Zum Inhalt der Seite

Vogelfrei

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das Erbe

Etwas hatte sich verändert. Obwohl keiner darüber gesprochen hatte, lag es spürbar in der Luft und man musste kein Genie sein, um die Zeichen deuten zu können. Zweifellos war es Hawks ebenso bewusst wie ihm, auch wenn dieser ausnahmsweise sein Plappermaul hielt. Er hätte der Harpyie keine solche Zurückhaltung zugetraut.

Davon abgesehen war ihre weitere Reise bislang ohne weitere Vorkommnisse verlaufen. Keine Überfälle oder Aufträge, die sie übernehmen sollten. Keine Dämonen, von denen ihnen zurzeit eindeutig zu viele begegneten. Was natürlich auch daran liegen konnte, dass sie mit anderthalb Dämonen reisten. Vielleicht zogen sie dadurch diese Monster erst recht an. Nicht, dass der Umstand jetzt, wo sie eine Gemeinschaft waren, noch etwas geändert hätte.

Jedenfalls war es fast schon zu ruhig und Enjis Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass auf solch eine Ruhe meistens ein heftiger Sturm folgte. Dementsprechend konnte er sich nicht aufrichtig darüber freuen. Sein Blick schweifte zu Aizawa herüber, der hinter Toshinori saß und sich an diesem festhielt. Anscheinend döste der Einsiedler, so wie er an dem Blonden lehnte und dabei die Augen geschlossen hielt. Die Wunden waren in den letzten Tagen, die sie unterwegs waren, immer besser verheilt, wobei Enji darauf wettete, dass dessen Blut seinen Teil dazu beitrug. Kein Mensch heilte innerhalb so weniger Tage in diesem Ausmaß und war noch dazu in der Lage, einen so langen Ritt zu überstehen.

Sie würden bald die Grenze erreicht haben und langsam mussten sie sich überlegen, wie sie die Sache angingen. Hawks zog über ihnen seine Kreise, während er die Umgebung ausspähte, doch so nahe der Grenze sollte er wohl lieber herunterkommen. Er tauschte einen Blick mit Toshinori, welcher nickte, woraufhin sie ihre Pferde zum Stehen brachten. Aizawa blinzelte müde, bewegte sich aber ansonsten nicht. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis Hawks zwischen ihnen landete, dabei seine Klauen tief in die Erde grub. Man merkte, dass sich die Pferde an seine Anwesenheit gewöhnt hatten, denn sie zuckten bloß mit den Ohren, wurden nicht panisch, wie sie es normalerweise getan hätten.

„Lagebesprechung?“, feixte die Harpyie und sah neugierig in die Runde.

„Kann man so sagen“, brummte Enji und musterte den Dämon einen Moment. „Wir können dich nicht einfach mit über die Grenze nehmen und durch die Dörfer fliegen oder laufen lassen. Die Menschen würden Panik bekommen und wir hätten eine ähnliche Situation wie die, der wir vor kurzem entkommen sind.“

„Ja. Das dachte ich mir“, erwiderte Hawks gedehnt und legte die roten Schwingen enger an den Rücken an. „Kann mich leider nicht unauffälliger machen. Die Flügel und Klauen und so, ihr wisst ja. Also was ist der Plan, Leute?“

Toshinori seufzte leise.

„Es tut mir leid, Hawks. Vielleicht kann ich dafür sorgen, dass du in unserer Nähe sein kannst, aber vorerst solltest du dich versteckt halten. Ich bin selbst ein Jahr nicht mehr in meiner Heimat gewesen, daher muss ich gewisse Dinge regeln, bevor ich Genaueres sagen kann.“

Man sah dem blonden Hünen an, dass er es bedauerte, nicht mehr versprechen zu können; jedoch waren auch seine Möglichkeiten begrenzt.

„Welche Position habt Ihr, dass Ihr überhaupt davon ausgeht, dass Ihr etwas regeln könnt?“, brummte Aizawa, der immer noch an seiner Schulter lehnte.

Toshinori presste ertappt die Lippen aufeinander, ehe er sich zu einem Lächeln zwang. Es war ihm wohl immer noch unangenehm.

„Nun, ich bin ein tugendhafter Krieger vom Hofe und habe dort unter der Aufsicht des Königspaares meine Ausbildung genossen.“

Er lächelte Aizawa über seine Schulter hinweg an, doch die Skepsis im Blick des anderen Mannes verschwand nicht. Gelogen war das zumindest nicht. Hawks legte den Kopf schief und verschränkte die Arme, wobei er zu überlegen schien.

„Also gut, dann warte ich in einem nahegelegenen Waldstück, bis ihr mir…eh…irgendein Zeichen gebt?“

„Nahe dem Schloss gibt es einen Wald, doch dort wird häufig gejagt. Wenn du dich dort versteckst, sei auf der Hut. Unsere…die Krieger sind nicht zu unterschätzen. Wir werden dich dort aufsuchen, sobald es geht“, erwiderte Toshinori ernst, woraufhin Hawks eine Schnute zog.

„Auch wenn es mir nicht passt – geht in Ordnung. Und wegen dem Zeichen – ich rieche euch sowieso meilenweit gegen den Wind. Kommt mich einfach holen, wenn ihr so weit seid…aber lasst mich nicht zu lange warten, klar? Das werden bestimmt langweilige Stunden…“

„Wenn dir die öffentliche Hinrichtung lieber ist, lässt sich das sicher arrangieren“, knurrte Enji genervt, woraufhin Hawks noch mehr schmollte.

„Das habe ich ja gar nicht gesagt. Ich will mich bloß nicht von euch trennen müssen. Ich kapiere schon, warum wir es so machen, aber gefallen muss es mir nicht, oder?“

„Wir beeilen uns“, versicherte ihm Toshinori mit einer Zuversicht, die Enji nicht fühlte.

Wie sollten sie ihm begreiflich machen, dass sie mit einem Dämon reisten und dieser ihr Kamerad war? Eigentlich sogar mit mehr als einem, doch immerhin konnten sie diesen Umstand bei Aizawa verschweigen. Bei Hawks konnte man nur mit offenen Karten spielen. Leider.

„Na gut“, meinte der Dämon und spreizte seine roten Schwingen wieder. „Dann mache ich mich auf den Weg und warte dort. Passt auf euch auf, ja? Ich will euch in einem Stück wiedersehen.“

Dabei zwinkerte er ihnen frech zu, bevor er sich vom Boden abstieß und mit lautem Flügelschlagen schon sehr bald aus ihrem Sichtfeld verschwand. Enji machte sich mehr Sorgen um ihn, was das anbelangte. Hoffentlich hielt sich der Vogel zurück und jagte so, dass ihn nicht direkt die nächsten Dörfler bemerkten. Im selben Moment fragte er sich, was mit ihm los war. Seit wann war ihm diese Plage wichtig geworden? Vermutlich, seitdem er Hawks als Teil der Gruppe anerkannt hatte. Er konnte es nicht leugnen.

„Beeilen wir uns.“

Toshinori nickte auf seine Worte hin und trieb Morgenstern an, welche sich sofort in Bewegung setzte.
 

Viel verändert hatte sich nicht, seitdem sie das letzte Mal hier gewesen waren. Die Mauern des Schlosses ragten bereits aus der Ferne empor, wirkten wie eine undurchdringliche Festung. Enji war als Jüngling hergeschickt worden, um seine Ausbildung zu absolvieren, und hatte dabei Toshinori kennengelernt. Wie lange das her und wie viel inzwischen passiert war…

Die Wachen erkannten sie sofort, wenn sie auch Aizawa mit unverhohlenem Misstrauen bedachten, welches Toshinori jedoch aus der Welt schaffen konnte, indem er versicherte, dass dieser zu ihnen gehörte. Nun, seinem Wort würde sich niemand entgegenstellen, so viel war sicher.

„Erlaubt uns, uns um Eure Pferde zu kümmern, Yagi-sama, Todoroki-sama“, bot einer von ihnen an, als sie von den Tieren stiegen.

„Das wäre in der Tat sehr freundlich“, kam es höflich von dem Blonden zurück, ehe er Aizawa von Morgenstern herunter half.

Der Einsiedler schien dem Ganzen nicht zu trauen, jedenfalls wirkte er ziemlich angespannt. Einen Grund zur Furcht hatte er nicht, doch Enji sparte sich die Worte; warum sollte er den Kerl auch beruhigen? Davon abgesehen, dass sie sich immer noch nicht grün waren, war er noch wütend über Aizawas Alleingang, der sie alle in Gefahr gebracht hatte. Sollte er also schmoren.

Er drückte der anderen Wache Feuersturms Zügel in die Hand und folgte dann Toshinori, während Aizawa ein Stück hinter ihnen blieb. Vermutlich wurde ihre Ankunft gerade angekündigt. Er warf seinem Freund einen Seitenblick zu, bemerkte, dass dieser die Fäuste geballt hatte. Da war anscheinend noch jemand sehr nervös.

„Er ist in die Jahre bekommen“, meinte er knapp. „In seinem Alter lassen Kraft und Genauigkeit nach.“

Toshinori grinste schief, während sie durch die Gänge schritten, an deren steinernen Wänden prunkvolle Gemälde aufgehängt waren.

„Da bist du sicher, ja? Du weißt, dass er ein zäher, alter Mann ist.“

„Mehr Ermutigung bekommst du nicht von mir.“

„Oh, das ist mehr als genug.“

Enji nickte nur, während der andere leicht schmunzelte, dann aber aufsah, als sie vor der riesigen Doppeltür ankamen, die sie in den Thronsaal führen würde. Sie beide waren oft genug hier gewesen, kannten dieses Schloss in- und auswendig. Enji war in diesen Mauern mehr zuhause gewesen als bei seinen Eltern, was an dem eher formellen Verhältnis liegen mochte, das sie gepflegt hatten. Vielleicht war es deswegen so leicht gewesen, ihn schon in jungen Jahren hierher zu bringen. Nun, es war nichts Schlechtes, schließlich hätte er sich nie auf diese Weise gesteigert, wenn es die Rivalität mit Toshinori nicht gegeben hätte.
 

Enji verdrängte den Gedanken und sah zu dem Mann, der am Ende des Raumes auf seinem Thron saß und sie schon erwartete. Wie schon seit einigen Jahren war der zweite Thron neben ihm unbesetzt. Das Gemälde der dunkelhaarigen Schönheit hing jedoch weiterhin an der Wand, dominierte den Raum. Zu Recht, schließlich hatte sie unzählige Schlachten für ihr Volk geschlagen und genau diese Inbrunst zeigte sich auch auf dem Bild, auf welchem sie Rüstung und Schwert trug. Sie war keine gewöhnliche Frau gewesen, definitiv nicht.

Sein Blick wanderte wieder zu dem alten Mann, dem die Jahre ins Gesicht gestanden schrieben. Sah man ihm jedoch in die braunen Augen, erkannte man, dass er trotz gelegentlicher Ausfälle immer noch einen scharfen Verstand besaß. Er war wieder geschrumpft, wirkte auf dem riesigen Thron ungewöhnlich klein, wenn man bedachte, dass er einst von ihrer Statur gewesen war. Nun versackte er beinahe in seiner senfgelben Robe.

Da Toshinori scheinbar kein Wort herausbekam, stieß Enji seinen Freund an, woraufhin dieser zusammenzuckte und sich rasch verbeugte. Enji tat es ihm gleich, ehe sie beide sich wieder erhoben. Er drehte sich nicht zu Aizawa um, hoffte aber für diesen, dass er dem König denselben Respekt entgegenbrachte wie sie beide. Einige Sekunden vergingen, in denen niemand etwas sagte.

„Wer seid ihr denn?“

Weitere Sekunden vergingen. Enji blinzelte ungläubig, dachte, er hätte sich verhört, und auch Toshinori neben ihm sog erschrocken die Luft ein. War der König letztendlich doch seinem Alter erlegen?

„S-Sorahiko-san. Ich bin es. Toshinori!“, entkam es diesem.

„Toshi-wer?“

„Das kann nicht Euer Ernst sein…“

„Ich kenne dich nicht, Bursche. Nie gesehen.“

„Aber…das…“

Hilflos sah Toshinori zu den Wachen, die jedoch keine Anstalten machten, irgendwie einzugreifen oder zu erklären. Möglicherweise waren sie an die voranschreitende Demenz bereits gewöhnt? Erschreckend war es dennoch.

„Komm näher, Blondschopf. Vielleicht sagt mir dein Gesicht dann etwas…“, erwiderte der alte Mann mit zusammengekniffenen Augen.

Toshinori schluckte hart, folgte dem Befehl aber unverzüglich und stellte sich direkt vor den Grauhaarigen. Dieser verengte die Augen noch mehr, sah ihn angestrengt an.

„Noch näher.“

Toshinori beugte sich zu ihm herunter und – bekam im nächsten Moment dessen Holzstock gegen den Kopf gedonnert. Toshinori stöhnte und rieb sich die sicherlich schmerzende Schläfe, wobei er sein Gegenüber verwirrt ansah.

„Was-“

„Du einfältiger Dummkopf! Wenn ich dich vergesse, dann nur, weil du nicht den Anstand hast, öfter als einmal im Jahr hierherzukommen! Ich sollte dich grün und blau schlagen, du Bengel!“

„Au!“

Enji sah regungslos zu, wie Toshinori erneut einen Schlag mit dem Stock abbekam. Kurz warf er einen Blick zu Aizawa, der inzwischen neben ihm stand und offensichtlich nicht verstand, was hier passierte. Anders konnte er sich die entgeisterte Miene nicht erklären. Gut, auf Außenstehende mochte das hier etwas bizarr wirken, das musste er zugeben.

„Sagtet Ihr nicht, wir seien hier sicher?“, brummte der Einsiedler, während Torino Sorahiko weiter auf den Blondschopf schimpfte.

„Wir ja. Toshinori – falls er die Prügel übersteht“, antwortete er.

„Ich nehme an, wir sollen uns nicht einmischen.“

„Er ist der Herrscher dieses Landes.“

Aizawa warf ihm einen Blick zu, der deutlich machte, was er davon hielt. Vermutlich wäre er liebend gern auf den alten Mann losgegangen, der es wagte, seinen was auch immer die zwei füreinander waren zu schlagen. Schlechte Idee.
 

„Hört mir doch z-“

„Deine Ausflüchte will ich nicht hören! Du undankbares Balg! Wir haben dich aufgenommen und großgezogen, damit all das hier eines Tages dir gehört! Wäre ich jünger, würde ich dich höchstpersönlich durch das ganze Schloss jagen! Du hast deinen Pflichten nachzukommen! Wie oft muss ich dir das noch sagen?! Wenn du schon nicht mein Nachfolger sein willst, dann bilde gefälligst jemanden aus, der diese Position übernehmen kann, während du in der Weltgeschichte herumreist!“, blaffte Torino diesen an und versuchte, ihn erneut mit dem Stock zu treffen.

Dann fixierte er Enji und Aizawa, als würde er sie erst jetzt wahrnehmen, was sicher nicht der Fall war.

„Du solltest doch diesbezüglich Einfluss auf ihn ausüben, Todoroki-kun!“, knurrte dieser wie erwartet. „Und wer ist dieser zwielichtige Kerl?! Toshinori…wenn du schon deine Freiheit da draußen genießt, komm gefälligst mit einer Frau zurück! Wie lange willst du noch damit warten?! Eines Tages bist du zu alt dafür, als dass deinen Lenden noch Kinder entspringen könnten! Es ist deine Pflicht, einen Erben zu zeugen!“

Das hatte gesessen. Er musste Aizawa nicht dafür ansehen, um zu wissen, dass diesem nun alles entgleiste. Toshinori ging es ähnlich, so bleich wie dieser geworden war. Vielleicht war es das Beste, die Standpauke stumm über sich ergehen zu lassen.

Toshinoris Gesicht prophezeite jedoch einen gänzlich anderen Ausgang dieses Gesprächs und Enji war sich plötzlich nicht mehr sicher, dass sie hier keine Gefahr erwartete. Das war keine gute Idee.

„Lasst uns allein!“, kam es ungewohnt hart von seinem Freund, woraufhin die Wachen zu ihrem König sahen.

Dieser runzelte zwar die Stirn, machte aber eine Handbewegung, die es ihnen erlaubte, den Saal zu verlassen. Enji spannte sich augenblicklich an, nicht sicher, ob sie ebenfalls gehen sollten, doch da keine Aufforderung kam, nachdem sie zu viert waren, blieben sie.

„Toshinori…“, beschwor er diesen, doch der Angesprochene schüttelte den Kopf.

Die Entschlossenheit in seiner Miene sorgte nicht dafür, dass Enji ein besseres Gefühl bekam. So hatte er sich das nicht vorgestellt.

„Wir sind allein. Oder fast. Sag, was du zu sagen hast, Junge“, forderte Torino ihn auf.

Toshinori atmete tief durch, straffte dabei die breiten Schultern und funkelte seinen Ziehvater an. Zweifellos, er würde tun, was Enji befürchtete, das er tun würde – und er konnte ihn nicht davon abhalten. Sie waren geliefert.
 

„Sorahiko-san“, begann er ruhiger, als er sich fühlen sollte. „Nichts liegt mir ferner, als Euch oder Nana-san zu enttäuschen. Mir ist bewusst, welch großes Vertrauen Ihr in mich setzt, und ich danke Euch für alles, was Ihr für mich getan habt. Ohne Euch wäre ich nicht der Mann, der ich heute bin. Jedoch fühlt es sich nicht richtig an, hier zu residieren, während dort draußen Monster verschiedener Art ihr Unwesen treiben. Im vergangenen Jahr habe ich noch deutlicher gespürt, dass es meine Bestimmung ist, den Menschen zu helfen, und das kann ich als König nicht tun. Nicht auf diese Weise.“

Torino sah nicht aus, als würde ihn das milde stimmen, so wie sein Kiefer malmte, doch er schwieg vorerst. Anscheinend wollte er seinen Ziehsohn ausreden lassen. Enji wünschte sich, er würde es nicht tun, denn er hatte eine böse Vorahnung. Aizawas Unruhe neben ihm war spürbar.

„Ich bin jedoch gewillt, jemanden als Euren Nachfolger auszubilden. Wie ich Euch letztes Jahr bereits sagte, habe ich jemanden ins Auge gefasst und bin davon überzeugt, dass der Junge ein sehr viel besserer Herrscher sein wird, als ich es je sein könnte.“

Enji unterdrückte mit Mühe ein Schnauben; diese Bescheidenheit war ja nicht zum Aushalten. Allerdings konnte auch er sich nicht vorstellen, dass Toshinori hier dauerhaft die Füße stillhalten sollte. Dass er das Land regieren konnte, stand außer Frage, doch es lag nicht in seiner Natur, sich damit zufrieden zu geben.

„Sollte es zu Krieg kommen, könnt Ihr selbstverständlich auf meine Unterstützung zählen“, fügte der Blonde an. „Wie gesagt, ich werde nie vergessen, was Ihr für mich getan habt. Umso mehr tut es mir leid, dass ich Euch in einer weiteren Hinsicht enttäuschen muss.“

Enji spannte sich an; scheinbar war das hier der Sturm, den er schon einen Tag zuvor, als sie sich von Hawks getrennt hatten, befürchtet hatte. Toshinori, dieser Narr…

„Ich habe jahrelang nach dem Menschen gesucht, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Wie Euch bewusst ist, ohne Erfolg. Auf meiner letzten Reise hat sich jedoch einiges verändert und ich habe erkannt, mit wem ich dieses Leben teilen möchte. Es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe, doch es ist das einzig Richtige. Wenn ich mit diesem Menschen zusammen bin, fühle ich mich vollständig…und glücklich.“

Enji warf einen Seitenblick zu dem Einsiedler.

„Noch könnt Ihr rennen“, murmelte er diesem zu.

„Er wird doch nicht…“, brummte dieser fassungslos zurück, schien sich nicht mal zu wundern, dass Enji Bescheid wusste.

„Er wird.“

„Du redest drum herum, Junge!“, beschwerte sich Torino ungeduldig. „Wer ist die Frau, die dir offensichtlich den Kopf verdreht hat? Stell sie mir vor!“

Toshinori räusperte sich, ehe er sich umdrehte und Aizawa fixierte, der immer blasser wurde. Vor allem, als der blonde Hüne die Hand nach ihm ausstreckte und ihn erwartungsvoll ansah. Ja, stellte Enji resigniert fest, sie waren geliefert. Dabei wusste Toshinori doch, dass es noch verpönter war, dasselbe Geschlecht zu begehren, als Freudenhäuser zu besuchen. Hätte er mal besser daran getan, sich damit zu befassen.

Nun, die Situation wirkte festgefahren. Aizawa schien am Boden festgefroren zu sein, offensichtlich entsetzt. Torino war die Kinnlade heruntergefallen, offensichtlich zutiefst schockiert über die Erkenntnis, von wem sein Ziehsohn sprach. Toshinori ruckte mit dem Kopf, um Aizawa zu signalisieren, dass er ihn bitte nicht hier stehen lassen sollte, weil das Ganze schon unangenehm genug war. Und Enji? Enji ging die Fluchtwege geistig schon mal durch, falls sie abermals fliehen mussten. Oder falls Toshinori seinen Ziehvater durch einen Herzinfarkt umbrachte.
 

„Du…willst mir sagen, dass du dem Landstreicher da…zugetan bist?“, kam es kraftlos von Torino und er sank in seinem Thron etwas mehr in sich zusammen.

Enji sah das als relativ milde Reaktion auf solch eine Nachricht an, weswegen er Aizawa einen festen Stoß in den Rücken verpasste, der diesen nach vorn stolpern ließ. Jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr, also musste das nicht noch peinlicher werden. Aizawas Blick in seine Richtung zeigte, dass er ihm die Pest an den Hals wünschte, doch da Toshinori schon im nächsten Moment den Arm um ihn legte, hatte Enji wenig zu befürchten. Nicht, dass er sich je vor dem Einsiedler gefürchtet hätte.

„Sein Name ist Aizawa Shouta und er ist der Mann, den ich an meiner Seite möchte“, verkündete Toshinori fest.

Torino musterte erst ihn wortlos, dann Aizawa, der sich vermutlich wünschte, der Erdboden möge ihn verschlucken.

„Ehrlich, Toshinori, hat dir keiner gesagt, dass derlei Begierden niemals öffentlich gemacht werden dürfen? Wie stellst du dir das vor? Welcher Priester ehelicht dich und deinen…nein. Du hättest wirklich besser daran getan, diese Neigung heimlich auszuleben, wie es alle Männer tun.“

Enji musste unweigerlich an seine Besuche in den Bordellen denken. Er wusste schon, wovon der König sprach.

„Das entspricht aber nicht seinen Tugenden.“

Dass ausgerechnet Aizawa so etwas sagen würde, hatte wohl keiner von ihnen erwartet. Selbst Toshinori sah diesen verdutzt an.

„Was weiß jemand wie du von Tugenden?“, knurrte der alte Mann, woraufhin Aizawa schnaubte.

„Nur das, was ich durch Euren Sohn mitbekommen habe. Gesellschaftliche Regeln und dergleichen sind mir vollkommen egal. Würde es nach mir gehen, würden wir es genauso halten, wie Ihr es Euch gewünscht hättet. So ist Yagi aber nicht…und das respektiere ich.“

Torino verengte die Augen, blickte den Einsiedler für einen langen Moment schweigend an. Wenigstens hatte er keinen von ihnen bisher festnehmen lassen. Stattdessen gab er ein resigniertes Seufzen von sich.

Enji dagegen fragte sich, ob das so stimmte. Aizawa respektierte Yagis Tugenden? Seit wann? Er hatte eher die Vermutung, dass Aizawa Torino widersprechen wollte, weil er sich herabgestuft fühlte. Nicht würdig für den Platz an Toshinoris Seite. Zugegeben, Enji fragte sich wirklich, was seinen Freund da gepackt hatte, aber gut, das würde er für sich behalten.

Und Toshinori selbst? Der strahlte wie ein Honigkuchenpferd über das ganze Gesicht.
 

„Du bringst mich mit deinen eigensinnigen Entscheidungen noch ins Grab, Junge.“

Torino seufzte abermals, während er von einem zum anderen schaute und dann den Kopf schüttelte.

„Da bist du wie sie…“

Enjis Blick schweifte abermals zum Bild der dunkelhaarigen Frau, die als Shimura Nana bekannt gewesen war. Unrecht hatte er damit jedenfalls nicht. Sie war für ihren Wagemut und ihren unerschütterlichen Willen bekannt gewesen. Ungewöhnlich genug, dass eine Frau Schlachten schlug, aber gut, hier lief ohnehin einiges anders, als er selbst es gewohnt war.

„Sei es drum“, lenkte Torino ein. „Ich weiß aus Erfahrung, dass du nicht davon abweichst, wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hast – und jetzt wisch dir das dümmliche Grinsen aus dem Gesicht! Das bedeutet nicht, dass ich es gutheiße. Du lädst dir damit Probleme auf, deren Ausmaß dir noch nicht bekannt ist. Dein...Freund wird wissen, wovon ich rede. Falls es dir wirklich ernst ist, Toshinori, dann schützt du euch beide, indem du diese Verbindung geheim hältst. Es gibt sicherlich Priester, die dies absegnen. Da du meine Nachfolge nicht antreten willst, bist du davon abgesehen frei, zu tun, wonach dir der Sinn steht.“

Es war nicht das, was Toshinori sich gewünscht hatte, das sah man ihm an. Jedoch stimmte es nun einmal. Dieser konnte froh sein, dass ihn sein Ziehvater wohl genügend liebte, um es überhaupt zu dulden. Enjis eigener Vater hätte ihn für solche Worte vermutlich entweder hinrichten lassen oder ihn für immer verbannt. Es galt als Schande. Vor allem in ihren Rängen.

„Ich weiß Eure Ehrlichkeit zu schätzen“, erwiderte Toshinori ruhig. „Verzeiht mir, dass ich nicht der Sohn sein kann, den Ihr…und Nana-san sich gewünscht habt.“

Torino gab ein raues Auflachen von sich, das in Anbetracht der Situation recht unpassend wirkte.

„Versteh mich nicht falsch, Junge. Als Nachfolger bist du wahrlich eine Enttäuschung. Als unser Kind jedoch…nun, ich denke, Nana wäre nicht weniger stolz als ich, dass du tust, was du für richtig hältst.“

„Sorahiko-san…“, kam es ergriffen von dem Blonden, woraufhin der alte Mann schnaubte.

„Werde jetzt ja nicht rührselig. Zumal ich mit dir und Todoroki-kun noch ein Wort zu reden habe. Es gibt-“

Weiter kam er nicht, da just in diesem Augenblick die Tür aufgestoßen wurde, woraufhin Aizawa sich ruckartig von Toshinori löste. Besser war es, denn die Wache, die hereinstürmte, sollte dies nicht unbedingt mitbekommen.

„Torino-sama!! Ein…ein Notfall!!“, keuchte der Mann, der wohl gerannt war. „Es ist…furchtbar.“

Torino knirschte mit den Zähnen.

„Um was handelt es sich? Geht es wieder um die Überfälle?! Sprich!“, grollte dieser und Enji wurde hellhörig.

Überfälle? War es das, was er ihnen gerade hatte sagen wollen? Wurde das Reich bedroht? Die Wache schluckte hart, schüttelte jedoch den Kopf.

„Nein. Kein…also nicht in dem Sinne. Es ist…einige unserer Auszubildenden…sie haben etwas entdeckt. Genau genommen haben sie etwas…gefangen.“

Torino verengte die Augen, während Enji sicher nicht der Einzige war, dem das Herz in die Hose rutschte. Es würde doch nicht etwa…

„Herr, sie haben einen Dämon gefangen. Einen leibhaftigen Dämon mit roten Schwingen und dem Antlitz eines Jünglings!“

Enji entgleiste die Mimik, ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Das durfte nicht sein…doch es gab keinen Zweifel daran, dass es sich hierbei um Hawks handeln musste. Verdammt! Wie war das passiert?! Und wie bekamen sie den Dämon aus dieser Misere wieder heraus?

Als sich Enji zu Toshinori und Aizawa umdrehte, erkannte er, dass diese ebenso schockiert waren wie er selbst.

Das hier war übel. Sehr übel. Und es schien keinen Ausweg zu geben.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Huhu! :D
Anbei ein neues Kapitel.
Hoffe, ihr hattet ebenso viel Spaß daran, wie ich es hatte. ;)
Auch wenn der Cliffy fies ist, aber na ja...geht ja hoffentlich bald weiter.
Gebetat hat wieder die fleißige Lichtregen. <3

LG Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück