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Schatten der Vergangenheit

von

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Karma

Zwei Menschen, eine Klasse. Jungs gegen Mädchen. Alles ganz normal, wäre da nicht das böse Karma. Leise und gnadenlos schlägt es zu, breitet sich sogar in den Medien aus und gibt einigen zu bedenken.
 

Eigentlich wollte ich keine Oneshots mehr schreiben, aber mein Kopf wühlt derzeit enorm in der Vergangenheit herum und da gibt es einige ernste Themen, die ich gerne schreiben will. So auch dieses. Es zeigt, wie rücksichtslos das Karma sein kann, wie schnell ein Leben am seidenen Faden hängt, wie hässlich dabei Gedanken werden.
 

Tatsächlich ist dieser Unfall passiert, war in den Medien und wurde damals im TV nachgestellt und ausgestrahlt. Es hieß damals Notruf und war mit Hans Meiser. Wo genau der Unfall jetzt war, weiß ich nicht. Immerhin war ich nicht dabei, aber der Junge ging in meine Klasse und ich hab selber genug gelitten. Ein bisschen anders, aber ich habe gelitten. Er mehr als ich und doch gehe ich nicht auf ihn oder seine Sicht ein, denn es geht um Karma, warum man es nicht unterschätzen sollte. Man erntet, was man sät. Auch, wenn manches Karma sehr hässlich wird.
 

Seid ein wenig netter zu euren Mitmenschen und wenn ihr jemanden nicht leiden könnt, mobbt und ärgert ihn nicht. Karma richtet es leider viel zu oft und unvorhergesehen. Aktuell sitze ich daran, leicht fällt es mir aber nicht darüber zu schreiben, denn es hat sehr vieles bei mir und auch bei ihm gemacht.
 


 

⚜⚜⚜⚜
 

Seit der ersten Klasse ging das so. Jeden Tag Spott, Beleidigungen und sich lustig machen. Ein schwerer Gang für das mittlerweile fast dreizehnjährige Mädchen. Tägliche Bauchschmerzen begleiteten sie auf ihrem Weg zur Schule. Oft sogar Kopfschmerzen, die kaum auszuhalten waren. Tränen wurden vergossen, innerlich geschrien und doch war niemand da, der ihr half oder sie unterstützte. Alleine und auf sich gestellt, betrat das blonde Mädchen das Schulgebäude, sah sich unsicher um und setzte sich auf eine der freien Heizungen in der Eingangshalle.
 

Sichtlich angespannt sah sie immer wieder auf die Uhr, ignorierte die hereinströmenden Schüler, die ihr ohnehin keine Aufmerksamkeit schenkten. Das war schon immer so, jeder ging an ihr vorbei, einige kicherten, andere rümpften die Nase und tuschelten. Viele der Worte schnappte Lucy dabei auf und immer bohrten diese sich wie ein Messer in ihren Bauch. Traurig blickte sie daher aus den bis zum Boden gehenden Fenstern und wartete auf ihre einzige Freundin.
 

Antje war so anders als sie, hatte rötliche Haare, trug eine feste Zahnspange und hatte deutlich mehr auf den Rippen. Lucy hingegen war für ihr Alter zu groß, zu dünn und die dicke Brille auf der Nase erschwerte es ihr noch mehr. Da kamen oft Worte wie Brillenschlange, Spargeltarzan, Bohnenstange und ganz neu war das Wörtchen „BMW". Lucy schluckte, es brannte sich in ihren Kopf, ein Brett mit Warze zu sein. Keine Brust zu haben war scheinbar Grund genug, andere zu hänseln, sie aufzuziehen, fertigzumachen und das täglich.
 

Schnell unterdrückte sie die aufkommenden Tränen, setzte ihr falsches Lächeln auf, spielte den glücklichen Teenager, als ihre Freundin endlich zur Tür herankam. Keiner sollte und durfte merken, wie es ihr ging, niemand durfte in ihre Seele blicken, die nicht nur gezeichnet, sondern auch gebrochen war. Ihre Schnittwunden versteckte sie deswegen unter viel zu langen Pullis, den Rest, den sie sich und ihrem Körper antat, sah keiner. Dafür war es viel zu geschickt und nur schwer ersichtlich.
 

„Wie war dein Wochenende?", wollte Antje wissen, zog sie in eine kurze Umarmung, die der einzige Lichtblick an diesem Tag war.
 

„Geht so", erwiderte Lucy, während sich ihr gesamter Körper anspannte und sie nur noch einen Gedanken hatte.
 

Flucht!
 

Sie wollte weg, sich in Luft auflösen, ihren Peinigern entkommen. Verstecken war schon lange keine Option mehr, sie fanden sie, erniedrigten, schlugen zu, beleidigten und bedrängten sie. Eine Gruppe von fünf Jungen, die eine Klasse unter ihr waren und seit gut einem Jahr das Leben zur Hölle machten. Lucy verstand nicht, warum. Nie hatte sie ihnen etwas getan. Sie kannte sie flüchtig, nur Namen und sonst war nichts bekannt. Dennoch hatten sie irgendwann angefangen sie zu ärgern, herumschubsen und zu verfolgen.
 

„Alles okay? Du wirkst auf einmal so komisch?", merkte Antje an, folgte den Blicken ihrer Freundin und rollte mit den Augen. „Ach komm, lass die doch. Das sind kleine, dumme Jungs."
 

Lucy wollte widersprechen, alles erzählen, was sie belastete und doch schwieg sie wie so oft. „Lass uns in die Klasse gehen. Ich muss nach kurz über meine Matheaufgaben sehen", sagte sie stattdessen, nahm ihre Schultasche und ging schon vor. Vorbei am Schulkiosk, den langen, schmalen Gang entlang, direkt auf die Tür des Klassenzimmers zu, wo schon einige Mitschüler standen und sich lautstark unterhielten.
 

Kaum erblickten sie Lucy, schwiegen sie, gaben ihr das Gefühl nicht dazuzugehören oder fehl am Platz zu sein. Mittlerweile war sie es gewohnt, dass niemand sie grüßte, aber noch nie hatten sie aufgehört zu sprechen, wenn sie dazustieß. Irgendwas stimmte hier nicht.
 

„Hab ich was getan?", murmelte sie leise, aber laut genug, um gehört zu werden.
 

Gelächter brach aus, einer ihrer Mitschüler, der einen ganzen Kopf kleiner war, trat auf sie zu und strafte sie mit verachtenden Blicken. „Liest du keine Zeitung, du dumme Kuh?"
 

Lucy schüttelte erschrocken den Kopf und verneinte.
 

„Dachte ich mir. Nicht nur hässlich, sondern auch zu dumm, zum Lesen", spottete er weiter, lachte mit den anderen Jungs und wurde dann aber mit einem Schlag so ernst, dass es Lucy eiskalt den Rücken herunterlief. „Es hat einen Unfall gegeben. Einer deiner, unserer Mitschüler wurde fast von einem Gerüst erschlagen!"
 

Entsetzt riss Lucy ihre blauen Augen auf, wagte es nicht zu fragen, wer es war und überflog stattdessen ihre anderen Mitschüler. Alle waren da, sogar der Außenseiter Johannes, der abseits stand und in seinem Rucksack kramte. Sie suchte weiter, erkannte zwei Jungs, die im gleichen Dorf wie sie wohnten, einer sich sogar mal bester Freund nannte und sie nicht mehr für voll nahm.
 

Gerade, als ihr klar wurde, wer fehlte, den Unfall hatte, stieß der Klassenlehrer dazu, schloss die Tür auf und bat seine Schüler rein. Lucy folgte der Aufforderung, mogelte sich an einigen Jungs vorbei, die sie schubsen oder sogar boxten. Still ertrug sie die Schikane, setzte sich an ihren Platz und suchte ihr Geschichtsbuch. Heute würden sie endlich das Mittelalter aufgreifen, ein Thema, wofür sich Lucy schon länger interessierte und als spannend empfand.
 

„Seid ihr bitte kurz still und hört mir zu?", bat der glatzköpfige Lehrer vorn an seinem Pult, nachdem sich alle gesetzt hatten und trotzdem private Gespräche fortgeführt waren.
 

Alle Augen waren kaum später auf ihm gerichtet und auch Lucy merkte, wie Herr Schwarz zu schlucken begann und nach den richtigen Worten suchte. „Einige von euch haben sicher schon von dem Unfall gehört, der sich zugetragen hat. Bedauerlicherweise handelt es sich dabei um euren Mitschüler Sascha, der die nächsten Wochen im Krankenhaus verbringen muss." Eine kurze Pause entstand, die Brille wurde von der Nase genommen. „Stellt euch bitte darauf ein, dass er nicht wiederkommen könnte."
 

Augenblicklich war es still, kaum einer traute sich zu atmen. Schluckend saßen einige Schüler auf ihren Plätzen, während Lucy innerlich zu grinsen begann. Da lag der Junge, der sie am meisten anging, im Krankenhaus, im künstlichen Koma und kämpfte um sein Leben. Gerechtigkeit, vielleicht auch Schicksal. Oder besser noch, Rache für all das, was er ihr angetan hatte. Eine höhere Macht, die sich Karma nannte und über ihn richtete. Das innerliche Grinsen wandelte sich um in ein leises Lachen, was lauter wurde und schließlich aus ihr herausbrach.
 

Fassungslos sah nicht nur ihr Lehrer sie an, sondern die gesamte Klasse.
 

„Was ist so lustig, Lucy?", versuchte er zu fragen, doch einer der Jungs war schneller.
 

„Die blöde Kuh freut sich doch, wenn Sascha stirbt!"
 

Lucy sagte darauf nichts, stand einfach auf und verließ das Klassenzimmer. Keiner folgte ihr, hielt sie auf oder versuchte, mit ihr zu reden. Die Tür zum Klassenzimmer blieb zu.
 

Draußen auf dem Gang flossen Tränen. Nicht, weil ihr Mitschüler mit dem Leben rang. Sie weinte vor Glück, die nächsten Wochen ein Stück mehr Ruhe zu haben. Einem ihrer Angreifer entkommen zu können. Takt und ehrenlos, könnte man meinen. Sowas kam jedoch von Menschen, die ein ganz anderes Leben führten, die nicht gemobbt wurden und durch die Hölle gingen. Von Personen, die nicht daran dachten, sich freiwillig das Leben zu nehmen, weil sie es nicht mehr ertrugen.
 

Lucy und Sascha waren Kinder, beide wussten nicht, was ihr Verhalten anrichten konnte. Während Sascha mit bleibendem Schaden überlebte, zurück an die Schule kam, hörte ihre persönliche Hölle lange noch nicht auf. Es dauerte Jahre, bis sich beide ausgesprochen und vertragen hatten. Einander vergeben, für beide jedoch niemals vergessen.
 

******
 

Und damit schließe ich diese Geschichte, die nie eine Geschichte war, sondern die Wahrheit. Einzig Lucy ist ein Name, der erfunden ist, da ich meinen nicht einbringen wollte. Ihr merkt vielleicht, was Mobbing aus einem Menschen machen kann, wie hässlich sie denken, wie sehr sie leiden. Heute stehe ich darüber, weiß, was alles schieflief und was Sascha und ich noch alles ertragen mussten. Das Karma ist gnadenlos, es schlug nicht nur einmal in meiner Klasse zu, sondern ein weiteres Mal und das mit tödlichen Folgen. Ob ich darüber jedoch schreiben kann, weiß ich nicht, weil ich dabei, beziehungsweise vor Ort war. Ich kann nur jeden warnen, vorsichtig zu sein, andere Menschen respektvoll zu behandeln und kein Mittäter von Mobbing zu sein. Weder im realen Leben, noch im Internet. Mobbing macht euch seelisch kaputt und nicht jedes Opfer ist stark genug, um zu leben. Viele nehmen sich das Leben, darunter auch Kinder und die Täter bleiben meist straffrei, weil sie selbst noch Kinder sind. Sowas muss aufhören!



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