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Under Our Wings

von

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2. Alte Gefühle kehren zurück

Hi, so, hier ist das nächste Kapitel. Es beginnt wie gesagt mitten im Kung Fu Panda 2 Film. Hinzufügen möchte ich noch, dass der Zeitraum zwischen Shens Exil und seiner Rückkehr ungefähr 20 Jahre betrug, statt 30, da laut Kung Fu Panda 3 Po knappe 20/21 Jahre alt ist.
 

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„Tai Lung war ein gefährlicher Bösewicht, der vor nichts zurückschreckte, um die Macht und den Respekt zu erlangen, die ihm zustehen. Shens Probleme liegen noch tiefer: Er wird nicht eher zufrieden sein bis sich ganz China vor ihm verneigt.“*

(Melissa Cobb, Produzentin - The Art of Kung Fu Panda 2, Seite 51)
 

* frei übersetzt
 

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(~ 20 Jahre nach Shens Verbannung)
 

Die Sonne hing niedrig über dem Dorf nahe der Stadt Gongmen. Lady Ai, seit über vielen Jahren Nara genannt, brachte gerade einen Korb Wäsche nach draußen. Dort warf sie die schmutzigen Kleidungsstücke in eine Waschwanne und rubbelte sie im Seifenwasser sauber.

Nach einer Weile zog sie ihre Flügel aus dem Wasser und besah sich die Federn. Sie seufzte tief. Ihre Farbe war wieder abgegangen und das Türkise ihres royalen Gefieders schimmerte unter der Seifenlauge hervor. Doch von der erhabenen Würde war nichts mehr zu sehen. Ihre Federn waren völlig zerzaust und teilweise an den Spitzen abgebrochen von der ganzen Arbeit. Ganz zu schweigen von ihrer Kleidung, die weder aus Seide noch aus edlem Garn bestanden.

Die Pfauenhenne seufzte schwer und rieb sich den Rücken. Seit knapp 18 Jahren schuftete sie wie eine Hausfrau, was sie anfangs gar nicht gewohnt war.

Ihr Blick wanderte zum Himmel hoch. Sie hatte heute so ein merkwürdiges Gefühl. Irgendeine Unruhe staute sich in ihr auf. Sie wusste nicht was es war. Eigentlich war es ein Tag wie jeder andere auch seit sie ihr Leben im Palast aufgegeben hatten. Und doch war er irgendwie anders als die anderen.
 

Auch Liang, oder auch Makkuro genannt, betrachtete den Himmel. Es waren einige Wolken zu sehen und die Nachmittagssonne erhellte den Himmel. Kein Anzeichen für Regen oder ein Unwetter, und dennoch war er unruhig. Diese Nervosität hatte er bis jetzt nur, wenn er eine Bedrohung witterte, doch sein Instinkt meldete ihm keine Feinde.

Schließlich schüttelte der ehemalige Herrscher über sich selber den Kopf. Er war gerade im Wald Holzsammeln. Allerdings hatte der Wind wenig Zweige von den Bäumen geschüttelt. Der Blick des ehemaligen Lords wanderte nach oben zu den Ästen. Dann kam ihm ein Gedanke. Er sah sich hastig um. Außer ihm war keiner in der Nähe. Er drehte sich um, rannte ein paar Schritte vor, dann machte er kehrt, nahm Anlauf, schlug kräftig mit den Flügeln und schwang sich auf die Baumwipfel. Seine Flügel durchschnitten das Blätterwerk und mit ein paar schneidenden Flügelbewegungen säbelte er hier und da ein paar Äste ab, die dann auf den Boden heruntersegelten.

Anschließend ließ sich der Gongmen Herrscher wieder fallen und landete mit einem gekonnten eleganten Satz wieder im Gras. Mit einem Lächeln betrachtete er seine Arbeit.

„Ich kann es immer noch.“

Seine Kung-Fu-Kunst war nach all den Jahren noch nicht eingerostet. Schmunzelnd hob er einen Zweig nach dem anderen auf.

Plötzlich ließ ihn ein Knall aus der Ferne hochschrecken. Hastig sah sich der Pfau um, doch es war nichts zu sehen. Mit angespannter Haltung erhob er sich. So einen Laut hatte er noch nie gehört. Sogar die Vögel hatten ihr Gezwitscher unterbrochen.

Als jegliches weitere laute Geräusch ausblieb, zuckte der Lord die Schultern. Vielleicht war es doch nur ein Feuerwerkskörper gewesen, den mal falsch angezündet hatte.

Er begab sich wieder ans Holzsammeln, packte sie in ein Laken, schnürte sie zusammen und machte sich auf dem Weg zurück ins Dorf.
 

Der Pfau hatte die Nähe des Dorfes fast erreicht, als er laute Stimmen hörte. Der ehemalige Lord beschleunigte seine Schritte bis er die ersten Häuser erreichte. Verwundert sah er sich um. Die Leute waren völlig aufgeregt und redeten wild durcheinander. Einige rannten sogar in ihre Häuser und holten ein paar Sachen heraus.

Der Lord sah sich nach dem Dorfältesten um. Das alte Schaf unterhielt sich gerade mit ein paar Dorfbewohnern, die wild miteinander diskutierten.

Kurzentschlossen gesellte Liang sich zu ihnen.

„Was ist denn los?“, fragte er. „Warum sind denn alle so aufgeregt?“

„Oh, Makkuro!“, rief das alte Schaf bestürzt. „Ein Unglück hat uns heimgesucht!“

Der Lord hob die Augenbrauen. So aufgebracht hatte er den Dorfältesten noch nie erlebt. „Ein Unglück? Was denn für ein Unglück?“

„Lord Shen… er… er ist zurückgekehrt!“

Der ehemalige Lord ließ das Holz fallen.

„Er hat eine Kanone bei sich!“, schrie eine Gans im Vorbeirennen hysterisch. „Die zerfetzt alles was ihr in den Weg kommt!“

„Ja“, bestätigte ein Ziegenbock. „Und… er hat Meister Donnerndes Nashorn damit getötet! Hingerichtet hat er ihn!“

„Besser wir evakuieren das Dorf, bevor er auch noch uns damit in die Luft jagt!“

„Nur nichts überstürzten. Lasst uns das besser nochmal überlegen. Nur keine Panik!“

Der Dorfälteste war so sehr damit beschäftigt seine Nachbarn zu beruhigen, dass er nicht mehr weiter auf den Pfau achtete.

Liang musste sich an eine Hauswand lehnten. Aus ihm war sämtliche Kraft sich auf den Beinen zu halten gewichen. Nachdem er ein paar kräftige Atemzüge genommen hatte, rannte er in die Richtung seines Hauses.
 

Lady Ai war gerade dabei ein Hemd zu flicken, als ihr Mann ohne anzuklopfen die Tür aufstieß. Die Pfauenhenne sah erschrocken auf, als der Pfau sie entgeistert anstarrte.

„Ai“, stieß er atemlos hervor. „Er ist hier.“

Die Pfauenhenne ließ Nadel und Faden fallen. Sie war mit einem Mal gar nicht mehr in der Lage zu denken. Es vergingen ein paar Sekunden bis sie wieder die Fähigkeit fand den Schnabel zu bewegen. „Wo?“

Ihre Frage kam fast mechanisch. Es war ihr als hätte man sie in einen Trancezustand geschleudert.

Liang ging es nicht unbedingt anders. Auch er war noch völlig außer Stande einen klaren Gedanken zu fassen, schaffte es aber schließlich für eine Antwort Luft zu holen. „In Gongmen. Er soll heute angekommen sein.“

Ai sprang auf, doch noch ehe sie durch die Tür rennen konnte, hielt ihr Ehemann sie zurück. „Ai, hör mir zu! Was ich dir jetzt sage wird dir weh tun, aber ich muss es dir sagen.“

Die ehemalige Lady von Gongmen sah ihn entsetzt an. „Stimmt etwas nicht mit ihm? Ist ihm was passiert?!“

Liang wich ihrem Blick aus. So sehr er sich auch darüber gefreut hatte, wieder von seinem Sohn zu hören, so war dies ein extrem schlimmer Anlass.

„Er hat Meister Donnerndes Nashorn umgebracht.“

Es fiel ihm schwer diesen Satz auszusprechen.

Ai hingegen starrte ihn entgeistert an. „Umgebracht?“

Liang fand keine Kraft mehr zu Antworten und nickte nur.

Ai versagten die Beine. Der Lord merkte wie sie einknickte und schob sie schnell zu einem Stuhl. Dort angekommen setzte er sie ab. Kaum saß sie, stützte Ai das Gesicht in den Flügeln. Sie konnte nur schwer verkraften was ihr Mann gerade gesagt hatte.

Ihr Sohn hatte wieder getötet. Viel schlimmer. Er hatte gemordet. Das war kein Unfall gewesen. Shen hatte schon seit jeher einen Groll gegen den großen Kung-Fu-Meister gehegt. Insgeheim hatte sie stets gehofft, sein Zorn würde sich irgendwann legen. Doch stattdessen schien ihr Sohn seinen Hass in der Verbannung nur noch genährt zu haben.

Liang beobachtete sie schweigend. Zuerst sah es so aus als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch dann, nach ein paar heftigen, tiefen Atemzügen nahm sie die Flügel vom Gesicht runter und stand entschlossen auf. „Ich will ihn sehen!“

Der Pfau hielt sie fest und Ai befürchtete, dass er es ihr verbieten würde. Doch der alte Lord sah sie nur an und nickte schließlich. Auch er war entschlossen sofort mehr herauszufinden.

„Ja, das werden wir. Ich werde mich erkundigen, wo er sich aufhält.“
 

Es vergingen Minuten. Minuten, die für Ai wie Stunden vorkamen. Um sich abzulenken hatte sie sich in die Küche zurückgezogen und schnitt Gemüse. Es war zumindest sinnvoller als nur herumzusitzen bis ihr Mann zurückkommen würde, der sich wieder unter die Dorfleute gemischt hatte.

Mit stummem Blick starrte die Pfauenhenne auf den Rettich, den sie mit langsamen Bewegungen mit einem Messer in Scheiben schnitt. Doch ihre Gedanken kreisten nur um ihren Sohn.

Ihren Sohn.

So viele Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Jahre, die leer und trostlos gewesen waren, als wären sie nur Luft. Nie hätte sie gedacht, dass ihr Leben so sinnlos sein würde, wenn nicht noch ihr Mann bei ihr gewesen wäre. All die Jahre hatte sie sich vorgestellt, wie es wäre, wenn ihr Sohn wieder vor ihr stehen würde. Sämtliche Szenen hatte sie sich ausgemalt, sogar Träume, die ihr Freude und Kummer zugleich bereitet hatten. Stets verdrängte sie die Tatsache, dass er ein ganzes Dorf ausgelöscht hatte. Immer wenn sie aufwachte, stellte sie sich vor, dass es nie passiert war. Er war ihr Sohn, den sie nach seiner Geburt in den Flügeln getragen hatte. So klein und schwach… Er hätte nie jemanden weh tun können. Er war so unschuldig. So zerbrechlich. Für sie war er immer das kleine weiße Küken bis zur letzten Minute bevor er sein Massaker gestand… Das sollte nicht wahr sein! Sie verdrängte es immer wieder jeden Tag. Und jetzt der Kung-Fu-Meister…

Ai brach ab. Sie legte das Messer beiseite und stützte sich auf dem Küchentisch ab. Eine Weile starrte sie auf die Arbeitsplatte, dann merkte sie, wie sich ihre Sicht verschleierte und die heißen Tränen aus ihren Augen kullerten. Sie kniff die Augen zusammen und ließ dem salzigen Wasser im Gesicht freien Lauf.

„Shen“, schluchzte sie leise. „Shen! Wieso? Wieso? Warum hast du das getan?!!“

Sie hob ruckartig den Kopf. Jemand hatte die Haustüre aufgestoßen. Die Schritte auf dem Holzboden ließ die Pfauenhenne ihren Mann erkennen. Schnell wischte sie sich über das Gesicht. Liang sollte ihre Tränen nicht sehen. Hastig ließ sie alles stehen und liegen und eilte zu ihm. Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Und?“

„Ich habe gehört, dass er die Feuerwerkfabrik in Beschlag genommen hat“, berichtete Liang. „Zudem soll er ein ganzes Wolfrudel in die Stadt geführt haben.“

Ai schluckte schwer. Das Wolfrudel. Er hatte sich immer noch mit ihnen verbündet.

Der Lord schränkte die Flügel auf den Rücken. „Das beste wäre, wenn wir heute Nacht uns dort umsehen, bevor sich die Wölfe noch in jeden Winkel der Stadt verteilen.“

Ais Augen weiteten sich. Doch sie sah ihrem Mann an, dass er es ernst meinte. Innerlich sank ihr Herz. Sie hatte Angst davor beim Umherschleichen in der Stadt ertappt zu werden, doch die Vorstellung dafür ihren Sohn zu sehen überwand alles wieder in ihr.

„Einverstanden“, sagte sie schließlich. „Ich mache uns vorher noch was zu Essen.“

Sie wandte sich wieder zur Küche. Liang lächelte. Es war erstaunlich wie sie in all den Jahren so gut das Kochen gelernt hatte.
 

Es war vor Mitternacht und stockdunkel in der Stadt, bis auf ein paar Laternen. Lord Liang konnte nicht riskieren, dass man sie entdeckte und war froh darüber, dass sich nach all den Jahren die Stadt Gongmen nicht sonderlich verändert hatte. Er war hier geboren und aufgewachsen und kannte jeden Winkel. Das Einzige, was ihn wunderte war, dass so gut wie keine Leute mehr auf den Straßen waren. Die Nachricht von Shens Ankunft schien die Stadt in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Besonders nachdem Shen mit seiner Kanone seine vernichtende Macht auf brutale Art und Weise an dem Meister demonstriert hatte. Zudem patrouillierte alle paar Straßen ein Wolf, was dem Elternpaar es erschwerte zügig voran zu kommen. Keiner von beiden wollte sich ausmalen, was passieren würde, wenn man erfuhr, dass sie noch am Leben und nicht tot waren. Und noch viel mehr, wie würde Shen darauf reagieren, wenn er, oder zumindest einer seiner Leute sie entdeckte?

Diese und jene Gedanken durchzogen den Kopf des Pfaus immer und immer wieder, bis sie an dem großen Gebäude angekommen waren. Zum Glück standen hier nicht viele Häuser und die meisten Wohnungen in der nahen Umgebung waren von den Wölfen leergeräumt worden. Keiner sollte die Geheimnisse, die in der Fabrik produziert wurden, ausspionieren. Und vor allem keinem die Gelegenheit gegeben, die Anlage zu sabotieren.

Das Pfauenpaar hatte das Fabrikgebäude fast erreicht, bis die Pfauenhenne im Gehen innehielt, als ihr Mann einen Flügel auf ihre Schulter legte.

„Ai?“ Er sah sie eindringlich an. „Bedenke, er ist kein kleines Kind mehr. Er ist jetzt erwachsen und muss die Verantwortung für sein Tun tragen.“

Ai spürte wie sich ein Kloss in ihrem Hals bildete, nickte aber.

Plötzlich hoben die Pfaue die Köpfe.

„Ich will, dass das alles bis morgen früh erledigt ist!“, rief eine Stimme nicht weit entfernt.

„Meister Shen, unsere Leute tun schon was sie können!“, beteuerte eine andere tiefe raue Stimme.

„Ich warte schon seit so vielen Jahren darauf! Eine Verzögerung dulde ich nicht!“

Schnell zog Liang seine Frau hinter ein paar Kisten und sahen rüber zum riesigen Tor, dass nur einen Spalt weit offenstand. Im Inneren des gigantischen Gebäudes wurde schwer geschuftet und gearbeitet.

Liang hob etwas den Kopf und schnupperte. Neben heißem Metall roch er eindeutig Schießpulver.

Plötzlich tauchten im Torspalt Schatten auf. Jemand schob das Tor auf und trat aus dem Gebäude raus.

Ais Flügel krallte sich in die Kleidung ihres Mannes, als sie neben dem Wolf eine weitere Gestalt herauskommen sah. Selbst wenn er verkleidet gewesen wäre, seine weiße Gestalt hätten sie unter Millionen von anderen wiedererkannt. Ai meinte ihr Herz würde aussetzen und fühlte sich wie in einem ihrer Träume. Auch Liang starrte entgeistert nach vorne.

Ihr Sohn lebte!

Er stand nur ein paar Meter von ihnen entfernt und schwang sein Lanzenschwert vor einem großen einäugigen Wolf.

Liang verengte die Augen. Es war dasselbe Schwert, das er immer bei sich getragen hatte. Auch schon damals als er ihn aus der Stadt verbannt hatte, war es sein ständiger Begleiter gewesen wie für ein Kind die Puppe.

Der weiße Pfau redete irgendetwas auf den Wolf ein. Beide Eltern hörten kaum zu. Ihre Augen waren nur auf ihn fixiert, als wollten sie jede Veränderung an ihm absuchen.

„Er ist stärker geworden“, dachte Liang voller Wehmut und sein Gesicht füllte sich mit tiefer Trauer. Und auch Ai zerfraß die Sehnsucht.

Das Blut, die Wut, die Trauer - all das waren für einen Moment völlig vergessen.

„Nein, Ai! Nicht!“ Schnell packte Liang seine Frau noch bevor sie nach vorne stürmen konnte. Sie wollte zu dem weißen Pfau laufen und ihn umarmen, doch das ließ ihr Mann nicht zu und zerrte sie hinter einen Stapel Fässer.

„Ai, das ist zu gefährlich.“

„Aber das ist mein Sohn!“

Liang packet sie an den Flügeln und sah sie streng an. „Er weiß nicht, dass wir noch leben! Er denkt, wir sind tot. Wenn er das jetzt herausfindet… Bedenke was damals passiert ist.“

„Aber das ist doch schon so lange her. Bestimmt hat er uns längst verziehen.“

„Bestimmt nicht für die Lüge, die wir allen – und vor allem ihm – vorgegaukelt haben. Nein, Ai. Wir dürfen nichts riskieren. Wenn er schon in der Lage war Meister Donnerndes Nashorn zu töten, wie hoch wird die Wahrscheinlichkeit dann sein, dass er uns was abtut?“

Ai versagte die Stimme. „Aber wir sind doch seine Eltern…“

Sie spürte wie sich seine Griffe um sie verengten. Vor den inneren Augen des Lords blitzten Bilder auf, die er nie vergessen hatte.

„Du bist nicht mehr mein Sohn! Verlass meine Stadt und komm nie wieder! Ich will dich nie wieder hier sehen!“ - „Ich hasse dich!“

Liang blinzelte heftig. Dann senkte er den Blick. „Ich glaube nicht, dass er dasselbe denkt.“

Er drückte ihren Kopf auf seinen langen Hals, bis eine laute fordernde Stimme sie aus ihrem inneren Konflikt riss.

„Deine Leute sollen sich beeilen die verbliebenen Materialien zu beschaffen!“, befahl Lord Shen. Die Härte in seiner Stimme ließ die Eltern erzittern. Solche barschen Rufe hatte er auch auf ihrer letzten Unterhaltung mitgegeben. Seine Einstellung in seinem Leben schien sich sogar noch mehr versteinert zu haben.

Liang spürte wie Ai zu frösteln begann, doch es war nicht die Kühle der Nacht. Sie schraken zusammen, als ein Schatten davonrannte. Doch der Wolfanführer bemerkte sie nicht, sondern war nur darauf konzentriert den Befehl seines Herrn auszuführen.

Zögernd blickten der Pfauenvater und die Pfauenmutter um die Ecke der Fässer. Ihr Sohn stand immer noch im Torbogen und vollführte ein paar elegante agile Kampfübungen mit seinem Lanzenschwert. Wäre es nicht so ein gefährliches Instrument, hätte man es mit einem Tanz vergleichen können. Der weiße Pfau und seine Waffe bildeten eine Einheit. Sogar noch mehr als Liang es von damals in Erinnerung hatte. Shen schien seine Kampfkünste im Laufe der Jahre extrem verbessert zu haben. Es war kein Vergleich mehr zu damals als er durch die Kung-Fu-Prüfung durchgefallen war…

Plötzlich hielt der weiße Pfau inne. Hatte er sie bemerkt oder ihre Blicke gespürt? Die Augen des weißen Kriegsherrn wanderten in ihre Richtung. Schnell duckten sich beide weg. Mit angehaltenem Atem lauschten sie.

Ein metallisches Klimpern von Schritten näherte sich ihrem Versteck.

„Er kommt!“, zischte Liang. „Schnell versteck dich!“

Den beiden schlugen die Herzen bis zum Hals. Auf keinen Fall durfte Shen sie erwischen.

Liang machte einen Karren ausfindig, unter den er zuerst seine Frau dann sich selber drunter zwängte. Dort drängten sie sich dicht einander und drückten sich so gut es ging auf den Boden.

Sie hörten ihn kommen. Das Klirren von Eisen auf dem Steinboden kam mit jedem Schritt näher an sie heran. Langsam und bedächtig. Plötzlich verstummten sie. Es wurde still. Extrem still.

Die Eltern hielten den Atem an.

Auf einmal sprang etwas vor sie. Ai presste sich den Flügel vor den Schnabel, um nicht laut zu schreien. Der weiße Pfau stand jetzt direkt vor dem Holzwagen, doch er schien das Pfauenpaar nicht entdeckt zu haben. Stattdessen sah er sich nach allen Seiten um und schwang sein Lanzenschwert in sämtliche Richtungen.

Liang drückte seine Frau enger an sich. Das Schwert blitzte im Laternenlicht und flößte allein schon bei dessen Anblick seiner puren Schärfe blanke Furcht ein.

Shen drehte sich weiter um die eigene Achse. Das Pfauenpaar unter den Karren konnten nur die Füße, den Saum seiner weißen Robe und seine langen Schwanzfedern sehen. Erst jetzt erkannten sie, dass seine Füße mit einer eisernen Rüstung bedeckt waren, bestückt mit langen metallischen Krallen.

Liang durchfuhr ein Schrecken, als seine Frau ihren Flügel nach ihrem Sohn ausstreckte.

So vielen Jahre, fast 20 Jahre lang, hatte sie ihn nicht mehr gesehen, und jetzt stand er nur ein paar Zentimeter vor ihr. Ihre Fingerfederspitzen berührten fast seine langen Federn. Sie wollte ihn nur einmal berühren. Nur ein einziges Mal, nach so vielen Jahren.

In letzter Sekunde hielt Liang ihren Flügel fest und drückte ihn weg. Ai wich erschrocken zurück, völlig fassungslos was sie fast getan hätte. Plötzlich sprang etwas an ihnen vorbei. Der weiße Pfau wirbelte herum und zielte mit dem Schwert auf das springende Etwas. Verwundert hielt er inne, als er einen kleinen Frosch auf den Steinfliesen erblickte. Der Frosch quakte kurz, dann hüpfte er eilig davon.

Der weiße Lord zog sein Schwert zurück, dann schmunzelte er. „Wie lächerlich.“

Dann zog er sich wieder in das Fabrikgebäude zurück und schloss das Tor.

Eine Weile verharrte das Ehepaar unter dem Holzwagen ohne sich zu rühren. Dann konnte Ai sich nicht mehr beherrschen und vergrub schluchzend das Gesicht in Liangs Hemd.
 

Auf dem Heimweg sprach keiner der beiden ein Wort. Erst als sie wieder ihre Hütte betraten und die gewohnte Umgebung, die sie seit über 18 Jahren schon bewohnten, umgaben, legte sich ihre Anspannung etwas. Die ganze Aufregung hatte sie extrem ausgelaugt, doch ihnen war nicht zum schlafen zumute und beschlossen noch etwas zu essen.

Ai hatte am allerwenigsten Hunger. Ziellos stocherte sie mit den Essstäbchen im Reis, wobei sie in Gedanken sämtliche Möglichkeiten und Szenerien durchging was passiert wäre, wenn Shen sie doch erwischt hätte. Ihre Sehnsucht ihn zu umarmen und zu küssen zerfraßen ihr Gemüt. Schließlich konnte sie eine Frage einfach nicht mehr zurückhalten. „Liang? Was sollen wir jetzt tun?“

Liang sah nicht auf, er schielte nur kurz zu ihr rüber, dann starrte er wieder mit leerem Blick auf seine Schüssel. „Kommt drauf an, was er tut.“

„Was denkst du wird er denn jetzt tun?“ Ai wollte dringend eine Antwort auf diese Frage. „Und wenn er was tut, was sollen wir dann machen?“

Doch Liang wich ihrer Frage aus. „Wir warten und halten ab und zu Ausschau“, sagte er stattdessen. „Die Dorfbewohner sind sehr gesprächig. Dann müssen wir nicht immer in die Nähe der Stadt gehen.“

Ai hätte ihn vielleicht noch mehr ausgefragt, doch sie musste einsehen, dass es unmöglich war jetzt schon klare Ziele zu setzen. Schließlich stand sie auf und räumte ihre Schüssel weg. Ihr war der Appetit vergangen.

Liang seufzte. Dann stand auch er auf und folgte ihr in die Küche. Dort war seine Frau gerade damit beschäftigt Wasser in ein Becken zu gießen, um die Schüssel auszuwaschen.

Ai sog scharf die Luft ein, als Liang seine Flügel auf ihre Schultern legte und sie zu massieren begann. „Ai, das wird schon wieder.“

Wieder begann die Pfauenhenne zu zittern und schrubbte nervös die Schüssel aus. „Ich… ich kann es nur nicht ertragen, wenn ihm irgendetwas Schlimmes passiert. Ich konnte es damals nicht, und heute genauso wenig.“

Sie ließ die Schüssel ins Waschwasser sinken. Der Lord drehte sie herum und sah ihr ins Gesicht. „Ai - Wir schaffen das.“

Ai presste die Schnabellippen zusammen. Dann fiel sie ihm um den Hals und begann zu weinen. Liang tadelte sie nicht dafür. Er drückte sie eng an sich und ließ sie weinen.

„Das wird schon wieder“, hauchte er.

Zumindest hoffte er das.
 

Fortsetzung folgt…



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