wie es im März für ihn werden würde. Dann standen die nächsten Talk-Events an, diesmal auf großer Bühne und die Fans waren hautnah dabei.

Wobei… Es waren nur insgesamt drei Auftritte für ihn und vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden, da wir diese Veranstaltungen immer zu zweit und gemeinsam mit unseren Managern Fujieda und Takabayashi absolvierten. Und die planten solche Veranstaltungen gewöhnlich gut durch, damit es keine unangenehmen Überraschungen gab. Nun ja, es würde sich zeigen, wenn es soweit war.
 

Ich unterdrückte ein Seufzen, hob meine Katzendame vom Schoß, die darüber nicht sonderlich begeistert war, und stand auf, um mir einen Tee zu machen, während der Stream weiterlief. Über das Rauschen des Wasserkochers hinweg hörte ich, wie die beiden über Dirt, Toshiyas Kleidungslabel, sprachen, wie er die Designs selbst auswählte und anscheinend wirklich in dieser Arbeit aufging.

Ach, Toshiya, und da sagst du, du bist faul und langweilig?

Gerade wollte ich an meinen Schreibtisch zurücksetzen, da stockte ich mitten in der Bewegung und starrte auf meinen Bildschirm.

Oh, bitte nicht! Er würde doch hoffentlich nicht wirklich –

Da passte man einen Moment nicht auf und plötzlich geriet man in die Schussbahn, ohne überhaupt vor Ort zu sein. Wie auch immer sie auf das Thema gekommen war, Joe brannte gerade förmlich auf Sauf-Anekdoten innerhalb der Band und anscheinend wollten die Fans laut Umfrage unbedingt eine von Toshiya und mir hören. Himmel, es gab unzählige, besonders aus den Anfangsjahren, und eine war peinlicher als die andere. Ich konnte nur beten, dass Toshiya wenigstens bei diesem Thema nicht so ehrlich und offen war, wie er es bisher scheinbar das ganze Gespräch über gewesen war. Etwas, das mich gleich von Beginn des Interviews an überrascht hatte.

Dass er über seine früheren Gewichtsprobleme sprach, sogar über den Moment und die Folgen, als er während eines Konzerts mit dem Krankenwagen abgeholt werden musste, weil er sich aufgrund seines Rückens gar nicht mehr bewegen konnte. Selbst heute wurde mir noch flau im Magen, wenn ich daran zurückdachte. Das mitzuerleben, war schlimm gewesen. Umso mehr beeindruckte es mich, dass er in der Öffentlichkeit darüber sprach – etwas, das bisher in dieser Form nicht vorgekommen war.

Er war manchmal wirklich zu ehrlich. Kein Wunder, dass ihn solche Interviews in zusätzlichen Stress versetzten – die Gefahr, sich zu verplappern, war dabei sehr groß. Ich wünschte mir nur, dass er dieselbe Ehrlichkeit an den Tag legen würde, wenn ich ihn fragte, wie es ihm ging.
 

Mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen verfolgte ich das restliche Interview. Im Stillen gratulierte ich mir dafür, heute eingeschaltet zu haben. Denn egal, welche Sorgen und Gedanken ich mir um Toshiya machte, das Interview war interessant, brachte mir gute Laune und beschwor längst verdrängte Erinnerungen herauf: Das erste Zusammentreffen der Band mit ihm, wie wir anschließend in seiner Heimatstadt Nagano gemeinsam auf der Bühne gestanden hatten und uns später wie Kinder über den frischen Schnee gefreut hatten. Toshiya hatte uns sicher für bescheuert gehalten. Oder die Geschichte, wie wir nach einer Probe mit reichlich Alkohol im Blut auf die glorreiche Idee gekommen waren, Bowlen zu gehen und Toshiya seine Kugel kurzerhand auf die falsche Bahn geworfen hatte und hinterher stürzen wollte.

Oh Mann, war das alles lange her. Das waren Zeiten und aus heutiger Sicht vermisste ich sie ein bisschen. Es gab noch so viele andere, großartige Momente, die wir miteinander erlebt hatten – da wurde ich glatt nostalgisch.
 

Die kleine Uhr am unteren Bildschirmrand sprang auf 21 Uhr, als Joe allmählich das Ende des Interviews einleitete. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war. Ich war selbst überrascht.

Gähnend verfolgte ich, wie die beiden abschließend einige Höflichkeitsfloskeln austauschten. Gedanklich war ich bereits im Bett verschwunden, denn ich war selten länger wach als um 9. Und außerdem –

Mit einem Mal war die aufkommende Müdigkeit wie weggeblasen. Mit klopfendem Herzen starrte ich auf den Bildschirm, sah, wie Toshiya dem Wunsch der Fans nachkam und zum Abschied die Sonnenbrille absetzte. Er sah fertig aus. Die Augen waren klein und halb verquollen. Und dass es im Studio zu warm für seinen Geschmack war, ließ sich nicht leugnen. Ich war mir sicher, dass er sich gerade nichts anderes wünschte als eine Dusche und sein Bett. Dennoch schenkte er der Kamera und den Zuschauern zu Hause ein kleines, letztes Lächeln und winkte, dann wurde das Bild dunkel.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachwort:
Hallo ^^ ich hoffe, das erste Kapitel hat euch gefallen und neugierig gemacht auf den Rest. Es wird insgesamt vier Kapitel geben.
Die Geschichte ist eine Mischung aus realen Ereignissen, beginnend November/Dezember 2020, und natürlich viel Fiktion, entsprungen aus meiner Interpretation und so wie ich es gerne möchte *lach* Wer wissen möchte, was davon alles real passiert ist, darf gern fragen.

Feedback wäre wie immer sehr hilfreich ^^
Liebe Grüße
Luna
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  yamo-chan
2021-08-11T17:03:32+00:00 11.08.2021 19:03
Hi ^^

"... hatte sich nebenbei ein, zwei Bierchen mehr gegönnt, als es für ein Interview gut war..." Die muss gerade reden XD

Oh ja, ich habe ein Bild gesehen, von dem Interview. Wirklich besorgniserregend 🙁

Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Antwort von:  QueenLuna
13.08.2021 08:28
Hallo ^^
Ich muss ja gestehen, dass ich das Interview von Mai letzten Jahres recht unterhaltsam fand, da Toshiya trotz seines Bierchens ziemlich Spaß hatte ^^ Im Dezember war das dann doch etwas anderes U_U und das hat mich nicht los gelassen.

In den nächsten Tagen kommt das nächste Kapitel.

Liebe Grüße
Luna
Von:  MarryDeLioncourt
2021-08-05T06:25:02+00:00 05.08.2021 08:25
Ui, das klingt sehr vielversprechend. Der arme Toshiya und Die macht sich sicher nicht ganz zu Unrecht Sorgen um seinen Bassisten. Ich mag diese beiden zusammen sehr 😍.
Liebe Grüße Marry
Antwort von:  QueenLuna
05.08.2021 23:26
Hey ^^ Es freut mich, dass es dir gefällt. Und ja, Die ist sicher auf feinfühliger als man denkt und hat bestimmt den richtigen Riecher. Und ich komm auch nie von den beiden los xD kann ja mittlerweile fast ein kleines Buch mit ihnen füllen *lach*
LG
Luna ^^


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