Verschwunden
Es war Donnerstag und Kaiba saß auf seinem Platz in der Klasse, vor sich der aufgeklappte Laptop mit den aktuellen Quartals- und Jahreszahlen. Doch Kaiba konnte sich nicht auf die Zahlen konzentrieren. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu Jonouchi.
Er hatte den Blonden Sonntagfrüh im Krankenhaus in der Aufnahme gesehen. Schlimmer zugerichtet als jemals zuvor. Also hatte er sich ihm zugewandt und festgestellt, dass der sonst so taff wirkende Blonde völlig traumatisiert gewesen war. Jede Bewegen um ihn herum ließ ihn schreckhaft zusammenfahren und er kämpfte so offensichtlich mit seinen Tränen, das er ihn am liebsten...
Der junge Geschäftsmann führte den Gedanken nicht weiter aus. Er hatte alles in seiner Macht stehende getan, damit Jonouchi ordentlich untersucht und versorgt wurde. Dann wollte der Blonde das Krankenhaus verlassen und war davor zusammen geklappt. Also hatte Kaiba ihn in ein Privatzimmer bringen lassen und die Rechnung übernommen.
Als er später am Sonntag Mokuba besuchen wollte, wollte er auch bei Jonouchi vorbei schauen. Doch das Zimmer, in dem der Blonde hätte liegen sollen, war leer. Erst nach einer energischen Nachfrage bei der diensthabenden Stationsärztin bekam er die Auskunft, dass Jonouchi von seinem Vater abgeholt worden war.
Diese Information hatte ihm Bauchschmerzen bereitet. Er hatte sich Zugriff auf das Krankenhausnetzwerk verschafft und nach Jonouchis Adresse gesucht. Erst dann war er zu Mokuba gegangen, der sofort merkte, dass etwas seinen Bruder beschäftigte. Also hatte der Jüngere das getan, was er in solchen Momenten immer tat: nachgebohrt. Schließlich hatte Kaiba ihm alles erzählt und auch Mokuba begann sich Sorgen um den älteren Bruder seiner Klassenkameradin zu machen.
Nachdem die Besuchszeit geendet hatte war Seto zu der angegebenen Adresse gefahren, nur um festzustellen, dass es sich dabei um ein nicht bebautes Grundstück handelte. Der Blonde hatte eine falsche Adresse angegeben. Er seufzte und fuhr zu ihrer Schule. Auch dort hackte er sich in das Netzwerk. Es half, dass fast alle öffentlichen Einrichtungen eine Software seiner Firma verwendeten. Doch zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass dort die gleiche Adresse angegeben war, wie in der Krankenakte. Er fluchte leise.
Am Dienstag war Mokuba von seiner Klassenkameradin, Jonouchis Schwester, besucht worden. Da Jonouchi an diesem Tag nicht in der Schule gewesen war fragte Kaiba sie gegen Ende ihres Besuchs, ob sie ihm die Adresse ihres Bruders geben könnte. Sie hatte ihn gemustert und verneint. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht konnte. Ihre Briefe hatte sie stets an ein Postfach gerichtet gehabt, damit sie nicht vom Vater abgefangen worden waren.
Die Frage nach Jonouchis Adresse alarmierte sie und sie fragte, ob etwas mit ihrem Bruder wäre. Kaiba log sie an und meinte, dass er etwas mit dem Blonden zu klären hätte und das nicht in der Schule machen wollte. Skeptisch hatte sie ihn gemustert und er war sich nach wie vor unsicher, ob sie ihm die Lüge geglaubt hatte. Aber sie hatte ihm Jonouchis Handy-Nummer gegeben.
Kaiba versuchte die Nummer anzurufen, landete aber immer wieder auf einer anonymisierten Mail-Box. Als er an diesem Abend nach Hause kam setzte er sich an seinen Laptop, rief die Homepage von Jonouchis Anbieter auf - den er anhand der Vorwahl erkannt hatte - und versuchte sich als Jonouchi auszugeben. Er wollte die Handyortung nutzen, die dem Inhaber eines Handys ermöglichte ein verlorenes Handy wiederzufinden. Doch scheinbar war dieses ausgeschaltet und eine Ortung damit nicht möglich.
Jonouchis Freunde kamen in die Klasse. Sie hatten sich am Anfang der Woche gewundert, dass der Blonde fehlte und hatten kurz darüber spekuliert, was dafür wohl der Grund war. Dabei war Kaiba aufgefallen, dass Honda sich wenig daran beteiligte und immer wieder besorgt zu dem Tisch des Blonden blickte. Und mit jedem verstreichenden Tag schien der andere Brünette sich mehr Sorgen zu machen.
Kaiba stand auf und ging direkt auf Honda zu.
"Hey, kann ich dich mal kurz sprechen?", fragte er den verblüfften Honda. Auch die anderen drei blickten ihn an, als hätte er sich gerade als Außerirdischer offenbart.
"Sicher, was gibt es?", fragte Honda.
"Unter vier Augen", erwiderte Kaiba. Honda wechselte kurz einen Blick mit seinen Freunden, nickte aber dann. Sie wollten gerade das Klassenzimmer verlassen, als Jonouchi eintrat. Geschockt blieben beide stehen. Honda, weil er nicht erwartet hätte, Jonouchi derart zugerichtet zu sehe. Kaiba, weil ihm auffiel, dass zu den Verletzungen von Sonntag gerade im Gesicht noch einige dazu gekommen waren.
Jonouchi blickte sie ebenso geschockt an, bevor er seinen Blick schambehaftet senkte.
"Jou-kun", kam es entsetzt von Yugi, als dieser den Blonden sah. Der Blonde versuchte kess zu grinsen, als er sich an den beiden Brünetten vorbei schob und zu seinem Platz humpelte.
"Scheiße, was ist denn mit dir passiert?", fügte Otogi hinzu. Auch die Blicke aller anderen in der Klasse waren auf den Blonden gerichtet, was ihm sichtbar unangenehm war.
"Wurde überfallen", meinte er nur mit brüchiger Stimme, als würde das alles erklären.
"Überfallen?", hakte Ryou entsetzt nach. "Von wem?"
"Keine Ahnung... irgend so ein Penner. Hat mich von hinten erwischt und gegen eine Wand geworfen. Als ich am Boden lag hat er auf mich eingetreten und eingeschlagen", erzählte Jonouchi und kleidete einen Teil der Wahrheit in eine Lüge.
"Und was ist mit deinem Arm?", fragte Yugi.
"Ähm... Spiralbruch... wird wohl vier bis sechs Wochen dauern, bis ich den Gips wieder los bin", antwortete Jonouchi.
"Kaiba?", sprach Honda den Jungunternehmer an, der fassungslos Jonouchi hinterher geschaut hatte.
"Was?", fragte dieser völlig aus dem Konzept gebracht.
"Du wolltest mit mir reden?", erwiderte Honda.
"Ähm... ja, stimmt", gab Kaiba ihm Recht und verließ nach einem erneuten Zögern mit dem anderen die Klasse. Als sie auf dem Dach ankamen fröstelten beide auf Grund der winterlichen Kälte.
"Also, was gibt es?", wollte Honda fragen.
Kaiba sah ihn nur stumm an und blinzelte. Er öffnete zwei oder drei Mal den Mund und wollte ihm was sagen, doch ihm fehlten jedes Mal die Worte.
"Es ging um Jonouchi, oder?", hakte Honda schließlich nach.
"Ich wollte dich nach seiner Adresse fragen", meinte Kaiba und musste sich kurz räuspern.
"Seine Adresse?", kam es verblüfft von dem anderen Brünetten.
Kaiba fiel nichts ein, was er dem anderen glaubwürdig erwidern konnte, warum er nach Jonouchis Adresse fragen wollte.
"Du weißt mehr darüber, wieso Jonouchi so aussieht, wie er es tut, oder?" stocherte Honda ins Blaue hinein. Kaiba schluckte und nickte dann.
"Ich hab ihn Sonntagfrüh im Krankenhaus gesehen und hab dafür gesorgt, dass sich ein Arzt endlich um ihn kümmert, nachdem er vier Stunden gewartet hatte", offenbarte Kaiba und wusste selbst nicht genau, warum er es tat.
"Du weißt seit Sonntag, dass er so aussieht und sagst kein Wort, während wir rätseln, was los ist?", keuchte Honda fassungslos und kämpfte gegen das Klappern seiner Zähne an.
"Ich wollte seine Privatsphäre wahren", meinte Kaiba ehrlich. "Ich mein, wenn er gewollt hätte, dass einer von euch davon weiß, dann hätte er sich doch gemeldet, oder?"
"Nein... hätte er nicht", gestand Honda mit einem bitteren Unterton. "Er hätte sich viel zu sehr geschämt."
"Na ja, jetzt ist er ja wieder aufgetaucht", meinte Kaiba und wollte sich schon der Tür zuwenden, als er noch einmal zu Honda schaute. "Aber einige seiner Verletzungen, die man sehen kann, sind erst nach Sonntag entstanden, Honda. Das solltest du vielleicht wissen."
Dann verließ Kaiba das Dach und ließ einen verblüfften Honda stehen.
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