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Der Himmel über den Slums

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallöchen, hier mal was nicht sehr Tiefgründiges von mir. Vielleicht hat der eine oder andere Spaß daran. :) Komplett anzeigen

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Wieder war ein Jahr vorüber. Der April raste auf sein Ende zu, und Cloud Strife stand erneut vor dem einen großen Problem in seinem Leben, das er nie hatte lösen können.

Allen Rückschlägen hatte er getrotzt, hatte sein zerstörtes Leben irgendwie zusammengeflickt wie einen alten Teppich, den jemand aus dem Reißwolf gezerrt hatte, und während Tifa jeden Tag aufs Neue versuchte, einen sauberen Rüschenrand an diesen grauenhaft anzusehenden Teppich zu nähen, schaffte Cloud es noch nicht einmal, den einen Tag im Jahr, der ihr ganz allein gehörte, so zu würdigen, wie sie es verdiente.

Es war kein Geheimnis, dass Cloud ein hoffnungsloser Fall in Sachen Geschenke war. Und wenn das einer ganz genau wusste, dann Tifa. Vier Geburtstage hatte sie seit dem Beinahe-Ende der Welt gefeiert, und zu keinem davon hatte Cloud es gewagt, einen Fuß auf unbekanntes Terrain zu setzen. In Jahr 1 und 3 hatte er ihr Blumen und ein Duschgel mit Erdbeer-Aroma geschenkt; in Jahr 2 und 4 waren es Blumen und ein Duschgel mit Himbeer-Aroma gewesen. Das Alternieren zwischen den beiden Varianten, so hatte er gehofft, würde Tifa davon ablenken zu erkennen, dass sich das Schema wiederholte. Natürlich war das blanker Unsinn, denn es war völlig ausgeschlossen, dass eine intelligente Frau wie Tifa sich derart plump hereinlegen ließ. Das wusste Cloud bereits in Jahr 2, doch es hielt ihn nicht davon ab, in Jahr 3 und 4 dieselbe Taktik anzuwenden. Der Grund dafür war, dass es in Jahr 1 funktioniert hatte. Und weil Cloud das Schenken ein Gräuel war – besonders für diejenigen Menschen, die ihm etwas bedeuteten –, wagte er es nicht, von einem Manöver, das funktioniert hatte, abzuweichen. Experimente wären in dieser Angelegenheit einfach zu heikel. Es gab nicht mehr viel auf der Welt, das Cloud Angst einflößte, doch das Schenken mit seiner zwischenmenschlichen Bedeutung und Tragweite blieb ein unheimliches Mysterium für ihn, eine Black Box, in die man entweder mehr oder weniger geistigen und praktischen Aufwand investierte und an deren Ende irgendeine unvorhersehbare Reaktion wartete, die zum anfänglichen Aufwand in überhaupt keiner Relation stand.

Er wusste, dass Tifa wusste, dass seine Geschenke armselig waren. Aber. Tifa. Sagte. Nichts.

Jedes Jahr tat sie überrascht und erfreut, wenn sie Blumen und duftendes Duschgel fand. Bis heute wusste Cloud nicht, ob sie Erdbeer- und Himbeer-Duft überhaupt mochte. Ob sie überhaupt Duschgel mit Duft mochte. Ob sie überhaupt duschte. Bei Letzterem war er sich allerdings ziemlich sicher. Tifa hatte sich von Jahr 1 bis 4 durchgehend über die Gaben gefreut; noch nie hatte sie etwas gesagt wie: »Oh, ist schon wieder ein Himbeer-Jahr? Wie die Zeit vergeht!«, nicht einmal etwas Subtileres wie: »Der Duft wird jedes Jahr besser.« Nein, tatsächlich schien Tifa es aufrichtig zu wertschätzen, dass er ihr überhaupt etwas schenkte. Dass er loszog und diese beiden Dinge für sie besorgte, wie einfallslos auch immer sie sein mochten. Sie wusste, dass er es für sie tat, und deswegen freute sie sich.

Aber dieses Jahr war das Jahr, in dem Cloud sich plötzlich noch erbärmlicher damit fühlte als sonst. Unerträglich erbärmlich. Er hatte sich genau zweimal, oder eher anderthalbmal Gedanken darüber gemacht, was ihr gefallen könnte, und sich nach dem initialen Erfolg um keine Haaresbreite von dem Ergebnis wegbewegt. Er klammerte sich an diese zwei Sicherheit bedeutenden, wenig differenzierten Optionen wie an eine gelungene militärische Strategie, die nie versagt. Nur dass alle militärischen Strategien irgendwann versagten, und wenn man das begriff, war es in der Regel zu spät; um das zu wissen, musste man nicht die von Sephiroth simplifizierte Ausgabe von Prinzipien der Offensive gelesen haben.

Für Cloud stand fest, dass sich dieses Jahr etwas ändern würde. Ändern musste.
 

***
 

Edge-Stadt hatte sich besonders in den vergangenen beiden Jahren, nach dem letzten erbärmlichen Aufbäumen von Sephiroths geradezu zeckenartig hartnäckiger Restpräsenz, ziemlich herausgemacht. Die Geometrie der Planstadt mit ihren geraden Straßen und rechtwinkligen Ecken wurde durch die völlig uneinheitlich zusammengewürfelten Bauwerke wohltuend aufgeweicht. Wo das Baumaterial zu fast hundert Prozent aus dem zerbröckelnden Midgar herangeschafft worden war, hatten Anordnung und ästhetische Gleichartigkeit der Häuser bei den obdachlosen Flüchtligen wenig Priorität gehabt. Besonders Edges Zentrum glich einer Anhäufung phantasievoller Bauklötzchenstapel. Doch auf seine Art war das … angenehm; es war etwas, das, im Unterschied zur Straßenplanung, ohne Ordnung entstanden war, unter einer Vielzahl von Einflüssen, guten wie schlechten.

Der Bezirk Arraeva, in dem Cloud und Tifa mitsamt der Kneipe und den Kindern wohnten, besaß etwas, das man eine Flaniermeile nennen könnte. Eine Allee aus noch jungen, halbwegs kräftigen Laubbäumen (Cloud kannte sich mit Bäumen nicht aus, aber diese hatten jedenfalls Blätter) führte durch eine Anreihung größerer und kleinerer Läden mit mehr oder weniger nützlichen Beständen. Zwischen ihnen standen Kübel mit Frühlingsblumen. Echten Blumen, die Wasser tranken und Sauerstoff produzierten. Bis heute erschien dies Cloud wie ein Wunder.

Er hatte begonnen, Blumen zu mögen – jetzt, da sie ihn nicht mehr nur an Aerith erinnerten, sondern mehr Raum in seinem Alltagsleben einnahmen –, und kannte inzwischen sogar viele ihrer Namen. Diesem Umstand verdankte er es, dass er in den vergangenen vier Jahren imstande gewesen war, Tifas Geburtstagsstrauß exakt zu reproduzieren. Rosen waren nicht darunter; Cloud hatte sehr früh beschlossen, kein Typ für Rosen zu sein. Gelbe Lilien verboten sich irgendwie auch, er hatte seine Gedanken dazu gar nicht erst näher erforscht. Bunt war der Strauß, dafür hatte er gesorgt, bunt und ein Verbote auf den viel zu heißen, stickigen Sommer. Auch daran würde er dieses Jahr etwas ändern. Noch wusste er nicht, wie sich bunt wohl steigern ließ, doch er hatte noch etwas Zeit.
 

***
 

Clouds Instinkt führte ihn als erstes in Nelles Laden Gedrucktes. Cloud glaubte, dass selbst er mit einem kreativeren Namen für einen Buchladen als Gedrucktes hätte aufwarten können, aber wenn man Nelle sah, erkannte man sofort, dass sie mit den Romanautoren, deren Werke sie vertrieb, nicht viel gemein hatte.

Tifa las eigentlich gern, sofern ihre wenige Freizeit es hergab. Besonders aufmerksam hatte er die Titel ihrer Bücher, die sie hinter der Theke verschwinden ließ, sobald ein Gast hereinkam, allerdings nicht studiert. Offensichtlich war Tifa keine Eskapistin – die Märchenbücher lagen im Kinderzimmer – und allzu blutrünstig sahen die Titelbilder auch nie aus. Alles, was übrig blieb, war für Cloud so ziemlich dasselbe. Er schlenderte zum Büchertisch mit den Neuerscheinungen, einladend platziert und darauf wartend, in die Hand genommen und aufgeschlagen zu werden. Ja, er wurde sich immer sicherer, dass man mit einem Buch für einen klugen Menschen nichts schmählich falsch machen konnte. Interessiert begann er, die Titel einen nach dem anderen zu begutachten. Vielleicht sollte er auch selbst mal wieder etwas lesen … Es schien ihm plötzlich eine Ewigkeit her zu sein, ein Buch in der Hand gehalten zu haben; das Rascheln der Seiten klang ebenso fremd wie die Druckerschwärze roch. Seltsam …

»Cloud!!«

Das war sein Name. Er hob den Kopf. Was er sah, war die eine Person, die er als letztes in einem Buchladen diesseits des Ozeans erwartet hätte.

Yuffie stürmte um den Tisch mit den Reiseführern (Midgar war dort nicht mehr vertreten) herum, schlug einen Haken um das Kinderbuchregal, das in den Gang hineinragte, und stand dann vor ihm, mit all ihrer Präsenz, die jeden anderen im Raum an die Wand drückte.

Cloud klappte Die schönsten Zimmerpflanzen für dunkle Räume zu und legte es zurück auf den Stapel. »Schön dich zu sehen, Yuffie«, log er.

»Mann! Wann haben wir uns zuletzt gesehen?«

»An meinem Geburtstag.« Er hatte sie nicht eingeladen.

»Passt ja super! Ich bin geschäftlich in der Nähe, weißt du. Und Teef hat ja in fünf Tagen.«

»Vier.«

»Oh, genau. Na dann beeil dich besser, für planloses Suchen ist es ein bisschen spät, findest du nicht?«

Verdrossen fragte sich Cloud, was an seiner Tätigkeit planlos gewirkt haben mochte. War es dieser Fotoband eines midgardischen Künstlers, der einzelne Pommes fotografiert hatte?

»Hör mal, Cloud. Tifa wird fünfundzwanzig. Das ist ein großes Ding im Leben. Du kannst ihr kein Buch namens Die Chronik des Artensterbens schenken.« Ah, das war es also gewesen.

Yuffie beugte sich verschwörerisch zu ihm vor, die mandelförmigen Augen noch unheilvoller funkelnd als die Schwarze Materia. »Willst du einen kostenlosen Ratschlag von mir, was sie von dir braucht?«

Cloud zögerte. Der erste Teil des Satzes klang okay, der zweite nicht.

Yuffie wartete nicht auf seine Antwort, sondern deutete sein Schweigen als Zustimmung (ein Fehler, den fast alle machten), ergriff sein Handgelenk und zog ihn hinter sich her zum Ausgang. »Keine Bange«, trällerte sie, »Yuffie weiß, was ihr zwei braucht!«
 

***
 

Clouds Beziehung zu Yuffie war kompliziert. Im Grunde hatte er nichts gegen sie, nur gegen ihren Charakter. Und ihre Art. Und ihr Wesen.

Nein, das stimmte wirklich nicht. Yuffie hatte auf ihrer gemeinsamen Odyssee zur Rettung der Welt bewiesen, dass sie wider Erwarten Verantwortung übernehmen konnte und vertrauenswürdig war … zumindest in einem gewissen Rahmen. Viel näher hatte er ihre Loyalität jedoch nie erforscht, denn seit dem Ende der erwähnten Odyssee beschränkte sich der Kontakt zwischen ihnen auf sporadische Besuche. Sicher, sie sahen sich, aber nie lange genug, um die Basis ihrer Freundschaft zu prüfen. Womöglich waren sie bis heute eine reine Zweckgemeinschaft und hielten den Kontakt aus einer Art Pflichtgefühl heraus. Yuffie war in den vergangenen Jahren etwas weniger anstrengend geworden – Erwachsenwerden nannte man das wohl –, aber gewisse Ecken und Kanten ihrer Persönlichkeit erwiesen sich als resistent gegen den Schleifstein des Lebens. Eine davon war, dass sie Dinge zu wissen glaubte, die sie nicht wissen konnte. Und deshalb war Yuffies Urteil, worüber auch immer, stets mit Vorsicht zu genießen.

Cloud hatte erwartet, dass sie ihn zu irgendeinem Laden schleifen würde. Einem für Heimeinrichtung oder, noch schlimmer, für Dessous. In seinem Kopf kam bereits ein programmierter Abwehrmechanismus in Gang, der klarstellen würde, dass diese Dinge nicht in Frage kamen. Doch Yuffie schleifte ihn lediglich zu einem Café im Nachbarbezirk.

Im hellblau tapezierten, altmodisch eingerichteten Blumengarten (es hatte tatsächlich eine Blume im Garten) bestellte die Ninja für sich eine Eisschokolade und für Cloud einen Cappuccino mit Schuss; offenbar glaubte sie, dass er für das, was sie vorhatte, Alkohol brauchte.

Sie schwiegen, bis die Getränke kamen, und Yuffie fuhr fort, ihn verschwörerisch anzufunkeln, bis es aussah, als hätte sie etwas im Auge. Als die Schokolade vor ihr stand, saugte sie eine halbe Minute geräuschvoll am Strohhalm und lehnte sich dann zufrieden zurück. Cloud nippte an seiner Tasse und fand, dass der Schuss im Cappuccino einen Großteil der Rezeptur auszumachen schien.

Ein energisches »Also!« ließ ihn aufsehen.

»… Ja?«

»Was eure Beziehung dringend braucht«, eröffnete ihm Yuffie feierlich, »ist Romantik.«

Cloud schloss einen Moment erschöpft die Augen. Das Lemma Romantik war in seinem Wortschatz zwar hinterlegt, die Bedeutung jedoch variabel und flüchtig wie das Aroma einer Tasse Instant-Kaffee. Sie bereitete ihm Unbehagen.

»Da du nicht viele weibliche Freunde hast …«

»Wieso denkst du –«

»… bin ich wohl diejenige, die den Input liefern muss. Tifa und ich quatschen ja viel, weißt du. Deshalb weiß ich, dass eure zaghafte, steife …« Sie hüstelte in die Faust. »… oder oft auch nicht so steife Beziehung dringend Fahrt aufnehmen muss, sonst krepiert sie wie ein überfahrener Igel am Straßenrand.«

»Ich glaube nicht, dass –«

Ihre Hand patschte auf sein Gesicht. »Fall mir nicht ins Wort, das ist so nicht Nibel-like. Tifa steht auf deinen traditionellen Charakter, und wenn sie das sagt, kriegt sie rote Ohren. Also, es wird höchste Zeit für Kuscheln auf dem Sofa und schnulziges Zeugs, klar? Das bringt wieder Leben in die Bude, wo eure Kids doch den Sommer über aus dem Haus sind.«

Cloud zog ihre klebrigen Finger von seinem Mund. Sie hatte Recht: Marlene und Denzel waren vor einer knappen Woche begeistert in ein Sommercamp nach Mideel aufgebrochen, irgendwo in der Pampa, damit sie Dinge kennenlernten, die auf natürliche Weise grün waren. Auch wenn ihren Zieheltern versichert worden war, dass der Reitunterricht nur auf den bravsten aller Chocobos stattfand, war Tifa den ganzen Abend hinter der Bar hin und her getigert und hatte Bestellungen durcheinandergebracht. Cloud hatte gehofft, die Planungen für ihre Geburtstagsfeier würden sie von der plötzlichen Leere im Haus ablenken.

»Schnulziges Zeugs?«, wiederholte er lahm und mochte den Geschmack dieser beiden Wörter gar nicht. Sie schmeckten wie Yuffies Finger.

»Na klar! Und hier ist die Lösung: Es gibt einen sensationellen neuen Film im Kino, Der Himmel über den Slums. Hast bestimmt schon Rezensionen gesehen. Tifa und ich haben kurz drüber geredet, hast du vielleicht mitgekriegt.« Als Cloud ihr jede Bestätigung dieses Verdachts schuldig blieb, fuhr Yuffie unbeirrt fort: »Es ist ein preisgekrönter Midgar-Heimatfilm, Nostalgie ohne Ende. Geht um ein Paar, das sich über alle Grenzen hinweg liebt und allen Widereien trotzt.«

»Du meinst Widernissen.«

»Sie ist aus den Slums, er aus der Oberstadt. Herzschmerz ohne Ende, Cloud. Und später wird es richtig dramatisch, als ein Teil der Platte abstürzt. Ich glaub, am Ende liegt sie auf einer Tür und pfeift in eine Trillerpfeife, damit sie gerettet wird. Großartig. Wie kommt man nur auf so was? Jedenfalls hat der Film elf DIOs* abgeräumt. Elf, Mann! Wenn’s da nicht knistert zwischen euch, dann weiß ich auch nicht!«

Cloud stützte das Kinn auf die Faust. Von Filmbewertungen bekam er üblicherweise nichts mit. Sicher, Tifa sprach gelegentlich darüber, während sie die Tische abwischte, nannte den einen oder anderen Film, der interessant sein könnte; doch Derartiges, wie so vieles andere auch, glitt in Clouds Ohr hinein, durchwanderte sein Gehirn, ohne dort eine Resonanz zu bewirken, und schwebte zum anderen wieder hinaus. Innerlich seufzte er und beschloss, dass er sich mit Tifa einen Liebesfilm ansehen würde. Ja, für Tifa würde er das tun.

»Ich soll sie also ins Kino einladen«, folgerte er. Irgendwie hatte er gedacht, dass ihre Beziehung dieses Stadium lange überwunden hätte.

Yuffie sah ihn vorwurfsvoll an. »Neeeeein. Hast du nicht zugehört? Ich hab Sofa gesagt. Wer bitte kuschelt denn im Kino?«

»Moment«, erinnerte sie Cloud, der sicher war, nicht alles verpasst zu haben, »du hast gesagt, der Film sei gerade im –«

»Ja, na klar! Und? Hält mich das auf? Neeeeeeeein.« Yuffie grinste fast im Kreis. »Hier greife ich dir freundschaftlich unter die Arme, Cloud. Ich besorg dir den Film. Ihr werdet ihn schön zu Hause gucken – in trauter Zweisamkeit!«

Aller Redeschwung lag auf Zweisamkeit, doch Clouds Hirn bremste, ehe es dort ankam. »Moment. Du besorgst ihn mir … wie?«

»Och, ich kenn Leute. Weißt du doch.«

Stimmt, Yuffie kannte Leute. Die Frage war völlig unnötig gewesen. Ohne den Schuss im Capuccino hätte er sie nie gestellt.

»Also abgemacht. Ich schick dir den Treffpunkt und eine Parole und da holst du den Film übermorgen ab. Keine Sorge, kann nix passieren.«

»Es ist eine Raubkopie.« Genauso unnötige Feststellung.

»Sicherheitskopie! Ich kann sie später wieder mitnehmen, wenn du dich damit nicht wohlfühlst.« Yuffie hatte wirklich keine Ahnung, wie sein Leben aussah.

»Also gut«, fügte Cloud sich in sein Schicksal und leerte die Tasse. Sicherheitshalber würde er vor dem Film etwas ähnlich Betäubendes zu sich nehmen. Bestimmte Szenen wollte er lieber verschlafen.

Nein, meldete sich sein Gewissen, du ziehst das durch. Es geht um Tifa. Und um dich. Und irgendwie um euch beide.

»Du bezahlst«, sagte Yuffie und stellte ihr Glas mit einem Rest Schokoladenschaum wieder hin. »Sag mir hinterher, wie’s war.« Sie zwinkerte ihm zu, das verschwörerischste Zwinkern, das man mit einem Eisschokoladen-Milchbart zuwege bringen kann, und trollte sich davon.
 

***
 

Anderthalb Tage später schlenderte Cloud um sieben Uhr früh mit bemüht lässigen Schritten in Richtung eines betonierten Platzes zwischen Bahnhof und Supermarkt. Ein halb verborgener Durchgang führte auf die versiegelte Fläche, eingefasst von fensterlosen Gebäudefassaden. Mindestens eins davon war eine Lagerhalle, in dem anderen warteten Güterzüge auf ihren nächsten Auftrag. Es nieselte, doch das war nicht der einzige Grund, aus dem Cloud seine Kapuze hochgezogen hatte. Dieser Ort hatte einen gewissen Ruf. Genaugenommen einen sehr präzisen Ruf, nämlich den, dass hier sehr erfolgreich Drogen verkauft wurden, Gehirnschmelzer und wie die alle hießen, neben Hehlerware und anderem illegalen Zeug. Bezeichnenderweise war auch Cloud wegen illegalem Zeug hier und hätte andernfalls nie einen Fuß in dieses Viertel gesetzt. Ratten so groß wie Hunde erinnerten ihn einfach zu sehr an Hojos Labor; nach solchen Begegnungen schlief er oft schlecht.

Die Hände in den Taschen vergraben, wanderte er auf und ab und versuchte, zufällig auszusehen. Nein, er hatte hier keine Geschäfte, er war nur hier, weil er eben zufällig hier war. Die anderen zwielichtigen Gestalten, deren Camouflage-Level genauso zu wünschen übrig ließ, sahen auf ihre Uhren, schnäuzten sich in stockfleckige Taschentücher, verdrückten sich und tauchten etwas später mit anderer Perücke wieder auf.

Cloud beschloss, genau fünf Minuten zu warten. Dann würde er unverrichteter Dinge verschwinden und sich etwas anderes überlegen. Was sprach eigentlich dagegen, ins Kino zu gehen? Dort hätte der Film vermutlich eine bessere Qualität, und wenn das Pärchen in der Reihe hinter ihnen zu laut Popcorn kaute, würde es genügen, wenn Cloud sich zu ihnen umdrehte und sie anfunkelte. Im Halbdunkel machten seine Augen am meisten Eindruck, wenn das Licht schräg auf sie fiel.

Nach viereinhalb Minuten näherte sich ihm eine leicht gekrümmte Gestalt in offenen Sandalen und einem gestreiften Poncho. Cloud setzte sich in Bewegung. Yuffie hatte den Wutainesen haarklein beschrieben, als würden sich Dutzende ähnlich aussehende Männer hier herumtreiben, wovon keine Rede sein konnte. Als Cloud die Parole abrief, die Yuffie ihm eingebläut hatte, hoffte er, gleich würde ihn der Nervenkitzel packen, der angeblich damit einhergeht, etwas Verbotenes zu tun.

»Wird ein langer Abend heute«, murmelte er.

Der Wutainese blieb stehen und sah an ihm vorbei. »Was hast du denn vor?«, raunte er zurück, ebenso geheimnisvoll. Nicht dazu passen wollte der typische Singsang seiner Muttersprache, der die Worte auf und ab bewegte wie ein Kraftsportler seine Hanteln: »Was hast du denn vor

»Einen Filmabend«, drückte Cloud zwischen den Zähnen heraus, so leise, dass die Bedeutung kaum noch zu erahnen war.

Der Mittelsmann verstand genau. »Und was wird angeschaut

Cloud beugte sich noch näher zu ihm und hauchte ihm den Titel ins Ohr: »Der Himmel über den Slums

»Aaah.« Der Mann sah ihn an, ein breites Grinsen im Gesicht, und nickte wissend. Seine dürre Hand glitt unter den Poncho und zog eine weiße Filmhülle hervor, die mit wenigen Schriftzeichen versehen war, deren Bedeutung Cloud nicht kannte, von denen er aber vermutete, dass sie den Titel abbildeten. »Gut das, seeeehr gut das«, bestätigte der Wutainese, während er Cloud den Film in die Hand drückte. Dazu wieder dieses gönnerhafte Grinsen. Kam man in Wutai damit auf die Welt?

»Ähm. Danke.«

»Spaaaaß machen!«, versicherte Yuffies Kumpane (dessen Kenntnisse des Midgardischen abgesehen von der Parole offenbar nur sehr rudimentär waren), tätschelte kurz Clouds Arm (Lassdasichwarnedich!) und schlenderte dann in seinen schlapp-schlapp-Sandalen über den Asphalt davon.

Cloud erholte sich von der Begegnung, besann sich wieder auf seine zufällige Erscheinung und schob die Hände in die Taschen. Na bitte, dieser Teil war erledigt. Gut versteckt lag die Filmhülle in der Innentasche seiner Regenjacke. Sobald er diesen armseligen Platz verlassen hatte, würde er einen Blick hinein werfen, ob auch wirklich ein Film darin war.

Seltsam. Er fühlte sich nicht besonders wild oder verwegen. Ihm kam der Gedanke, dass vielleicht auch Verbrecher ihren Beruf manchmal langweilig fanden.

Nun gut, er würde noch nebenan in den Supermarkt gehen und Tifa wie beauftragt eine Packung Toast mitbringen.
 

***
 

Vier Tage später, am dritten Tag des Wonnemonats Mai – dessen Wonne in Edge vor allem darin bestand, dass aus den Fugen der Gehwegplatten ein paar grüne Halme quollen, etwas, das in Midgar undenkbar gewesen wäre –, begann Cloud endlich damit, sich wegen des Bevorstehenden unbehaglich zu fühlen. Er verdiente ein Diplom in Verdrängung (das auszustellen vor allem Tifa berechtigt gewesen wäre) und kümmerte sich nicht um bevorstehendes Unheil, solange dieses Bevorstehen nicht unmittelbar war. Jetzt aber hatte Tifa seit fünf Stunden Geburtstag, lag neben ihm und schlummerte immer weniger tief, und viel unmittelbarer ging es nicht.

Er hatte Yuffies Vorschlag zugestimmt, aber hundertprozentig wohl fühlte er sich nicht damit. Er wusste nicht, wie man einen romantischen Abend plante. Von der Durchführung ganz zu schweigen. Bisher war er davon ausgegangen, dass er und Tifa so etwas schlicht nicht nötig hatten. Doch wenn Yuffie (ihre Referenz mochte begrenzt sein, aber nicht so begrenzt wie seine) darauf bestand, dass Frauen sich so etwas wünschten und dass dieser romantische Abend Tifas Lebensqualität dramatisch steigern würde, dann … nun, dann würde er sich an den Plan halten. Er würde versuchen, diesen Abend lang ganz für sie da zu sein und ihr seine Zuneigung so sehr zu zeigen, wie seine Fähigkeiten es zuließen. Ein Film war doch eigentlich eine gute Möglichkeit dazu, sagte er sich. Ein gut gemachter Film transportierte eine Botschaft, in diesem Fall jene, die er nicht selbst kommunizieren konnte. Er schluckte sein Unbehagen hinunter. Dieser neue, hochgelobte Film konnte nicht so schlecht sein – er würde Tifa mitteilen, was er für sie empfand. Würde sein Unvermögen, seine Gefühle in Worte zu fassen, überbrücken.

Tifa regte sich und brummelte irgendwas.

Cloud schaltete in den Aktivmodus. Bevor sie aufstand, würde er wie üblich das Haus verlassen haben, um seine Aufträge zu erledigen, doch sie sollte die Wohnung ihrem Ehrentag entsprechend hergerichtet vorfinden. Hatte er die Blumen in eine sicher passende Vase gestellt? Check. Hatte er sie hinter der Theke platziert, sodass Tifa sie gleich finden würde? Check. Hatte er die abgeschnittenen Blumenstengel in den Müll geworfen und das verschüttete Wasser aufgewischt? Ch– … Mist.

Er war sehr schnell, sehr leise und sehr effizient an diesem Morgen. Ninja-Style, oder eher Schatten-von-einem-Ninja-Style. Er konnte guten Gewissens aus der Tür treten, seine Sonnenbrille gegen die Frühsommersonne auf die Nase schieben und sich aufs Motorrad schwingen. Bis zum Abend waren es noch etliche Stunden – eine Schonfrist, die er genießen würde. Dann, so sagte er sich zum wiederholten Male, würde er ein Mann sein, die Sache durchziehen und mit Tifa diesen Film schauen. Er hatte alles vorbereitet. Er würde ihr die Taschentücher reichen. Und sie mit Schokonüssen füttern. Und mit ihr kuscheln, wenn sie wollte. Und sie küssen, wenn sie wollte. Und mit ihr schnulziges –

Puh, nicht schon vorher durchdrehen. Bis zum Abend dauerte es noch.

Er gab Gas und rauschte durch die noch leeren Straßen davon. Die ›30 / 22–6 Uhr Nachtruhe‹-Schilder waren an diesem Morgen irgendwie besonders schlecht zu sehen.

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*Dio hatte unlängst seine eigene Filmbewertungs-Jury ins Leben gerufen, seit sein neu installiertes Kino in der Gold Saucer sich in null komma nichts zum angesagtesten des Planeten gemausert hatte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Augenblick, müsste Cloud nicht im Jahr davor selbst 25 geworden sein? Ja, klar. Und hat er das groß gefeiert? Hmm. Hmmmm. Ich reiche das mal an Sherlock weiter. Komplett anzeigen

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