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Der lange Fall

von

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Asche zu Asche

4. Teil – Asche zu Asche

 

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.
 

(Rainer Maria Rilke, 1875-1926, deutsch-österr. Dichter)

 

***

 

Sein Gefängnis war an Luxus wohl kaum zu überbieten. Anstatt in einer dreckigen Zelle, die nach kaltem Beton roch, war er in seinem eigenen Gewächshaus eingesperrt, in Begleitung seiner preisgekrönten Rosen. Coriolanus konnte sich wahrlich nicht beschweren, für seine letzten Tage gestand man ihm einige Annehmlichkeiten zu. Wenn das Leben einen zu so einem Ende führte, dann hatte man alles richtig gemacht. Selbst seine Feinde hatten noch Respekt vor ihm. Er konnte nicht sagen, dass der Tod ihn dieser Tage noch ängstigte. Sein Leben war lang und erfüllt gewesen. Für Panem hatte er alles gegeben und seine schützende Hand über das Land ausgebreitet. Wenn überhaupt, dann tat es ihm leid, für jene die nach ihm kommen würden und in einem zerrütteten Land ohne Schutz aufwachsen mussten. Nein, ganz für sich kam Coriolanus zu dem Schluss, dass er nichts bereute.

Der Plan sah vor, dass der Spotttölpel die Hinrichtung durchführte. Ein Pfeil direkt ins Herz und es wäre vorbei. Sie war eine ausgezeichnete Jägerin, daher war er sich sicher, dass sie nicht verfehlen würde. Nicht, wenn der Feind in der Nähe weilte. Nur, dass er nicht länger der Feind war. Er hatte den Zweifel in ihrem Herzen spüren können. Zum letzten Mal würde es so kommen, wie er es voraussah. Sein eigener Tod war so oder so gewiss, jetzt, wo ihm der Zugang zu überlebenswichtigen Medikamenten fehlte. Der Geschmack von Blut hielt ihn wach des Nachts und längst hatte die Krankheit sich auf seine Organe ausgeweitet. Ein geringer Preis für den jahrelangen Konsum des Schlangengifts, dass Dr. Gaul dereinst in ihren Laboren erschaffen hatte. Dank dem Gift waren seine Widersacher gefallen wo immer er hinging, ohne, dass sie es ihm hätten nachweisen können, angefangen mit Dr. Gaul selber.

Aber selbst in seinen letzten Stunden hatte das Leben noch eine Überraschung für Coriolanus bereit. Es gab einen Tumult außerhalb seines Gefängnisses und er hörte die harschen Stimmen der Soldaten sich empören. Doch plötzlich legte sich der Lärm. Die breiten Türen des Gewächshauses schwangen auf und gaben den Blick frei auf eine dürre Gestalt, mit einem dicken Pelz über den Schultern. Tigris. Zu schwach um aufzustehen blieb er abwartend sitzen und beobachtete durch die Büsche hindurch wie sie den Blick über die Rosen schweifen ließ. Sie ließ die Hand über eine weiße Rosenknospe gleiten, doch anders als der Spotttölpel trennte sie die Rose nicht ab. Vermutlich dachte auch sie an die Großmadame bei dem Anblick ihres Erbes. Tatsächlich verspürte Coriolanus Freude darauf Tigris noch einmal sehen zu können. Nach ihrem letzten Treffen hatte er nicht mehr damit gerechnet. Dennoch kam sie jetzt auf ihn zu. Ihre langen Arme drückten ein ledergebundenes Buch an die Brust, dass er nur zu gut kannte. Es war ihr Zeichenbuch. Sie kam vor ihm zu stehen. Mehrere Minuten lang stand sie einfach nur da und blickte ihn an. Da sie ihn besuchte wartete Coriolanus ab, was sie zu sagen hatte. Mehrmals sah es so aus als wolle sie etwas sagen, tat es dann aber nicht. Statt etwas zu sagen warf sie ihm schließlich das Buch zu. Es landete in seinem Schoß, die Seite mit dem Familienwappen oben. Ein scharfer Schnitt ging mitten durch die Prägung des Wappens. Anscheinend hatte Tigris mit einem Messer den Einband zerschnitten. Nun, sie war schon lange keine Snow mehr gewesen, sondern einfach nur Tigris. Coriolanus fragte sich lediglich, wann genau ihr diese Erkenntnis gekommen war.

Da sie immer noch keine Anstalten machte etwas zu sagen schlug er bedächtig das Buch auf. Das erste Mal in seinem Leben. Von der ersten Seite sah ihm Lucy Gray entgegen. Die Farben des Regenbogens umgaben sie und doch waren ihre Augen von einer stärkeren Intensität als die bunten Farben. Es war nicht wie das Bild welches einst den Flammen zum Opfer gefallen war, doch es war von der gleichen Kraft. Coriolanus hatte nicht erwartet Lucy Gray noch einmal zu sehen, wo er doch so sorgfältig ihr Andenken von der Erde getilgt hatte. Ganz offensichtlich hatte er verkannt, wer Tigris wirklich war. Alle Seiten des Notizbuches waren mit Tributen gefüllt. Mit einem Mal fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt, in das Schlafzimmer mit den Wänden voller Zeichnungen. Es ging in keiner ihrer Zeichnungen um die Mode, wie er einst angenommen hatte. Sie hatte die Tribute gezeichnet, mit Gesichtern voller Schmerz, Hoffnung und Reue. Er war nicht blind, er hatte ihr Leiden erkannt und als notwendig akzeptiert. Andere hingegen nicht. Beinahe kam er sich töricht vor, war das Buch doch sein Geschenk gewesen.

„Mir scheint, dass wir beide von Anfang an auf unterschiedlichen Seiten gestanden haben, auch wenn wir es nicht erkannt haben“, sagte er leise.

Tigris blickte ihn aus glasigen Augen an. „Sie haben mir vom ersten Tag an Leid getan“, flüsterte sie. „Ihre Blicke haben mich in die Nächte verfolgt und niemals losgelassen bis ich sie in mein Buch gezeichnet hatte.“

Langsam schlug er das Buch zu. Der Blick von Lucy Gray schien ihn anklagend zu verfolgen. „Es tut mir leid, dass wir uns nun als Feinde gegenüber stehen“, erwiderte er mit ruhiger Stimme. Die Zeit für Lügen war vorbei. Wenigstens Tigris sollte wissen, wie er empfand. Es war nicht so als stünde sonst noch jemand an seiner Seite, nicht einmal die Kinder und Enkelkinder die nach seinem Bild hatte großziehen wollen.

„Das glaube ich dir sogar. Zum ersten Mal seit Jahren.“

Er schüttelte den Kopf. „Es gibt eine Zeit für Lügen, aber die ist jetzt vorbei. Der Tod klopft an meine Tür, also gibt es nichts mehr zu verlieren für mich.“

Sie sah ihn an, dann nickte sie. „Keine Geheimnisse mehr.“ Sie holte tief Luft als wappne sie sich für das was kommen würde. „Ich dachte wirklich es wäre einfacher, dich sterben zu sehen. Lange Zeit dachte ich es wäre genug Hass in mir, dass dein Tod mich einfach nur glücklich machen würde. Und doch stehe ich jetzt hier um mich zu verabschieden. Scheint als könnte man fast ein ganzes gemeinsames Leben nicht einfach auslöschen, selbst wenn es sich lange so angefühlt hat.“

Ihr Blick fiel auf den kleinen Beistelltisch in der Ecke, auf dem der Bonsai stand. Das einst starke Bäumchen hatte alle seine Blätter verloren. Nichts war geblieben bis auf einige orange-rote Blätter die sich an die kühle Erde klammerten. Doch auch sie würden bald vergehen.

„Du hast ihn wirklich behalten, all die Jahre?“, fragte sie mit Unglauben.

Ein kleines Lächeln stahl sich auf Coriolanus Gesicht, das erste ehrliche seit Jahren. „Es war ein wundervolles Geschenk. Er hat mich immer an unser Versprechen erinnert - Snow landet immer oben. Doch ich fürchte jetzt ist auch seine Zeit gekommen.“

Tigris nickte langsam. „Nur, dass du unser Versprechen verraten hast. Ich war blind, dass ich deinen Egoismus nicht früher erkannte.“ Sie schlang die dünnen Arme um ihre Mitte. „Ich war so naiv, dass ich dich erst hassen konnte, als du alle Liebe in mir getötet hattest.“

„Ich gebe zu, dass ich Pläne für dich hatte. Es wäre schön gewesen, wenn du an meiner Seite gestanden hättest. Wir hätten es beide verdient siegreiche Snows zu sein, nach allem was wir einst erlebt haben.“ Seine Gefühle gegenüber Tigris waren so tief in seinem Inneren verschlossen gewesen, dass er sie erst erkannte als er die Worte sprach. Tatsächlich hatte er sich gewünscht sie wäre erfolgreicher gewesen. So wie es gewesen war als sie jünger gewesen waren und die Zukunft der Spiele gestrickt hatten. „Es war nie mein Plan dich zu verstoßen. Es lag einzig und allein daran, dass du der Sache nicht mehr genützt hast. Andere dagegen schon.“ Bei diesen Worten sah er ihr fest in die glühenden Augen.

„Das werde ich dir nie vergeben, dass du nur in deinem Interesse gehandelt hast“, erwiderte sie mit entschlossener Stimme. Ihre Zögerlichkeit schien von ihr abzufallen. „Beinahe mein ganzes Leben habe ich eine Lüge gelebt, wegen dir. Du hast meine Zeichnungen genommen und sie in eine perverse Show verwandelt. Ich habe das Gefühl ich könnte nie wieder in den Spiegel sehen, dank all der Verbrechen die ich im Namen deiner Spiele begangen habe.“ Da war es wieder, das Feuer in ihren Augen, das trotz Tränen brannte.

Geduldig hörte Coriolanus zu, denn das war alles was er ihr noch anbieten konnte.

„Alles was ich wollte war den Tributen ihre Würde zurück zu geben. Stattdessen habe ich sie zu Puppen des Kapitols gemacht. Heute weiß ich, dass ich damals hätte mutiger sein müssen. Aber ich habe bis zuletzt an dich geglaubt und versucht den Coryo zu sehen der mein Bruder war.“ Als sie ausatmete schien es als würde das Gewicht der ganzen Welt von ihr abfallen.

Einen Moment lang war nichts anderes zu hören als das leise Rauschen eines Heizlüfters in der Ferne. Die grünen Blätter der Rosenbüsche wiegten sich leicht im Lufstrom.

„Es gibt nichts was ich sagen könnte um diese Schuld von dir zu nehmen“, sagte er gefasst. „Wer weiß, ob ich ohne deine Zeichnungen der Tribute die gleiche Idee gehabt hätte. Ich befürchte ich werde auch nie die Hungerspiele als Fehler sehen können. Aber hier geht es ja auch nicht um mich“, er strich über das Buch in seinen Händen, „sondern um dich. Hat es dich erleichtert mir das sagen zu können?“

Tigris nickte leicht. „Ich denke schon. Ich habe erkannt, dass es nie zu spät ist zu bereuen. Oder sich zu ändern.“ Sie schenkte ihm überraschend ein verwegenes Lächeln, „ich war es, die den Spotttölpel und ihre Soldaten im Kapitol versteckt hat.“

Er hustete, als er lachen musste und frische Blutflecken erschienen auf seinem Taschentuch. „Das ist vermutlich, was die Geschichtsschreiber als Gerechtigkeit auffassen werden. Ich wusste doch gleich, dass ich es bereuen würde als ich dich das letzte Mal besuchte.“

„Vermutlich.“ Sie zuckte mit den hageren Schultern. „Wer kann schon sagen, was die Zukunft bringen wird. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, am Ende unterliegt alles einem stetigen Wandel. Vielleicht sind wir alle schlecht, in einem ewigen Fall darum bemüht das Gute in uns zu finden.“ Ihr Tigerschwanz wickelte sich um ihre Hüfte. „Die Wahrheit ist, es ist mir egal. Ich bin nur meinem Herzen gefolgt, als ich die Rebellen bei mir versteckte. Genauso als ich den Leuten des Kapitols geholfen habe, als sie schutzlos waren. Ich wollte nie wieder solches Leid sehen wie es uns einst widerfahren ist. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“

„Nun, vielleicht wird sie sich dennoch wiederholen, wenn Alma Coin sich entscheidet es dem Kapitol mit gleichem Maß heimzuzahlen“, gab Coriolanus zu bedenken.

Doch auch jetzt fand Tigris Widerworte.

„Ich glaube lieber an das Gute in jedem von uns, als vom Schlimmsten auszugehen.“

Coriolanus nickte. So verschieden wie sie waren hatte er es erwartet. „Und ich wünsche dir, dass du Recht hast.“ Er glaubte etwas anderes, doch davon musste er sich jetzt zwangsläufig verabschieden. Ohnehin würde er es nicht mehr erleben.

Ihr Gespräch schien sich dem Ende zu nähern. Alles was Tigris hatte sagen wollen war gesagt, das konnte er spüren. Sie ließ noch einen letzten Blick durch das Gewächshaus gleiten.

„Ich kann nicht sagen, dass du ein guter Mensch warst.“ Sie blickte ihn lange an und ihm war als stünde wieder das Mädchen mit dem schlichten Gesicht und der langen Nase vor ihm. „Und doch habe ich dich einst geliebt. Mach es gut, Coryo.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand zwischen den Rosenbüschen. Er beobachtete sie, wie sie durch die Flügeltüren ging ohne sich noch einmal umzudrehen. Alles was von ihr zurück blieb war das Zeichenbuch. Dieses Mal war es ein Abschied für immer. In genau diesem Moment wurde Coriolanus bewusst, dass auch er Tigris immer geliebt hatte.



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