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Aggressive Retsuko/アグレッシブ烈子

Überstunden-téte-á-téte
von

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Überstunden zu zweit

Überstunden zu zweit

Retsuko streckte ihre Arme und Finger und bog ihren Rücken. Das Muskelspannen im Rücken begann sie wieder zu quälen. Früher hatte sie Rückenschmerzen geplagt nach so einem langen harten Tag am Schreibtisch, doch war es besser geworden nachdem sie mit Yoga begonnen hatte. Die Schweißtreibenden Abende mit Frau Gori und Frau Washimi waren inzwischen zu einem festen Ritual geworden. Jeden Montag und Donnerstag liefen die drei Angestellten der Abzocki-Export GmbH direkt nach der Arbeit zum Studio. Morgen war es wieder soweit und Retsuko freute sich schon sehr. Während Fenneko, Anai und die anderen ihre Computer hinunter fuhren und sich zu den Umkleideräume aufmachten, trat Direktor Ton an ihrer Seite und sie ahnte Schlimmes.

Einen Berg an Papierkram krachte auf ihren Tisch und wurde nur mit einem „Das erledigst du noch heute“, kommentiert. „Natürlich“, antwortete sie gewissenhaft, wie immer. Eben die perfekte Angestellte. Innerlich kochte die Wut in ihr hoch. Immer traf es sie.

„Haida, hiergeblieben. Das hier musst du noch erledigen. Die Aushilfskraft schafft das nicht allein“, erklang wieder der Bariton des Direktors und zauberten Retsuko einen überraschten Gesichtsausdruck ins Gesicht.

„Selbstverständlich“, lächelte Haida kurz überfordert und schien noch überraschter zu sein als seine rote Panda-Kollegin.

Fenneko blickte erstaunt zwischen beiden hin und her und lachte das freudlos klingende, boshafte Lachen wie immer.

„Ha ha ha ha.“

„Das ist nicht lustig“, riefen Retsuko und Haida wie aus einem Mund.

„Dann wird wohl nichts mehr mit Trinken, Haida. Komm Anai, dann gibt es mehr für uns“, zog Fenneko Anai hinaus und bildete mit ihm die Nachhut der Buchhaltung.

Da waren sie nun, ganz allein. Die Hyäne und die Panda-Dame sahen sich an und wussten was zu tun war. Erstmal eine wohlverdiente Pause. Im großen Pausenraum zog Haida sich einen Dosenkaffee aus dem Automaten während Retsuko neidisch aus dem Fenster hinunter zu den anderen Kollegen blickte, die eilig in Massen das Gebäude verließen wie auf der Flucht. Als sie Gori und Washimi erblickte, welche offensichtlich auf jemanden warteten, zückte sie ihr Handy und schrieb Gori eine Nachricht.

 

Wurde zu Überstunden verdonnert. Haida ebenso. Ich komme später. Habt einen schönen Feierabend.

 

Seit den frühesten Ereignissen hatte sie ihre Wohnung gekündigt und war bei Gori untergekommen. Durch ihr Start-Up mit ihrer Heiratsvermittlungsapp hatte sie die Möglichkeit erhalten in eine neue große Wohnung zu ziehen, welche genug Platz für beide bot. Typisch wie es für sie war hatte sie das Angebot nicht annehmen wollen, Retsuko hatte darauf bestehen wollen in ihrer Wohnung zu bleiben, schließlich war ihr Angreifer im Gefängnis. Doch gab es keine Diskussionen, selbst ihre Mutter hatte sich eingemischt und darauf bestanden das sie die Wohnung aufgeben sollte. Aufgrund der Kündigungsfrist stand ihre Wohnung noch unangerührt da, die wichtigsten Sachen hatte sie kurzerhand in zwei Koffern zu Gori verfrachtet. Doch wenn sie einmal die Woche dort hin ging um die Post abzuholen und nachzusehen ob alles in Ordnung war fühlte sich die Wohnung beschmutzt, irgendwie unrein und kalt an. Es war nicht mehr ihre Wohnung. Als wäre jemand eingedrungen und hätte sich breit gemacht. Nachdem dieser kranke Stalker im Internet veröffentlicht hatte wo sie wohnt, wo sie arbeitet, war ihr einstiges Zuhause nicht mehr ihr Zuhause.

 

„Retusko, auf was hast du hunger, was soll ich dir vom Animart mitbringen?“

„Wie?“, fragte die Panda-Dame verwirrt, noch ganz in ihren Gedanken.

„Alles in Ordnung? Woran hast du gedacht?“, fragte Haida besorgt.

„An den Stress mit der Wohnungssuche. Drei Monate werden niemals ausreichen etwas zu finden.“

„Das wird schon. Gori hat ja gesagt das du gerne länger bei ihr bleiben kannst.“

„Ja, aber ich fühl mich wie ein Parasit. Als würde ich sie stören.“

„Rede dir das nicht ein, auf mich macht sie den Eindruck das sie es genießt. Und wenn du dort mal verschwinden willst kannst du auch zu mir kommen“, sagte er sanft, trat neben ihr und reichte ihr ihre Lieblingslimo aus dem Automaten. „Also was darf es sein?“

„Gyoza“, lächelte Retsuko und nahm einen Schluck aus der Dose.

„Sehr wohl,bin gleich wieder da“, sagte Haida und machte sich auf Weg etwas essbares zu beschaffen.

Retsuko sah ihm hinterher und fragte sich mit was sie ihn verdient hatte. Die ersten Tage im Büro waren herrlich normal gewesen. Das Büro war wie eine kleine Zeitkapsel, welche den zuvor verhassten Trott, nun wie ein gern gesuchter Rückzugsort für die angeknackste, geschundene Seele Heilung versprach. Die meisten Kollegen hatten von ihrem Doppelleben nichts gewusst, außer Direktor Ton, Komiya, Fenneko und Haida. Retsukos Beurlaubung wurde den Kollegen als hartnäckige Erkältung verkauft und so konnte sie zurückkehren ohne unangenehme Fragen beantworten zu müssen.

In ihrer geliebten Karaokebar hatte sie Haida ihr wahres Gesicht gezeigt und offenbarte ihm gegenüber ihre Angst. Er hat sich jedoch nicht beeindrucken lassen von ihrem bösen Blick, ihrem Schreien und ihrer Ablehnung. Wie ein verwundetes Tier hatte sie ihm erklärt das die Welt sie geschlagen hatte. Doch ganz wie selbstverständlich hatte er ihre Hand ergriffen und ihr mit einem Lächeln gesagt das sie gemeinsam zurückschlagen würden. Nachdem sie noch einmal mit dem Taxi zu ihren Eltern gefahren waren hatten sie sich ihre Sachen geschnappt, waren zu Gori gefahren, ihre Rückkehr gefeiert und Essen bestellt. Das Wochenende hatte sie noch Zeit sich gedanklich auf die Arbeit vorzubereiten und hatte über Haida nachgedacht. Zu ihrer Schande hatte sie gestehen müssen das sie ihn als völlig selbstverständlich angesehen hatte. Er war immer da gewesen. Sei es auch nur für ein nettes Gespräch, eine spendierte Limonadendose, oder die Frage ob er ihr bei der aufgebrummten Arbeiten etwas abnehmen könnte. Anweisungen die ihr gemeinsamer Kollege Anai nicht Folge leisten wollte hatte Haida für sie angewiesen oder hatte Direktor Ton davon abgelenkt zu sehen das sie während der Arbeit eingeschlafen war, weil sie bis spät in die Nacht für die Underground-Band OTM gearbeitet hatte um ihre Schulden bei Herr Hyodo abzustottern. Es waren so viele kleine, alltägliche und unscheinbare Dinge die er für sie getan hatte. Unscheinbar für sie. Niemand hatte sie in diesem Großraumbüro gesehen, außer Haida. Er führte keinen netten Smalltalk um danach hinter ihren Rücken zu lästern. Haida war einfach da und nahm die wahre Retsuko mit ihren Macken, ihren Talenten und ihren spießigen Selbst an. Ohne etwas zu erwarten, ohne Hintergedanken, bestehend nur aus versteckten Hoffnungen. Hoffnungen welche sie ignoriert und er unterdrückt hatte. Gebannt vom Trott der sich immer wiederholenden Runden im Hamsterkäfig hatte sie den Fokus auf Karaoke, ihre einzige Tür hinaus aus dem Käfig gelegt. Getrieben von ihrem konservativen, sexistischen Chefs, ihrer Kontrollsüchtigen Mutter, den lästernden Kollegen und den zeitraubenden Männern. Auf der Suche nach ihrem eigenen Glück und sich selbst, gänzlich verdrängend das es eine verwandte Seele gab der es ähnlich erging wie ihr.

Nachdem Haida sie aus ihrer Welt der Angst und aus ihrem ehemaligen, leeren Kinderzimmer geholt hatte, war er wieder in den alltäglichen Arbeitskollegen-Modus verfallen. Und Retsuko war dankbar dafür. Dankbar das er sich ihr nicht aufdrängte, sie nicht um Dates bat oder sie zu ihren verwirrenden Gefühlen befragte.

Doch eines hatte sich entschieden geändert. Seine Stimme, seine Ausstrahlung und seine Haltung. Erst durch diese Veränderung war ihr aufgefallen, das seit seines verdrehten Liebesgeständnisses in der Karaokebar, das er Jahre lang nicht er selbst gewesen war. So wie sie die perfekte, gewissenhafte Angestellte gespielt hatte. Im Nachhinein konnte Retsuko seine Unsicherheit und seine Angst vor Ablehnung sehen.

Jetzt sprach er mit einer festen und tiefen Stimme, sah ihr direkt und aufrichtig, ohne etwas zu verstecken in die Augen. Seine Haltung gerade, die Brust herausgestreckt, nicht ohne eine gewisse Lockerheit. Haida zeigte nun sich selbst.

Nettes Essen neben Arbeitsakten

Nettes Essen neben Arbeitsakten

 

Retsuko hatte sich bereits an die Akten gemacht, sie in gleich große Haufen sortiert und den zweiten Stapel auf Haidas Platz gelegt. Bereits ganz auf die Arbeit fokusiert hatte sie Haida und das Essen kurzzeitig vergessen. Retsuko hatte schon so oft Überstunden machen müssen das ihr Gehirn bereits konditioniert zu sein schien um diese Uhrzeit schneller zu arbeiten.

„Retsuko, bin wieder da, wir können essen“, erklang plötzlich eine Stimme neben ihr.

„OH mein..... Haida... Gott, du hast mich erschreckt...haha.... ich hatte schon ganz vergessen das du auch da bist. Das ist ganz schön ungewohnt“, lachte sie.

„Mhh, ja stimmt. Ich wurde glaube noch nie zu Überstunden verdonnert, außer bei den Quartalsabrechnungen und dem Jahresabschluss, aber das erwischt uns ja alle.“

Zusammen gingen sie in den Pausenraum und überrascht blickte Retsuko sich um. Von den Lampen der Decke war über die Hälfte ausgeschaltet, so das alles in einem dämmerigen Licht getaucht war.

Aus der Küche der Buchhaltung - welche meist nur genutzt wurde um Tee und Kaffee zu kochen oder das mitgebrachte Pausenessen in den Kühlschrank zu stellen und aufzuwärmen - hatte Haida Teller und Besteck geholt um die Illusion eines richtigen Abendessens zu schaffen, ohne dabei aus einer Pappschachtel essen zu müssen. Näher an den Tisch gekommen staunte Retsuko nicht schlecht das ein kleines gelbes Teelicht auf dem Tisch stand. Sie wusste sehr wohl das es hier in der Küche keines gab, er musste es eben im Animart gekauft haben.

„Lass es dir schmecken, ich hoffe es ist heiß genug“, sagte Haida, bot ihr einen Stuhl an und setzte sich.

„Ich weiß das du nicht so gerne mit Kollegen essen gehst, ich dachte mir ich nutze es gleich aus und verbinde Privates mit der Arbeit, es ist ja sonst keiner mehr hier.“

„Das ist eine tolle Idee“, sagte Retsuko, noch immer ganz erstaunt und war selbst überrascht das es ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Sie griff nach den Stäbchen, doch Haida hielt sie davon ab. „Willst du nicht ein Foto für Instagram machen?“

„Oh... ist das Ok für dich?“

„Egal was du tust, alles ist ok für mich.“

So ein einfacher kleiner, unbedeutender Satz, ganz schnell ausgesprochen, aber für Retsuko Balsam für die Seele. Jahrelang spielte sie in der Arbeit die perfekte, gewissenhafte Angestellte, welche ein Teil von ihr war, aber auch nur ein Teil. Der private Teil, der sich von den Kollegen abwendet, niemals auf den Umtrunk gehen möchte. Dieser Teich war tiefer als er vermuten ließ. Der Teil der allein in der kleinen Wohnung sitzt, den restlichen Abend nur ins Handy schaut, wenig Freunde hatte und in einem immer währenden Trott aus Arbeiten-Nach Hause gehen-Am Smartphone spielen-Schlafen festsaß. Nicht zu vergessen den wütenden, unzufriedenen, lauten und direkten Teil von ihr. Der mit einer furchterregenden Stimme, zu lauter, bass orientierten Musik sein Leid hinaus schreit. Eine Seite die sie immer vor jedem strikt geheim gehalten hatte, niemand wusste davon. Doch an dem Tag an dem sie sich entschieden hatte aus ihrem Trott auszubrechen, wenn auch aus den falschen Beweggründen und in dieses Yogastudio gegangen war, das hatte ihr Leben verändert. Seither war viel passiert, sehr viel. Wie der Butterfly-Effekt es beschrieb hatte diese Entscheidung den weiteren Verlauf ihres Leben verändert. Als Frau Washimi und Frau Gori sie das erste Mal unfreiwillig in ihre Stamm-Karaokebar geschleppt hatten und Frau Gori genau ihr Lied eingewählt hatte wurde es besiegelt. Mit dem ersten Ton ihres Lieblingsliedes war sie sofort wie verzaubert, hatte wie unter einem Bann stehend ihr Mikro aus der Tasche gezogen, ihre Schuhe ausgezogen und ihr wahres Ich hinausgeschrien. Wirklich realisiert hatte sie es erst danach, doch die zwei waren weder verschreckt, noch angewidert gewesen, sie hatten Retsuko sofort angenommen und sie für ihr Talent gelobt. Gori hatte ihr dann erzählt von wem sie den Zettel mit der Nummer erhalten hatte und von diesem Moment an sah Retsuko den Yoga-Lehrer, der immer nur „Protein“ sagte in einem anderen Licht.

„Schmecken deine Gyoza?“

„Ja sehr lecker. Was schulde ich dir?“

„Wie? Ach schon gut, ich lad' dich ein.“

„Danke.“

„So sind Überstunden doch angenehm, auch wenn man arbeiten muss.“

„Ja aber für gewöhnlich bin ich allein.“

„Weil du dir nie helfen lassen wolltest.“

„Wie?“

„Ich hab dich oft gefragt ob ich dir zur Hand gehen soll, aber du hast immer abgelehnt. Irgendwann habe ich es gelassen.“

„Stimmt. Aber ich wollte niemanden mit hineinziehen.“

„Ich weiß, du willst es immer allen recht machen. Aber wenn ich dir in Zukunft etwas anbiete, dann ist es völlig in Ordnung wenn du es annimmst.“

„Ja aber....“

„Kein aber. Ich bin erwachsen und weiß selbst was ich anbiete und was nicht. Wenn ich dir anbiete etwas zu tun, dann kannst du davon ausgehen das ich es gerne mache.“

„Danke Haida. Danke für alles“, flüsterte sie kleinlaut vor sich hin, die Röte schoss ihr in die Wangen.

Haida wusste genau was sie meinte. Bisher hatte sie sich nicht für ihre Rettung vor den verrückten Attentäter bedanken können, da sie sich seither nur in der Arbeit gesehen hatten, keine Gelegenheit ein privates Gespräch zu führen. Wenn er nicht gewesen wäre, läge sie wohl nun auf dem Friedhof nahe ihres Elternhauses. Es schauderte Retsuko bei dem Gedanken. Sie musste sich anstrengen den irren Blick dieses Verrückten zu verdrängen.

„Retsuko?“

„Ich danke dir wirklich sehr, wenn du nicht gewesen wärst....ngh... schnief...“, unkontrolliert liefen die Tränen hinunter.

„Äh.... schon gut. Das war doch selbstverständlich, haha“, lachte Haida verunsichert und legte eine Hand auf ihre Schulter. Retsuko nahm seine Hand von ihrer Schulter und er wollte sie schon wegziehen, weil er glaubte einen Schritt zu weit gegangen zu sein, doch hielt sie seine Hand in ihrem eisernen Griff. Sie blickte mit feuchten Augen seine Handinnenfläche an und betrachtete zum ersten Mal seine Narbe, die sich dort hässlich über die Innenfläche schlängelte. Ihre salzigen Tränen tropften von ihren Wangen und benetzten die Narbe.

„Du bist der beste Freund den man haben kann. Ich weiß gar nicht wie ich das je wieder zurück geben kann.“

„Geh mit mir einen Trinken wenn ich dich darum bitte. Ich werde dich nicht in nächster Zeit fragen, aber wenn ich es tue, sage ja.“

„Einverstanden.“

Keine Konzentration

Kapitel 3 – Keine Konzentration

„Was ist aus deiner Band geworden?“, fragte ich neugierig.

„Oh, ich denke wir sind dem Traum einfach entwachsen. Plötzlich ist man mit Bewerbungsschreiben und Vorstellungsgesprächen beschäftigt und die Realität überholt einen. Oh fuck, schon so spät, wir wollten vor einer viertel Stunde anfangen.“

„Dann sollten wir uns ran halten ehe Direktor Ton uns morgen umbringt weil wir es nicht geschafft haben“, lächelte ich, stand auf und zupfte kurz meine Uniform zurecht.

 

Doch irgendwie war es mir nicht möglich mich so recht zu konzentrieren. Immerzu musste ich eingegebene Zahlen löschen oder noch einmal angefertigte Rechnungen kontrollieren, da ich meinem eigenen Ergebnis nicht traute. Es war mehr als ungewohnt Haida oder überhaupt jemand anderes, bei den mir so vertrauten einsamen Überstunden hier zu haben.

Das arhythmische Klicken seiner Tastatur, sein Kopf und seine großen Ohren die hinter seinem Bildschirm hervorragten, welche ich im Augenwinkel sehen konnte, das brachte mich irgendwie aus dem Konzept. Nur verstand ich nicht wieso. Tagsüber verbrachten wir sehr viele Stunden zusammen und da war das Großraumbüro mit insgesamt fünfzehn Kollegen gefüllt. Da war es mir egal ob Fenneko aufstand um auf Toilette zu gehen, Tsunoda Direktor Ton umschwärmte oder Frau Kabae in den Raum hinein rief: „Möchte jemand Tee? Ich setze einen auf.“

Wenn Haida mit seinem Stapel weit früher fertig werden sollte als ich, würde es peinlich werden.

„Uuuaaah...“, gähnte Haida herzhaft und streckte sich ausgiebig. „Wollen wir noch einmal eine kleine Pause machen? Ich könnte einen Kaffee vertragen, willst du auch einen?“

„Was? Oh, natürlich“, willigte ich ein und bekam innerlich einen Herzinfarkt als ich sah das bereits eine Stunde vergangen war und ich nicht so recht voran gekommen war. Am liebsten hätte ich mir seinen Stapel angesehen um ihn einschätzen zu können wie viel er weg gearbeitet hatte, aber Haida hatte auf mich gewartet.

In der Küche bereitete Haida das Wasser vor und so standen wir herum und warteten darauf das es heiß wurde.

„Was ist aus deiner E-Gitarre geworden?“, fragte Haida plötzlich in die Stille hinein.

„Ich durfte sie zur Erinnerung behalten.“

„Hast du je wieder darauf gespielt?“

„Ehrlich gesagt nicht, sie liegt noch in meiner Wohnung. Ich bedaure es etwas nicht weiter machen zu können, der Anfang war schwer, aber es hat Spaß gemacht.“

„Du kannst ja weiter üben.“

„Mmh“, lächelte ich, „Stimmt. Nur kann ich mir leider keine Stunden leisten.“

„Wenn es nur das ist, könnte ich dir da weiter helfen.“

„Darauf hatte ich gehofft“, lächelte ich schüchtern.

Das plötzliche hohe Pfeifen riss uns aus unserer Unterhaltung und Haida bereitete uns zwei Tassen Kaffee zu. Da stand ich nun, mich Halt suchend an meiner Tasse festhaltend. Irgendetwas war anders, doch konnte ich es nicht bestimmen.

„Morgen steht wieder Yoga mit Frau Gori und Frau Washimi an, nicht wahr?“, fragte Haida in die Stille hinein, pustete in die Tasse und nahm einen kleinen Schluck.

„Ja richtig. Ich freu mich schon drauf. Es klingt albern, aber nach der letzten Zeit, gibt es mir etwas gewohnte Normalität zurück.“

„Es ist nicht albern. Dir ist etwas schreckliches Wiederfahren und es ist nur natürlich das sich damit alles verändert. Warum hattest du damals mit Yoga angefangen?“, lenkte er vom bedrückenden Thema ab, wofür ich sehr dankbar war.

„Ähm....“ Ich konnte ihm unmöglich sagen das ich das getan habe um eine schöne Figur zu bekommen um einen Ehemann zu finden, damit ich nicht mehr arbeiten musste. Aber nach allem was passiert war. Haida war wirklich ein Freund, kein Kollege. Was konnte peinlicher sein als verängstigt im ehemaligen, leeren Kinderzimmer auf eine Matratze vorgefunden zu werden?

„Also ehrlich gesagt. Wollte ich meine Figur formen um …. einen Ehemann zu finden...“

„Was?“, fragte Haida verständlicherweise verwirrt.

„...Um nicht mehr arbeiten zu müssen, weil Direktor Ton sich mir gegenüber immer wie so ein sexistisches Schwein benommen hat.“

„Verstehe. Fenneko hatte mir einmal einen ganz schönen Schrecken eingejagt und geäußert das du dich vom Dach stürzen könntest wegen Direktor Ton.... was... moment.... hattest du mich deswegen gefragt ob, wenn ich verheiratet wäre, meine Frau Zuhause bleiben würde?“, seine Wangen färbten sich sichtlich rot.

„Äh... ja. Tatsächlich“, lachte ich etwas peinlich berührt.

Ich spürte seinen intensiven Blick auf mich. In diesem Augenblick war ich mir sicher zu wissen was für eine Frage ihm auf der Zunge brannte. Hätte ich ihm eine Chance gegeben wenn er mir eine andere Antwort gegeben hätte? Das wusste ich nicht und ich war ihm sehr dankbar das er die Frage nicht äußerte.

„Mmh. Du hättest... ich meine du hast kein Yoga nötig“, sagte er plötzlich in die unangenehme Stille hinein.

Überrascht blickte ich ihn an, ganz perplex das er das Thema wieder auf etwas angenehmeres gezogen hatte. Dann wurde mir bewusst was er gesagt hatte und ehe ich darauf reagieren konnte, zwinkerte er mir zu, lief lässig an mir vorbei und machte sich wieder an die Arbeit.

Heimfahrt

Kapitel 4 - Heimfahrt

 

Nach getaner Arbeit begleitete Haida mich nach Hause. Genauer gesagt zu Frau Gori, denn ich besaß nur noch eine nicht bewohnbare Wohnung, welche kein zuhause mehr war. Inzwischen war ich wieder in der Lage mich auch im Dunkeln allein auf den Weg zu machen, doch Haida hatte darauf bestanden mich vor der Tür abzusetzen. Doch musste ich zugeben das ich mich in seiner Begleitung sicherer fühlte. Hinunter in die U-Bahn, wo um diese Zeit wenig los, aber teilweise zwielichtige Personen unterwegs waren, war mir seine Anwesenheit eine Erleichterung. In gewissen Situationen kam es nicht umhin das mir ein ungutes Gefühl aufstieg und meine Hände begannen zu schwitzen. Aufmerksam beobachtete ich den Jugendlichen am Ende des Bahnsteigs, welcher versuchte sich hinter einer Säule sich mit einem älteren Mann zu treffen. Dessen deutlich auffälliges unauffälliges Verhalten verriet mir das er nicht auffallen wollte. Er wirkte sehr unruhig und trat immer von einem Fuß auf den anderen, nestelte mit seinen Händen und zog hastig an seiner Zigarette für die er eindeutig zu jung war. Der ältere Mann wirkte gruselig und nicht gerade vertrauensvoll. Er war eine große, hagere Gestalt mit mürrischen Gesichtszügen. Seine abgewetzte Kleidung und die Sonnenbrille trugen nicht gerade dazu bei ihn sympathischer wirken zu lassen. Indem ich mich noch etwas vorbeugte glaubte ich beobachten zu können das die beiden etwas hastig austauschten, was sie jeweils schnell in ihre Taschen steckten.

„Der Bengel ist verloren“, durchbrach Haida die Stille.

Erst jetzt ist mir aufgefallen das er sein vorigen Redeschwall unterbrochen hatte. So sehr war ich von dieser Szenerie abgelenkt.

„Glaubst du wirklich? Er ist noch jung. Vielleicht waren es auch keine Drogen.“

„Süß. Glaubst du das wirklich?“

„Ich würde es ihm wünschen.“

„Deine Wünsche in allen Ehren, aber die Realität sieht oft anders aus.“

„Sprichst du aus Erfahrung?“

„Tatsächlich. Zwei Klassenkameraden aus der Mittelschule sind damals immer öfter der Schule fern geblieben, haben sich punkig gekleidet, wirkten mit der Zeit schnell abgekämpft. Sie wurden dünner, blasser und sahen insgesamt kränklich aus. Waren immer auf Streit aus und wurden unausstehlicher. Es war nur eine Frage der Zeit ehe sie die Schule abbrachen. Einer soll von der Schule geschmissen worden sein. Irgendwann sind sie ganz verschwunden, schnell wusste niemand mehr von meiner Klasse was aus ihnen geworden war. Drei Jahre später war ich einem tatsächlich begegnet, nachdem ich mit Kumpels von der Bar nach Hause gegangen war. Wenn er mich nicht angesprochen und versucht wäre mich anzupumpen, hätte ich ihn ignoriert. Von ihm erfuhr ich das sein Freund bereits verstorben war.“

„An was?“

„Der berühmte goldene Schuss.“

„Traurig“, sagte ich ehrlich betroffen und blickte wieder in die Richtung von dem Jugendlichen, doch war er verschwunden. Ebenso seine gruselige Verabredung.

„Morgen also wieder Yoga?“, fragte Haida um das Thema zu wechseln.

„Ja, ich freu mich schon drauf.“

In der Ferne war ein brummendes, schleifendes Geräusch zu hören und ein kühler Wind stieg auf. Die U-Bahn näherte sich und wir stiegen ein. Neun Uhr Abends war deutlich weniger los als in der Haupt-Feierabendzeit, jedoch nicht genug um noch freie Plätze zu bekommen. Wir blieben im Eingangsbereich und ich lehnte mich neben der Tür an die Glaswand. Haida indes stellte sich mir schräg gegenüber und hielt sich an der Stange über der Glaswand fest und bildete so eine Art Schutzschild für mich.

Überrascht stellte ich fest das es mich nicht störte. Früher hätte ich einen angemessenen Abstand zwischen uns gebracht. Nicht weil ich ihn nicht mochte, sondern weil es sonst den Anschein gemacht hätte das wir ein Paar sind. Doch nun war es für mich in Ordnung. Ich fühlte mich wohl. Bei manchen Stationen traten mehrere Leute ein und Haida war gezwungen mir näher zu kommen um den Eintretenden Platz zu machen. Jedes Mal wenn das geschah berührten wir uns und ich konnte seinen Geruch wahrnehmen. War es ein Parfüm oder roch er so? Das konnte ich nicht sagen. Es war sehr angenehm.

An der Haltestelle die uns zu Frau Gori führte stiegen wir aus. Obwohl er hätte weiter fahren können bestand er darauf mich bis vor das Haus zu bringen.

„Es war sehr nett mal nicht allein zu sein bei den Überstunden“, sagte ich ihm als wir vor dem Haus angekommen waren.

„Das stimmt, vielleicht sollten wir das öfter machen. Aber du nimmst mein Angebot ja nie an“, stichelte er.

„Ich hab's kapiert. In Zukunft nehme ich an. Aber das nächste Essen zahle ich.“

„In Ordnung.“

„Danke fürs herbringen.“

„Kein Problem“, zwinkerte er und zog mich plötzlich in seine Arme.

Sein Duft legte sich wie ein Nebel um mich und ich kam nicht umhin ihn tief einzuatmen.

„Schlaf dann gut“, sagte er, ließ von mir ab und machte sich auf den Heimweg. „Bis Morgen“, winkte er beim Laufen, ohne zurück zu sehen.

„Bis Morgen“, erwiderte ich verwirrt und sah ihm perplex hinterher.

 



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