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Kigan

– The crime scene of Gotamo City –
von

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Kapitel 5
 

Stirnrunzelnd starrte ich zum wiederholten Male auf den kleinen Zettel in meiner Hand. Als ich ihn vor einer guten Stunde in meinem Büro entdeckt hatte, war er zwar fein säuberlich zusammengefaltet gewesen, dennoch fehlte ihm eine Ecke, als wäre er von jemandem in großer Eile aus einem Block gerissen worden. Er wirkte derart nichtssagend, dass ich ihn vorhin sofort in den Papierkorb hatte befördern wollen, doch schlussendlich hatte die Neugier gesiegt. Oder die Langeweile. Wie man es nahm. Jetzt war es schon so weit, dass ich mich mit seltsamen Zetteln beschäftigte, um mich abzulenken.

Schnaubend legte ich ihn auf den Schreibtisch und fischte mir erstmal eine Zigarette aus der halbleeren Schachtel. Das Feuerzeug glühte grell vor meinen übermüdeten Augen auf. Ich nahm einen tiefen Zug, während ich mich in meinem Stuhl zurücklehnte und für einen Moment die Augen schloss.

In den vergangenen, beiden Nächten hatte ich schlecht geschlafen, was nichts Neues war. Mir schwirrte der Kopf, unzählige Gedanken wirbelten durcheinander und verursachten vielmehr Kopfschmerzen, anstatt dass sie mich weiterbrachten. Und das frustrierte mich noch mehr.

Prinzipiell ging mich der Brand im Haneda-Haus nichts an, genauso wenig wie das Verschwinden des Sohnes. Ich hatte die Familie bisher nicht gekannt und noch weniger etwas mit ihnen zu tun gehabt. Und theoretisch fiel das Ganze sowieso in den Zuständigkeitsbereich der Polizei. Theoretisch. Nur dass die nicht immer gewissenhaft ihrer Arbeit nachkam, wusste ich aus der Vergangenheit zur Genüge. Vermutlich war genau das der Grund, warum mich der Fall nicht losließ.

Seufzend blickte ich nach draußen, versuchte die Erinnerung gar nicht erst wieder Besitz von mir ergreifen zu lassen. Es gelang mir nicht.

Mit trägen Augen verfolgte ich einen der vielen Regentropfen, die am Fenster entlang rannen und langsam von anderen Bildern überlagert wurden. Wie so oft in den letzten Jahren. Ein grinsendes Kindergesicht. Die große Zahnlücke minderte das Strahlen nur wenig. Sie war erst sieben gewesen. Laut ihren Eltern immer fröhlich, von allen geliebt und nicht unterzukriegen. Und dennoch hatte es jemand auf sie abgesehen gehabt. Oder gerade deshalb.

Zischend kniff ich die Augen zusammen, rieb mir über die Nasenwurzel und versuchte die Bilder zu vertreiben. Sie hatten sich so tief in mein Gedächtnis gebrannt, dass ich es nie geschafft hatte, sie zu vergessen und an manchen Tagen überrollten sie mich einfach.
 

Es war fünf Jahre her und mein letzter Fall als Cop gewesen. Danach hatte ich aufgegeben. Eigentlich hatte ich das schon vorher, aber dieser Fall war der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Ich spürte die Frustration und Enttäuschung von damals noch immer in meiner Brust. Mit diesen Gefühlen hatte ich nicht mehr weiterarbeiten können. Nicht, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht sowieso schon allein dagestanden hatte. Nein, dazu kamen noch die Steine, die mir ständig in den Weg gelegt worden waren.

Ich hatte bereits zu Beginn meines Dienstes gemerkt, dass der Polizeiapparat in dieser Stadt nicht so arbeitete, wie er sollte. Doch in diesen letzten Monaten war mir das volle Ausmaß dessen wirklich erst bewusst geworden. Und damit hatte ich nicht mehr leben können. Da waren so viele Dinge gewesen.

Nicht nur das ständige Schmiergeld, die Verbrecher, die mit einem breiten Grinsen das Revier verließen, die Kollegen, die den Job nicht ernst nahmen. Nein. Warum wurde ein Waffenhändler freigelassen, nachdem er einen Polizisten erschossen hatte? Und warum wurde der Raub einer Handtasche als wichtiger erachtet als ein junges, vermisstes Mädchen? Nur weil ihre Eltern arme Fabrikarbeiter waren und keinen mit Edelstein besetzten Schmuck mit sich spazieren trugen?

Die Wut keimte augenblicklich wieder in mir auf, als ich an die verzweifelten Gesichter dachte und gleichzeitig die Worte des Chiefs im Ohr hatte: ‚Jetzt ist wenigstens ein hungriges Maul weniger zu stopfen in dieser Stadt. Außerdem hat die Familie ja noch genug andere Kinder.‘

Dieses selbstgefällige Grinsen. Ich hatte rotgesehen und meine Faust hatte ihr Ziel wunderbar getroffen. In diesem Moment waren mir die Konsequenzen egal gewesen. Ich war Polizist geworden, um Menschen zu helfen – egal, wer sie waren, woher sie kamen oder wie viel sie verdienten. Doch anscheinend hatte ich mit dieser Meinung ziemlich alleine dagestanden. Das Desinteresse, die abfälligen Bemerkungen der Kollegen – ich hatte das alles ignoriert und mich trotzdem mit dem Fall auseinandergesetzt. Natürlich war ich alleine nicht besonders gut vorangekommen, denn Hilfe hatte ich von den anderen keine zu erwarten brauchen.
 

Mit Mühe schluckte ich den Geschmack von Galle herunter, der sich in meinem Mund auszubreiten drohte.

Ich hatte sie nicht retten können, war einfach zu langsam gewesen. Ihr ausgemergelter Körper weggeworfen wie Müll. Hätten die Unmengen von Krähen, die über dem Hinterhof kreisten, nicht irgendwann einen Anwohner neugierig gemacht, dann würden ihre Überreste vermutlich noch heute zwischen den Mülltonnen liegen. Ich war mir sicher: Hätte mir nur einer geholfen, hätten wir zwei Tage eher den Entführer finden können, dann wäre sie vielleicht noch am Leben gewesen. Doch so hatte ich alleine den verzweifelten Eltern die Nachricht überbringen müssen, mir gefasst ihre Vorwürfe angehört, während mich innerlich die Wut zerfraß und ich ihnen innerlich recht gab.

Wenigstens war es einer kleinen Genugtuung gleichgekommen, als ich schließlich wenige Stunden später mit stark schmerzender Hand und einem Karton mit meinen Sachen zu den Füßen vor dem Polizeigebäude gestanden hatte und mir den Regen ins Gesicht fallen ließ. Als könnte er mich auf diese Art ein bisschen von meiner Mitschuld reinwaschen. Es war der Tag gewesen, an dem ich mir geschworen hatte, nie wieder auch nur einen Fuß dort hineinzusetzen und bisher hatte ich mich daran gehalten.

Ein dünnes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich an die erschrockenen Mienen der anderen zurückdachte, als ich mit unzähligen Flüchen, Vorwürfen und verstauchten Fingern meinen ehemaligen Arbeitsplatz hinter mir ließ. Ich glaubte nicht, dass sich auch nur einer von ihnen meine Worte zu Herzen genommen hatte, aber ich musste mir nicht vorwerfen, klammheimlich gekündigt und die Vorkommnisse verschwiegen zu haben.
 

Ich drückte die letzte Glut der Zigarette im Aschenbecher aus, ehe ich aufstand und zur Kaffeemaschine schlenderte.

Während sie lautstark ratternd ihre Arbeit begann, wanderte mein Blick abermals zum Fenster. Der Regen hatte zugenommen und trommelte geräuschvoll gegen die Scheibe. Was wenig überraschend war, wenn man bedachte, dass es in Gotamo City eigentlich immer regnete. Als würde der Himmel diese Stadt ebenso verabscheuen wie ich und versuchen, sie auf diese Weise wegzuspülen.

Ein klägliches Piepsen riss mich aus meiner Betrachtung. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete ich die Anzeige, die mir unmissverständlich klarmachte, dass das hier die letzte Tasse war, die ich aus meinem Bohnenvorrat bekam. Dann musste ich wohl morgen früh bei Frau Sumida vorbeischauen und für Nachschub sorgen. Heute würde mich das Koffein hoffentlich noch über den restlichen Abend retten.

Vorsichtig balancierte ich die dampfende Tasse zurück zum Schreibtisch und setzte mich. Mein Blick fiel auf den ominösen Zettel, während ich schlürfend den ersten Schluck nahm.

Als ich am Mittag nach der Gassi-Runde ins Büro zurückgekommen war, hatte er auf dem Boden gelegen. Vermutlich hatte ihn jemand durch den Spalt unter der Tür hindurchgeschoben, vielleicht in der Hoffnung, dass ich auf die Art gleich darüber stolperte. Wobei er so klein und unauffällig war, dass ich ihn im ersten Moment für Müll gehalten hatte, den ich verloren hatte. Eigentlich hätte es durchaus gereicht, den Zettel in den Briefkasten zu werfen. Aber gut…

Ich stellte die Tasse beiseite und griff erneut danach. Nur ein einzelnes Wort stand darauf.

Inosan. Unschuldig.

Egal, wie oft ich darauf starrte, ich wurde nicht schlauer.

Was sollte das heißen? Wer war unschuldig? Oder sollte das Werbung für irgendetwas sein? Allerdings war das eindeutig die falsche Gegend für Werbung. Und die falsche Aufmachung.

Ein flüchtiger Gedanke blitzte in meinem Kopf auf und brachte mich unabsichtlich zum Lachen. Sollte es wirklich Werbung sein, hätte ich mir am ehesten eine Bar aus dem Rotlichtviertel darunter vorstellen können. Da kamen sicher einige auf solche Ideen.

Kopfschüttelnd nahm ich einen weiteren Schluck Kaffee aus der Tasse.

Nein, ein Werbeflyer für einen Puff war das garantiert nicht. Da passte die fein säuberliche Handschrift nicht dazu, ebenso wenig wie das verblasste Blumenmuster auf dem Papier. Das Muster erinnerte mich vielmehr entfernt an die Tapete in Frau Sumidas Haus.

Ich konnte nicht anders, als die Augen über mich zu verdrehen. Eigentlich war es total bescheuert, sich den ganzen Nachmittag mit diesem blöden Zettel zu beschäftigen. Als hätte ich nichts anderes zu tun als Rätselraten. Gut, hatte ich auch nicht, aber dennoch -
 

Ein überdeutliches Schnaufen holte mich aus meinen Gedanken. Dunkle Augen starrten mich von unten beinahe vorwurfsvoll an. Sofort meldete sich mein Gewissen und ich schnitt eine entschuldigende Grimasse.

„Sorry, mein Mädchen, du bekommst gleich dein Fresschen.“

Hatte ich doch solange aus dem Fenster gestarrt und vor mich hin gegrübelt, dass ich meinen Hund unfreiwillig auf Diät gesetzt hatte, weil die Zeit nur so verflogen war. Bevor ich mich erhob, kam mir eine flüchtige Idee.

„Sag mal, Rina, du kannst nicht erschnüffeln, von wem der hier ist, oder?“

Auffordernd hielt ich das Stück Papier unter ihre graue Schnauze. Eine wirkliche Reaktion hatte ich auch nicht erwartet, schließlich war es mehr eine Schnapsidee gewesen. Rina wirkte, wie erwartet, wenig interessiert und sah mich weiterhin ungerührt an. Na ja, sie war eben kein Spürhund.

Seufzend erhob ich mich und ging zum Kaffeeautomat zurück, in dessen Unterschrank ich immer den Ersatzfressnapf und etwas Hundefutter aufbewahrte, um nicht jedes Mal eine Etage höher gehen zu müssen.

Während Rina schmatzend das übelriechende Futter verschlang, kehrten meine Gedanken zu dem Zettel zurück. Wahrscheinlich hatte sich nur jemand einen blöden Scherz mit mir erlaubt und ich zerbrach mir umsonst den Kopf. Der hatte anscheinend wirklich nicht genug zu tun.

Mit nur wenigen Schritten war ich zurück am Schreibtisch, langte nach dem Zettel und zerknüllte ihn mit einer Hand, ehe ich ihn in Richtung Mülleimer warf. Er landete daneben.

Außerdem – wenn es dem Verfasser des Zettels um etwas Wichtiges gegangen wäre, hätte er ja auch ausführlicher schreiben und mich nicht mit einzelnen Brotkrumen abspeisen können. Am besten schrieb er einfach noch einen Zettel oder Brief. Oder er kam persönlich her.

Einen Augenblick lang starrte ich noch auf die Stelle neben dem Papierkorb. Und was wenn –?

Ach verdammt!

Mich selbst verfluchend stand ich auf und hob den Zettel vom Boden, um ihn mit Nachdruck auf meinen Schreibtisch zu legen.
 

*
 

Verdutzt hielt ich inne und rüttelte noch einmal kräftig an der himmelblauen Tür. Außer einem lauten, klappernden Geräusch tat sich nichts. Sie blieb verschlossen. Stirnrunzelnd ließ ich die Türklinke los und starrte einige Sekunden verwirrt darauf.

Seit wann war denn Frau Sumidas Café unter der Woche geschlossen? Das war bisher noch nie vorgekommen. Okay, noch nie vielleicht nicht. Aber die paar Male konnte man an einer Hand abzählen und da war sie krank gewesen und hatte das ihren Gästen auch durch ein kleines Schild im Fenster mitgeteilt. Nur dieses Mal war das Fenster leer. Auch im Inneren des Ladens war nichts zu erkennen, egal, wie sehr ich mir die Nase an der Scheibe platt drückte. Es war dunkel, die Stühle und Tische standen da wie immer, auf der Theke befanden sich einige Tassen. Alles in allem wirkte es, als würde Frau Sumida jeden Augenblick öffnen. Nur von ihr selbst fehlte jede Spur und dabei war es schon nach acht.

Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Seltsam.

Schnaubend wandte ich mich von der Tür ab und ging ein paar Schritte zurück, um einen Blick die Straße entlang werfen zu können. Womöglich kam sie gleich um die Ecke und ich reagierte dezent über. In dieser Gegend hatten die wenigen Geschäfte sowieso keine in Stein gemeißelten Öffnungszeiten und da konnte es durchaus einmal passieren, dass etwas später geöffnet wurde.

Ich würde einfach ein paar Minuten warten, vielleicht war ihr etwas dazwischen gekommen.
 

Ein kalter Wind pfiff durch die Straße, es hätte nicht viel gefehlt und ein vertrockneter Dornenbusch wäre darüber gerollt, so ausgestorben wirkte es hier. Vereinzelt klapperte irgendwo ein Fensterladen, doch zu sehen war niemand. Wenn ich nicht zwingend meinen Kaffee-Nachschub gebraucht hätte, wäre ich sicher auch zu Hause geblieben.

Ungeduldig ging ich ein paar Meter auf und ab, vergrub die Nase im Kragen der Jacke, um mich wenigstens etwas vor der Kälte zu schützen.

Frau Sumida tauchte auch nach weiteren zehn Minuten nicht auf, mittlerweile ging die Uhr verdächtig auf halb 9 zu. Egal, wie sehr ich mir einredete, dass sie sicher nur krank war, das ungute Gefühl in mir wollte nicht weichen. Es drückte auf meinen Brustkorb und machte mir das Atmen schwer.

‚Mensch, Kaoru, jetzt geh nicht gleich vom Schlimmsten aus.‘

Mein Hirn hatte anscheinend wirklich wenig zu tun, denn es malte sich gerne die unterschiedlichsten Szenarien aus. Wobei das bei dieser Stadt ja nun nicht verwunderlich war. Ich würde einfach später noch einmal vorbeigehen.

Langsam machte ich mich wieder auf den Rückweg, warf dabei alle paar Meter einen Blick zurück, immer in der Hoffnung Frau Sumida würde just in diesem Moment auftauchen. Doch ich wurde enttäuscht.
 

Wieder zu Hause angekommen führte gewohnheitsgemäß mein erster Weg zur Kaffeemaschine, bis mir einfiel, dass die Bohnen alle waren. Dann eben nicht. Grummelnd setzte ich mich an meinen Schreibtisch, starrte blicklos aus dem Fenster. Rinas Kopf lag auf meinem Schoß, ihr gleichmäßiges Schnaufen und ihr weiches Fell, über das ich meine Hand gleiten ließ, halfen kaum die Unruhe in mir zu vertreiben. Vielleicht sollte ich einfach –

Ach Quatsch, womöglich hatte sie nur einen dringenden Termin gehabt. Sicher.

Nach einigen Minuten hielt ich es nicht mehr aus. Ruckartig stand ich auf, entlockte Rina damit ein erschrockenes Winseln.

„Ich geh noch mal eine kurze Runde. Bin gleich wieder da“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu meinem Hund. Eilig griff ich nach meiner Jacke und verließ das Büro. Vermutlich war alles in bester Ordnung, Frau Sumida ging es gut und ich konnte mein plötzliches Erscheinen mit spontaner Nachbarschaftshilfe begründen und meiner Sehnsucht nach Kaffee. Was definitiv realistisch war.
 

Das Klappern meiner Schuhe auf dem porösen Gehweg hallte laut von den Hausfassaden wider, während ich die wenigen Abzweigungen bis zu Frau Sumidas Haus nahm. Ich wurde erst langsamer, als endlich die altbekannte Backsteinfassade vor mir auftauchte. So schnell war ich noch nie hier gewesen, aber bisher hatte mich auch immer nur Frau Sumidas Katze hergelotst und nicht diese innere Unruhe. Ich atmete einige Male tief durch, mein Blick wanderte zu den Fenstern ihrer Wohnung. Alles wirkte normal. Was hatte ich auch erwartet?

Über mich selbst den Kopf schüttelnd, wechselte ich die Straßenseite und steuerte zielstrebig auf den Durchgang zum Hinterhof zu, in dem der Eingang zum Haus lag.

Plötzlich stockte ich mitten im Schritt, wandte abrupt den Kopf nach rechts. Aus den Augenwinkeln hatte ich etwas bemerkt, das hier eindeutig nicht hingehörte. Langsam trat ich einige Schritte zurück. Mein Herz setzte einige Schläge aus, während ich auf das schwarze Auto starrte, das halb versteckt in der schmalen Gasse neben Frau Sumidas Haus stand. Entweder war einer von ihren Nachbarn zu überraschendem Reichtum gekommen oder irgendwer hatte sich verfahren.

Ohne weiter groß darüber nachzudenken, lief ich schnell zu dem Durchgang, verharrte dann im Halbdunkel, um einen vorsichtigen Blick auf die Haustür zu werfen. Aus der Entfernung war nicht viel zu erkennen, aber es schien, als wäre sie nur angelehnt. Mein Puls beschleunigte sich, als ich die anderen Hauseingänge betrachtete, die vom Hinterhof abgingen. Alles wirkte normal, wie immer. Dennoch machte sich ein Gefühl in mir breit, das ich nur zu gut von früher kannte.

Als Polizist hatte mich diese unterschwellige Nervosität, gemischt mit einer leichten Aufgekratztheit fokussierter handeln lassen. Auch jetzt noch trieb sie meinen Herzschlag in die Höhe, meine Nackenhaare stellten sich auf.

‚Ganz ruhig, alles gut‘, versuchte ich mich in einem immer wiederkehrenden Mantra zu beruhigen, während ich auf Frau Sumidas Tür starrte und meine nächsten Schritte plante. Im besten Fall machte ich mich hier gerade einfach nur lächerlich, wie ich agentenmäßig im Durchgang lauerte. Aber wenn -
 

Um ein Haar hätte ich aufgeschrien, als mich etwas am Bein berührte und mich vollkommen unerwartet aus meiner Anspannung riss. Im letzten Moment unterdrückte ich den Laut, mein Blick schnellte nach unten, von wo aus mir grüne Katzenaugen ebenso erschrocken, wie ich mich fühlte, entgegensahen. Mila. Erleichtert atmete ich auf und ließ mich etwas umständlich in die Hocke sinken.

„Na, bist du wieder auf Mäusejagd oder wolltest du mich nur begrüßen?“, flüsterte ich, während meine Finger durch das weiche Fell glitten. Wie zu erwarten, bekam ich außer einem leisen Schnurren keine Antwort, doch so hatte ich Zeit, mich etwas zu beruhigen und meinen rasenden Puls zu bändigen. Noch so eine Aktion und ich bekam einen Herzinfarkt, dessen war ich mir sicher.

Doch ich kam nicht zur Ruhe, denn gleich darauf schubste ein lautes Poltern mein Herz erneut Richtung Infarkt. Ich schoss in die Höhe, drückte mich an die kalte Backsteinwand. Das Geräusch war eindeutig aus Frau Sumidas Haus gekommen.

Ohne weiter darüber nachzudenken, schlich ich näher. Die Tür war wirklich nur angelehnt und ließ sich ohne Probleme öffnen. Ein flüchtiger Blick zurück zeigte, dass Mila immer noch im Hinterhof saß und mir mit Argusaugen folgte. Besser sie blieb da.

Leise trat ich ein und lehnte die Tür hinter mir an. Ich brauchte einige Sekunden, um mich an das diffuse Licht drinnen zu gewöhnen. Früher waren beide Wohnungen in diesem Haus bewohnt gewesen, inzwischen stand das Erdgeschoss leer und hüllte sich in völlige Schwärze. Schemenhaft erkannte ich die Treppe, die eine Etage höher zu Frau Sumidas Wohnung führte. Von dort drangen Geräusche und gedämpfte Stimmen.

Vorsichtig folgte ich den Stufen nach oben, betete, dass das alte Holz nicht plötzlich laut knarrte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Die eigentliche Wohnungstür stand einen Spalt offen, ein schmaler Lichtspalt erhellte die Stufe vor mir. Ich blieb stehen, umklammerte mit meinen schweißnassen Händen das Geländer, in meinen Ohren rauschte es. Unzählige Male war ich bereits hier gewesen, doch noch nie war mir das Haus so kalt und bedrohlich vorgekommen. Ich löste mich mühsam aus meiner Starre und nahm die letzten Stufen.

Früher wäre ich mit gezückter Waffe vorangestürmt und hätte die Tür ohne Rücksicht auf Verluste eingetreten. Doch das war Jahre her. Weder waren meine Nerven aktuell ausreichend stark für so eine Aktion, noch hatte ich eine Waffe. Und den Stimmen zufolge, die jetzt deutlicher aus der Wohnung drangen, hatte ich es mit mehreren Männern zu tun. Mindestens drei, den unterschiedlichen Sprechweisen nach. Ich verstand nicht, was sie sagten, nur vereinzelte Wortfetzen drangen durch das Rauschen in meinen Ohren. Von Frau Sumida war nichts zu hören. Inständig hoffte ich, dass sie gar nicht da war. Vielleicht doch unterwegs zum Einkaufen, obwohl mir ein leises Stimmchen in meinem Hinterkopf etwas anderes zuraunte.

Was konnte ich tun? Hineinstürmen? Gegen drei Kerle hatte ich kaum eine Chance, dazu war ich zu lange aus der Übung.

Wieder krachte etwas hinter der Tür, Glas splitterte. Jemand fluchte.

„Wo ist das -“

Der restliche Satz ging in einem weiteren Krachen unter. Doch der Lärm katapultierte mich zurück in die Realität, die schnellen Schritte, die sich der Tür näherten, zwangen mich zum Handeln. Hastig trat ich nach rechts in den kurzen Flur, der bei einem bodenlangen Vorhang, hinter dem sich die Vorratsnische verbarg, und dem ehemaligen Gemeinschaftsbad endete. Keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Wie in Zeitlupe sah ich durch den erleuchteten Spalt einen breiten Schatten auf die Tür zusteuern. Gleichzeitig griff ich geistesgegenwärtig nach dem Vorhang, schlüpfte darunter und ließ mich in die Hocke sinken. Keine Sekunde später hörte ich, wie die Tür unsanft die Wand traf und sich schwere Schritte näherten. Wie versteinert hockte ich da, lauschte mit angehaltenem Atem. Was tat ich hier? Ich kam mir vor wie ein Feigling, konnte mich einfach nicht bewegen. Was war mit Frau Sumida?

Ich starrte in das Dunkel um mich herum, versuchte ein erschrockenes Zusammenzucken zu verhindern, als unweit von mir die Badezimmertür aufgestoßen wurde. Kurz darauf schepperte es. Wollten die die gesamte Etage kurz und klein schlagen? Das konnten keine normalen Einbrecher sein, besonders nicht bei dem Lärm, den sie veranstalteten. Oder ihnen war alles egal.

Minutenlang saß ich mit klopfendem Herzen und zusammengekniffenen Augen hinter dem Vorhang, die Regalbretter drückten schmerzhaft in meine Seite, und verfluchte mich selbst. Wieso tat ich nichts? Wieso hatte ich keine Waffe mehr oder hatte mir nie eine vom Schwarzmarkt besorgt?

„Hier ist nichts!“, brüllte es mit einem Mal neben mir und diesmal zuckte ich deutlich zusammen. Doch die Dunkelheit des Flurs gab mir Schutz oder der andere hatte es einfach nicht bemerkt, denn seine Schritte entfernten sich schnell wieder.

Plötzlich brachen die Geräusche ab, hektische Schritte waren zu hören, etwas Schweres landete auf dem Boden und wurde darüber geschleift. Ich wagte es nicht zu atmen, spitzte dafür die Ohren und versuchte über das Rauschen hinweg, die Stimmen zu verstehen.

„Wo ist es?“

Etwas Hartes traf auf die Dielen.

„Nochmal: WO IST ES?!“

Sekundenlang herrschte Schweigen, dann hörte ich etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Frau Sumidas Stimme.

„Das geht euch nichts an.“

Ein kurzes Auflachen erklang.

„Alte, ich hätte dich ja eigentlich am Leben gelassen…“

„Das glaubst du doch selbst nicht.“

Ihre Stimme war fest und ruhig. Zu ruhig.

„Zum letzten Mal: Wo hast du die Sachen versteckt?“

Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Langsam erhob ich mich in meinem Versteck.

Was, wenn ich rausstürmte und Krach machte, um die Typen abzulenken? Oder doch einfach -

Frau Sumida unterbrach meine rasenden Gedanken.

„Fahrt doch zur Hölle und nehmt sie alle gleich mit.“

„Du hast es nicht anders gewollt!“

Ehe ich reagieren konnte, ertönte ein mir nur allzu bekanntes Klicken und ein ohrenbetäubendes Knallen zerriss die Luft. Ich hatte das Gefühl, die Zeit stand still. In meinen Ohren rauschte und klingelte es gleichzeitig. Die schweren Schritte, die die Treppe hinab polterten, das Krachen der Haustür registrierte ich kaum. Alles um mich herum war dunkel, mein Herz schien seinen Dienst quittiert zu haben.

Dann war es totenstill.

Für Minuten stand ich bewegungsunfähig da, konnte mich nicht rühren. Nur ganz langsam lichtete sich der Schleier um mich herum. Eine Ewigkeit verging, bis ich mich schließlich hinter dem Vorhang hervorwagte.

Wie in Trance ging ich die wenigen Meter bis zur Wohnung, die Tür stand weit offen. Betäubt betrachtete ich das Chaos, das sich vor mir auftat. Alles zerstört. Es hingen nur noch wenige Bilder an den Wänden, die meisten lagen zertreten auf dem Boden inmitten der unzähligen Bücher, ausgerissene Seiten überall. Sie hatten das deckenhohe Regal umgeworfen. Die Sofapolster und Kissen lagen aufgeschlitzt und verstreut im Raum, Federn bedeckten die Möbel.

Allmählich kam wieder Leben in mich. Die Zerstörung rutschte in den Hintergrund, nur ein Gedanke beherrschte mein Bewusstsein.

Wo war Frau Sumida?
 

Ich fand sie hinter dem Sofa: Seitlich auf dem Boden liegend, die Arme hinter dem Rücken an einen Stuhl gefesselt, auf dem sie gesessen hatte, bevor er umgekippt war.

Ich hatte nicht gemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte, erst jetzt, als ich nach Luft schnappte, fiel es mir auf. Die Welt um mich herum, die eben noch erstarrt war, fing plötzlich an zu rasen.

„Frau Sumida!“

Mit nur wenigen Schritten war ich bei ihr.

Warum hatte ich nicht -?

Die Augen waren geschlossen, ihr Gesicht sah beinahe friedlich aus. Nur die hässliche Wunde und das dunkelrote Rinnsal, das von ihrer Schläfe über ihre Stirn auf den Boden tropfte, zerstörten das Bild.

„Frau Sumida…“

Ich hatte das Gefühl, mein Herz wurde aus der Brust gerissen, als ich mich neben ihr auf die Knie fallen ließ. Schmerz breitete sich langsam in meinem Körper aus. Wie Gift lähmte er mich, ließ alles andere verschwimmen. Nur Frau Sumida blieb klar vor meinen Augen, ihr lebloses Gesicht vermischte sich mit ihrem stets Lächelnden. Es passte nicht überein.

Wieso nur -?
 

Ich war zu sehr in mir selbst gefangen, als dass ich die Schritte bemerkte, die die Treppe nach oben kamen. Erst eine kräftige Hand, die nach meiner Schulter griff und mich halb herumdrehte, zerrte mich zurück in die Realität.

„Hey, was tun Sie hier?“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Nachwort:
*hust* Hm... und nun?
Ich habe mich jetzt mal an einem Cliffhanger versucht und das beim bisher längsten Kapitel *lach* Was sagt ihr? Also auch so generell? Gibt's Vermutungen? Fragen? Überraschungen? Verbesserungen?
Ich kann es so schlecht einschätzen, da in meinem Kopf ja alles klar ist und ich lange Geschichten nicht gewohnt bin.
Ich wollte das Kapitel eigentlich erst Ende des Monats hochladen, aber da ich im Nano-Camp mein eigentlich gesetztes Soll schon erreicht habe, dachte ich mir, ich wage es heute^^
Übrigens ist es nicht meine Schuld, dass Frau Sumida dran glauben musste, ich wollte eigentlich jemand anderes umbringen. Aber meine Beste hat sich durchgesetzt *schulterzuck* ^^

Also Feedback wäre wie immer sehr hilfreich.
Liebe Grüße
Luna
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