Zum Inhalt der Seite

Der lange Fall

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Diese Geschichte entstand im Rahmen des Herbst-Wichtelns im FF.de Forum für die liebe Tindomiel Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Ein welkes Blatt

 

1. Teil – Ein welkes Blatt

 

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

als welkten in den Himmeln ferne Gärten;

sie fallen mit verneinender Gebärde.

 

***

 

Regen fiel in einem scheinbar endlosen Strom vom Himmel. Dunkel presste sich die nahende Nacht an die Fenster der Präsidentenvilla, nur vereinzelt von grellen Blitzen erleuchtet. Heute markierte den 72. Tag seit Beginn des Aufstands. Seit dem Ende des Jubeljubiläums. Seit die Aufständischen Panem ins Chaos gestürzt hatten. Und irgendwo tief in Coriolanus Snow sagte eine zarte Stimme ihm, dass er all das hätte verhindern können. Stattdessen terrorisierten die Aufständischen nun auch die Straßen des Kapitols wie ihm neueste Berichte aus den äußeren Bezirken zeigten. Sie kannten die verborgenen Fallen und nahmen sie zielsicher ins Visier. Coriolanus war lange genug Präsident um die Handschrift seines verräterischen, ehemaligen obersten Spielemachers zu kennen. Er hätte den Aufstand verhindern können, da gab er der Stimme in seinem Inneren recht. Sein Fehler war es gewesen Plutarch Heavensbee zu weit zu vertrauen. Grundsätzlich hatte er seine Lektion über Vertrauen gelernt gehabt, lange bevor er Präsident geworden war. Sejanus hatte ihm die Augen geöffnet. Und doch hatte er Heavensbee zu viel Freiraum dabei gelassen das Jubeljubiläum zu einem Mahnmal der Geschichte zu gestalten. Wäre ihm dieser Fehler nicht unterlaufen, dann, so war er sich sicher, wäre Katniss Everdeen und mit ihr die Rebellion in der Arena gestorben. Distrikt dreizehn war auf einen Insider angewiesen gewesen um die Arena in ihrem Sinne zu manipulieren. Doch Coriolanus war blind gewesen. Er war so davon besessen gewesen den Distrikten eine Lektion zu erteilen, indem er ihnen ihre Helden nahm, dass er vergessen hatte, dass die mächtigsten Feinde immer noch diejenigen waren die einem am nächsten standen.

Seinen Ministern gegenüber würde er dies freilich nicht zugeben, doch sich selbst gegenüber musste er ehrlich sein. Wenn er diesen Krieg beenden wollte, dann konnte er sich nicht selber belügen. Und dieser Krieg musste beendet werden. Wenn nicht, dann würde das Land, dass er so sorgsam aufgebaut hatte unter seinen Händen zerfallen, bis nichts als Asche übrig blieb. Vielleicht mochten die Aufständischen den Grund für seine harte Hand über Panem nicht erkennen, doch er wusste nur zu gut, dass er die Menschen vor sich selber bewahren musste. Sie waren die letzten einer langen Geschichte aus Leid und Krieg. 75 Jahre Frieden hatten sie dank der Hungerspiele gehabt. Die Aufständischen mussten nur endlich verstehen, dass ihr brutaler Krieg sie am Ende mehr kosten würde, als ihnen vermeintliche Freiheit bringen würde.

Seufzend erhob er sich von seinem Schreibtisch. In seinem Alter schmerzten ihm die Knochen immer mehr, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. Selbst ihre weit fortgeschrittene Medizin konnte nicht alles heilen. Gegen die drängendsten körperlichen Gebrechen gab es aber Tabletten und so eine nahm er jetzt ein. Dann trat er vor den kleinen, sorgfältig gestutzten Bonsai, der auf der Fensterbank stand. Das kleine Bäumchen war einst ein Geschenk gewesen an dem Tag als Coriolanus zum Präsidenten gewählt worden war. Seitdem hatte er sich liebevoll seiner Pflege verschrieben. Seine Rosen liebte er, doch dieser Bonsai war anders – persönlicher. Wie seine Präsidentschaft war er, dank seiner Achtsamkeit, über die Jahre gediehen. Mit einer kleinen Gartenschere schnitt er bedächtig einige kleinere Triebe ab, die an unerwünschten Stellen sprießten. Es war eine fast schon meditative Tätigkeit, die ihn zumindest für den Moment die drängenden Probleme seines Landes vergessen ließen. Sehr zu seinem Missfallen registrierte er, dass ein einzelnes welkes Blatt auf der Erde um das Bäumchen lag. Diese Erinnerung an den Herbst, der vor seinem Fenster tobte, entfernte er schnell. Er entdeckte einige weitere Blätter die sich bereits gelblich verfärbten - auch diese fielen der Schere zum Opfer, bis der Bonsai wieder in voller Pracht erstrahlte. Befriedigt strich er über die kleine Baumkrone. Mit Panem gedachte er genau das gleiche zu tun, die unerwünschten Triebe zu beschneiden bis sie wieder in voller Pracht erstrahlen konnten.

Jetzt, wo er sich einen Moment des Durchatmens erlaubt hatte, konnte er sich wieder dem Krieg in seinem Land zuwenden. Er rief seine Innenministerin herein, die er zu diesem Zeitpunkt bereits fünfzehn Minuten im Flur hatte warten lassen. Egeria, eine hochgewachsene Frau mit dunklem Teint und markanten Gesichtszügen, war schon länger in seinen inneren Kreis aufgestiegen. Ihre Rolle als Innenministerin verdankte sie insbesondere ihrer besonnen und direkten Art, aber nicht zuletzt auch der Tatsache, dass sie äußerst selten Alleingänge unternahm. Coriolanus hatte sie sorgfältig ausgesucht um für die Öffentlichkeit die Rolle der Innenministerin zu übernehmen und doch nahe genug an seiner Seite zu sein um die Kontrolle zu behalten. Natürlich war sie keine Anfängerin in politischen Ränkespielen, andernfalls hätte sie es nie soweit gebracht. Doch anders als manch einer ihrer Vorgänger hatte sie es nie gewagt gegen ihn zu integrieren. Nun kam sie straffen Schrittes in sein Büro marschiert, ein Tablet unter den Arm geklemmt. Sie hielt sich nicht lange mit Grußformeln auf, dafür war der Krieg längst zu dringlich geworden.

„Sir, wir haben Berichte erhalten wonach in Sektor 17 heute Nachmittag eine Demonstration stattgefunden hat.“ Die Ministerin überreichte ihm das Tablet, wobei Coriolanus nicht entging, dass es in ihren Händen zitterte. „Die Bürger haben für ein Ende des Krieges demonstriert. Aufgrund der Rebellenaktivitäten in Sektor 19 hatten wir nur verminderte Friedenswächter vor Ort um die Lage in den Griff zu bekommen.“ Sie versuchte eindeutig ihre Nervosität zu verbergen, denn ihre Unterlippe zitterte kaum merklich als sie weiter sprach. „Wir haben dennoch eine Gruppe von sechs Demonstranten unmittelbar festsetzen können, die sich der Anweisung den Ort unverzüglich zu verlassen widersetzt haben. Sie sind in den Zellblock in Sektor 17 verbracht worden. Was gedenken sie mit ihnen zu tun, Sir?“

Nachdenklich betrachtete er die Aufnahmen des Aufstands auf dem Tablet. Egeria indessen stand aufrecht wartend vor ihm, die Hände verschränkt, doch jede Pore ihres Körpers schien Furcht auszustrahlen. Mit einem Blick erkannte er, was ihre Sorge entfachte. Die Aufnahmen der Festgenommenen zeigten ihm die Gesichter einiger hochrangiger Bewohner des Kapitols. Leute mit Geld und Einfluss, oder aber ihre Kinder. Manche von ihnen standen bereits auf der Liste derer denen er nicht vertraute, doch andere überraschten ihn. Unter den Aufnahmen waren auch Szenen des Aufstands die eine Gruppe von vielleicht hundert Menschen zeigte, aufgezeichnet von einer Überwachungskamera. Sie hielten Schilder hoch auf denen er Forderungen nach Frieden und einem Abkommen mit den Distrikten las. Anscheinend hatten nicht nur die aufständischen Distrikte vergessen warum es die Hungerspiele geben musste. In der Menge der bunt gekleideten Demonstranten konnte er einige weitere mehr oder minder bekannte Gesichter ausmachen. Das und eine schmale Gestalt in einem grotesken Fellmantel, das Gesicht kaum mehr menschlich. Schnurrhaare und Tigerstreifen verbargen Tigris Menschlichkeit erstaunlich gut. Coriolanus spürte wie sein Mund trocken wurde. Mit einer Beiläufigkeit, die man sich nur mit jahrelanger Erfahrung antrainieren kann, schaute er weiter die Galerie an um sich jedes einzelne Gesicht gut einzuprägen. Diejenigen, die schlau genug waren, hatten sich jedoch maskiert, um nicht erkannt zu werden. Schließlich legte er das Tablet ruhig vor sich ab. Er faltete seine Hände mit ruhigen Bewegungen, ein einstudiertes Muster, dass keine seiner inneren Regungen nach außen zeigte. Als er seinen Blick Egeria zuwandte hatte er sich bereits wieder gefangen.

„Vielen Dank für die Nachrichten, meine liebe Egeria“, sagte er ruhig, „Das ist natürlich eine Entwicklung die unserer höchsten Aufmerksamkeit bedarf. Wir sollten nicht vorschnell handeln wenn es um das Schicksal dieser Aufwiegler geht. Ihre Strafe muss wohl ausgesucht sein, damit sich so etwas nicht wiederholt.“ Er blickte die Innenministerin an. „Was schwebt Ihnen vor?“

Egeria atmete einmal durch und straffte sich dann.

„In Anbetracht der Tatsache, dass die Kinder einflussreicher Geldgeber darunter sind würde ich eine längere Haftstrafe vorschlagen. Nicht nur jene die bei der Demonstration aufgegriffen wurden, sondern auch ihre engere Familie. Wenn wir sie unter unserer Beobachtung halten dürfte sich herausfinden lassen wie sehr sie wirklich mit den Rebellen sympathisieren, oder ob sie sich doch nur Frieden wünschen wie wir alle. Dem Volk gegenüber sollten wir natürlich auch die Demonstration auf das schärfste verurteilen. Wir sollten ihnen in Erinnerung rufen, dass wir alles für den Frieden tun, aber wir zu unserer aller Sicherheit den Reb-“, an dieser Stelle räusperte sie sich kurz, „den Aufständischen die Stirn bieten müssen.“ Mit diesen Worten schloss sie und sah Coriolanus wieder abwartend an.

Dieser lächelte seiner Ministerin anerkennend zu. Sie hatte gut gelernt.

„Dann bin ich geneigt ihrem Vorschlag statt zu geben. Behalten sie die Personen unter strenger Beobachtung. Ich denke eine Haftstrafe von vier Wochen sollte ihnen genug Zeit geben zu überdenken was das Kapitol alles für sie getan hat.“

„Natürlich, Sir.“ Egeria sammelte das Tablet ein und verließ das Arbeitszimmer.

Coriolanus lehnte sich zurück, für einen Moment in die Leere blickend. Der Anblick von Tigris auf den Bildern hatte ein altes Gefühl in ihm geweckt. Selbst jetzt, wo sie längst nicht mehr unter dem Namen Snow lebte, hielten die Familienbande sie noch verbunden. Sie hatten sich voneinander entfernt und dennoch rief ihr Anblick Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wach. An einen Krieg wie diesen, den sie nur gemeinsam hatten überleben können. Er wusste nicht welche Rolle sie bei der Demonstration gespielt hatte und wie ernst die Lage war, doch er konnte es herausfinden. Es war eine Kurzschlussentscheidung, die er später vielleicht bereuen würde, doch da hatte er schon nach seinem Telefon gegriffen und wies den Sekretär an den Wagen zu holen. Er würde einen kleinen Ausflug machen.

Die kleine Straße in der Tigris Geschäft lag war ungewöhnlich ruhig an diesem verregneten Abend. Seitdem die Soldaten aus Dreizehn immer weiter vorrückten blieben die meisten Stadtbewohner lieber in der Sicherheit ihrer eigenen vier Wände. Die regennasse Straße weckte weitere Erinnerungen an den letzten Krieg in Coriolanus, die er am liebsten längst vergessen hätte. Kalt starrende Augen schienen ihn zu verfolgen als er den Wagen an der Straßenecke verließ um die letzten Schritte zu Fuß zurückzulegen. Seinem Fahrer trug er auf dort zu warten, während er den Kragen seines dunklen Mantels gegen die Kälte hochschlug. Der Herbst neigte sich wahrlich um in den Winter überzugehen. In dem Bemühen sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen ging er gemessenen Schrittes durch die menschenleere Straße. Irgendwo im näheren Umkreis wartete seine Leibgarde verborgen auf ihren Einsatz, doch er fühlte sich eigenartig einsam.

Vor der in die Jahre gekommenen Ladenfront hielt er inne. Schaufensterpuppen mit absonderlicher Fellwäsche drängten sich in dem engen Laden. Wie tief sie doch nur gefallen war. Er drückte die Tür auf. Ein kleines Klingeln kündigte ihn an, ehe sich wieder Stille über das Geschäft senkte. Entfernt konnte er ein Scharren hören, dann wurde ein Rollständer voller Pelze zur Seite geschoben und das katzenhafte Gesicht von den Bildern tauchte auf. Ihr persönlich gegenüber zu stehen war anders als Coriolanus es erwartet hätte. Sein ganzes Leben lang hatte er Tigris gekannt, doch jetzt war von dem einfachen Mädchen endgültig nichts mehr übrig. Schon bei ihrem letzten Treffen vor mehr als zehn Jahren war seine Cousine kaum mehr sie selbst gewesen, doch offensichtlich hatte ihr Schönheitswahn nicht aufgehört. Mit Abscheu erkannte er einen gestreiften Tigerschwanz, der bei seinem Anblick heftig zuckte. Das war neu.

„Was willst du hier?“, zischte Tigris ihm entgegen wie eine wütende Katze.

Er schenkte ihr ein selten gewordenes Lächeln, aber es kam längst nicht mehr von Herzen. „Meine liebe Cousine. Es betrübt mich dich so zu sehen…“

„Gut, dann kannst du ja wieder gehen“, fiel sie ihm harsch ins Wort, „denn du bist hier nicht willkommen!“

Er seufzte und senkte seinen Blick gen Boden, wohl wissend, dass er sie so beeinflussen konnte. Auch wenn der kleine Junge den sie beschützt hatte längst nicht mehr war, war es ihr immer schwer gefallen ihn als der zu erkennen, der er wirklich war. Das konnte er sich zunutze machen. Und tatsächlich, Tigris blieb unsicher stehen, ihren wachsamen Blick auf ihn geheftet. Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Was hast du zu sagen?“, fragte sie.

„Nun, ist das nicht offensichtlich?“, stellte er ihr eine Gegenfrage. „Unser Land steht in Flammen, das hat Erinnerungen und Sorge in mir geweckt. Trotz allem, was einst vorgefallen ist, bist du Teil der Familie.“ Er schwieg einen Moment, ehe er für mehr Wirkung hinzusetzte: „Die Einzige, die noch am Leben ist.“

Der Satz verfehlte seine Wirkung nicht. In ihren Katzenaugen sah er die Erinnerung an den letzten Krieg und ihre gemeinsame Kindheit aufflackern, als wäre es erst gestern gewesen. Doch dann riss sie sich aus ihrer Erstarrung und schlug, mit erstaunlich viel Kraft für ihren schmalen Körper, zu. Coriolanus Wange brannte und für einen Moment betäubte der ungewohnte Schmerz seine Sinne.

„Spiel nicht mit mir!“, spie Tigris mit all ihrem gebündelten Hass aus.

Anscheinend schien sie endlich erkannt zu haben, dass er nicht mehr der kleine Junge von einst war. Ihre Hand, die sie immer noch ausgestreckt hielt zitterte und sie zog sie hastig zurück, bevor er danach greifen konnte. Doch ihr Kinn hatte sie immer noch hoch erhoben.

„Du vergisst, dass ich auch nicht mehr dieselbe bin.“

Seufzend rieb er sich die Wange, durch die der Schmerz echote. Ein metallischer Geschmack erfüllte seinen Mund. Irgendeine alte Wunde musste sich durch die Ohrfeige geöffnet haben. Also musste er in Bezug auf Tigris seine Strategie anpassen.

„Vermutlich habe ich mindestens das verdient“, gab er scheinbar reumütig zu. Vorsichtig betupfte er mit seinem Einstecktuch den Mund, darauf bedacht, dass Tigris scheinbar zufällig das frische Blut auf dem schneeweißen Leinen sah. Wie er erwartet hatte schreckte sie zurück, offensichtlich glaubend, dass ihre Ohrfeige allein für das Blut verantwortlich war. Sie war schon immer zartbesaitet gewesen. „Dann will ich ehrlich zu dir sein“, fuhr er fort, „ich bin hergekommen um dich zu warnen.“

„Dann haben dich die Aufnahmen der Demonstration also erreicht“, stellte Tigris befriedigt fest. „Gut. Ich will, dass du weißt, wie wir, dein Volk, wirklich denken.“ Sie hielt ihm die Hände hin, also wolle sie, dass er sie festnahm. „Du kannst meinen Kopf haben, aber du kannst dir sicher sein, dass das nur der Anfang ist. Wenn du schlau bist, dann rennst du. Dein eigenes Volk wird bald weniger Gnade haben als die Rebellen. Wir alle haben Finnick zugehört, vom niedersten Avox bis hin zu deinen Ministern. Mehr habe ich nicht zu sagen.“ Ihre Mimik war durch die vielen Operationen kaum noch deutbar, doch das Feuer, das in ihren Augen brannte war offensichtlich. Er hatte es bereits in anderen gesehen, die sich im Recht glaubten.

Dennoch vermochte die brennende Intensität mit der sie ihm gegenüber trat es tatsächlich ihn zu überraschen. Ein unangenehmes Gefühl des Kontrollverlustes breitete sich in Coriolanus Mitte aus. Es war lange her, dass ihn jemand wirklich überrascht hatte. Er war hierhergekommen in der Erwartung durch Tigris Informationen über die Demonstranten zu bekommen, ihr ins Gewissen reden zu können, ihr eine ausdrückliche Warnung dazulassen, doch stattdessen bot ihm das einst so schüchterne Mädchen die Stirn. Die einzige zulässige Antwort auf diesen Affront wäre entschlossene Härte. Andere waren für solche Aussagen hingerichtet worden. Doch wie schon draußen auf der Straße erinnerte er sich wieder an den ersten Krieg, an eine schneebedeckte Straße, lähmendes Fieber und schließlich Tigris die ihn gerettet hatte. Sie kannte sein Leid, seine Geschichte wie keine andere. Coriolanus fand sich unfähig zu entscheiden was er tun sollte. Warum nur hatte er sie überhaupt aufgesucht? Er hätte sie mit den anderen festnehmen und im Gefängnis behalten sollen. Mitunter war es einfacher die Probleme aus der Ferne zu lösen. Ein geschicktes Verhör könnte vielleicht besser ihre Zunge lockern.

„Ich brauche nicht deinen Kopf, wenn ich sie bereits alle in Zellen habe. Sie werden daran erinnert werden, warum sie sich glücklich schätzen können unter meiner Führung leben zu dürfen.“

Tigris starrte ihn immer noch herausfordernd an, also fuhr er fort.

„Ich gehe mit den Leben derer die mir unterstellt sind niemals leichtfertig um. Familie oder nicht“, betonte er. „Mein Ziel war es immer, dass wir alle in Frieden leben können, um unser und das Überleben der Menschheit zu sichern. Dafür braucht es manchmal aber auch gewisse Strenge, sonst herrscht Anarchie. Alles war im Gleichgewicht, bis sich diese Terroristen aus Dreizehn erhoben haben. Unter diesen Umständen kann es keinen Frieden geben und jede Forderung nach Waffenstillstand fordert unseren Untergang. Ich hoffe du verstehst das.“ Und dieses Mal meinte er es tatsächlich. Er wollte, dass sie verstand. Es wäre einfacher wenn er wüsste, dass sie auf seiner Seite stand.

Ein Geräusch, dass unmöglich zu deuten war entkam Tigris Kehle. „Fragt der große Coriolanus Snow mich etwa um Verständnis?“ Kleine, spitz gefeilte Zähne blitzen auf. „Hast du vergessen, wie du mich ausgestoßen hast? Wie du mich für deine Spiele benutzt hast, nur um mich auf die Straße zu setzen als ich dir nicht mehr nutzte? Hätte ein Funke Mitleid dich so viel gekostet?“ Ihr Schwanz peitschte wieder erregt. „Ich war bereit mich in den Spielen zu verlieren, nicht an den Tod so vieler Kinder zu denken, doch wenn ich dachte, dass ich dir als Cousine auch nur das kleinste Bisschen bedeute, dann wurde ich so enttäuscht. Nein, ich verstehe nicht. Du weißt wie schrecklich der Krieg war, wie sehr wir gelitten haben! Nur, dass du dieses Mal die Macht hättest das alles“, an dieser Stelle schrie sie fast, „zu beenden! Du kannst den Kindern das was wir erlebt haben ersparen. Warum nur tust du es nicht?“ Stumme Tränen schüttelten sie jetzt.

Wann Tigris zuletzt geweint hatte konnte Coriolanus nicht einmal sagen. Sie hatte es nicht getan als sie als Stylistin gefeuert worden war, nicht als die Großmadame gestorben war, nie während der Hungerspiele. Es musste irgendwann in ihrer Kindheit gewesen sein.

„Weil ich jetzt weiß, wieso der Krieg notwendig ist. Wie wir einst überlebt haben, werden auch jetzt Kinder überleben, die erkennen, warum wir die Spiele – nein, diese Ordnung – brauchen. Ich tue alles um diesen Krieg zu beenden, aber ich werde es auf meine Art tun.“

Einen Moment war es still, nur das Ticken einer Wanduhr war zu hören.

„Das erklärt nicht, warum du mich einfach verstoßen hast. Nach allem was wir als Kinder durchgemacht haben, dachte ich wirklich, dass wir uns näher stehen.“

„Glaub nicht, dass mich die Erinnerungen an den Krieg nicht auch verfolgen. Jeden Schritt des Weges habe ich diese Erinnerungen bei mir getragen. Am Ende sind wir beide die letzten Snows, die sich an die Anfänge erinnern...“ Erschrocken von sich selbst brach er abrupt ab. Er, ein gestandener Mann jenseits der Achtzig, stammelte plötzlich herum wie ein Achtjähriger, ohne wirklich zu wissen was er sagen wollte. Sentimentalität konnte man sich im Krieg nicht leisten. Auch sonst war es eine Schwäche, die er längst eliminiert geglaubt hatte. In Tigris jedoch schien sich etwas bewegt zu haben. Ihre Energie schien zu schwinden. Hatte er sie unabsichtlich doch noch für sich gewonnen?

„Ich hoffe du erkennst den Weg der vor dir liegt, Coryo.“ Als sie unerwartet seinen Spitznamen aussprach war ihre Stimme weich, fast wie einst, wenn man einmal über das Bedauern, das darin lag, hinwegsah. Es war deutlich, dass das Gespräch für sie hier zu Ende war.

Coriolanus fühlte sich ausgelaugt, als er den letzten Rest an Stärke zusammen nahm und Tigris fest in die Augen blickte.

„Sei dir bewusst, dass du ab jetzt unter Beobachtung stehst. Solltest du noch einmal deine Sympathie mit den Terroristen zeigen, musst du bestraft werden. Pass auf dich auf, Tigris.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das muffige Geschäft. Hinter ihm hörte er wie eilig ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Das Seufzen, dass er nun ausstieß, alleine in der kalten Gasse, die ihn so sehr an Hunger und Tod erinnerte, war ein Echtes. Sein Besuch, kaum einmal zehn Minuten, hatte nichts gebracht, außer alte Wunden aufzureißen. Tigris hatte ihm nichts verraten können, außer, dass die Wut noch brodelte. Er müsste sie entfernen wie er es mit Heavensbee hätte tun sollen, doch er tat es nicht. Stattdessen ließ er Friedenswächter anweisen Tigris auf Schritt und Tritt zu überwachen. Wie er so dastand in der kalten Einsamkeit bedauerte Coriolanus wirklich, dass er und Tigris sich so entfremdet hatten. Wenn sie die Welt doch nur durch seine Augen sehen könnte.

Einsame Erinnerung

2. Teil – Einsame Erinnerung

 

Und in den Nächten fällt die schwere Erde

aus allen Sternen in die Einsamkeit.

 

***

 

Des Nachts kamen Coriolanus nicht nur die besten Gedanken, sondern auch Erinnerungen an alte Erlebnisse wurden mitunter wach. Es war nicht als würden die Geister der Vergangenheit ihn verfolgen, an derartigen Unsinn glaubte er nicht. Dennoch lag er im Bett umgeben von Stille und der Schlaf wollte doch nicht kommen.

„Coryo?“

Tigris Stimme war ein einsames Flüstern in der Dunkelheit.

„Coryo? Schläfst du?“

Ihre Stimme war samtig weich wie das Schnurren einer Katze, eine willkommene Abwechslung zu den affektierten Akzenten die Coriolanus den ganzen Tag in der Universität umgaben. Er lag auf dem Rücken in seinem Bett, noch immer bekleidet. Den Blick hatte er aus dem Fenster, auf den von Sternen übersäten Himmel gerichtet. Wenn die Ruhe und Dunkelheit der Nacht ihn umgaben waren seine Gedanken am Besten, fand er. Doch jetzt wandte er sich Tigris zu, die in einem schmalen Streifen goldenen Lichts stand, das durch die Tür hereinfiel. Ihre magere Gestalt hielt ein kleines Paket in den Händen. Er setzte sich auf und winkte sie herein. Sie war die einzige von der er sich in den ruhigen Abendstunden stören ließ. Nach einem Abend voller Überlegungen wie man das Interesse der Kapitolsbevölkerung an den 14. Hungerspielen wecken könnte war ihm eine Ablenkung mehr als recht. Mit einem Lächeln schloss Tigris die Tür und huschte auf leisen Sohlen zu ihm herüber. Als sie sich näherte erkannte Coriolanus, dass das Paket in ihren Armen ein Kuchenteller, zugedeckt mit einem Geschirrtuch, war.

„Noch ganz warm“, flüsterte Tigris und lüpfte das Tuch. „Ich dachte nach all der Arbeit heute brauchst du eine kleine Aufmunterung.“

Und tatsächlich schlug ihm warme Luft, die den Duft von Blaubeeren mit sich trug, entgegen. Tigris hatte sich schon immer aufs Kochen und Backen verstanden, doch jetzt wo ihr alle Zutaten die man sich nur vorstellen konnte zur Verfügung standen, konnte sie erst ihr wahres Talent entfalten. Unter der Anleitung von Ma Plinth lernte sie die Geheimnisse der Küche kennen wie sonst kaum jemand. Tief in Coriolanus Innerem erwachte das Hungergefühl. Dankbar lächelte er seine Cousine an. Tatsächlich war er neben dem Studium und seinem Praktikum als Spielmacher kaum dazu gekommen etwas zu essen. Meist tagten sie bis spät in den Abend in der Zitadelle um das Konzept der Spiele zu verfeinern. Erst kurz zuvor waren die Tribute für die 14. Hungerspiele gezogen worden und jetzt ging es daran die Spiele so abwechslungsreich wie noch nie zu gestalten. Nur leider ließen Coriolanus wunderbare Einfälle ihn gerade jetzt im Stich.

„Das riecht wunderbar. Wenn es auch nur halb so gut schmeckt wie es riecht, wird das einer der besten Kuchen sein die ich je hatte.“

Tigris lächelte breit und ließ sich dann in den schweren Ledersessel in seiner Leseecke fallen. Sie schwang die langen Beine über die Armlehne und zog ein kleines Nähetui aus ihrer Tasche. Er beobachtete sie, während er ein Stück Kuchen löste und es, in Ermanglung von Besteck, sogleich mit den Händen aß. Für gewöhnlich würde er sich nie dabei sehen lassen wie er mit den Händen aß, doch vor Tigris gab es keine Geheimnisse. Nun ja, fast keine. Der Kuchen schmeckte wirklich so gut wie er roch, doch etwas anderes hatte er von einem Rezept Ma Plinths auch nicht erwartet. Er musste noch aufpassen, dass er nicht ordentlich zulegte, wenn er sich nur noch von Kuchen und Keksen ernäherte. Tigris indes bewegte die Nadel mit flinken Fingern auf und ab. So war es in letzter Zeit oft gewesen – er war erschöpft spät abends heimgekommen und sie hatte ihm etwas zu essen gebracht. Hin und wieder leistete sie ihm stumm Gesellschaft, meist in Handarbeit vertieft. Seit die Großmadame verstorben war, war Tigris immer schweigsamer geworden. Es störte Coriolanus nicht, da er meist in seine eigene Arbeit vertieft war. Das Studium unter Dr. Gaul war fordernd und den Rest seiner Energie wendete er für das Praktikum auf. Gelegentlich erkundigte er sich nach ihrer Arbeit bei Fabricia Whatnot, der Designerin bei der Tigris lernte, auch wenn ihn die Mode nicht sonderlich interessierte. Er legte zwar Wert darauf immer angemessen gekleidet zu sein, doch die immer schneller wechselnden bunten Trends im Kapitol ignorierte er. Lieber blieb er auf einer klassisch zeitlosen Linie. So gäbe es später keine jugendlichen Modesünden zu bereuen.

„Was nähst du?“, fragte er in die Stille hinein.

„Ich sticke“, erwiderte Tigris und hielt inne um das kleine Stück Stoff zu ihm herum zu drehen. In dem Schimmer des Mondlichts erkannte er bunte Fäden die sich zu den ausgebreiteten Flügeln eines Vogels formten. „Fabricia schwebt eine neue Kollektion vor die den siegreichen Frühling nach dem langen Winter der Rebellion feiert“, ergänzte sie gelangweilt. „Bunte Stickereien sollen die Geschichte des heldenhaften Kapitols erzählen, oder irgendwie so.“ Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Arbeit zu. „Sie lässt mich ja nicht mitreden bei ihren Entwürfen. Stattdessen lässt sie mich das hier als Hausaufgabe sticken, als wüsste ich nicht, dass sie einfach nur zu faul ist selber etwas zu sticken und zu geizig um richtige Assistenten einzustellen.“ Ein leises Seufzen kam ihr über die Lippen. „Aber ich sollte mich nicht beschweren, ich kann froh sein überhaupt von einer so großen Modedesignerin lernen zu dürfen.“

Coriolanus hatte bereits den nächsten Bissen im Mund, als er erkannte, dass es wohl ein Schnattertölpel werden sollte an dem Tigris da stickte. Bei dem Gedanken an die unheimlichen Vögel lief ihm ein Schauer über den Rücken. „Was plant Fabricia Whatnot denn mit einem Schnattertölpel zu verzieren?“, fragte er möglichst unbefangen.

Tigris überlegte kurz. „Dieser soll auf ein blaues Abendkleid, zusammen mit vielen weiteren“, sie holte gespielt dramatisch Luft „um die Schönheit der Schöpfungen des Kapitols zu feiern – sagt Fabricia.“ Bei dem Gedanken daran zog sie eine Grimasse. „Meine Finger schmerzen jetzt schon.“

Auch Coriolanus verzog das Gesicht, allerdings weil er nichts schönes an den schrecklichen Vögeln erkennen konnte. „Wird auch nur irgendjemand derartige Kleidung kaufen? Immerhin haben die Rebellen die Schnattertölpel am Ende gegen uns gewandt. So viel zu feiern gibt es also nicht. Viel mehr könnte man sagen, dass wir trotz ihnen den Krieg gewonnen haben.“ Zumindest, so dachte er befriedigt, hatten sie die Schnattertölpel eingefangen und unschädlich gemacht. Und ihre Nachfahren würden gleich mit sterben.

Tigris zuckte nur mit den Schultern. „Fabricia schert sich ja eh nicht um meine Meinung, sie macht was immer sie für richtig hält. Immerhin darf ich in meinen Pausen ihre Nähmaschinen benutzen um an meinen eigenen Schöpfungen zu arbeiten. Vielleicht wird ihr ja eines Tages etwas gefallen, dass ich entworfen habe…“

Coriolanus kaute nachdenklich seinen Kuchen zu Ende. Es ärgerte ihn, dass Tigris, obwohl sie eine Snow war, von Fabricia Whatnot derart herablassend behandelt wurde. Einem Mitglied der Familie Snow gebührte besseres. Die Demütigung, dass Tigris nur eine unbezahlte Assistentin war, versetzte seiner Familienehre auch jetzt wieder einen Stich.

„Es würde so viel einfacher sein, wenn du dir von Mr. Plinth helfen lassen würdest“, sagte er vorwurfsvoll. „Dich für Fabricia Whatnot zu Tode zu schuften wird dich nicht weiter bringen. Einer Snow wie dir gebührt besseres.“

Tigris warf ihm einen melancholischen Blick zu. „Coryo, das ist lieb von dir, aber ich möchte es nicht wegen des Geldes, oder des Namens wegen zu etwas bringen. Wenn es nicht von meinem eigenen Herzen und aus eigener Kraft kommt, dann ist es nichts wert.“

Er verstand sie einfach nicht. Der alte Plinth hätte ihr jederzeit ein eigenes Studio kaufen können, doch stattdessen zog Tigris es vor sich von Fabricia Whatnot herum kommandieren zu lassen und ihre eigenen Entwürfe in den ehemaligen Gemächern der Großmadame zu verstecken. Tief innen drin verachtete er sie fast schon dafür, dass sie keine Chance ergreifen wollte. Doch statt mit ihr darüber zu streiten zuckte er nur mit den Schultern.

„Du könntest bereits jetzt besser als Fabricia Whatnot sein. Deine Entwürfe sind sicherlich besser als ihre schwachsinnigen Kreationen.“

Tigris hatte nie etwas an dem sie arbeitete gezeigt, doch die Ideen von Fabricia Whatnot fand Coriolanus eindeutig schwachsinnig. Alleine die wahnwitzige Idee von dem Kleid mit den Schnattertölpeln… Tigris konnte nur bessere Ideen haben. Für einen Moment jedoch schien ein Schatten über ihr Gesicht zu huschen, als er das sagte.

„Ich bin mir nicht sicher, was meine Entwürfe sind“, murmelte sie. Zu seiner Überraschung stand sie plötzlich auf und streckte die Hand nach ihm aus. „Vielleicht kannst du mir ja sagen was sie sind.“

Perplex blickte er sie an, doch dann folgte er ihr in das Schlafzimmer der Großmadame. Es war schon sehr lange her, dass Coriolanus zuletzt in diesen Räumen gewesen war. Er musste noch ein Kind gewesen sein. Nur vage erinnerte er sich an opulente Möbel. Doch als er jetzt hinter Tigris eintrat verschlug es ihm die Sprache. Die Farbe der Wände konnte er nicht mehr erkennen, denn sie waren über und über mit Zeichnungen bedeckt. Blei- und Buntstifte waren der einzige Luxus den Tigris sich zugestanden hatte und jetzt erst wurde ihm bewusst was sie jeden Tag hinter verschlossenen Türen gemacht hatte. Er trat in die Mitte des Raums und konnte nicht anders, als beeindruckt zu sein von der schieren Schaffenskraft, die sich in hunderten Blättern mit Zeichnungen niedergeschlagen hatte. Doch gleichzeitig wurde auch der Zorn wieder wach in ihm, denn was nützte es diese Ideen hier zu verstecken, wo sie nie jemand sehen würde? Tigris stand betreten neben der Tür und sah allzu sehr aus als würde sie sich unwohl fühlen.

„Du warst immer an meiner Seite, Coryo, also dachte ich, du solltest sie zuerst sehen“, sagte sie schüchtern, als hätte sie seine Gedanken erraten. „Ich hatte immer das Gefühl, dass sie noch nicht… reif für die Welt sind.“ Sie rang ihre Hände.

Coriolanus trat näher an die Wand heran und betrachtete die Zeichnungen. Einige der Gesichter kamen ihm bekannt vor, doch er konnte nicht festmachen woher. Für einfache Modezeichnungen waren sie jedenfalls erstaunlich detailliert. Beinahe fühlte es sich an als würden ihn ihre Blicke verfolgen. Sie schienen alle sehr jung zu sein, doch die Kleider die Tigris gezeichnet hatte waren opulent. Manche von ihnen trugen Waffen in den Händen, während andere mit ausgebreiteten Armen zu tanzen schienen. Doch ein Bild zog seinen Blick besonders an. Ein Kleid in den Farben des Regenbogens, wild und lebendig, schien auf dem weißen Papier zu tanzen und seine Trägerin lächelte gen Himmel. Und doch haftete dem Bild etwas trauriges an.

Lucy Gray.

Es war nicht das Kleid was sie bei der Ernte getragen hatten, sonder eine viel edlere Version, doch die Ähnlichkeit im Gesicht war unbestreitbar. Zuletzt hatte Coriolanus sie in Distrikt zwölf gesehen, im Regen und ohne Regenbogenkleid. Sie hier für die Ewigkeit gezeichnet zu sehen war ein Schock. Nur mit Mühe konnte er dem Drang widerstehen das Bild von der Wand zu reißen. Auch die Gesichter der anderen ergaben plötzlich einen Sinn. Die Wände waren bedeckt mit Bildern der Tribute. Nicht nur jene der zehnten Hungerspiele, sondern auch die, die nach ihnen gekommen waren. Er hatte sie zunächst nicht erkannt, weil sie nicht in ihren Lumpen gezeichnet waren, sondern in aufwändigen Kleidern und Anzügen. In ihren gezeichneten Kleidern strahlten sie mehr als sie es zu Lebzeiten je getan hatten. Nur Lucy Gray überschattete selbst Tigris Version des Regenbogenkleides.

„Magst du sie?“, fragte Tigris unsicher.

Er bemühte sich um eine möglichst gelassene Stimme, als er ihr antwortete.

„Es sind sehr unerwartete Entwürfe. Ich muss ehrlich sagen ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht damit.“ Er drehte sich lächelnd zu ihr um. In seinem Kopf nahm bereits eine Idee Gestalt an. „Ja, ich finde sie gut.“

Erleichterung zeigte sich auf Tigris Gesicht. „Ich hatte so gehofft, dass du das sagst!“, brach es aus ihr heraus. „Du kannst das Bild von Lucy Gray haben, es ist für dich. Nach allem was ihr durchgemacht habt… ich dachte vielleicht wäre es eine schöne Erinnerung.“ Sie lächelte ihn hoffnungsvoll an.

In seinem Magen krampfte sich etwas zusammen. Eine Erinnerung an Lucy Gray brauchte er sicherlich nicht. Aber das gab er vor Tigris natürlich nicht zu, stattdessen dankte er ihr. Ihre Zeichnungen hatten ihn auf eine Idee gebracht, die unbezahlbar war.

Das Bild Lucy Grays wurde noch am selben Abend von den Flammen verschlungen, als Coriolanus es in den Kamin warf, während seine Idee hingegen konkretere Züge annahm. Er war so sehr von seinem Konzept überzeugt, dass er es gar nicht erwarten konnte, es am nächsten Tag in der Sitzung der Spielmacher zu präsentieren. Bis in den frühen Morgen hinein saß er an seinem Schreibtisch und neben ihm stapelten sich die Papiere mit Notizen. Fast hätte er deswegen den Beginn der ersten Vorlesung verpasst, doch er nahm sein Konzept mit um auch dort noch daran zu feilen. Es konnte der fehlende Baustein sein um die Hungerspiele auch im Kapitol endlich an Beliebtheit gewinnen zu lassen. Im Prinzip war es ganz einfach und die Lösung hatte immer schon vor seiner Nase gelegen. Am späten Nachmittag, als er es endlich den Spielmachern um Dr. Gaul präsentierte wusste er sogleich, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Der anerkennende Blick von Dr. Gaul bestärkte ihn. Wo sich die Spielmacher normalerweise tagelang über ihr Vorgehen stritten wurde dieses Mal beschlossen, noch am selben Tag die Vorbereitungen ins Rollen zu bringen. Lucky Flickerman würde es bei den Abendnachrichten verkünden. Die Hungerspiele würden sich verändern, das fühlte Coriolanus.

Auf dem Weg nach Hause war er mehr als zufrieden mit sich selbst. Er machte nur kurz einen Abstecher um noch ein Geschenk für Tigris zu kaufen, ein dickes, in Leder gebundenes Buch voll leerer Seiten. Perfekt zum Zeichnen, wie ihm der Verkäufer versicherte. Auf den Einband ließ er das Familienwappen der Snows prägen, um ihm die persönliche Note zu verleihen. Er fand es passend für den Neuanfang der Familie Snow.

Mit seinem Geschenk unter dem Arm betrat er schließlich das Appartement. Tigris war bereits zuhause, wie er an dem Geruch nach Auflauf erkannte. Sobald sie hörte wie die Tür ins Schloss fiel kam sie aus der Küche. An ihrem Gesicht konnte Coriolanus erkennen, dass sie die Nachrichten schon gesehen hatte. Sie war aufgeregt, wie die roten Flecken auf ihren Wangen verrieten.

„Coryo, was hast du nur getan?“, fragte sie.

Zur Antwort überreichte er ihr die Geschenkschachtel. „Ich habe ihnen eine Idee unterbreitet und sie waren so überzeugt, dass sie es direkt in die Tat umgesetzt haben. Eine Chance für dich, Geschichte zu schreiben.“

Tigris blickte ihn aus großen Augen an, dann öffnete sie die Schachtel. „Du meinst das wirklich ernst?“ Ehrfürchtig strich sie über den Einband. „Stylistin für die Tribute… das ganze Land würde meine Entwürfe sehen.“ Beinahe schon andächtig hielt sie das Buch in den Händen, unablässig das eingeprägte Wappen streichelnd.

„Nun, ich weiß, dass du das Zeug dazu hast.“ Coriolanus lächelte sie an. „In dem Wettbewerb kannst du ihnen zeigen, was du kannst. Und das beste – dann hast du es aus eigener Kraft geschafft. Ich habe ihnen nur die Idee gegeben einen Wettbewerb zu veranstalten in dem sie Stylisten suchen. Aber letztendlich waren deine Zeichnungen es, die mich inspiriert haben. Du hast mir also nichts zu danken. Allein die Stimme der Bevölkerung wird entscheiden wem die Ehre zuteil wird.“

Beschützend presste Tigris das Buch an ihre schmale Brust. „Ohne dich wären es nur Zeichnungen geblieben.“

Der Sturz

3. Teil – Der Sturz

 

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

 

***

 

Feuer flammten in der nahenden Dunkelheit auf und tauchten den Korso in einen orangenen Schimmer. Aufgeregtes Flüstern drang von den Tribünen, als sich die Türen des Vorbereitungsgebäudes öffneten. Eine laute Fanfare erklang und der erste Streitwagen rollte hinaus auf die breite Straße. Die Tribute aus Distrikt eins funkelten im Licht der Feuerschalen wie Diamanten. Bis hoch zu seiner Präsidentenloge konnte Coriolanus die erregten Ausrufe der Menge hören. Scharfkantig wurde das Licht von den großen Glasscherben reflektiert welche die seidenen Unterkleider der Tribute bedeckten. Sie sahen aus wie ein ungeschliffene Diamanten, die jeden der sie berührte schmerzhaft schneiden würden. Das harsche rote Make-up auf den jugendlichen Gesichtern verstärkte den Eindruck noch. Bereits auf den ersten Blick wurde deutlich, dass die Tribute gefährlich waren. Ihre Schönheit jedoch wurde erst auf den zweiten Blick ersichtlich, verborgen unter der martialischen Erscheinung. Das Publikum schien von diesem unerwarteten Auftakt etwas irritiert, denn es dauerte etwas bis der Applaus einsetzte. Es war definitiv etwas anderes als die harmlos glitzernden Outfits der Vorjahre. Früher einmal hatte Coriolanus Tigris Entwürfe immer als Erster gesehen, doch jetzt wurde er bei der Wagenparade überrascht wie jeder andere auch.

Nach außen hin gab er sich unbewegt, doch er beobachtete genau die Reaktion des Volks entlang des Korso. Die Wagenparade gehörte zu den wichtigsten Momenten der Hungerspiele, denn sie gab den Sponsoren ersten Eindruck der Tribute. Es war einst Tigris gewesen, die ihm die Wichtigkeit dieses Moments bewusst gemacht hatte. Vor unzähligen Jahren war es ihre Idee gewesen die Tribute auf dem Korso zu präsentieren, anstatt sie in einem Käfig im Zoo begaffen zu lassen. Er musste zugeben, es war eine ihrer besten Ideen gewesen. Auf der prächtigsten Straße des Kapitols wurden die Tribute in opulenten Roben gefeiert, ihrer ärmlichen Distrikte völlig entfremdet.

Coriolanus sah die Gesichter der beiden Tribute aus Eins in Großaufnahme auf den Bildschirmen und stellte erfreut fest, dass der Ehrgeiz sie erfüllte. Distrikt eins war zu einem ehrfürchtigen Diener des Kapitols geworden. Ihre wunderschönen aber auch kampferprobten Tribute waren die perfekten Teilnehmer für die Spiele. Jedes Jahr hielt neuerliche Überraschungen bereit, doch am Ende beugte alles sich dem Willen der Spielmacher – und jene wiederum beugten sich seinem Willen. Auch nach unzähligen Jahren der Hungerspiele freute Coriolanus sich noch immer, dass es ihm gelungen war die Hungerspiele zu einem derart mitreißenden Fest werden zu lassen. Caesar Flickerman vertiefte diesen Eindruck noch, als er sich mit Bemerkungen zu der wagemutigen Aufmachung von Distrikt eins und natürlich der verantwortlichen Stylistin überschlug. Die Hungerspiele wurden wahrlich geliebt. Lächelnd applaudierte Coriolanus gemeinsam mit allen anderen für Tigris Arbeit.

Unten auf dem Korso fuhren weitere Wagen auf. Manche Tribute erstrahlten unter der Hand ihrer Stylisten, doch andere wirkten unscheinbar oder gar lächerlich. Coriolanus hatte nie viel übrig gehabt für die Modewelt und diese Tigris überlassen. Doch selbst er erkannte es wenn die Grenze von Extravaganz zu Absurdität überschritten wurde. Er machte sich eine mentale Notiz, dass Distrikt zwölf nach diesen Spielen einen neuen Stylisten benötigen würde. Pitarchus Malander hatte in diesem Jahr eben jene Grenze überschritten, befand er. Die Bergarbeiter Outfits des letzten Jahres waren zwar langweilig gewesen, doch der Versuch sie dieses Jahr als Kanarienvogel, der die Minenarbeiter vor Unglücken warnte, zu verkleiden war gründlich schief gegangen. Er hatte keine Lust mehr sich derartigen Absurditäten gegenüber zu sehen.

Dafür blieb ihm jedoch Distrikt vier positiv in Erinnerung, denn die Tribute in ihren gewagten Outfits aus Netzen erregten viel Aufsehen. Anders als die einschüchternde Aufmachung von Distrikt eins, die Tigris gewählt hatte, wirkten diese Tribute elegant und begehrlich. Das Mädchen war gerade einmal 16, doch ihr Stylist ließ einen das geschickt vergessen. Für diesen Stylisten machte Coriolanus sich ebenso eine Notiz, allerdings von der positiven Sorte. Bereits jetzt versprachen die 63. Hungerspiele spannend zu werden. Es waren nicht nur die Tribute die sich in der Arena bekriegten, sondern auch die Beteiligten auf Seiten des Kapitols die ihre eigenen Spiele spielten, die er im Blick behielt. Stylisten die einander ausstechen wollten um die besten Tribute zu bekommen konnten genauso weit gehen wie ihre Tribute.

Im Anschluss an die Parade gab es wie immer ein rauschendes Fest im Präsidentenpalast um den Auftakt der Hungerspiele zu feiern. Coriolanus selber wählte die geladenen Gäste sorgfältig aus. Die Stylisten der Distrikte, ebenso wie ihre Betreuer, Spielmacher und einige hochrangige Persönlichkeiten. Früh hatte Coriolanus gelernt, dass ein Fest eine ausgezeichnete Gelegenheit war um Menschen zu beobachten. Ausgezeichnetes Essen und viel Alkohol machten die Leute ausgelassen und unvorsichtig. Der ein oder andere hatte auf derartigen Festen schon Äußerungen getroffen die er danach gerne zurück genommen hätte. Im Prinzip, so fühlte er, war diese Party ihr eigenes Füllhorn. Wer die richtigen Verbindungen schloss konnte Ruhm ernten. Wer unvorsichtig wurde war jedoch bald schon kein Teil der Spiele mehr.

Caesar Flickerman und sein Team zogen in der Menge umher um Stylisten und Betreuer zu interviewen. Auf einer großen Leinwand wurde das Live-Programm übertragen, damit auch jeder der Gäste die Interviews verfolgen konnte. Coriolanus saß gerade mit einigen seiner Gäste beisammen, als er sah wie Flickerman Tigris vor die Kameras zog. Ihr Gesicht erschien überlebensgroß auf der Leinwand. Tigris Menschlichkeit war immer mehr der Karikatur einer Katze gewichen. Die meisten fanden ihren Anblick insgeheim unangenehm, vor allem wenn man im Kontrast dazu einen makellosen aber menschlichen Caesar Flickerman präsentiert bekam. Dennoch war sie als Stylistin im ganzen Land angesehen. Aber schließlich galt sie als Mutter aller Stylisten. Eine Königin war nicht so einfach von ihrem Thron zu stoßen. Und eine Snow sowieso nicht, selbst wenn sie ihren Nachnamen längst nicht mehr nannte. Heute hieß sie einfach nur noch Tigris und die meisten schienen zu vergessen, dass sie die Cousine ihres Präsidenten war. Früher einmal hätte es Coriolanus gestört, doch darüber war er längst hinweg. So konnten Tigris Verfehlungen ihm weniger anhaben. Das Getuschel, welches sich jetzt wegen ihrer neuen, noch längeren Schnurrhaare erhob, ignorierte er geflissentlich.

„Die nächste in unserem exklusiven Interview ist die geniale Designerin Tigris, verantwortlich für Distrikt eins!“, donnerte Caesar Flickerman in sein Mikrofon.

Sie war schon immer sehr schüchtern gewesen und dies hatte sich auch nie gelegt. Auch jetzt sah sie unglücklich aus als Flickerman ihr das Mikrofon reichte. Sie bemühte sich um ein Lächeln, doch dabei entblößte sie nur ihre gespitzten Eckzähne. An Enobaria aus Distrikt zwei mochte das wirken, aber an der hageren Tigris, die sicherlich nie jemandem die Kehle zerfleischt hatte, wirkte es grotesk. Aufgrund ihrer Schüchternheit wäre sie beinahe gar nicht bekannt geworden, dachte er, all ihr Ruhm war nur gekommen, weil er für sie eingetreten war. Sie dankte es ihm, indem sie sich in Schönheitsoperationen verlor. Aber auch ein Äußeres wie ein Tiger konnte ihr nicht den nötigen Mut verleihen.

„Meine Liebe, was für ein Auftritt heute, Chapeau! Wir sind alle schon ganz gespannt zu hören, was die Geschichte hinter diesen wahnsinnigen Outfits heute ist! Ich glaube wir sind uns einig, dass das echt verrückt war?“

Tigris Blick wich der Kamera aus als sie antwortete.

„Danke, Caesar. Eigentlich ist es gar keine so große Geschichte“, ihre Katzenohren zuckten verlegen, „ich wollte einfach nur etwas finden, dass die Stärke und Gewalt zeigt die in ihnen ruht, ebenso wie… ah, den Glanz ihres Distriktes. Etwas anderes wagen als in den Jahren davor. Ich glaube wenn alle darüber reden habe ich mein Ziel erreicht.“ Sie lächelte schief, doch es sah wenig einnehmend aus. Sie konnte vielleicht Kleider entwerfen wie keine zweite, aber Worte waren nicht ihre Stärke. Das schien auch Flickerman zu wissen, denn er fragte nicht weiter nach.

„Nun, das ist dir definitiv gelungen! Dann wollen wir mal sehen, was das Volk zu sagen hat, nicht wahr? Was sind wohl die beliebtesten Stylings von dieser Parade?“ Einen Moment legte Flickerman eine kunstvolle Pause ein. „Hier sind die Ergebnisse des Publikumsvotings!“

Das Voting war der erste große Wettkampf der Stylisten. Wer das Volk auf seiner Seite hatte konnte ganz groß werden. Andererseits konnten hier auch Karrieren enden. Auf der Leinwand flammte eine Liste auf. Insgeheim verglich Coriolanus die Liste mit seinem eigenen Ranking. Distrikt vier lag auf Platz eins, ganz wie er es erwartet hatte. Distrikt eins jedoch lag nur auf Platz fünf. Es schien ganz als hätte Tigris Experiment nicht allzu viel Anklang gefunden.

Über den Saal hinweg traf sein Blick kurz den von Tigris, die sich eilig von Flickerman fort geschlichen hatte. Ihre Katzenohren zuckten heftig ehe sie sich abwandte und in Richtung Balkon verschwand. Sie wusste selber nur zu gut was ihre Platzierung bedeutete. Da ihr Verwandtschaftsverhältnis in Vergessenheit geriet hieß das auch, dass er sie wie jede andere Stylistin behandelte. Vielleicht, so überlegte er, war es Zeit ihr einen anderen Distrikt zuzuweisen. Etwas um sie wachzurütteln. Distrikt zwölf war auf dem letzten Platz und würde damit einen neuen Stylisten benötigen. Doch zunächst galt es dem frischen Gewinner des Publikumsvotings zu gratulieren. Es war das erste Mal für den jungen Roan Vainworth, dass er das Voting gewonnen hatte.

Coriolanus stand auf, ein Sektglas zum Toast erhoben.

„Wo ist unser neuer Gewinner?“, rief er laut.

Die Menge teilte sich um einen schlanken Mann mit stechend blauem Haar durchzulassen. Alle Kameras waren auf ihn gerichtet als er sich lächelnd verbeugte. Ein Avox reichte ihm ein Sektglas und der Mann trat zu Coriolanus in die Mitte des Raumes. Anerkennend nickte er dem Stylisten zu.

„Wirklich ausgezeichnete Arbeit bei der Parade. Distrikt vier erstrahlt dank ihrer Arbeit!“

Mit einem Klingen trafen sich ihre Sektgläser.

„Vielen Dank, Sir, es ist mir eine große Ehre.“

Der Stylist verbeugte sich noch einmal, doch Caesar Flickerman moderierte bereits weiter um das siegreiche Outfit für das Publikum zu analysieren.

„Würden sie einen kleinen Spaziergang mit mir unternehmen?“, fragte Coriolanus ihn, doch er ließ keinen Zweifel daran, dass es nicht wirklich eine Bitte war. Sein Gegenüber schien ohnehin nur auf dieser Gelegenheit gewartet zu haben. Es war gemeinhin bekannt was ein Sieg in diesem Wettbewerb bedeutete, abgesehen von dem ausgeschriebenen Preis.

„Selbstverständlich, Sir“, erwiderte er eifrig.

Gemächlich gingen sie durch die Menge hinaus zu den breiten Balkonen. Frische Nachtluft begrüßte sie.

„Das war wirklich eine ausgezeichnete Arbeit, Mr. Vainworth. Ich verfolge ihre Arbeit schon seit den letzten Jahren. In diesem Jahr scheinen sie endlich voll und ganz erkannt zu haben worauf es in den Spielen ankommt.“

Der junge Mann lächelte breit.

„Ich hatte den besten aller Lehrer.“ Er legte eine kleine Pause ein. „Ich habe alle ihre Bücher gelesen. Zunächst wollte ich nur Kleider entwerfen, doch dann habe ich erkannt, dass ich nicht nur mein Handwerk verstehen muss, sondern auch die Spiele wenn ich Erfolg haben will. Scheint so als hätte es sich endlich ausgezahlt.“

Roan Vainworth war definitiv von sich selbst überzeugter. Vermutlich glaubte er sich schlau und gewieft. So mochte Coriolanus die Stylisten am liebsten, denn so waren sie am Leichtesten zu manipulieren. Selbst die Schlausten unter ihnen waren keine Meister des Integrierens.

„Das Publikum haben sie in jedem Fall überzeugt“, stimmte er ihm zu. „Sieht ganz so aus als hätten sie sich eine Beförderung verdient, nach all den Jahren.“

Im Mondlicht schimmerten die Zähne seines Gegenübers als dieser noch breiter grinste. Alles schien genauso zu laufen wie Vainworth es sich erhofft hatte.

„Da muss ich Sie enttäuschen, Sir, aber ich wünsche keine Beförderung. Ich bin mit Distrikt vier vollauf zufrieden. Ihre Tribute sind sehr inspirierend für mich.“ Ein suggestives Grinsen lag auf seinen Zügen als er dies sagte.

Coriolanus hatte bereits geahnt, dass der Mann auf etwas anders aus war. Distrikt vier war definitiv vielversprechend und wenn man sich seine blauen Haare besah, dann schien es ihm zu gefallen.

„Nun, etwas werden sie von mir wollen, Mr. Vainworth. Sprechen sie ruhig frei heraus.“

Der Mann nahm einen tiefen Zug aus seinem Sektglas. Er fühlte sich ihm überlegen und das wollte er allem Anschein nach auskosten. Coriolanus nahm es gelassen und lehnte sich gegen die Balustrade, den Blick auf das Getümmel im Inneren gerichtet. Sollte der Stylist ruhig in seinem Glauben bleiben. Lange musste er jedoch nicht warten.

„Ich bin vollkommen glücklich, Sir. Wie sie gesehen haben kann Distrikt vier alle überstrahlen, selbst Diamanten. Ich glaube nur, dass manch einer meiner Zunft nicht mehr fit für den Wettbewerb ist. Zu bequem geworden ist. Ich glaube es wäre Zeit für Erneuerungen! Wir sollten neue Wege wagen um die Spiele lebendig zu halten.“

Coriolanus hielt den Blick weiter auf die Feier gerichtet als er antwortete.

„Mr. Vainworth, bleiben sie nicht in dem Glauben, dass irgendjemandes Positionen sicher ist. Eines jeden Rolle kann sich jederzeit ändern. Sehen sie nur sich selbst an, sie mussten sich den heutigen Sieg auch erst erkämpfen. Egal ob Diamant oder Kohle, einmal angestoßen ist es leicht über den eigenen Ehrgeiz zu stürzen.“

Aus dem Augenwinkel erkannte er wie der Mann die Lippen schürzte. Hatte er ernstlich gehofft, dass Coriolanus ihm anbieten würde seine Konkurrenten einfach so zu entlassen? Da zeigte seine Unerfahrenheit sich doch deutlich. Doch Vainworth nahm es mit Fassung. Sein Lächeln war zwar schmallippiger geworden, doch er grinste immer noch als er entgegnete:

„Es wäre mir eine größte Ehre wenn ich Ihnen eines meiner… Konzepte anbieten dürfte. Es wird wohl schwer die Spiele so zu prägen wie ihr es getan habt, aber ich würde nur zu gerne meinen Teil beitragen sie zu erhalten.“

„Dann bin ich gewillt Ideen von ihnen zu lauschen, insofern sie es in sich haben die Spiele zu bereichern.“

Vainworth schenkte ihm noch ein letztes Lächeln, dann entschuldigte er sich und verschwand in Richtung Feier. Nachdenklich blickte Coriolanus ihm hinterher. Er war definitiv ein großer Eiferer. In ihm war das Potential zu einer von seinen Schachfiguren zu werden, ohne Frage. Ein wenig zurecht stutzen müsste er ihn noch, doch der Mann war noch in einem formbaren Alter. Gerade als er zurück in den Saal gehen wollte sah er Tigris, welche die Treppe zum Garten empor kam. Abwartend hielt er inne. Tigris schenkte ihm einen düsteren Blick.

„Gratulation zum fünften Platz“, sagte er ernst.

Mit dem Rücken zu ihm hielt sie inne.

„Du musst es nicht noch schlimmer machen“, sagte sie bitter. „Ich weiß wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe.“

„Ich glaube du malst dir die Welt schwärzer als sie ist, meine Liebe. Es ist Pitarchus Malander für den ich keine Hoffnung mehr habe.“

Sie drehte sich zu ihm herum. Er stellte fest, dass ihre Augen in der Dunkelheit zu leuchten schienen. „Was gibt mir die Gewissheit, dass ich nicht die Nächste bin?“

Als sie die Augen schloss verschwand das Glühen. „Manchmal wäre ich gerne zurück in den Schlafzimmern der Großmadame. Damals erschien mir alles so viel einfacher.“ Ein Seufzen kam über ihre Lippen. Mit einem Mal erschien sie Coriolanus alt und müde. Tigris war immer bemüht gewesen sich nichts anmerken zu lassen als sie klein gewesen waren, doch jetzt schien sie sich nicht einmal zu bemühen. Überhaupt war jetzt alles anders zwischen ihnen. Früher hatte er sie ermutigen können sich selbst zu übertreffen, doch nun waren sie einander fremd geworden. Er war mit seinen präsidentiellen Aufgaben beschäftigt und sie schloss sich Tage und Nächte in ihrem Studio ein. Jedenfalls, so befand er, hatte er tatsächlich keinen Nutzen mehr in ihr. Was einst ihre Besonderheit gewesen war, konnten nun auch unzählige andere. Ihre Bilder hatten ihm die Idee gegeben Stylisten einzusetzen, die das Beste in den Tributen zum Vorschein brachten, doch nun übertrafen andere ihre Visionen von einst. Tatsächlich musste er Roan Vainworth in einer Sache Recht geben, es war Zeit für Erneuerung, denn sonst würden sie feststecken bleiben. Aber es sah nicht mehr danach aus als wäre Tigris seine Ideengeberin.

„Ich würde sagen es liegt allein an dir. Du hast die Fähigkeiten, du musst sie nur einsetzen.“

Sie schenkte ihm einen müden Blick, doch sie antwortete nicht mehr, sondern verschwand durch die Glastüren ins Innere.

Wenige Tage später ging ein Sommergewitter ging über dem Kapitol nieder, als Coriolanus von einer Bediensteten in den Salon gerufen wurde. Dort wartete eine triefende Tigris auf ihn, vom Platzregen völlig durchnässt. Selbst die Schnurrhaare klebten feucht an ihren Wangen. Sie stand neben dem kalten Kamin, eine Tasche an sich gepresst. Er hätte mit vielem gerechnet, doch nicht mit ihr. Nicht, nachdem sie so unterkühlt auseinander gegangen waren. Und weil bereits übermorgen die Interviews waren, für die sie sicherlich noch etwas vorbereiten müsste.

Noch bevor er etwas sagen konnte brach es bereits aus ihr heraus:

„Es tut mir leid, dich stören zu müssen, aber ich… ich wusste nicht wohin ich gehen sollte.“ Ihr Blick war auf die Pfütze die sich um ihre Füße herum bildete gerichtet. „Oh, es ist schrecklich!“ sprudelten die Worte aus ihr, „Es ist mein Studio, es ist ausgebrannt! Alles ist vernichtet! Die Arbeit der letzten Monate, alle Entwürfe… alles was ich besaß!“ Sie schien die Tasche noch fester zu umklammern. „Das hier ist alles was ich retten konnte.“ Die Verzweiflung in ihrem Blick war unverkennbar. „Alles ist weg“, hauchte sie noch einmal.

Mit einem Fingerzeig bedeutete Coriolanus der Bediensteten Handtücher für Tigris zu holen, dann trat er schweigend an die Bar in der Ecke. Er ahnte wie sie sich fühlte. Bereits einmal hatte sie alles verloren, im Krieg. Anders als er hatte sie diese Erlebnisse nie ganz hinter sich lassen können. Für Tigris schenkte er einen ordentlichen Schluck Rum ein, für sich selber nur einen kleinen. Er reichte ihr das Glas und führte sie zu einem Sessel. „Setz dich erst einmal und sammel dich“, sagte er nachdrücklich.

Ihre Hand war zittrig als sie das Glas zum Mund führte. In ihrer Nervosität schlang sie den Rum hinunter, ganz wie er es beabsichtigt hatte.

„Besser?“, fragte er scheinbar verständnisvoll.

Sie nickte und trotz all der chirurgischen Veränderungen an ihrem Gesicht konnte er Dankbarkeit in ihren Augen erkennen. Er lächelte leicht und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Also, was ist passiert?“

Tigris holte tief Luft. „Als ich heute Abend in mein Studio kam um die letzten Sachen für Freitag vorzubereiten stand das Hinterzimmer bereits lichterloh in Flammen. Ich konnte nichts mehr tun, nur noch das Wichtigste greifen. Die Stoffe haben angefangen zu brennen wie Zunder.“ Ihr Blick senkte sich auf das leere Glas in ihren Händen und ungefragt schenkte er ihr ein. „Als die Feuerwehr endlich kam war es bereits zu spät. Es ist nichts übrig geblieben als Asche.“

Scheinbar nachdenklich brummte Coriolanus, auch wenn er längst ahnte, was vorgefallen war. Anscheinend war Roan Vainworth noch ehrgeiziger als er ihm zugestanden hatte. Er konnte dem Mann keinen Vorwurf machen. Manchmal musste man die Dinge eben direkt in die Hand nehmen.

„Du vermutest, dass es kein Zufall ist?“, fragte er.

Tigris blickte ihn an. „Nein. Ich befürchte, dass jemand meine Arbeit sabotieren wollte. Jemand der wusste, dass sich das Outfit für die Interviews noch dort befindet.“ Müde rieb Tigris sich das Gesicht und knickte dabei unabsichtlich ein Schnurrhaar ab. „Und es ist ihm auch gelungen“, setzte sie ermattet hinzu. In einem Zug trank sie das Glas leer. Er schenkte ihr wieder nach. Selber nippte er nur an seinem Getränk. Es war immer besser wachsam zu bleiben.

Seine Angestellte kam erneut herein, mit einem Stapel weicher Handtücher für Tigris. Diese trocknete sich dankbar ab. „Es tut mir so leid. Ich fürchte ich habe nichts mehr für das Interview.“ Sie sah ihn elend an.

„Hast du einen Verdacht wer es gewesen sein könnte?“, stellte er die entscheidende Frage.

Doch sie schüttelte nur den Kopf. „Eigentlich könnte es so gut wie jeder gewesen sein“, entgegnete sie matt. „Jeder hat ein Auge auf Distrikt eins geworfen. Bestimmt würde es vielen gefallen mich fallen zu sehen.“ Auch das dritte Glas leerte sie mit einem Zug.

Bevor sie noch allzu betrunken wurde schenkte er ihr nur einen halben Schluck nach. Wenn sie keine Ahnung hatte war das gut. Die Feuerwehr war bestechlich. Es musste nur genug Geld fließen und sie würden nie hinterfragen ob es Brandstiftung gewesen sein könnte. Tigris würde nie erfahren ob ihr ehrgeiziger Konkurrent aus Distrikt vier schuldig war. Er hingegen würde es sich zunutze machen können. So wie er einst Tigris zu Ruhm verholfen hatte, konnte er sie jetzt stürzen. Die Zeit für frisches Blut war gekommen. Der Brand in ihrem Studio war in seinen Augen eine günstige Fügung, die in seine Karten spielte. Roan Vainworth hatte nicht zu viel versprochen, als er ihm seine neuen Konzepte geschickt hatte. Auch nach 63 Jahren war es nie zu spät den Hungerspielen einen neuen Schliff zu verleihen.

„Leider kann ich dir dein Studio nicht wiedergeben“, sagte er ruhig. „Aber du kannst natürlich heute hier übernachten.“

Tigris stürzte den letzten Schluck Rum hinunter und zog eine Grimasse. „Also war es das? Meine Karriere als Stylistin?“ Sie schnaubte. „Snow landet immer oben.“ Ihr Blick wurde hart als er ihn traf. „Das gilt wohl nicht für alle von uns.“

In dem Bestreben die Wogen zu glätten legte er eine Hand auf ihren Arm. „Noch ist es zu früh aufzugeben, meine Liebe. Nur weil ich Präsident bin kann ich nicht alle Probleme lösen, aber ich werde mein Bestes tun, nur für dich.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen blickte er ihr fest in die Augen.

Überzeugt schien sie jedoch nicht. „Versprichst du es mir, Coryo?“

Die Erwähnung seines Spitznamens nervte ihn. Ein erwachsener Mann sollte nicht mehr mit einem derart lächerlichen Namen angesprochen werden. Das hatte er Tigris schon wissen lassen, doch dieser Moment von Verletzlichkeit ihrerseits schien ihm nicht richtig um sie daran zu erinnern.

„Natürlich, so wie einst – Snow landet immer oben.“

Nun endlich erschien ein kleines Lächeln auf Tigris Gesicht. „Das habe ich vermisst“, gab sie zu.

Coriolanus nickte zustimmend, auch wenn er es ganz und gar nicht vermisste. Wenn er etwas versprach, dann sich selbst. Und dieses Mal versprach er sich, dass er nur noch etwas Geduld haben musste. Dann wäre auch dieses Problem erledigt.
 

Irgendwann als seine Gedanken bei Tigris waren musste Coriolanus eingeschlafen sein. Anders als die Meisten hatte er nie Träume über fantastische Wolkenschlösser gehabt, sondern vergangene Erlebnisse besucht. Er war froh, dass er selten träumte. Meist war es seine Mutter von der er träumte. Tigris war neu. Seufzend stand er auf. Blut hatte sich in seinem Mund gesammelt. Mit einem Schluck kühlen Wassers spülte er es herab.

Zu keiner Zeit hatte er bereut sein Vertrauen in Roan Vainworth gesetzt zu haben. Dank ihm war der Wettbewerb der Stylisten intensiver als zuvor geworden. Gleichzeitig war der Mann wie Wachs in Coriolanus Händen. Er hatte es ein wenig bedauert ihn nach den Ereignissen des Jubeljubiläums hinzurichten. Und doch fragte er sich jetzt ob er in Bezug auf Tigris geschickter hätte vorgehen müssen, damit ihr Zorn nicht ihn traf. Sie hatte ihm nichts nachweisen können und doch schien sie gewusst zu haben, dass er sich gegen sie gewandt hatte. Vielleicht, weil er sie nicht genug in Schutz genommen hatte.

„Sei dir gewiss, dass du das eines Tages bereuen wirst, Coryo.“

Das waren ihre letzten Worte an ihn gewesen. Sein Spitzname hatte all ihre Verachtung getragen.

Asche zu Asche

4. Teil – Asche zu Asche

 

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.
 

(Rainer Maria Rilke, 1875-1926, deutsch-österr. Dichter)

 

***

 

Sein Gefängnis war an Luxus wohl kaum zu überbieten. Anstatt in einer dreckigen Zelle, die nach kaltem Beton roch, war er in seinem eigenen Gewächshaus eingesperrt, in Begleitung seiner preisgekrönten Rosen. Coriolanus konnte sich wahrlich nicht beschweren, für seine letzten Tage gestand man ihm einige Annehmlichkeiten zu. Wenn das Leben einen zu so einem Ende führte, dann hatte man alles richtig gemacht. Selbst seine Feinde hatten noch Respekt vor ihm. Er konnte nicht sagen, dass der Tod ihn dieser Tage noch ängstigte. Sein Leben war lang und erfüllt gewesen. Für Panem hatte er alles gegeben und seine schützende Hand über das Land ausgebreitet. Wenn überhaupt, dann tat es ihm leid, für jene die nach ihm kommen würden und in einem zerrütteten Land ohne Schutz aufwachsen mussten. Nein, ganz für sich kam Coriolanus zu dem Schluss, dass er nichts bereute.

Der Plan sah vor, dass der Spotttölpel die Hinrichtung durchführte. Ein Pfeil direkt ins Herz und es wäre vorbei. Sie war eine ausgezeichnete Jägerin, daher war er sich sicher, dass sie nicht verfehlen würde. Nicht, wenn der Feind in der Nähe weilte. Nur, dass er nicht länger der Feind war. Er hatte den Zweifel in ihrem Herzen spüren können. Zum letzten Mal würde es so kommen, wie er es voraussah. Sein eigener Tod war so oder so gewiss, jetzt, wo ihm der Zugang zu überlebenswichtigen Medikamenten fehlte. Der Geschmack von Blut hielt ihn wach des Nachts und längst hatte die Krankheit sich auf seine Organe ausgeweitet. Ein geringer Preis für den jahrelangen Konsum des Schlangengifts, dass Dr. Gaul dereinst in ihren Laboren erschaffen hatte. Dank dem Gift waren seine Widersacher gefallen wo immer er hinging, ohne, dass sie es ihm hätten nachweisen können, angefangen mit Dr. Gaul selber.

Aber selbst in seinen letzten Stunden hatte das Leben noch eine Überraschung für Coriolanus bereit. Es gab einen Tumult außerhalb seines Gefängnisses und er hörte die harschen Stimmen der Soldaten sich empören. Doch plötzlich legte sich der Lärm. Die breiten Türen des Gewächshauses schwangen auf und gaben den Blick frei auf eine dürre Gestalt, mit einem dicken Pelz über den Schultern. Tigris. Zu schwach um aufzustehen blieb er abwartend sitzen und beobachtete durch die Büsche hindurch wie sie den Blick über die Rosen schweifen ließ. Sie ließ die Hand über eine weiße Rosenknospe gleiten, doch anders als der Spotttölpel trennte sie die Rose nicht ab. Vermutlich dachte auch sie an die Großmadame bei dem Anblick ihres Erbes. Tatsächlich verspürte Coriolanus Freude darauf Tigris noch einmal sehen zu können. Nach ihrem letzten Treffen hatte er nicht mehr damit gerechnet. Dennoch kam sie jetzt auf ihn zu. Ihre langen Arme drückten ein ledergebundenes Buch an die Brust, dass er nur zu gut kannte. Es war ihr Zeichenbuch. Sie kam vor ihm zu stehen. Mehrere Minuten lang stand sie einfach nur da und blickte ihn an. Da sie ihn besuchte wartete Coriolanus ab, was sie zu sagen hatte. Mehrmals sah es so aus als wolle sie etwas sagen, tat es dann aber nicht. Statt etwas zu sagen warf sie ihm schließlich das Buch zu. Es landete in seinem Schoß, die Seite mit dem Familienwappen oben. Ein scharfer Schnitt ging mitten durch die Prägung des Wappens. Anscheinend hatte Tigris mit einem Messer den Einband zerschnitten. Nun, sie war schon lange keine Snow mehr gewesen, sondern einfach nur Tigris. Coriolanus fragte sich lediglich, wann genau ihr diese Erkenntnis gekommen war.

Da sie immer noch keine Anstalten machte etwas zu sagen schlug er bedächtig das Buch auf. Das erste Mal in seinem Leben. Von der ersten Seite sah ihm Lucy Gray entgegen. Die Farben des Regenbogens umgaben sie und doch waren ihre Augen von einer stärkeren Intensität als die bunten Farben. Es war nicht wie das Bild welches einst den Flammen zum Opfer gefallen war, doch es war von der gleichen Kraft. Coriolanus hatte nicht erwartet Lucy Gray noch einmal zu sehen, wo er doch so sorgfältig ihr Andenken von der Erde getilgt hatte. Ganz offensichtlich hatte er verkannt, wer Tigris wirklich war. Alle Seiten des Notizbuches waren mit Tributen gefüllt. Mit einem Mal fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt, in das Schlafzimmer mit den Wänden voller Zeichnungen. Es ging in keiner ihrer Zeichnungen um die Mode, wie er einst angenommen hatte. Sie hatte die Tribute gezeichnet, mit Gesichtern voller Schmerz, Hoffnung und Reue. Er war nicht blind, er hatte ihr Leiden erkannt und als notwendig akzeptiert. Andere hingegen nicht. Beinahe kam er sich töricht vor, war das Buch doch sein Geschenk gewesen.

„Mir scheint, dass wir beide von Anfang an auf unterschiedlichen Seiten gestanden haben, auch wenn wir es nicht erkannt haben“, sagte er leise.

Tigris blickte ihn aus glasigen Augen an. „Sie haben mir vom ersten Tag an Leid getan“, flüsterte sie. „Ihre Blicke haben mich in die Nächte verfolgt und niemals losgelassen bis ich sie in mein Buch gezeichnet hatte.“

Langsam schlug er das Buch zu. Der Blick von Lucy Gray schien ihn anklagend zu verfolgen. „Es tut mir leid, dass wir uns nun als Feinde gegenüber stehen“, erwiderte er mit ruhiger Stimme. Die Zeit für Lügen war vorbei. Wenigstens Tigris sollte wissen, wie er empfand. Es war nicht so als stünde sonst noch jemand an seiner Seite, nicht einmal die Kinder und Enkelkinder die nach seinem Bild hatte großziehen wollen.

„Das glaube ich dir sogar. Zum ersten Mal seit Jahren.“

Er schüttelte den Kopf. „Es gibt eine Zeit für Lügen, aber die ist jetzt vorbei. Der Tod klopft an meine Tür, also gibt es nichts mehr zu verlieren für mich.“

Sie sah ihn an, dann nickte sie. „Keine Geheimnisse mehr.“ Sie holte tief Luft als wappne sie sich für das was kommen würde. „Ich dachte wirklich es wäre einfacher, dich sterben zu sehen. Lange Zeit dachte ich es wäre genug Hass in mir, dass dein Tod mich einfach nur glücklich machen würde. Und doch stehe ich jetzt hier um mich zu verabschieden. Scheint als könnte man fast ein ganzes gemeinsames Leben nicht einfach auslöschen, selbst wenn es sich lange so angefühlt hat.“

Ihr Blick fiel auf den kleinen Beistelltisch in der Ecke, auf dem der Bonsai stand. Das einst starke Bäumchen hatte alle seine Blätter verloren. Nichts war geblieben bis auf einige orange-rote Blätter die sich an die kühle Erde klammerten. Doch auch sie würden bald vergehen.

„Du hast ihn wirklich behalten, all die Jahre?“, fragte sie mit Unglauben.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf Coriolanus Gesicht, das erste ehrliche seit Jahren. „Es war ein wundervolles Geschenk. Er hat mich immer an unser Versprechen erinnert - Snow landet immer oben. Doch ich fürchte jetzt ist auch seine Zeit gekommen.“

Tigris nickte langsam. „Nur, dass du unser Versprechen verraten hast. Ich war blind, dass ich deinen Egoismus nicht früher erkannte.“ Sie schlang die dünnen Arme um ihre Mitte. „Ich war so naiv, dass ich dich erst hassen konnte, als du alle Liebe in mir getötet hattest.“

„Ich gebe zu, dass ich Pläne für dich hatte. Es wäre schön gewesen, wenn du an meiner Seite gestanden hättest. Wir hätten es beide verdient siegreiche Snows zu sein, nach allem was wir einst erlebt haben.“ Seine Gefühle gegenüber Tigris waren so tief in seinem Inneren verschlossen gewesen, dass er sie erst erkannte als er die Worte sprach. Tatsächlich hatte er sich gewünscht sie wäre erfolgreicher gewesen. So wie es gewesen war als sie jünger gewesen waren und die Zukunft der Spiele gestrickt hatten. „Es war nie mein Plan dich zu verstoßen. Es lag einzig und allein daran, dass du der Sache nicht mehr genützt hast. Andere dagegen schon.“ Bei diesen Worten sah er ihr fest in die glühenden Augen.

„Das werde ich dir nie vergeben, dass du nur in deinem Interesse gehandelt hast“, erwiderte sie mit entschlossener Stimme. Ihre Zögerlichkeit schien von ihr abzufallen. „Beinahe mein ganzes Leben habe ich eine Lüge gelebt, wegen dir. Du hast meine Zeichnungen genommen und sie in eine perverse Show verwandelt. Ich habe das Gefühl ich könnte nie wieder in den Spiegel sehen, dank all der Verbrechen die ich im Namen deiner Spiele begangen habe.“ Da war es wieder, das Feuer in ihren Augen, das trotz Tränen brannte.

Geduldig hörte Coriolanus zu, denn das war alles was er ihr noch anbieten konnte.

„Alles was ich wollte war den Tributen ihre Würde zurück zu geben. Stattdessen habe ich sie zu Puppen des Kapitols gemacht. Heute weiß ich, dass ich damals hätte mutiger sein müssen. Aber ich habe bis zuletzt an dich geglaubt und versucht den Coryo zu sehen der mein Bruder war.“ Als sie ausatmete schien es als würde das Gewicht der ganzen Welt von ihr abfallen.

Einen Moment lang war nichts anderes zu hören als das leise Rauschen eines Heizlüfters in der Ferne. Die grünen Blätter der Rosenbüsche wiegten sich leicht im Lufstrom.

„Es gibt nichts was ich sagen könnte um diese Schuld von dir zu nehmen“, sagte er gefasst. „Wer weiß, ob ich ohne deine Zeichnungen der Tribute die gleiche Idee gehabt hätte. Ich befürchte ich werde auch nie die Hungerspiele als Fehler sehen können. Aber hier geht es ja auch nicht um mich“, er strich über das Buch in seinen Händen, „sondern um dich. Hat es dich erleichtert mir das sagen zu können?“

Tigris nickte leicht. „Ich denke schon. Ich habe erkannt, dass es nie zu spät ist zu bereuen. Oder sich zu ändern.“ Sie schenkte ihm überraschend ein verwegenes Lächeln, „ich war es, die den Spotttölpel und ihre Soldaten im Kapitol versteckt hat.“

Er hustete, als er lachen musste und frische Blutflecken erschienen auf seinem Taschentuch. „Das ist vermutlich, was die Geschichtsschreiber als Gerechtigkeit auffassen werden. Ich wusste doch gleich, dass ich es bereuen würde als ich dich das letzte Mal besuchte.“

„Vermutlich.“ Sie zuckte mit den hageren Schultern. „Wer kann schon sagen, was die Zukunft bringen wird. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, am Ende unterliegt alles einem stetigen Wandel. Vielleicht sind wir alle schlecht, in einem ewigen Fall darum bemüht das Gute in uns zu finden.“ Ihr Tigerschwanz wickelte sich um ihre Hüfte. „Die Wahrheit ist, es ist mir egal. Ich bin nur meinem Herzen gefolgt, als ich die Rebellen bei mir versteckte. Genauso als ich den Leuten des Kapitols geholfen habe, als sie schutzlos waren. Ich wollte nie wieder solches Leid sehen wie es uns einst widerfahren ist. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“

„Nun, vielleicht wird sie sich dennoch wiederholen, wenn Alma Coin sich entscheidet es dem Kapitol mit gleichem Maß heimzuzahlen“, gab Coriolanus zu bedenken.

Doch auch jetzt fand Tigris Widerworte.

„Ich glaube lieber an das Gute in jedem von uns, als vom Schlimmsten auszugehen.“

Coriolanus nickte. So verschieden wie sie waren hatte er es erwartet. „Und ich wünsche dir, dass du Recht hast.“ Er glaubte etwas anderes, doch davon musste er sich jetzt zwangsläufig verabschieden. Ohnehin würde er es nicht mehr erleben.

Ihr Gespräch schien sich dem Ende zu nähern. Alles was Tigris hatte sagen wollen war gesagt, das konnte er spüren. Sie ließ noch einen letzten Blick durch das Gewächshaus gleiten.

„Ich kann nicht sagen, dass du ein guter Mensch warst.“ Sie blickte ihn lange an und ihm war als stünde wieder das Mädchen mit dem schlichten Gesicht und der langen Nase vor ihm. „Und doch habe ich dich einst geliebt. Mach es gut, Coryo.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand zwischen den Rosenbüschen. Er beobachtete sie, wie sie durch die Flügeltüren ging ohne sich noch einmal umzudrehen. Alles was von ihr zurück blieb war das Zeichenbuch. Dieses Mal war es ein Abschied für immer. In genau diesem Moment wurde Coriolanus bewusst, dass auch er Tigris immer geliebt hatte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück