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Tödlicher Traum

von

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Der tödliche Traum

Wenige Sekunden können sich zu einer Ewigkeit dehnen und trotzdem bloß einen Wimpernschlag dauern. Diese Erfahrung machte ich drei Mal in meinem Leben. Zum ersten Mal, als Eric starb. Zum zweiten Mal kurze Zeit später, als Riven sich den Sieg erkämpfte. Und zum letzten Mal, als ich vor dem Füllhorn stand und darauf wartete, dass meine Hungerspiele begannen.

Ich war vorbereitet. Der Weg, der vor mir lag, schien so klar wie das Meer unter dem Vollmond. Links halten, den roten Rucksack einsammeln. Das Seil vor mir wäre nützlich. Dahinter die feuerfesten Handschuhe. Weiter, zum Füllhorn. Wenn nötig, mich durchschlagen. Einen Speer schnappen. Und dann – nach Edy, meinem Mittribut, Ausschau halten. Ihm einen Ausweg freihalten. Er hätte keine Chance gegen Cato, aber ich könnte ihm eine verschaffen.

Danach – danach herrschte nur Leere. Kämpfen. Überleben. Was auch immer nötig war. Solange eine Waffe in meiner Hand lag, würde alles gut werden. Davon war ich überzeugt.

Worauf ich nicht vorbereitet war, waren die Zweifel. Die Angst. Die Panik. Der staubtrockene Mund und das rasende Herz. Ich starrte auf den Countdown, der unaufhaltsam schleichend das Ende einläutete. Meine Zukunft rann mir durch die Finger wie feiner Sand.

Beim Anblick des glänzen Füllhorns unter der Vormittagssonne zerfielen jegliche guten Vorsätze zu Staub. Hier waren vierundzwanzig von uns und gleich wäre das Töten nicht länger eine ferne Vorstellung. Überleben brauchte mehr als nur einen sorgfältig zurechtgelegten Plan – Glück. Warum kamen diese Erkenntnisse immer dann, wenn es zu spät war?

Jeder Tag meines Lebens, seit ich zwölf war, hatte dem Ziel gegolten, mich an diesen Ort zu führen. Mehr als einmal hatte ich davon geträumt, wie die Stimme von Claudius Templesmith ‚Fröhliche Hungerspiele‘ verkündete und ich losstürmte, dem Sieg entgegen.

Während meine Augen noch den besten Weg zu diesem Ziel suchten, unternahmen meine Gedanken derweil einen verzweifelten Fluchtversuch. Fort von der Arena, zurück an den Anfang. Ich hatte doch keinen Fehler gemacht?

 

***

 

Dunkel ragte die Lagerhalle vor mir auf, ein riesiges Maul, bereit, mich zu verschlucken und in jemand anderen zu verwandeln. In eine Karriero. Stark, schlau und tödlich. Eine Kriegerin. Dann würde niemand mehr zur mir herabsehen. Cordelia, die Arme aus der Familie von Tuchmachern, wäre vergessen. Die, der nicht das ganze Meer zu Füßen lag, sondern der bloß die Existenz in einer heruntergekommenen Werft zustand, würde in der Arena sterben. An ihrer statt würde Cordelia, die Siegerin geboren werden.

Meine Finger tasteten nach dem bunten Stoffband am linken Handgelenk. Rot, Grün, Blau und Gelb schlangen sich die farbigen Garne ineinander, ein Mahnmal dieser Herkunft aus den Schiffsbauer-Slums und gleichzeitig wertvollste Erinnerung an all jene dort, die mir am Herzen lagen. Ich atmete tief ein und trat in die Dunkelheit.

Es dauerte einen Moment, bis meine Augen sich an das Dämmerlicht im Inneren der verdeckten Trainingshalle gewöhnt hatten. Unter dem Schein der einzigen Leuchte hoch oben an der Decke standen die zukünftigen Tribute von Distrikt vier, sechzehn an der Zahl. Von heute an waren sie nicht länger Fremde, die ich aus der Ferne bewunderte.

Die Blicke sämtlicher Anwesenden ruhten schweigend auf mir, als ich zögerlich vortrat. Bis heute kann ich nicht sagen, warum sie mir sofort auffiel. Vielleicht hatte sie schon damals etwas von der Siegerin an sich, zu der sie heranwachsen würde. Ihr hellrotes Haar leuchtete unter dem elektrischen Licht wie die Abendsonne und als sie mich aus ihrem sommersprossigen Gesicht hervor angrinste, stahl sich spontan dasselbe Grinsen auch auf meine Lippen.

„Hey, ich bin Riven!“, stellte sie sich voller Selbstverständlichkeit vor. „Die zukünftige Siegerin der 73. Hungerspiele – nur, dass du schon mal vorgewarnt bist. Ich habe nicht vor, den Platz aufzugeben.“

„Nicht, wenn ich da ein Wörtchen mitzureden habe“, scherzte ein blonder Junge neben ihr, woraufhin sie ihm gespielt den Ellenbogen in die Seite stieß.

„Klappe, Eric. Arbeite lieber an deinen Überlebenstaktiken, sonst wirst du gar nicht erst ausgewählt für die Spiele.“

„Ähm ...“, entwich es mir überrascht. Doch dann hob ich das Kinn und straffte die Schultern, wie ich es daheim so oft geübt hatte. Ausstrahlung, davon sprachen die Moderatoren im Fernsehen schließlich immer. „Ich bin Cordelia. Und ihr habt Glück – ich habe vor, Siegerin der 74. Hungerspiele zu werden!“

Leises Kichern aus den Reihen der übrigen Anwärter drang zu mir. Aber Rivens Grinsen wurde bloß noch größer. „Gefällt mir. Zwei aufeinanderfolgende Siege für ein- und denselben Distrikt, das hat es bisher nie gegeben.“ In ihren Augen lag ein Funkeln, das ganz und gar nichts mit dem schummrigen Licht hier drinnen zu tun hatte. „Das sollten wir ändern.“

Mit ausgestreckter Hand trat sie auf mich zu. „Wie wär’s, trainieren wir heute zusammen? Eric lässt dich bestimmt auch mal gewinnen, weil’s dein erster Tag hier ist.“

Von da an war es beschlossen. Wir waren eine kleine Schicksalsgemeinschaft, erfüllt von einem gemeinsamen Traum und daraus wurde bald schon mehr. Unsere Leben verwoben sich untrennbar miteinander, nur erkannten wir das erst, als es viel zu spät war.

 

***

 

Mein Blick löste sich von der unmittelbaren Umgebung des Füllhorns. Nachdem der Weg zu den Waffen feststand, war das zweitwichtigste die Arena. Womit würden wir es zu tun bekommen?

Eine warme Brise fuhr mir ins Gesicht, während ich den Kopf hob. Hohe Laubbäume erstreckten sich in einem weiten Kreis um die Lichtung mit dem Füllhorn. Das war gut, besser als die Eiswüste ein Jahr zuvor. Im Wald fand man immer Nahrung, solange man wusste, wonach es sich lohnte, Ausschau zu halten.

Edy würde klarkommen. Diese Situation hatten wir geübt, oft genug. Er war nicht doof, er konnte zwischen essbaren und giftigen Beeren unterscheiden. Ich nahm einen tiefen Atemzug und sog zum ersten Mal bewusst die Arenaluft in meine Lungen.

Es roch frisch, nach wachsendem Gras und wilder, ungezügelter Natur. Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Wir durften nur nicht zögern, die anderen zuerst zu töten. Da waren genug Sponsoren auf unserer Seite. Cece, die Eskorte von Distrikt vier, hatte immer wieder davon geschwärmt.

Langsam beugte ich das Knie und lehnte mich auf meiner Plattform nach vorne, den hinteren Fuß fest gegen das unnachgiebige Metall gestemmt. Das war wichtig. Im Wettlauf zum Füllhorn kam es auf jede Sekunde an. Zögern kostete Leben.

Und trotz aller Vorbereitung konnte ich meine frei umherfliegenden Gedanken nicht länger beherrschen. Wie ein gerissenes Gummiband schnellten sie zurück in die Vergangenheit, um mich mit lebensgefährlichen Zweifeln zu plagen.

 

***

 

„Weißt du, was du getan hast?“ Ihre Stimme war so wütend wie das Meer, das in stürmischen Wellen gegen die Felsen schlug. „Warum meldest du dich als Tribut?“

„Das haben wir uns doch geschworen. Wir gewinnen, zusammen! Du hast dein Wort gehalten, da mache ich doch jetzt keinen Rückzieher.“ Breit grinsend hielt ich meinen kleinen Finger hoch. „Weißt du noch? Genau hier haben wir es besiegelt.“

Nur, dass damals die Sonne fröhlich herab schien. Heute peitschte uns der Wind kalten Regen um die Ohren und die Klippen waren gefährlich rutschig. Trotzdem saßen Riven und ich auf unserem Stammplatz, einem abgeflachten Felsen ganz am Ende der Bucht, außerhalb der Sichtweite von Friedenswächtern.

„Ich habe dich nicht darum gebeten, Elia“, fauchte sie wie eine streunende Katze, die vom frischen Fisch verscheucht wird. „Im Gegenteil. Brich dein Wort, vergiss, was wir uns geschworen haben. Lass uns einfach ... weitermachen wie vorher.“

Fassungslos starrte ich meine beste Freundin an, die den Blick fest auf die wogende See gerichtet hatte. Oder wohl besser ehemalige Freundin? Ich erkannte sie nicht wieder. Sie sah noch immer aus wie das Mädchen, das vor so vielen Jahren mein größtes Vorbild geworden war – schon bevor sie mich in drei Schlägen auf die Matte befördert hatte. Aber ihre Stimme war eine andere, seit sie aus der Arena zurückgekommen war.

Ihre Worte stachen direkt ins Herz und das feine Brennen fütterte den unterschwelligen Zorn in meiner Brust. Genervt strich ich mir die feuchten Haare aus dem Gesicht. „Was soll das heißen? Willst du jetzt nicht, dass außer dir noch jemand gewinnt? Ist es das?“

Riven schnaubte. „Wenn ich könnte, würdest du für einen Tag das Leben einer Siegerin kennenlernen. Aber noch viel lieber will ich, dass wir die Sache vergessen. Warum kannst du nicht einfach hierbleiben?“

„Damit du die große strahlende Siegerin bist und ich deine doofe Freundin, die immer nur Zweitbeste ist? Sobald ich gewonnen habe, werden sie mir zujubeln. Hast du Angst davor? Dass sie nicht mehr deinen Namen rufen? Fürchtest du, dass das Kapitol dich vergisst?“ Ich wusste nicht, wo die Worte auf einmal her kamen, aber jedes Einzelne ließ die Flammen der Wut höher schlagen. Je länger ich redete, desto gemeiner wurde ich. „Gib’s doch zu, es gefällt dir! Alle reißen sich um dich, das willst du nicht teilen!“

Das Schlimmste war, dass sie mich immer noch nicht ansah. Sie starrte bloß auf das gottverdammte Meer, als würde es allein sämtliche Antworten kennen. Mit einem Schlag hasste ich alles. Den Ozean, den beschissenen Regen, die Akademie und Riven.

„Jetzt erst recht, Riv! Ich breche keinen Schwur. Ich werde gewinnen, ob es dir gefällt oder nicht!“ So schnell es der rutschige Fels erlaubte, stand ich auf. „Und dann musst du damit klarkommen.“

„Hast du mal an Eric gedacht?“ Der Wind riss die Worte beinahe von ihren Lippen. Wo meine Stimme voller Leben war, schien ihre so tot wie das Laub im Herbst. „Hast du jemals daran gedacht, was mit ihm geschehen ist?“

Ich presste den Kiefer aufeinander. Natürlich hatte ich nicht vergessen. Wie jeder andere aus der Akademie hatte ich eine Handvoll Salz in sein Grab gestreut. „Nur einer kann siegen. Das weiß ich. Und Eric wusste das auch. Wer auch immer mit mir in die Arena geht, er wird es sich gut überlegen müssen. Vielleicht wird’s ja eh nur jemand, der gezogen wird.“ Meine Schultern hoben sich zu einem Zucken, auch wenn Riven es nicht sehen konnte. „Was kümmert’s mich? Mitleid bringt keine Sieger hervor.“

Ihr Lachen war der blanke Hohn. „Weißt du, von wem Eric das letzte Mal geredet hat, am Abend vor den Spielen?“

Ich ballte die Hände zu Fäusten. „Sag’s schon.“

„Von dir. Dass er gewinnen will, um dich noch einmal zu sehen.“ Ihre Worte waren ein eisiger Dolch, der sich tief in mein Herz trieb und die Zornesflammen gefrieren ließ. „Genauso wie ich. Aber wir Idioten haben viel zu spät begriffen, was das für uns alle bedeutet. Du hast die Wahl und wirfst einfach alles weg.“

Die Genugtuung, vor ihr den Gefühlen freien Lauf zu lassen, gab ich ihr nicht. Stattdessen bohrte ich die Fingernägel fester in meine Handballen und wandte mich ab. „Jetzt ist es zu spät für Reue“, entkam es mir kalt. „Ich bin froh, dass du die Siegerin bist. Und ich werde es mir nicht nehmen lassen, an deiner Seite zu stehen, auch wenn Eric dafür sein Leben lassen musste.“

Riven sagte nichts mehr. Sie saß einfach nur da, das durchnässte rote Haar ein einsamer Farbtupfer vor dem grauen Meer, und sah in die Ferne.

Ich kletterte über die glitschigen Felsen zurück an den sicheren Strand und machte mich auf den Weg zur Akademie. Aber der Gedanke an Eric haftete die ganze Zeit an mir wie eine lästige Klette. Auch als ich längst in der trockenen Lagerhalle stand und einen Speer nach dem anderen auf die Zielscheiben warf, konnte ich Rivens Worte nicht vergessen. Hätten wir diesen großen Traum vom Sieg einfach wegwerfen sollen, um uns mit dem zufriedenzugeben, was wir hatten – einander?

 

***

 

Auf der warmen Metallplatte unter dem künstlichen Sonnenschein wusste ich wie damals keine Antwort auf diese Frage. Eric war gestorben, wie es hatte sein müssen. Der Moment, in dem er sich freiwillig meldete, war bereits der erste Nagel in seinem Sarg. Ich hatte meinen ehemaligen Trainingspartner verabschiedet und ihm viel Erfolg gewünscht, obwohl wir beide wussten, dass es eine höfliche Lüge war. Riven war die Stärkere von ihnen – und es konnte nur einen geben.

Was konnte ich dafür, dass er sich trotzdem freiwillig gemeldet hatte? Damit hatte er mir genauso wehgetan. Ich hatte immerhin zusehen müssen, wie ihn ein Junge aus Distrikt fünf mit dem Schwert durchbohrte.

Auch jetzt konnte nur einer von uns überleben. Dass ich dennoch Ausschau nach Edy hielt, war der erste Fehler. Ich zwang mich, stattdessen den Blick auf meinen ärgsten Rivalen und gleichzeitig mächtigsten Verbündeten zu heften. Cato grinste von der anderen Seite des Füllhorns siegesgewiss herüber.

„Sieben ... sechs“, zählte der Countdown laut hinunter.

Es war an der Zeit, die Vergangenheit loszulassen. Jede Faser meines Körpers spannte sich an.

„Fünf. Vier ...“

Ich brachte mich in Startposition.

„Drei. Zwei – eins.“

Ein lauter Kanonschlag eröffnete die Spiele und jahrelanges Training übernahm die Kontrolle. Der langersehnte Ausruf „Fröhliche Hungerspiele!“ wurde vom rauschenden Adrenalin ausgeblendet. Ich stürzte von der Plattform, packte den Rucksack, dann die Schnur.

Es gab nur einen Weg – nach vorne. Ich sah die anderen Tribute nicht länger. Erst als eine fremde Hand sich um das frisch erbeutete Seil schlang, nahm ich das Mädchen aus Distrikt neun wahr. Für eine Schrecksekunde starrten wir uns an. Ich wusste, was zu tun war, im Gegensatz zu ihr. Mein Ellenbogen traf sie unter dem Kinn. Ein Knacken und ihr Griff lockerte sich.

Nur noch wenige Meter bis zum Füllhorn. Ich rannte blind weiter und wäre beinahe über eine Kiste voller Waffen gestolpert. Wie ein aufgerissenes Maul erhob sich das goldene Horn vor mir. Clove war bereits da. Wortlos nickten wir einander zu, während sie Messer um Messer in ihren Gürtel schob. Wir waren keine Feinde. Noch nicht.

Erleichterung durchflutete mich, sobald ich die Hand um den Griff eines Speers legte. Das kühle Metall war wie eine Verlängerung meines Arms. Die Waffe schien mir zuzuflüstern, welchen Weg sie nehmen musste. Es war so einfach, ich vergaß ganz, warum ich Angst gehabt hatte.

Konzentriert ließ ich den Blick über die grüne Ebene schweifen. Edy war nirgends zu entdecken. Das konnte nur Gutes bedeuten. Bestimmt war er längst auf und davon, in den dichten Wald hinein. Später, wenn das Bündnis zerfiel, dann würde ich ihn suchen.

Cato kam auf uns zugesprintet. Im Laufen fing er das Schwert auf, das Clove ihm zuwarf. Leichtfüßig drehte er und rammte es in einen Jungen, den ich nicht erkannte.

Ein paar mutigere Tribute rangelten in der Ferne um Vorräte. Die Schlaueren von ihnen flohen allerdings zwischen die angrenzenden Bäume. Das Blutbad war erstaunlich leise. Ich hörte Schreie und Stöhnen, das abrupt abgeschnitten wurde, aber sonst rauschte bloß der Wind durch die Arena. Vielleicht war es auch nur das Blut in meinen Ohren.

Trotzdem vernahm ich hinter mir Schritte. Den Speer erhoben, wirbelte ich herum. Ein Mädchen kauerte im Schatten des Füllhorns. Ihre Augen funkelten mich grimmig an, da bohrte sich schon meine Waffe in ihre Brust. Sie hatte keine Zeit, zu schreien oder auch nur erschrocken zu keuchen, da war es bereits vorbei.

Zusammen mit einem Blutschwall riss ich den Speer aus ihrem leblosen Körper. Sie zu durchbohren war nicht anders, als eine Trainingspuppe aufzuspießen. Ein kleiner Widerstand und dann glitt die Spitze einfach hinein. Ich war mir nicht sicher, was ich überhaupt erwartet hatte. Letztlich hatte die Akademie mich immer darauf vorbereitet. Töten. Die Tiere, an denen wir geübt hatten, waren genau so schnell gestorben, sobald man die ersten Skrupel überwunden hatte.

Als mein Blick erneut über das flache Grasland ums Füllhorn glitt, war es rot vom Blut. Alle Karrieros waren um mich versammelt. Von unseren Klingen tropfte das Rot herab und leblose Körper bedeckten die Erde. Wie vorhergesehen. Siedend heiß schoss Adrenalin durch meine Adern, bis ich das Gefühl bekam, zu schweben. Grinsend sahen wir einander an. In diesem Moment war jeder von uns unbesiegbar.

Ich kam Marvel zur Hilfe, der nicht bemerkte, wie sich ein Tribut von hinten an ihn anschlich. Der Speer verfehlte ihn nur knapp, doch das verschaffte dem Karriero aus Distrikt eins den entscheidenden Vorteil. Mit einer einzigen Bewegung trennte er den Kopf seines Angreifers vom Körper.

So schnell, wie es begonnen hatte, endete das Blutbad schließlich wieder. Ich wusste nicht, wie lange es andauerte, aber mit einem Mal realisierte ich, dass wir Karrieros das Füllhorn verteidigt hatten.

Keuchend hielt ich inne. Empfindungen prasselten auf mich ein wie Regen im Herbststurm. Die Luft war erfüllt vom eisenhaltigen Blutgeruch. Mein Ellenbogen schmerzte dort, wo ich das Mädchen aus Neun getroffen hatte. Gleißende Sonnenstrahlen drängten sich hinter weißen Schleierwolken hervor und brachten das Füllhorn zum Glühen. Meine neuen Verbündeten tauschten sich lachend über ihre Tötungen aus.

Steifen Schritts holte ich mir den Speer zurück und klammerte mich daran wie eine Schiffbrüchige an die letzte Hoffnung.

„Elia, komm schon! Pack mit an, wir müssen die Körper vom Füllhorn wegschaffen“, drang Glimmers Ruf über die Ebene.

Ich nickte, doch meine Schritte zurück zu den anderen waren langsam. Cato hob den Körper eines kleinen Jungen hoch wie einen Sack Getreide und warf ihn sich über die Schulter, ehe er das Handgelenk eines weiteren Tributs packte und ihn hinter sich her durch das Gras zog.

Es hatte gerade erst angefangen.

 

***

 

Riven stand mit verschränkten Armen vor mir. Ihr rotes Haar schimmerte um die Wette mit dem silbernen Kleid, das man ihr angezogen hatte. Zu allem Überfluss thronte die Krone, die uns entzweit hatte, wieder auf ihrem Kopf. Als wollte jede Kleinigkeit an ihr mich verspotten.

Stumm starrten wir einander an. Ich sah, wie ihr Kiefer mahlte, während sie langsam die Augen über meine Aufmachung gleiten ließ. „Glückwunsch. Gute Show da draußen.“ Ihre Stimme schien von weit weg zu kommen. „Schlaue Entscheidung, bis zum letzten Moment mit der Meldung als Freiwillige zu warten, um es spannend zu machen. Das Kapitol wird sich das bestimmt merken.“

„Bist du jetzt meine Mentorin oder was?“ Meine Stimme trug ungewollten Schneid in sich. Doch an Riven, Siegerin der 73. Hungerspiele, prallte dies schlicht ab.

„Nein. Ich bleibe in Distrikt vier. Trotzdem bist du meine Freundin. Die Einzige wohlgemerkt. Ich kann dich nicht einfach gehen lassen, egal was passiert ist.“ Mit jedem weiteren Wort schwankte ihre Stimme mehr, wie ein Boot, das von den Wellen umhergeworfen wird. „Du musst mir versprechen, dass du nicht zögern wirst. Tu alles dafür, damit du da raus kommst. Schau nicht zurück.“ Unschlüssig presste sie die Hände gegeneinander und senkte den Blick gen Boden. Binnen Sekunden war aus der strahlenden Siegerin jemand ganz anderes geworden. Etwas, das ich nicht zuordnen konnte.

„Ich gehe in die Spiele, um zu gewinnen“, entgegnete ich. „Riven und Cordelia, das Traumpaar aus Distrikt vier, wie wir es geschworen haben.“

Sie hob die Augen wieder und zum ersten Mal sah ich Unsicherheit darin. „Ich hoffe es wirklich, Elia.“

Eine zarte Stimme in mir drängte danach, sie in die Arme zu schließen. Aber Riven würde das sicherlich nicht zulassen. Also lächelte ich bloß. „Keine Sorge, Riv. Ich meine ... du hattest Eric als Konkurrenten. Edy ist nur ein kleiner Junge, grad mal fünfzehn. Ich schaff‘ das.“

„Ja, Edy muss verrückt geworden sein, sich freiwillig zu melden.“ Rivens Blick flackerte kurz durch den Verabschiedungsraum. „Du kannst das schaffen, Elia. Und dann gehen wir gemeinsam auf die Siegertour. Die anderen Distrikte sind wirklich toll. Vor allem Eins.“

Das hörte sich schon besser an. Versöhnlich rückte ich auf dem Sofa zur Seite, um Platz für sie zu schaffen. „Na klar tun wir das. Ich bin so gespannt auf alles!“

 

***

 

Meine Welt kippte schwindelerregend schnell in Schieflage. Das Mädchen aus Distrikt zehn, mein erstes richtiges Opfer in der Arena, hatte noch friedlich ausgesehen, als ich sie hochhob und einige Meter vom Füllhorn forttrug. Doch der Anblick, der sich mir wenig später bot, traf mich wie eine eiserne Faust in den Magen.

Ich hatte nur eine Hand gesehen, die hinter den Kisten im Inneren des Horns hervorlugte. Es war vollkommen an mir vorbeigegangen, dass ein Tribut sich an uns vorbeigeschlichen hatte. Die Blutlache, die sich auf dem Boden ausbreitete, versicherte allerdings zweifelsfrei seinen Tod.

Neugierig, welcher Tribut so gewieft vorgegangen war, spähte ich um die Ecke – und sank auf die Knie. Ich war so naiv. Zitternd legte sich meine Hand auf Edys blasse Wange. Über seinen grünen Augen lag der Schleier des Todes, aber wirklich schrecklich war der stumme Schrei, der für immer auf seinen Lippen festhing.

Sein Ende war nicht schnell und schmerzlos gekommen. Selbst im Tod hielt seine Hand das Schwert fest umklammert. Er hatte kämpfen wollen und war doch zu schwach. Ich hatte ihm das immer vorgehalten und trotzdem konnte mein Verstand nicht begreifen, dass er hier und jetzt tot vor mir lag. Er hätte überleben müssen, nur ein wenig länger!

Mit einem kleinen Keuchen verpuffte sämtliche Hoffnung ins Nichts und ließ nur ein schwarzes Loch zurück. Erinnerungen an Erics Tod krochen in mir herauf. Ich wusste erst, wie viel er mir bedeutet hatte, als es zu spät war. Zumindest sein Tod hatte sich Meilen entfernt ereignet, im Fernsehen. Nicht in der Realität, direkt vor mir, und sein Blut hatte nicht mein geliebtes Armband besudelt, wie Edys. Warum nur musste ich jede falsche Entscheidung nochmals begehen?

Die Spiele waren ein Fehler, echote eine körperlose Stimme in mir, während ich reglos auf Edys Leichnam herabsah. Fehler, Fehler, Fehler!

Ich starrte hoch an die kalte graue Stahldecke des Füllhorns. War es das, vor dem Riven mich hatte warnen wollen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ich musste mein Versprechen halten und siegen – überleben.

Mühsam die Tränen zurückhaltend, zog ich Edys leblosen Körper in die Arme und trug ihn aus dem Füllhorn hervor. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, dass die anderen Karrieros offenbar doch noch zwei lebende Tribute aufgetrieben hatten, die nun gefesselt auf Knien zwischen den Kisten saßen.

Das Gelächter meiner Verbündeten erfüllte mich, während ich um jeden Schritt kämpfte. Einer von ihnen war schuld an Edys Tod. Ich konnte keinem davon trauen, nicht eine Sekunde lang.

„Bereust du es, dich freiwillig gemeldet zu haben?“, hatte Edy mich in der letzten Nacht gefragt. Nur Stunden zuvor war ein Kopfschütteln meine Antwort. Jetzt hätte ich ihm zu gerne gesagt, wie sehr ich bereits bereute.

Neben all den übrigen toten Tributen – neun Stück – ließ ich seinen Leichnam zu Boden. Nur noch vierzehn andere standen zwischen mir und dem Sieg. Anstelle von Erleichterung flutete Übelkeit mich. Vielleicht war das die gerechte Strafe für alles, was ich Riven im Zorn an den Kopf geworfen hatte.

Nun konnte ich bloß Edys Augen schließen und zurücktreten, damit ein Hovercraft die Leichen abholen würde. Ich ballte die Hände zu Fäusten, um sie vom Zittern abzuhalten. Trotz der Geschehnisse kamen keine Tränen.

Rivens letzter Rat kam mir in den Sinn. „Tu alles, um da rauszukommen.“ Was blieb sonst auch? Ich hatte einen Schwur zu erfüllen.

Wie von alleine trugen meine Füße mich zurück zum Füllhorn, wo ich den Speer einsammelte und zu den restlichen Karrieros trat, um über das Schicksal unserer Gefangenen zu richten.

Sie hatte versucht, mich zu warnen, aber ich verstand erst, als es längst zu spät war.



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