Zum Inhalt der Seite

Logbuch

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Memoiren

Persönliches Logbuch,

Das Meer ist unergründlich, unbezwingbar und unendlich weit. Sie hat mich mit ihrem Klang und bezauberndem Lichtspiel hinaus in die Welt gerufen und ich bin ihr voller Wonne in die salzigen Wogen gefolgt. Zum ersten Mal habe ich die bekannten Gefilde der Tri-Islands verlassen und wollte herausfinden, wohin mich der Wind trägt. Nur einige wenige Tage, bis zur nächsten Insel und dann wieder zurück. Es sollte ein Probelauf sein, das Testen der Gewässer, bis ich mich von meiner Heimat trennen, eine Piratenbande gründen und die Weltmeere bereisen wollte.

Doch zu meinem Verdruss war auch nach mehreren Tagen war kein Land in Sicht. Gerade, als ich in Erwägung zog das Ruder herumzureißen und den ganzen Weg zurück zu segeln, stieß ich auf eine Nebelwand, die so dicht war, dass sie selbst die Hand vor meinen Augen verschluckte und mir den Atem raubte. Ich muss bewusstlos geworden sein. Als ich wieder zu mir kam, stellte ich mit Entsetzen fest, dass der Kompass verrücktspielte. Völlig unkontrolliert hörte er nicht auf sich im Kreis zu drehen.

Glücklicherweise sollte ein technisches Malheur kein Grund sein zu verzagen, schließlich habe ich die Möglichkeit mich grob am Sonnenstand, und bei Nacht an den Sternen, zu orientieren. Ich werde zurück nach Mêlée Island finden, so wahr mein Name –

Freizeitpark-Pirat

Ein sonniger Tag neigte sich dem Ende zu und mit angenehm mäßigem Wind im Rücken segelte der Dreimaster mit Drachenkopf als Gallionsfigur über die zur Abwechslung äußerst ruhige See. Die Segel, sowie die schwarzen Flaggen welche das Schiff zierten, verkündeten für alle umliegenden Seefahrer, dass sich Piraten an Bord befanden. Und nicht nur irgendwelche, es handelte sich um die Rothaarpiratenbande, angeführt von ihrem furchteinflößenden und mächtigen Kapitän, dem Roten Shanks. Dieser ließ gerade in einem Anflug von Entspannung die salzige Seeluft durch seine Lungen strömen, als ein Späher aus dem Krähennest verlauten ließ: „Schiffbruch an Steuerbord!“

Der Kapitän begab sich zur Reling, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Nicht unweit entfernt erkannte er die ersten Stücke Treibgut im Meer schwimmen, darunter einige Holzplanken, Kisten, die stofflichen Überreste eines Segels, eine Kabinentür… Die meisten Teile waren zersplittert oder wiesen Bissspuren auf. Hier hatte definitiv ein Seekönig gewütet.

„Boss! Da hinten ist jemand!“, informierte der Späher eifrig und überprüfte durch das Fernrohr, ob ein klares Lebenszeichen festzustellen war. Tatsächlich erkannte er ein schwaches Winken von der Gestalt, welche sich tapfer an einem Holztisch geklammert über Wasser hielt.

„Bereitmachen zum Bergen“, befahl der rothaarige Kapitän sachlich und die Crew setzte sich augenblicklich in Bewegung. Binnen weniger Minuten hatten sie die schiffbrüchige Person erfolgreich auf das Deck der Galeone geschafft und den unterkühlten, durchnässten Leib in Decken gehüllt. Langsam ging der Kapitän in die Hocke und musterte, wen er dort zusammengekauert vor sich fand. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass es sich um eine junge Frau handelte, vielleicht sogar noch jung genug um ein Mädchen zu sein? Große blaue Augen sahen ihn verloren an. „Du bist in Sicherheit“, sagte er sanft und berührte sie an der dick eingepackten Schulter. Erleichterung breitete sich in ihrem Gesicht aus, ehe ihr die Lider zu schwer wurden und sie erschöpft in seinen Arm fiel.

Es dauerte einige Stunden, bis die Schiffbrüchige wieder erwachte und sie bei genügend Kräften war, damit der Schiffarzt ihr erlaubte das Krankenbett zu verlassen um sich auf das Deck zu setzen. Die Crew schien zwar interessiert an ihr, hielt jedoch ausreichend Abstand, nachdem ein Mann mit langem schwarzem Pferdeschwanz die Bande zurechtgewiesen hatte. Stattdessen nahm er ihr gegenüber an dem kleinen runden Holztisch Platz und zündete sich gemütlich eine Zigarette an. „Macht es dir was aus?“, fragte er aus dem Mundwinkel, ehe er die Streichholzschachtel wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ.

Sie winkte ab. „Schon in Ordnung.“ Unsicher schweifte ihr Blick umher, über die Gesichter der Mannschaft, zur dunklen See und schließlich hinauf zum Himmelszelt. Ihre Stirn runzelte sich verwundert über den Anblick, der sich ihr bot.

Ihr Gegenüber lehnte sich gemächlich zurück und sah sie interessiert an. „Dann erzähl mal, wie hast du es alleine mitten auf die Grand Line geschafft?“

Irritiert blinzelte sie ihn an. Anscheinend brauchte sie einen Moment, um die Frage zu verarbeiten. „Keine Ahnung. Ich bin vor etwa drei Tagen einfach drauf los gesegelt“, meinte sie schließlich.

„Jegliches Land ist mindestens sieben Seetage von hier entfernt“, informierte der Mann sie zweifelnd. Dies veranlasste das Mädchen dazu nur noch mehr stutzen.

„Klingt als seist du vom Himmel gefallen“, kommentierte der Kapitän belustigt, welcher sich nun ebenfalls zu ihnen an den runden Tisch gesellte. Er stellte seine Flasche Bier ab und stützte sich auf den Arm um die Schiffbrüchige eingehender zu betrachten. „Wie heißt du und woher kommst du?“

„Oh, ähm!“ Sie korrigierte ihre Haltung und richtete den Rücken. „Ich bin Kiara. Freut mich sehr!“, kam es wie aus der Pistole geschossen, während sie hölzern eine Hand aus der um die Schultern gelegte Decke hervorstreckte. „Und danke. Vielen, vielen Dank für die Rettung.“

„Kiara also. Freut mich ebenfalls deine Bekanntschaft zu machen. Du kannst mich Shanks nennen“, stellte der Piratenkapitän sich ebenfalls vor und drückte ihre Hand ein wenig ungeübt. „Und das ist mein erster Offizier, Ben Beckman.“

Der Vize nickte ihr höflich zu.

„Geboren wurde ich auf Mêlée Island“, verkündete Kiara wahrheitsgetreu. „Meine Eltern und ich haben immer mal wieder die Insel gewechselt, aber im Grunde könnte man das wohl als meine Heimat bezeichnen.“

Der Kapitän rieb sich den angedeuteten Kinnbart. „Mêlee? Noch nie davon gehört.“

Sie sah ihn verständnislos an. „Aber das ist eine der Hauptinseln der Tri-Islands. Es sollte gar nicht so weit weg von hier liegen.“

Der Vize und sein rothaariger Kapitän warfen sich argwöhnische Blicke zu.

„Könntest du uns auf einer Karte zeigen, wo deine Insel liegen soll?“, fragte der Vize langsam.

„Ich denke schon, klar.“

Als die Karte vor ihr ausgebreitet da lag, schien selbst der letzte Rest vom Selbstbewusstsein der jungen Schiffbrüchigen zu verschwinden. Verzweifelt huschte ihr Blick über die Karte, auf der Suche nach vertrauten Formen und Orientierungspunkten. Ebenfalls befangen studierte sie die Münze, welche der Vize als Markierung ihrer derzeitigen Position auf der Seekarte platziert hatte.

„Also, ich bin Richtung Süden gesegelt“, versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen. „Das bedeutet, wenn wir von diesem Ort ausgehen…“ Sie fuhr mit dem Finger von der Münze gen Norden. Nichts. Weit und breit keine Insel in der Nähe. „Sagen wir drei oder vier Tage…“

„Dann landest du im Calm Belt“, unterbrach der Vize.

„Im was?“, fragte Kiara irritiert.

„Die Grand Line wird von zwei Meereszonen umgeben, die sich Calm Belt nennen. Da weht kein Wind. Selbst wenn deine Insel dort liegt, mit Segeln kommst du nicht weit und wegen der Seekönige wärst du schon viel früher drauf gegangen.“

Kiara starrte die Karte angestrengt an, als müsse sie nur lange genug hinsehen, damit ihre Heimat auftauchte. Auch die anderen Ecken der Karte suchte sie ab. „Aber… hier muss irgendwo eine ganze Inselgruppe sein. Mêlée, Booty, Plunder…Es fehlen über zehn Inseln.“

Der Kapitän schüttelte langsam und beinahe mitleidig den Kopf. „Noch nie davon gehört“, wiederholte er.

Das Mädchen sank ungläubig in sich zusammen. „Ich würde euch ja eine Karte zeigen, aber…“ Sie seufzte. Die lag inzwischen vermutlich irgendwo auf dem Meeresgrund, denn bis auf die Kleider, die sie am Leib trug, war ihr nichts an Besitztümern geblieben.

„Na, halb so wild. Du lebst und das ist die Hauptsache“, verkündete der Kapitän aufmunternd.

„Hattest du ein bestimmtes Ziel?“, erkundigte sich der Vize.

„Nur wohin der Wind mich treibt.“

„Das wäre ja fast ein Fall für berühmte letzte Worte gewesen“, lachte der Kapitän. „Aber bist du nicht ein bisschen zu jung um alleine auf Reisen zu gehen?“

„Hey, ich bin Zwanzig und immerhin schon seit ein paar Jahren auf See.“, empörte sich Kiara.

„Echt? Zwanzig? Ich hätte dich auf Vierzehn geschätzt, aber dieser Mantel macht dich auch lächerlich klein und … flach.“ Der Käpt’n prustete hinter seiner hervorgehaltenen Hand.

Mürrisch zupfte Kiara ihren blauen Armeemantel zurecht. Er war nicht mehr der neuste und etwa zwei oder drei Nummern zu groß für sie. Vielleicht hatte sie gehofft noch ein bisschen reinzuwachsen.

„Aber er ist nicht schlecht, wenn man Pirat spielen möchte.“ Das amüsierte Grinsen des Kapitäns zog sich weiter in die Breite.

„Ich bin ein Pirat“, erwiderte Kiara trocken. „Mit Zertifikat.“

Der Kapitän versuchte sie ernst anzuschauen, brach dann aber binnen weniger Sekunden in schallendes Gelächter aus. „Warst du etwa an einer Piratenakademie, oder was?“, johlte er vergnügt.

Die Möchtegern-Piratin sah ihn entrüstet an. „Was für ein Quatsch! Man absolviert die drei Prüfungen der drei wichtigen Piraten, die in der Scumm Bar sitzen!“

„Was sollen das für Prüfungen sein?“, hakte der Vize skeptisch nach.

„Naja, man muss sich in der Diebeskunst üben, den Schwertkampf meistern und sich auf eine Schatzsuche begeben“, zählte sie sachlich auf, während sie den weiterhin grölenden Kapitän mürrisch beobachtete.

„Und dann erhältst du ein Zertifikat? Das klingt mir doch sehr nach Freizeitpark-Piraterie“, grinste der Rothaarige und wischte sich eine angedeutete Lachträne aus dem Auge.

Kiara schlug mit ihrer Faust auf den kleinen Holztisch. „Das hat bei uns lange Tradition! Seit der Geisterpirat LeChuck sein Unwesen in den Gewässern von Mêlée Island getrieben hat, war es schließlich wichtig für frischen Wind zu sorgen! Denn ohne Piraten gab es keine Beute und ohne Beute keinen Grog und der Grog drohte zur Neige zu gehen!“

Der theatralische Auftakt veranlasste einige Crewmitglieder dazu die üblichen Späße untereinander zu pausieren und interessiert die Köpfe zur Erzählerin zu wenden.

„Und was passierte dann?“, rief einer, die Hand trichterförmig um den Mund gelegt.

Auch die Augenbrauen des Kapitäns wanderten demonstrativ nach oben und ein amüsiertes Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. „Ja. Was passierte dann?“

Es war, als könnte er ein Leuchten in ihren Augen aufflackern sehen, ehe sie die Decke von sich warf und energetisch aufsprang um sich der Meute zuzuwenden. Jegliche Sorgen waren vergessen und die Erschöpfung wie weggeblasen, als sie vollends darin aufging ihre Geschichte zu erzählen. Die Bande fühlte sich wunderbar unterhalten und auch der Kapitän musste sich zugestehen, dass er Gefallen an der Darbietung fand. Während sich die Crew einige Zwischenrufe nicht verkneifen konnte, lauschte er der Erzählung aufmerksam. Er ließ sich zu gerne von der Darstellerin verzaubern und in ihren Bann ziehen.

„Also stürmt er in die Kirche und ruft: Jetzt bist du dran, du klitschiger Klumpen Karpfen-Köder!“, tönte sie auch nach gut einer Stunde ausführlicher Erzählung noch lautstark über die Runde hinweg. „Und LeChuck weint: Guybrush! Hab Gnade! Ich kann nicht mehr!“

„Das hat er doch niemals wirklich gesagt“, warf ein Pirat grölend ein.

„Bei einer guten Geschichte muss man halt ein wenig übertreiben!“, entgegnete Kiara belustigt.

„Das Einzige, was übertrieben ist, ist das Ego von dem Typen!“, rief ein anderer.

„Wer jeht denn ‘rum und sacht watt von ‚Ick bin een mächtijer Pirat?‘“, stimmte ein weiterer zu.

„Na, wer wohl? Guybrush Threepwood – mächtiger Pirat!”, lachte Kiara und stieß ihren Krug feierlich in die Höhe. Der Rest der versammelten Crew brach in lautes Gejohle aus und toasteten sich ebenfalls mit ihren Getränken zu.

Ein weiterer Offizier meldete sich kritisch zu Wort. Er grinste unverhohlen über beide Wangen, blickte der junge Möchtegern-Piratin jedoch eher spöttisch entgegen. „Die Geschichte ist ja ganz unterhaltsam, aber welcher Mann lässt sich nach einem bloßen Wortgefecht einfach seine Schätze nehmen und akzeptiert das?“

Die Angesprochene zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Jeder blöde Pirat kann ein scharfes Stück Metall durch die Luft schwingen. Aber beim Beleidigungsfechten geht es darum, den Gegner zu erledigen, indem man ihn völlig aus der Fassung bringt, um ihn anschließend zu entwaffnen. Das sind die Spielregeln. Es gibt doch einen Piraten-Kodex, oder?“

„Ja schon in gewisser Hinsicht, aber…“

„Spielregeln passt doch“, unterbrach der Kapitän und funkelte sie belustigt an. „Klar wäre es schön, wenn alles immer komplett gewaltfrei ablaufen würde, aber das ist Wunschdenken.“

„Bei uns klappt es halt so“, beschwichtigte Kiara und verschränkte missmutig die Arme.

„Was ist mit Kopfgeldern? Als Pirat bist du doch bestimmt etwas wert“, feixte der Rothaarige. Ihm war bewusst, dass er sie wie auf dem Präsentierteller zur Schau stellte, doch schien sie das kein Stück zu verunsichern.

Beflissen schüttelte sie nur den Kopf. „Ich hab‘ kein Kopfgeld. Dafür habe ich nichts sonderlich kriminelles angestellt. Aber bei uns wird generell nur selten jemand geahndet.“

„Kein ‚Dead Or Alive‘? Gesucht für Zehnmillionen Berry?“, hakte er unablässig nach.

„Huh? Nein, eher so… Gesucht wegen vorsätzlicher Beschädigung eines Holzbeines und Überziehung der Leihfrist eines Buches.“ Kiara geriet nun doch ins Stocken. Ihr musste ebenfalls auffallen, dass dies nicht sonderlich gefährlich klang, geschweige denn nach etwas, wofür man tot ausgeliefert werden sollte. „Anfertigung und Benutzung einer Voodoopuppe?“, setzte sie noch versuchsweise hinterher.

„Du bist wirklich ein Freizeitpark-Pirat“, grölte der Kapitän dieses Mal laut auf und auch der Rest der Crew stimmte amüsiert in das Gelächert mit ein. Kiara verschränkte augenrollend die Arme und ließ es stillschweigend über sich ergehen. Nachdem er sich von seinem nächsten Lachanfall beruhigt und er tief durchgeatmet hatte, unterbreitete der Rothaarige ihr einen Vorschlag. „Wir setzen dich auf der nächsten Insel ab und dann versuchst du dich am besten von Ärger fern zu halten.“

Alarmiert schoss ihr Blick zum Kapitän. „Wie komme ich nach Hause, wenn anscheinend niemand weiß, wo es liegt?“

Dieser zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Tja, das ist dann wohl Pech, würde ich sagen. Aber immer noch besser als tot zu sein.“

Ihre Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie, den Blickkontakt für keine Sekunde unterbrechend. „Dann lass mich deiner Mannschaft beitreten!“, bat sie, ohne länger darüber nachzudenken.

Der Rothaarige beugte sich verhängnisvoll zu ihr. „Es ist hier draußen gefährlicher als du dir vorstellen kannst“, warnte er.

Kiara waren die drei Narben über dem Auge des Kapitäns nicht zum ersten Mal aufgefallen. Jetzt kamen sie ihr noch ehrfürchtiger vor. Auch bemerkte sie, dass der Rothaarige stets nur seinen rechten Arm nutzte zum Gestikulieren und Greifen. Der linke Arm wurde von seinem schwarzen Umhang verhüllt und ihr schwante übles.

„Dann stell mich auf die Probe“, verlangte sie mit fester Stimme und versuchte sich wieder auf seine beiden Augen zu konzentrieren.

„Kannst du dich auch ohne Beleidigungen verteidigen?“, fragte er und musterte sie eingehend.

Kiara atmete tief ein, straffte Schulter und Rücken und baute sich so gut sie konnte auf. „Natürlich.“

„Alles klar, dann lass uns dein Können auf die Probe stellen. Aber wenn du verlierst, wanderst du über die Planke.“

Seine Entscheidung ließ sie erstarren und einen eiskalten Schauer über den Rücken jagen. Der Schiffsarzt versuchte dem Kapitän Vernunft einzureden, dass sie noch zu erschöpft sei und überhaupt gerade erst mehrere Stunden in den kalten Fluten verbracht hatte. Doch der Rothaarige brachte ihn mit einer gelassenen Handbewegung zum Schweigen. „Wenn sie darauf besteht, kriegt sie ihre Chance.“

Ein ungläubiges Schnaufen entwich Kiaras Lippen. „Sagtest du vorhin nicht etwas von ‚Du bist in Sicherheit?‘“, wiederholte sie die Worte, an die sie sich gerade noch erinnerte.

„Mit Piraten verfährt man anders“, stellte er sachlich fest.

Eignungsprüfung

Die Planken des Schiffes knarrten unter Kiaras Stiefeln, als sie sich unter erwartungsvollen Blicken zur Mitte des Decks begab. Die Piraten waren aufgestanden und hatten eine großzügige Fläche freigeräumt, welche für geübte Schwertkämpfer zur Demonstration ihrer Fähigkeiten ausreichen sollte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Kiaras Magengrube aus, während sie den schweren, kunstvoll verzierten Griff des Rapiers fester in der Hand packte und sich mit der Länge und dem Gewicht der ungewohnten Waffe bekannt machte. Da sie ihr Entermesser beim Schiffbruch verloren hatte, wurde ihr freundlicherweise diese neue Klinge gestellt. Offensichtlich zog es Nachteile mit sich, ein fremdes Schwert zu schwingen. Doch Kiara war entschlossen, ihr absolut Bestes zu geben.

„Du kannst deine Entscheidung immer noch zurückziehen“, bot der Kapitän an. Von dem Fass, auf dem er saß, hatte er den perfekten Überblick über die Kampfzone. Leger schlug er ein Bein über das andere.

Kiara schüttelte deutlich mit dem Kopf. Es entbehrte sich jeder Logik, aber es war so, als bedeutete ihr eine kleine Stimme der Vernunft, dass Anheuern die einzige richtige Wahl darstellte. Warum sollte sie sich jemandem anschließen wollen, der ihr offen mit dem nassen Kältetod drohte, sollte sie sich zu schwach oder ungeschickt anstellen? Warum setzte sie ihr Leben aufs Spiel, wenn sie unbeschadet auf der nächsten Insel abgesetzt werden könnte? Es ergab keinen Sinn. Aber dieses Gefühl der Erleichterung und Geborgenheit, welches sie erfüllt hatte, und die warme Ausstrahlung ihrer Lebensretter, das alles weckte in ihr unabdingbares Vertrauen. Und daran wollte sie sich mit allen Mitteln festhalten.

Der Rothaarige nahm ihre Antwort zur Kenntnis und bedeutete einem kräftig gebauten Kerl mit Glatze, schwarz umrandeten Augen und Narbe im Gesicht hervorzutreten. Er sollte ihr Gegner sein.

„Bereit?“, grollte der Typ, welcher ungefähr dreimal so groß war wie sie, nachdem er sich aufgebäumt hatte.

Kiara begab sich in ihre antrainierte Einstiegshaltung. Von professioneller Fechtkunst waren ihre Fähigkeiten jedoch weit entfernt, auch wenn sie viel Geld für ihre persönliche Schulung gezahlt hatte. Trotzdem war sie sich sehr sicher einen dahergelaufenen Piraten ohne Probleme in seine Schranken weisen zu können. „Bereit.“

Der Pirat schwang sein Schwert mit furchteinflößender Bestimmung. Intuitiv hob Kiara ihre Klinge um den Angriff zu parieren. Dabei schmetterten die Schneiden mit einer solchen Wucht aneinander, dass es Kiara beinahe das Schwert aus der Hand schlug. Mit Entsetzen wurde ihr klar, dass nicht nur ein Gang über die Planke, sondern auch abgetrennte Körperteile drohten, wenn sie sich nicht mit vollem Einsatz in den Kampf reinhängte.

Der Stil war ihr völlig fremd und die Hiebe folgten so schnell aufeinander, dass sie kaum Gelegenheit hatte, sich auf die Bewegungsabfolge ihres Gegners zu konzentrieren. Kiara wich dem Schwert öfter mit vollem Körpereinsatz aus, als mit dem eigenen Säbel zu kontern. Mehr als einmal verfehlte die Klinge nur um Haaresbreite ihr Ziel, während die junge Möchtegern-Piratin überfordert zurückwich und versuchte Abstand aufzubauen.

„Komm schon, ich kenne Affen, die haben mehr drauf als du!“, keuchte sie, nachdem sie seinem nächsten Angriff aus dem Weg gerollt war. Zittrige Finger umklammerten den, von Schweiß rutschig gewordenen Schwertgriff, fester. Überhaupt konnte sie den Degen kaum noch stabil mit nur einer Hand halten. Sie spuckte große Töne, dafür, dass sie noch keinen einzigen Schritt aus ihrer Verteidigung herausgetan hatte. Aber sie konnte nichts dafür, die Worte sprudelten ihr einfach aus dem Mund. In ihrer Brust spürte Kiara ihr Herz rasen und sie fürchtete, ihre Beine könnten jeden Augenblick unter ihrer eigenen Last zusammenbrechen, weil sie die Konsistenz von Pudding angenommen hatten.

Ihr Gegner stutzte kurz über den wagemutigen Ausspruch, ehe er sein Schwert dermaßen kraftvoll in einem Bogen vor sich schwang, dass eine Druckwelle Kiara von den Füßen riss und sie rücklings zu Boden schleuderte. Vollgepumpt mit Adrenalin verspürte sie keinen Schmerz nach dem harten Aufprall auf dem Deck. Perplex starrte sie zum fremden Himmelszelt hinauf und versuchte zu verarbeiten, was gerade passiert war.

„Was zur – “, brachte sie nur stammelnd hervor.

„Zu schade, dass diese Affen dir nichts beigebracht haben“, grinste der Glatzkopf zu ihr runter.

Allmählich realisierte Kiara, dass sie diesen Kampf unmöglich gewinnen konnte und was dies für Konsequenzen nach sich ziehen würde. Sie konnte ihn nicht entwaffnen und sie konnte nicht flüchten. Ein monotones Pfeifen drang in ihre Ohren und übertönte jegliches Stimmengewirr aus der Crew, den Wind und das Meeresrauschen. Sie wusste, ihr blieb nur der Angriff und die Hoffnung, dass er vor Erschöpfung aufgab bevor sie es tat.

Kiara spürte wie sie das Schwert mit beiden Händen fest packte, einen Schrei ausstieß und mit etwas Mühe zurück auf ihre Beine sprang. Mit unermüdlichen Hieben schlug sie mit dem Degen auf ihren Gegner ein und versuchte seine Verteidigung zu durchbrechen. Doch er war zu schnell und zu stark. Zwar konnte sie ihn mithilfe des Überraschungseffektes einige Schritte zurücktreiben, doch er parierte spielend jeden ihrer Schläge. Plötzlich wich er zur Seite aus und ihre Klinge kerbte sich tief in das Holz des Mastes. Aus weiter Ferne konnte Kiara das Grölen der Mannschaft hören, welche sich direkt neben ihr befand. Verzweifelt zog und zerrte sie am Griff, stemmte sogar den Fuß gegen den Mast, doch ihr Schwert steckte unabdingbar fest.

„Und jetzt?“, kam es vom Glatzkopf hinter ihr.

Kiara wirbelte herum. Es blieb keine Zeit sich eine Taktik auszudenken. Sie war zwar entwaffnet, aber noch lange nicht geschlagen! Mit voller Wucht schmiss sich Kiara gegen den Piraten und rammte ihren Ellbogen in seinen Bauch. Sie hörte ihn ächzen und landete kurz darauf mit ihm auf den Brettern. Sein Schwert klirrte neben ihnen zu Boden. Das war ihre Chance! Wenn sie es schnell genug ergreifen konnte, hätte sie die Oberhand gewonnen! Doch er ahnte ihr Vorhaben und packte sie an den Handgelenken. Mit einem Mal hatte er ihre Positionen getauscht und sie festgepinnt. Kiara wandte und wehrte sich unter ihm, doch konnte sie weder Arme noch Beine befreien. Sie fühlte sich hilflos. Sie wollte schreien. Sie durfte nicht verlieren!

„Das reicht, danke“, tönte die Stimme des Kapitäns laut über das Deck hinweg und erstickte selbst ihren Tinnitus.

Es war vorbei. Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt und versagt. Ihre Glieder erschlafften und eine schreckliche Leere breitete sich in ihr aus. Wie schnell konnte man eine zweite Chance so dermaßen ruinieren?

Der Glatzkopf erhob sich und zog Kiara schwungvoll mit auf die Beine. Dann ließ er sie los, grinste unverhohlen und klopfte ihr kumpelhaft aber kräftig gegen den Rücken, dass es sie beinahe wieder umwarf.

Kiara sah ihn verwirrt an. Sollte er sie jetzt nicht festhalten und zur Planke führen oder so etwas in der Art?

Der Rothaarige trat heran und besah sich die schwer atmende Möchtegern-Piratin, welche in diesem Moment einem kleinen Häufchen Elend glich. „Das war ja fast so unterhaltsam wie deine Geschichte.“

Sie schluckte, auch wenn ihr Mund sich wie eine Staubwüste anfühlte. Ob sie noch verhandeln konnte? Offenbar brachte sie ihn wenigstens zum Lachen, da wäre es doch eine Verschwendung, wenn er sie-

„Leute, heißen wir Kiara mit einem ordentlichen Bankett in unserer Bande willkommen!“, verkündete der Kapitän feierlich und stieß die Faust in die Luft.

Einen Augenblick lang starrte Kiara den Rothaarigen nur entgeistert an. Dann fiel ihr auf, dass sie vor lauter Fassungslosigkeit das Atmen vergessen hatte und schnappte eilig nach Luft. „Aber- ich hab‘ doch- hä?“, stieß sie keuchend hervor.

„Hast dich jut jeschlagen“, kam es inbrünstig von einem Crewmitglied. „Ick freu mir!“

„Ja, voll reingehangen!“, stimmte ein anderer zu.

Ein freundschaftlicher Arm legte sich um Kiaras Schultern. „Ehrlich gesagt hätte ich es beinahe früher abgebrochen. Aber dann hast du mich doch noch überrascht“, gestand der Kapitän.

„Mit meiner Kampf-oder-Flucht Panikreaktion?“, quäkte Kiara ungläubig.

„Es hat Potential“, meinte der Rothaarige heiter. Dann zwinkerte er zu ihr hinunter. „Und keine Sorge, über die Planke hätten wir dich sowieso erst nach der Landung geschickt.“

Dies war das zweite Mal an diesem Abend, dass sie kraftlos in seinen Arm sank.

Sake aus dem West Blue

Der unwiderstehliche Duft von Braten, gegrilltem Gemüse und frischem Obst erfüllte das Deck des Piratenschiffes. Dazu floss der Alkohol in Massen, welches die ausgelassene Stimmung, sowie auch die Lautstärke mit jedem geleerten Krug ein gutes Stück ansteigen ließ. Zwar war die Person der Stunde nicht übermäßig fit um mitzuhalten, jedoch dämpfte das nicht die Euphorie der Crew, ihren Eintritt gebührend zu feiern.

Es war Kiara ein Rätsel, wie eine einzige Piratenbande so viel Alkohol in sich aufnehmen konnte. Mit milder Belustigung beobachtete sie ihre neuen Kameraden, wie sie umher torkelten, tanzten und vereinzelt über der Reling hingen und Platz für mehr Fusel schufen. Auch betrunken spielten die Musiker gar nicht so schlecht, sodass hin und wieder ein ordentliches Shanty angestimmt wurde.

Kiara saß erneut auf ihrem kleinen Fass am provisorischen runden Tisch und nutzte die Gelegenheit ihrem neuen Kapitän Gesellschaft zu leisten und ihn ein wenig kennenzulernen. Zur Feier des Tages hatte er den besonders guten Sake aus seinem privaten Vorrat geholt. Stolz erzählte er ihr, dass es sich um Reiswein aus seiner Heimat handelte und schenkte ihr großzügig ein.

„Ich war schon überall auf der Welt und kann mit Fug und Recht behaupten, dass das der beste Sake ist, denn du jemals trinken wirst“, predigte Shanks und half der Schale gerne den Weg zu ihrem Mund zu finden.

„Dann ist ja gut, dass das mein erster ist“, nickte Kiara und schlürfte die Flüssigkeit schnell ab, bevor etwas verschüttet wurde. Es schmeckte zwar weder nach Reis noch nach Wein, doch fand sie es generell nicht schlecht und vielleicht konnte man sich daran gewöhnen. Lediglich der leicht bittere Nachgeschmack zog ihr die Gesichtszüge zusammen.

„Hast du noch nie getrunken?“ Der Kapitän sah sie mit großen, ungläubigen Augen an.

Sie erwiderte seinen Blick unschuldig. „Offiziell? Nein. Bei uns darf man schließlich erst mit einundzwanzig Alkohol trinken“, predigte sie pflichtbewusst.

Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Aber du bist hier auf einem Piratenschiff“, erinnerte er sie belehrend.

Auch sie fing an herzlich zu grinsen. „Da hast du recht. Hier könnte ich gestehen, dass ich schon seit ein paar Jahren ab und an mal was getrunken habe.“ Kiara machte eine ausschweifende Handbewegung. „Aber wir haben keinen Sake. Bei uns trinkt man Rum. Oder Grog.“

„Was soll das sein?“

Kiara hielt kurz Inne um zu überlegen. „Also eigentlich heißer Rum mit Zucker und Wasser. Aber die drei schrecklich wichtigen Piraten in meiner Heimat meinten, dass da auch Kerosin, Schmierfett und Schwefelsäure drin sei.“ Sie zog skeptisch die Luft ein. „Ich glaub, die haben mich verarscht.“

Shanks lachte auf. „Diese drei schrecklich wichtigen Piraten sind also dafür da, Prüfungen zu stellen und junge Damen auf den Arm zu nehmen?“

„Ähnlich wie du, also“, offenbarte sie ihm neckisch.

„Macht mich das auch zu einem schrecklich wichtigen Piraten?“

Sie stützte das Kinn auf ihre Hand und musterte ihn ausführlich. Die richtige Ausstrahlung besaß er zweifelsohne bereits, aber er wirkte zu jung um eine solche respektable Position auszufüllen. „Nur, wenn du mir ein Zertifikat ausstellst“, entschied sie schließlich und lachte ihn leise an.

Bedacht hob Shanks seine eigene Schale mit Reiswein an. „Das erscheint mir aber ein bisschen zu einfach für einen solch renommierten Titel“, grinste er, ehe sein Gesicht hinter dem Getränk verschwand.

Da hatte er wohl recht. „Was würdest du denn dafür tun?“, wälzte sie die Frage stattdessen auf ihren Kapitän ab.

In wenigen Zügen leerte er die Schale und stellte sie mit einem zufriedenen Seufzen zurück auf den Tisch. „Es muss schon etwas großes sein“, gab er zu bedenken.

„Zum Beispiel einen legendären Schatz finden?“

Shanks nickte. „Zum Beispiel. Oder einen sehr mächtigen Gegner im Kampf schlagen.“

„Oder eine riesige Flotte befehligen“, schlug Kiara vor.

„Ein hohes Kopfgeld ist ein guter Indikator.“

„Oder wenn die bloße Anwesenheit eine Auseinandersetzung beendet.“

Ein verheißungsvolles Funkeln leuchtete in den Augen des Rothaarigen auf. „Ich sehe, wir verstehen uns.“ Mit diesen Worten griff er nach der bauchigen Flasche und schenkte ihnen nach.

Fünf weitere gut gefüllte Schalen Sake-Aus-Der-Heimat-Des-Kapitäns und die junge Piratin hegte Schwierigkeiten den Kopf mehr als zwanzig Zentimeter über der Tischplatte zu halten. Zwar hatte sie nebenbei gut gegessen, doch trotzdem stieg ihr der Alkohol viel zu schnell in den Kopf und machte sie müde. Die Nacht war inzwischen weit fortgeschritten und der Mond schien hell am Firmament.

„Wo willst du eigentlich schlafen?“, drang die Stimme des Rothaarigen an ihr Ohr.

Mehr als ein langgezogenes „Hm?“ brachte sie vorsichtshalber nicht heraus.

„Na ja, du kannst natürlich beim Rest der Mannschaft schlafen, aber es sind halt alles Kerle“, sagte er langsam.

„Hm.“ Darüber hatte sie sich in der Tat noch keine Gedanken gemacht. „Mir egal, ich kann fast überall pennen“, gestand sie unbekümmert.

Ein spitzbübisches Grinsen huschte über Shanks‘ Lippen. „Wenn das so ist, in meinem Bett ist noch ein Plätzchen frei“, raunte seine Stimme nun gefährlich nah an ihrem Ohr.

Kiara wandte ihren Kopf ihm zu und stellte fest, dass Shanks tatsächlich nur noch wenige Zentimeter entfernt war. Sie spürte eine Hand um ihre Taille wandern. „Hast du mich deshalb abgefüllt?“, murrte sie abgestumpft.

Ihre Frage wurde bedenkenlos weggenickt. „Ach was! Das hätte ich dir auch nüchtern angeboten.“

Er war so nah und einnehmend, dass sie alles an ihm riechen konnte. Nicht nur den Alkohol-Atem, sondern auch seine Haare, seine Kleidung, seine Haut… Und Himmel strahlte er Wärme aus. Wann war er überhaupt herangerückt?

„Ich hab‘ eher an eine Hängematte an ‘nem ruhigen Ort gedacht“, schlug sie stattdessen vor und wollte etwas mehr Abstand zwischen sie zu bringen, doch die Hand an ihrer Taille hielt sie fest an Ort und Stelle.

„Was hat eine Hängematte was mein Bett nicht hat?“, hakte Shanks beflissen nach.

„… Privatsphäre?“, offerierte sie nach einer kurzen Bedenkpause.

„Niemand würde sich grundlos in meine Kabine trauen“, konterte er viel zu schnell.

Kiara zog die Augenbrauen zweifelnd zusammen. „Bitte sag mir nicht, dass du mir erlaubst zu bleiben, nur damit ich deine Bettgenossin werde.“ Irgendeinen Grund musste es ja haben, dass er einen schwächlichen Amateur wie sie aufnahm.

Fast ein wenig gekränkt richtete Shanks seine Haltung und begradigte den Rücken. Sein Ausdruck wurde bitterernst. „Nein. Sowas würde mir niemals einfallen“, verkündete er nachdrücklich.

Das Maß an Deutlichkeit überraschte Kiara ein wenig. Er machte nicht den Anschein zu lügen. Überhaupt fehlte in Kiara jegliches noch so unterschwellige Gefühl einer unmittelbaren Gefahr. Shanks‘ Nähe und Avancen waren ihr nicht unangenehm. Dies war ein äußerst seltener Zustand. Erneut betrachtete sie ihn eingehend und versuchte ihn durch seine dunklen Augen zu ergründen.

Der Rothaarige fand sein spitzbübisches Grinsen wieder und verringerte geschwind die Distanz zwischen ihnen. „Ich meine, wenn du nichts dagegen hast…“ Seine Hand löste sich von ihrer Taille und wanderte schnurstracks ihren Rücken hinauf. Mit federleichten Berührungen seiner Fingerspitzen erreichte er ihren Nacken. Kiara schauderte augenblicklich. „Und immerhin sitzt du noch hier, also…“

Tatsächlich hatte Kiara Aufstehen nicht als eine Option in Betracht gezogen. Natürlich wollte sie ihren neuen Kapitän nicht am ersten Tag kränken oder gar verärgern; Unerwünschte Aufmerksamkeiten ließ sie jedoch nie wortlos über sich ergehen, egal von wem sie kamen. Noch bewegte er sich in einem akzeptablen Rahmen. Und, nebenbei bemerkt, klang die Aussicht auf ein vernünftiges Bett auch gar nicht so schlecht. Kiara ertappte sich dabei das Angebot in Erwägung zu ziehen. „Unter einer Bedingung“, hörte sie sich sagen. Shanks unterbrach das sanfte Kraulen und sah sie aufmerksam an. „Wir schlafen nicht miteinander. Nicht heute und nicht in Zukunft.“

Aus den Augenwinkeln konnte sie beobachten, wie seine Schultern enttäuscht ein wenig sanken. „Und wenn du deine Meinung änderst?“, bohrte er versuchsweise nach.

„Das sag ich dir dann“, entschied sie sachlich. Man sollte schließlich nicht alles in Stein meißeln.

Die dunklen Augen des Rothaarigen leuchteten förmlich. Er nickte. „Einverstanden.“

Und natürlich musste auf das geschlossene Abkommen angestoßen werden.

Sternenstunde

„Siehst du die drei diagonalen Sterne da links? Der hellste von ihnen, in der Mitte, das ist Altair.“ Shanks wies mit der Hand hoch zum Himmelszelt und deutete auf eine der vielen Konstellationen.

Während auf dem Hauptdeck die Party noch voll im Gange war, hatte es den Kapitän und sein neustes Crewmitglied zum Bug gezogen. Seit geraumer Zeit standen sie an der Reling und beobachteten die schier unendlichen Weiten.

„Dann muss das da Vega sein!“, verkündete Kiara und zeigte auf ein weiteres helles Funkeln, nord-westlich, auf der anderen Seite der Milchstraße.

„Fast. Das ist Deneb. Vega liegt dazwischen, noch weiter oben.“ Er schmunzelte. „Sonst würde sie im Fluss baden.“

„Hat sie das nicht getan? Ich dachte, dadurch wäre Altair auf sie aufmerksam geworden.“

Die Aussage ließ den Rothaarigen auflachen. „Ich glaube, du vermischst da was mit einer anderen Sage. Oder du hast wollüstiges Seemannsgarn gehört.“

Kiara zuckte trotzig mit den Schultern. „Würde mich auch nicht wundern. Es ist ein bisschen bedenklich, auf was für Ideen manche Kerle kommen.“

Shanks stöhnte gedehnt auf. „Ja, die Fantasien eines Mannes“, begann er langsam.

„Sind meistens echt verdammt plump“, schloss Kiara kurzerhand.

Er lachte erneut. „Da ist wohl was dran. Aber siehst du? Der Himmel ist gar nicht so anders.“

Die Faszination des fremden Anblickes hatte sie zu diesem Exkurs in Astronomie geführt. Ein paar der wichtigsten Konstellationen und Orientierungspunkte konnte der Rothaarige ihr zeigen. Außerdem war es eine willkommene Gelegenheit ihr nahe zu sein, schließlich musste er die Aussicht auch von ihrem Blickwinkel aus betrachten. Und der befand sich gut anderthalb Köpfe niedriger.

„Kennst du den Polarstern?“ Kiara schüttelte den Kopf. „Er ist sehr nützlich, wenn man im East Blue umhersegelt, denn er weist immer nach Norden.“

Das klang sehr nützlich! Besonders, wenn die Kompassnadel freidrehte oder man nicht wusste, wie man sich am Kreuz des Südens orientieren konnte. „Wo ist er?“, fragte sie und versuchte nach einem auffälligen Stern Ausschau zu halten.

„Wir sehen ihn leider gerade nicht“, entschuldigte sich Shanks. „Aber wenn unser Kurs mal nördlich genug ist, kann ich ihn dir zeigen!“

„Oh, schade.“ Kiara verschränkte die Arme auf der Reling und bettete schläfrig ihren Kopf auf ihnen. „Dann hat man es im East Blue ja echt einfach zu navigieren“, murmelte sie neidisch.

„Wenn man wagemutig genug ist, durch die Nacht zu segeln, dann ja“, stimmte Shanks ein wenig zweifelhaft zu. Aufgrund der schlechten Sicht war ein solches Unterfangen nicht zu empfehlen. Zu spät erkannte man Gefahren, auf die man eventuell geradewegs zusteuerte. Es war weiser die Segel zu reffen und das Ende eines Tages zu genießen. Außerdem verdiente jeder Seemann auch seine Pause.

Ein ausgiebiges Gähnen veranlasste den Kapitän dazu, die Feierlichkeiten allmählich zu beenden und sich in seine Quartiere zurückzuziehen. Der Vize ermahnte jeden Piraten, der vorwitzig meinte einen Pfiff ertönen zu lassen, als Kiara dem Rothaarigen schnurstracks folgte. Er öffnete die Tür zur Kabine und ließ ihr höflich den Vortritt. Kaum hatten sie seine Räumlichkeiten betreten, erkannte Kiara drei grundsätzliche Wahrheiten.

Nummer Eins: Sie hatte sich noch nie auf einen Typen eingelassen – und schon gar nicht so schnell.

Nummer Zwei: Das Bett in der Ecke der Kajüte war definitiv nicht für zwei Personen ausgelegt.

Nummer Drei: Sie war eigentlich verdammt schüchtern.

Während Shanks sich aus Umhang und Hemd pellte, stand Kiara drucksend mitten im Raum und führte einen inneren Monolog, wie viele Kleidungsstücke sie wohl ablegen sollte. Sie stimmte gerade mit sich selbst überein, dass die Stiefel zumindest ein guter Anfang wären, als ihr Blick auf den bandagierten Armstumpf fiel, welcher sich ihr nun offenbarte.

„Ist das frisch?“, fragte sie und kam sich augenblicklich unglaublich blöd und taktlos vor. Sie wollte nicht starren, aber so etwas hatte sie noch nie gesehen. Piraten mit Holzbeinen, Augenklappen oder Haken waren ihr durchaus bekannt. Diese Verletzungen waren jedoch meist vor vielen Jahren bereits verheilt und nahezu stereotypisch, sodass sie Kiara kaum noch beachtete.

Shanks drehte sich verwundert zu ihr und folgte dann ihrem Blick. „Vor drei Wochen. Von einem Seekönig abgebissen.“

Kiara presste die Lippen zusammen. „Tut mir leid.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ist schon okay. Ich habe ihn gerne für einen guten Zweck hergegeben.“ Nachdenklich strich er über die Bandagen, beinahe so als musste er sich selbst erneut über den Zustand vergewissern.

„Du bist Linkshänder… gewesen, oder?“, fragte Kiara leise. Seine Bewegungen wirkten teilweise unbeholfen, nicht routiniert und sein Schwert hing noch immer an seiner rechten Seite.

Überrascht hob Shanks die Augenbrauen. „Das hast du gut erkannt.“

„Wenn du mal jemanden brauchst, der für dich was aufschreibt, sag Bescheid. Meine Handschrift ist zwar bestimmt nicht die schönste, aber immerhin leserlich.“ Sie wusste nicht genau, warum sie ihm das anbot, aber sie konnte sich vorstellen, dass dieser Verlust nicht leicht für ihn war, egal wie fröhlich er die ganze Zeit grinste.

Shanks lächelte sie warm an. „Danke, ich werde es mir merken.“ Langsam ließ er sich auf den breiten Holzrahmen des Bettes nieder und schlüpfte aus den Sandalen. Anschließend sah er sie erwartungsvoll an. „Hast du vor in voller Montur zu schlafen? Ich mache wirklich nichts, was du nicht möchtest. Du kannst es dir also ruhig bequem machen.“

Irritiert sah Kiara an sich herab. Sie war so von seinem Arm abgelenkt gewesen, dass sie sich kein Stück gerührt hatte. Zudem war sie in ihrer Überlegung keinen Schritt weitergekommen. Während sie Mantel und Stiefel ablegte, zog sich Shanks auf die Matratze und ließ sich in die Kissen fallen. Letztendlich entledigte sie sich noch ihrer Strümpfe und dem weiten Leinenhemd, entschlossen, dass Hose und Leibchen ausreichen sollten und kletterte geschwind in das schmale Bett. Eilig legte sie die dünne Decke um sich, darauf bedacht ihre entblößte Form wieder zu verhüllen.

Neben sich konnte sie Shanks leise lachen hören. „Du bist ja tatsächlich flach.“

„Ich kann auch auf dem Stuhl schlafen“, fauchte sie ihm entgegen.

Bevor sie jegliche Anstalten dergleichen machen konnte, schlang sich ein schwerer, starker Arm um ihren Oberkörper und zog sie an die warme Brust des Rothaarigen. Mit Genugtuung vergrub er das Gesicht in ihrem braunen Schopf. „Nach einem solchen Tag hast du einen erholsamen Schlaf verdient und keinen Stuhl“, murmelte er gedämpft.

Es war überraschend einlullend, seinen Herzschlag und ruhige Atmung an ihrem Rücken zu spüren. Aus Kiaras Schultern löste sich eine Anspannung, die sie völlig vergessen hatte. Federleicht streichelte sein Daumen über ihre Seite. Ein entspanntes Seufzen entfloh ihren Lippen.

„Kuschelst du auch so gerne wie ich?“, schmunzelte Shanks leise.

„Für mein Leben gern“, gestand sie flüsternd.

Zärtlich drückte er ihre schmale Gestalt noch etwas enger an sich. „Ich bin dankbar, dass du da bist“

Mit einem wärmenden Gefühl der Geborgenheit im Bauch schmiegte Kiara zufrieden das Gesicht ins weiche Kissen. „Gute Nacht, Shanks.“

Morgenstund

Trübes Tageslicht brach durch die schmuddeligen Fensterscheiben und tauchten die hölzerne Kajüte in warmes Morgenrot. Leise murrte Kiara im Halbschlaf und streckte sich ein wenig. So entspannt und erholsam hatte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen. Der Versuch sich rumzudrehen scheiterte allerdings, da immer noch etwas Schweres über ihrem Oberkörper lag und sie fest im Griff hielt.

Langsam blinzelte Kiara die Augen auf. Es benötigte ein bisschen Zeit, bis die Erinnerungen an den gestrigen Tag wieder aufkeimten, doch dann erkannte sie die Kabine des Kapitäns und wurde sich bewusst, warum sie dort war. Bei dem schweren Etwas handelte es sich um den Arm des Rothaarigen, welcher sich eng um sie geschlungen hatte. Sie spürte seine warme Haut an ihrer. Seine Hand drückte ihren Rücken fester an seine Brust. Kiara nahm einen tiefen Atemzug und biss sich kontrolliert auf die Wange.

„Shanks“, murmelte sie argwöhnisch.

„Hmm?“, ertönte ein zufriedenes Brummen hinter ihr.

„Nimm die Hand aus meinem Hemd.“

„Oh. Vzzun.“ Kam die beinahe unverständliche Antwort.

In Windeseile schlängelte der Arm aus ihrer Kleidung hervor. Die Hand wollte er aber trotzdem nicht bei sich behalten und tastete stattdessen nach ihrer. Kiara seufzte billigend und verhakte ihre Finger. Diese Position gefiel ihr bedeutend besser. Seine Hand war ganz schön groß im Vergleich zu ihrer eigenen, verschwand sie augenscheinlich gänzlich in seiner.

„Gu’n Mor’n“, vernahm sie erneut ein Brummen hinter sich.

Etwas Warmes legte sich auf ihren Nacken und heißer Atem strömte über ihre Haut. Augenblicklich spannte sich Kiara an. „Bist du wach?“, fragte Kiara etwas lauter, nur um sicher zu gehen.

Sie spürte wie seine Lippen weiter zu ihrer Halsbeuge wanderten. Das Gefühl auf ihrer Haut kitzelte und irritierte sie so sehr, dass sie zusammenzuckte und ihren Ellbogen dabei in die Brust ihres Bettgenossen stieß. Ein gedämpftes Stöhnen erklang.

„Jetzt ja.“

„Nicht. Das kitzelt“, bat sie direkt.

Die Gewichtsverteilung änderte sich und ließ die Matratze wanken. Im nächsten Moment fand sich Kiara auf dem Rücken wieder und ein roter Haarschopf tauchte in ihrem Blickfeld auf, das verschlafene, schelmische Grinsen ihres Kapitäns gleich hinterher.

„Es kitzelt? Aber es ist nicht schlecht?“, fragte er raunend.

„Lass uns doch erstmal besser kennenlernen“, schlug Kiara zaghaft vor.

Der Rotschopf neigte sich behutsam runter zu ihrem Kiefer. „Das tun wir doch gerade.“

Entschieden fasste die junge Piratin ihren Kapitän mit einer Hand ins Gesicht, die andere an sein Schlüsselbein und schob ihn von sich. Er verzog verwirrt die Miene; Das war nicht die Berührung die er sich erhofft hatte.

Ihr Herz pochte viel zu heftig und die erröteten Wangen konnte sie wohl ebenfalls nicht leugnen. „Gestern warst du verständnisvoller.“

Shanks betrachtete sie für eine Weile eingehend. Dann nickte er langsam. „Ich wusste nicht, dass du das auch ausschließt. Aber du hast recht. Immerhin habe ich dir versprochen nichts zu tun, was du nicht möchtest.“ Eine leichte Schmolllippe zeichnete sich ab. „Aber du solltest auch deutlicher machen, wenn du etwas nicht möchtest. Ich mein, du bist doch noch Jungfrau, oder? Die muss man immer so ein bisschen in die gewisse Richtung anstupsen.“

Perplex öffnete sich Kiaras Mund um etwas zu erwidern. Aber ihr Gehirn konnte nicht schnell genug verarbeiten, worauf sie zuerst auf welche Weise reagieren sollte. Stattdessen schnaufte sie nur halb lachend, halb gereizt. Eine Augenbraue zuckte gefährlich in die Höhe. „Hast du gut erkannt.“

Vorsichtig erhob sich der Kapitän und räusperte sich. „Ich glaub, das ist der Zeitpunkt, wo ich mal nach dem Rest der Crew sehen sollte?“

„Wir können weiterreden, nachdem ich einen Kaffee hatte“, zeigte sich Kiara ein bisschen versöhnlicher. Insgeheim fand sie das Bett zu bequem um es aufzugeben.

Shanks zog sein Hemd von dem Holzstuhl und machte sich an die Arbeit es sich anzuziehen. „Tut mir leid, wenn ich dir zu sehr auf die Pelle gerückt bin“, gab er ruhig von sich.

„Entschuldigung ist akzeptiert, Käpt’n.“

„Das tut fast ein bisschen mehr weh als der Ellbogen.“

Ihre Mundwinkel kräuselten sich leicht. „Gut.“

Wenige Zeit später stand Kiara mit einer Tasse Schwarzen Tee an die Reling gelehnt und ließ den Blick über die morgendliche See schweifen. Sie war ruhig und schimmerte beinahe romantisch. Das bunte Treiben der Crew spielte sich auch leicht verkatert genauso wie am gestrigen Tage ab.

„Seit langem mal wieder eine Frau an Bord und sie zeigt einem die Kalte Schulter.“

Kiara wurde hellhörig. Aus den Augenwinkeln sah sie ein paar Männer Seile sortieren und aufrollen. Die Arbeit war ihnen zu eintönig, sodass sie sich dabei rege unterhielten ohne Sorge um die Lautstärke ihrer Worte.

„Dem Boss geht wohl das Feuer aus.“ Stolz auf das Wortspiel zu der kalten Schulter stieß er seinen Kollegen mit dem Ellbogen an, sodass diesem davon prompt ein paar Schlingen vom Seil aus der Hand fielen.

Er nahm es ihm nicht so übel, wie man meinen sollte. Die Zeit für ihr Gerede war ihm zu gut für schlechte Laune und so setzte er bloß nach: „Sein Charme wirkt bei den jungen Dingern anscheinend nicht mehr. Der hat wohl Flaute.“

„Oder es hat noch nie gewirkt. Wer weiß, was der Boss für Seemannsgarn erzählt“, wagte der dritte zu spekulieren und presste die Lippen zusammen, um ein halbwegs ernstes Gesicht zu machen und nicht gleich loszuprusten.

Interessiert wandte sich das Gesprächsthema zu den Herrschaften um, stützte den Kopf ab und lauschte sehr offensichtlich dem neusten Kaffeeklatsch.

Angestachelt von der Annahme seiner Kumpane, überlegte der nächste was eine mögliche Erklärung sein konnte. „Vielleicht ist er in Wahrheit ein Softie. Neuerdings ganz zahm nur mit Kuscheln ohne Anfassen.“

Alle drei hoben die Augenbrauen, als seien sie einem Geheimnis dicht auf der Spur.

Dann jedoch zog einer von ihnen die Brauen tief zusammen, sodass sich Falten auf seiner Stirn bildeten. „Bei so einem Brett ist aber nicht viel mit soft.“

Lautes Gackern schallte über das Deck.

„Ey ihr Tratschtüten, ich kann euch hören!“, ließ Kiara verlauten, der das nun doch etwas zu bunt wurde.

Das Gelächter verstummte und die drei Männer wandten sich zu ihr um. Einen Moment starrten sie ohne die Miene zu verziehen, dann zeigte sich erneut der Schalk in ihren Augen und breit grinsend traten sie ein Stück auseinander, um sie in ihre Gesprächsrunde einzuladen.

„Hast du etwas dagegen einzuwenden?“, kam es von einem zurück.

Herausfordernd trat die Angesprochene ein paar Schritte auf sie zu und wollte gerade ganz tief in ihren Beleidigungstrickkistensack greifen um einen geeigneten Konter hervorzukramen, als sich eine bekannte Stimme hinter ihr meldete.

„Mit dem Alter lernt man einfach sich Zeit zu lassen und genügsamer zu werden. Wenn ihr euch erstmal genug die Hörner abgestoßen habt, kommt ihr vielleicht ebenfalls zu dieser Erkenntnis“, verkündete der Kapitän bedachtsam.

„Siehst du, kein Softie. Er ist einfach nur alt“, erklärte der eine fachkündig seinem Nebenmann und tippte ihm mit den Ellbogen in die Seite. Das Glucksen in seiner Stimme verriet sein Amüsement.

„Demnächst hängt er die Piraterie an den Nagel um sich eine Altersresidenz zuzulegen“, setzte der andere hinzu und wieder begannen sie bei der Vorstellung laut zu Gackern.

Kiara schmunzelte den Rothaarigen belustigt an. „Du hast deine Bande voll im Griff, wie ich sehe.“

Verlegen rieb sich Shanks den Nasenrücken. „Nun, es war einen Versuch wert.“

Nach einem kurzen Kopfschütteln wandte sich Kiara wieder ihrem Tee zu, um ein paar Schlucke zu trinken. Er hatte gerade die perfekte Temperatur um sich nicht mehr die Zunge zu verbrühen.

„Ich wollte mich noch einmal entschuldigen wegen vorhin.“ Shanks lehnte sich ebenfalls an die Reling, den Blick auf das Meer gerichtet. „In meiner Traumvorstellung sind wir doch ein bisschen weitergekommen und ich war nicht ganz imstande es im restalkoholisierten Halbschlaf von der Realität zu unterscheiden. Es war nicht richtig, wie ich mich verhalten habe und es tut mir leid.“

Sie nickte langsam. Die Geschehnisse schienen die letzten paar Stunden tatsächlich an ihm genagt zu haben. „Das bedeutet mir viel und ich nehme die Entschuldigung gerne an. Danke, Shanks.“

„Tja, nie wieder Sex“, tönte der ungefragte Seitenkommentar.

„Klappe zu, sonst gibt‘s zwei Wochen Toilettendienst“, warnte der Kapitän streng.

Kleinlaut gingen die drei ihrer Arbeit woanders nach.

„Ich denke wir haben noch genug Zeit uns gegenseitig kennenzulernen“, wiederholte Kiara noch einmal bedächtig. Sie hatte ehrliches Interesse daran. Und nicht nur wegen dem bequemen Bett.

Kennenlernen

Es war bereits der vierte Abend in Folge, an dem die Crew eine Party veranstaltete. Was überhaupt gefeiert wurde war schwierig nachzuvollziehen, jedoch schien jeder noch so kleine Grund gut genug zu sein um darauf anzustoßen. Kiara erinnerte das Verhalten an die Fasching-feiernden Piraten auf Booty Island.

Sie selbst hingegen entschuldigte sich und zog sich bereits früh von der ausgelassenen Gesellschaft zurück. Nach einem Tag voller Schwertkampftraining hatte sie einfach keine Energie mehr übrig um ansatzweise mit der Meute mitzuhalten. Stattdessen entzündete sie die Kerzen in der Kapitänskabine um für ausreichend Beleuchtung zu sorgen. Anschließend durchstöberte sie das großzügige Bücherregal, welches in der Schiffswand eingelassen war, nach etwas entspannender Lektüre. Etwas verstohlen nahm sie mit dem auserkorenen Buch am massiven Schreibtisch Platz und fühlte sich selbst ein bisschen wie ein Kapitän.

Ihr war es für ein paar ruhigere Stunden vergönnt in die Geschichte einer Revolution einzutauchen. Kurz bevor die Erzählung einen ihrer Höhepunkte erreichte, wurde die Türe zu den Quartieren aufgestoßen und laute, schwungvolle Musik drang in die Gemächer ein.

„Hier steckst du“, kam es überrascht vom Kapitän. Der musste ihre Ankündigung im Trubel völlig überhört haben.

„Hab‘ ich doch gesagt“, erwiderte Kiara etwas hilflos.

„Mensch, ich hab‘ dich schon vermisst. Da draußen geht die Post ab und du hast dich hier verschanzt.“ Sein Gang verriet ihr, dass er sich bereits ein paar Krüge Bier hinter die Binde gekippt hatte. Kaum hatte er den Schreibtisch erreicht, stützte er sich mit der Hand darauf ab. Es wirkte relativ lässig, aber vermutlich wollte er einfach nur seinem Gleichgewicht zu etwas Stabilität verhelfen. Das frivole Grinsen fror kurzzeitig ein, nachdem er sie kurz gemustert hatte. „Oder geht’s dir nicht gut?“

Unbekümmert schüttelte Kiara den Kopf. „Alles gut. Ich brauchte nur mal eine Auszeit.“

Es war ganz angenehm gewesen, einfach eine Weile für sich zu sein. Keine Mannschaft um einen herum, die ständig wuselten, quatschten oder sich zum Spaß rauften und kein Kapitän der sie mit seiner bloßen Anwesenheit von jeglichen klaren Gedankengängen ablenkte.

Shanks schien erleichtert zu sein. Dann fiel ihm das Buch unter ihren Fingern auf. „Liest du gerne?“

Kiara lächelte. „Kommt drauf an. Manchmal kann ich ein Bücherwurm sein.“

Der Rothaarige nickte anerkennend. „Schmöcker so viel du möchtest. Meine Bibliothek steht dir offen.“

Draußen an Deck wurde ein neues Lied angestimmt. Wer auch immer die Trompete spielte, er legte besonders viel Gefühl in seine Melodie. Sie verlieh Kiara ein angenehmes Kribbeln welches über ihren Rücken wanderte. Auch die anderen Crewmitgliedern schienen davon angetan zu sein. Pfiffe und Applaus mischten sich unter das Lied. Die restlichen Musiker ließen nicht lange auf sich warten und stiegen beschwingt mit ein.

Kiara konnte nicht anders, als den Fuß im Takt zu wippen. Kurzerhand nahm sie das nächstgelegenste Stück Papier, welches sie auf dem Schreibtisch finden konnte, und legte es als Lesezeichen zwischen die Seiten des Buches. Voller Tatendrang stand sie auf. „Hast du Lust zu tanzen?“

Shanks‘ Augen leuchteten bei ihrer Aufforderung. Zu gerne nahm er ihre Hand und führte sie in die Mitte des Raumes, damit sie genügend Platz hatten. Ein Arm weniger sollte kein Hindernis für sie darstellen. Kiara hielt seine Hand mal mit ihrer linken, mal mit ihrer rechten, mal mit beiden Händen während sie ausgelassen durch die Gegend tanzten. Er drehte sie spaßeshalber ein paar Mal um ihre eigene Achse und dann noch einmal anders herum, damit ihr nicht schwindelig wurde. Sie schüttelten Schultern und Beine, ließen die Hüften kreisen und übertönten vor lauter Lachen beinahe die wunderbare Musik.

Als großen Abschluss ließ Shanks es sich nicht nehmen seinen Arm um ihre Taille zu schlingen und sie nach hinten zu dippen. Aus Reflex umschlang sie seinen Hals, um Halt zu finden, während ihr Fuß vom Boden abhob und beinahe waagerecht in der Luft hing, um ihre Körperspannung zu bewahren. Der kleine Schock brachte Kiara dazu noch lauter und erleichterter zu lachen. Es war ein wunderbar befreiendes Gefühl und sie grinste noch immer über beide Ohren, als Shanks sie zurück in die Senkreche zog. Dieser nutzte die Gelegenheit und ihre Position aus, um die Umarmung für einen kurzen Moment zu vertiefen.

Ehe sie sich vollkommen voneinander lösen konnten, strich der Rothaarige ihren Arm entlang um ihre Hand wieder in seine zu nehmen. Mit einer fließenden Bewegung hob er ihre Knöchel zu seinem Mund und platzierte einen feinen Kuss auf ihnen. „Vielen Dank für den Tanz“, hauchte er gegen ihre Finger und hielt dabei unbeirrt den Blickkontakt aufrecht.

Es war eine Geste, die Kiara wohlbekannt war. Trotzdem trieb sie ihr dieses Mal einen Hitzeschwall in die Ohren, welche prompt rot glühten. „Oh, ähm. Keine Ursache. Ich habe zu danken!“, stotterte sie unbeholfen und nahm vorsichtig die Hand zurück. Der Wellengang wurde allmählich turbulenter. Das Schiff schaukelte fröhlich umher, mitsamt der jungen Piratin, welche beinahe das Gleichgewicht verlor.

Glücklicherweise hatte Shanks sie schnell im Griff. „Hoppala, nicht so stürmisch. Komm, setz dich.“ Bedacht ließ er sie auf den breiten Bettrahmen niedersinken und nahm den Platz neben ihr ein.

„Du bist mit deiner Zuwendung wirklich extrovertiert“, kommentierte Kiara noch leicht außer Atem.

„Wenn ich meine Zuneigung zeigen kann, möchte ich das auch tun“, stimmte Shanks zu.

Es entging Kiara nicht, dass er extra nah genug an ihr saß, dass sich ihre Schultern berührten konnten. Etwas unbeholfen lehnte sie sich in seine Seite und spürte prompt wie Shanks seine Hand an ihre Schulter legte.

„Ist das eigentlich ein Dauerzustand oder flaut das nach ein paar Wochen ab, wenn das Interesse schwindet?“, fragte sie neugierig.

Der Rothaarige neigte den Kopf um sie eingehender betrachten zu können. „Bevor wir unseren derzeitigen Kurs gesetzt haben, lagen wir ein Jahr lang am Hafen des Windmühlendorfs. Dort ist eine äußerst liebenswürdige Barbesitzerin. Ich habe mich bis zur Abreise bemüht ihr jeden Tag zu zeigen, dass sie ein wundervoller Mensch ist und ich sie sehr schätze und mag“, erzählte er ruhig.

Kiara musste schmunzeln und die Vorstellung allein trieb ihr eine leichte Röte in die Wange. „Das ist sehr süß.“

Überrascht hoben sich die Brauen des Kapitäns, doch dann atmete er amüsiert auf. „Manch andere Frau würde sich jetzt eifersüchtig zeigen“, bemerkte er.

Sie winkte ab. „Es wäre utopisch zu glauben, die absolut einzige Frau im Leben eines Piraten zu sein. Vor allem bei deiner“, sie pausierte und beäugte ihn, während sie nach einem passenden Wort suchte, „Überzeugungsarbeit“, schloss sie schließlich. „Wenn ihr eine gute Zeit hattet und alles einvernehmlich geschah, bin ich die letzte die es jemandem vergönnt.“

Shanks malte mit seinen Fingerspitzen kleine kreisförmige Muster auf Kiaras Schulter. „Ich falle wohl etwas mit der Tür ins Haus?“, schätzte er.

Kiara legte den Kopf schief. „Warum eigentlich? Lädst du direkt jede Frau ein mit dir das Bett zu teilen?“, fragte sie neugierig.

„Nicht jede. Aber… Viele. Ja.“

„Einfach nur zu deiner Bespaßung?“, hakte sie weiter nach.

Dieses Mal ließ sich der Kapitän mehr Zeit um seine Antwort zu formulieren. „Ich würde sagen, eine Hand wäscht die andere. Ich biete ein Bett, Privatsphäre, Ruhe und Gesellschaft. Und ich profitiere ebenfalls davon, natürlich.“

„Also quasi das Privileg des Kapitäns. Du hast etwas zu bieten, du hast das Sagen und du nimmst die Frau in deine Obhut, bevor ein anderer kommen kann.“

Der Rothaarige nickte anerkennend.

„Und wenn sie sich ziert, versuchst du sie von ihrem Glück zu überzeugen“, vollendete Kiara ihre These.

Das Kraulen pausierte kurzweilen, als Shanks die Hand für eine abwehrende Geste hob. „Was nicht heißt, dass ich mich aufdrängen möchte, keineswegs. Wärst du zum Beispiel komplett abgeneigt gewesen, hätte ich dir meine Kabine trotzdem angeboten aber ich hätte bei der Crew geschlafen. Oder wenn du wirklich Vierzehn gewesen wärst“, wandte er ein. Seine Hand suchte erneut den Kontakt zu ihrer Schulter. „Aber solange zwei erwachsene Menschen damit einverstanden sind, wieso nicht? Zu zweit ist es doch schöner als allein. Oder wie siehst du das?“

Kiara konnte eigentlich nur zustimmen. Sie hätte auch nichts dagegen einzuwenden gehabt, die Nächte für sich zu verbringen, aber seine Nähe war beruhigend – in den meisten Fällen jedenfalls – und das Kuscheln war durchaus angenehm. „Ich bin beruhigt, dass es wohl ein bisschen tiefgründiger zu sein scheint, als einfach nur die nächstbeste abzuschleppen“, sagte sie schließlich.

„Andersherum gefragt: Was bewegt dich dazu meine Annäherungsversuche zu gewähren?“, fragte Shanks nun offen.

Die Angesprochene schürzte nachdenklich die Lippen. „Ich hab‘ nichts dagegen“, antwortete sie wahrheitsgetreu. „Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich inzwischen Fischfutter. Ich bin dir sehr dankbar und ich vertraue dir, deshalb ist es für mich okay. Und es macht dich offenbar glücklich, also ein Gewinn für beide Seiten.“

Shanks ließ bedröppelt seine Schultern sinken. „Nur okay?“

Sie wandte den Kopf hinauf um in sein Gesicht zu sehen und schmunzelte warmherzig. „Nein, ich mag es wirklich.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück