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Meeressturm

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebe Leser,

nach längerer Pause kommt nun endlich das nächste Kapitel! Ich hoffe es gefällt euch und ihr habt wieder Spaß beim Lesen. Dieses Mal hat das Kapitel etwas länger gedauert, weil ich nebenher noch an einer Wichtelaktion mitgemacht habe. Vielleicht habt ihr ja Interesse auch in diese FF zu schnuppern. Der lange Fall ist ebenfalls eine Panem FF mit Coriolanus Snow in der Hauptrolle (Achtung, Spoiler für Panem X!). Es würde mich riesig freuen :)
Ansonsten wünsche ich euch viel Freude mit diesem Kapitel und hoffentlich bis bald!
So long,
Coro Komplett anzeigen

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Kristallblut

Gleißende Lichter und tosender Applaus empfangen uns in Distrikt eins. Nach den tristen Distrikten wie zwölf, elf oder drei erscheinen mir die sauberen Straßen und Menschen in Festtagskleidung unwirklich. Es fühlt sich an als wären wir bereits im Kapitol angelangt. Die Häuser sind ordentlich und selbst der Himmel zeigt sich in strahlend blauem Gewand. Riven schreitet vor uns drein wie eine Königin, den jubelnden Menschen, die unseren Weg säumen, winkend. Ihre Krone fängt das Sonnenlicht ein und lässt sie in ihrem silbrig-weißen Seidenkleid erstrahlen. Fast kann es einen vergessen lassen, dass es immer noch Winter ist. Roan hat uns allesamt in beinahe sommerliche Outfits gekleidet, doch fast unsichtbare Strumpfhosen und Ärmel halten uns warm, während ein frischer Winterwind durch die Menge fegt. Kameras fangen jeden unserer Schritte ein. In Distrikt eins liegen die Menschen den Siegern zu Füßen, nicht nur ihren eigenen. An meine eigene Siegertour kann ich mich kaum erinnern, auch wenn sie gerade einmal drei Jahre her ist. Als wir bei Distrikt eins angelangt sind musste ich mehr Beruhigungsmittel im Körper gehabt haben als eigenes Blut. Ich erinnere mich nur schemenhaft daran, dass Cece mich auf Bühnen zerrte und in meinem Namen die Dankesreden verlas. Deshalb erscheint mir jetzt jede Straßenecke wie neu. Heute habe ich nur eine kleine Dose Morfix genommen, größtenteils um Cece zufrieden zu stellen. Wenn es sich auf Dauer anfühlt als wäre man in eine dichten Nebel gehüllt wird auch dieser Zustand früher oder später unerträglich. Bisher habe ich mich ja auch ganz gut geschlagen und tapfer jede Show über mich ergehen lassen ohne hysterisch zu werden, wie Cece es immer sagt. Abgesehen davon hat Distrikt sechs mich ganz gut daran erinnert was passiert wenn man sein Leben in die Hände von Morfix legt.

Anders als in den übrigen Distrikten sind die Häuser in Distrikt eins sehr hell, mit großen Glasfronten und kleinen ordentlichen Gärten. Natürlich ist das nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit, aber es ist doch ein krasser Unterschied zu den armen Stadtzentren in Orten wie elf oder zwölf.

Der große Festplatz ist ähnlich feierlich geschmückt wie bei uns daheim, mit zahlreichen Blumen und langen Stoffbannern. Unter dem Applaus der Menge schreiten wir direkt auf die Bühne, anstatt wie sonst erst im Rathaus warten zu müssen. Ich frage mich welche Unterschiede zu den anderen Distrikten es wohl noch geben wird. Es ist jedenfalls schwer zu übersehen, dass Distrikt eins der Liebling des Kapitols ist. Wir Mentoren nehmen auf gepolsterten Stühlen hinter Riven Platz. Dankbar lehne ich mich zurück, froh, dass heute der Fokus nicht auf mir liegt. Immerhin ist die Atmosphäre nicht so düster wie in den Distrikten wo Riven Tribute getötet hat. Diese deprimierenden Orte haben wir endgültig hinter uns gelassen. Während Distrikt eins mich nur an Menschen denken lässt, die ich nur vergessen will, hatte Riven hier Verbündete. Ich frage mich ob die Erinnerung an diese Tribute ihr vielleicht schmerzt. Wie sie so dasitzt, ihren Kopf hoch erhoben und lächelnd der Menge zuwinkt kann ich nicht ergründen was in ihr vorgeht. Für einen Moment kreuzen unsere Blicke sich und sie wendet sich schnell ab.

Die Festlichkeiten schreiten mit allerlei Jubel voran. Er kann einen fast vergessen lassen, dass der Tod von 23 Kindern uns an diesen Punkt geführt hat. Unmittelbar vor der Bühne stehen reihenweise Jugendliche in einer Art weißer Uniform. Floogs, der meinen irritierten Blick sieht lehnt sich zu mir herüber.

„Das sind die Kinder aus der Akademie. Ein Platz in der ersten Reihe bedeutet, dass sie zu den besten Schülern dort gehören. Die Schüler werden jedes Jahr handverlesen.“

Ich betrachte die schiere Menge an potentiellen Tributen. Selbst in der Blütezeit unserer Akademie hat Distrikt vier nie so viele Schüler gehabt.

„Eine noch größere Ehre ist es später zum Dinner eingeladen zu sein, dort wird nur eine Handvoll von ihnen sein“, ergänzt Floogs, „und die jüngeren von ihnen dürfen Geschenke an die Siegerin überreichen.“

Tatsächlich werden alle Geschenke an Riven von kleinen Jungen und Mädchen in eben dieser weißen Uniform überreicht. Teils sind sie nicht einmal alt genug um in den Spielen mitzumachen, aber schon trainierter als ein volljähriger Tribut aus einem ärmeren Distrikt. In unserer Akademie dürfen erst Kinder ab zwölf Jahren trainieren. Mir fällt auch auf, dass sie fast alle hellblonde Haare haben, ebenso wie die Jugendlichen im Publikum. Die wenigen Dunkelhaarigen stechen richtig aus der Menge hervor. Ob das wohl Absicht ist, damit sie dem Kapitol besser gefallen? Zumindest sind die meisten Sieger aus Eins, die mir in den Kopf kommen, auch blond.

Die anschließende Führung durch den Distrikt fällt auch aufwändiger aus als in jedem anderen Distrikt. Es ist egal welchen Ort wir betreten, überall ist es sauber, ordentlich und die Menschen sind wohlgenährt in hübschen Kleidern unterwegs. Das Abendessen jedoch übertrifft alles. Mehr als 200 Gäste müssen geladen sein. Anstatt in einem stickigen kleinen Hinterzimmer des Rathauses findet die Feier in einem prächtigen Saal statt. Wir ziehen uns in Räumen im Obergeschoss um, um über eine geschwungene Treppe hinab in den Saal zu schreiten – nur um erneut von tosendem Applaus empfangen zu werden. Bedienstete reichen uns kristallene Gläser zum Anstoßen.

Ganz wie Floogs es gesagt hat stehen gleich in erster Reihe sechs Jugendliche in strahlend weißer Uniform. Ihr blondes Haar schimmert golden im Kerzenlicht, bis auf das eines Jungen. Überhaupt sind alle von der gleichen, ebenmäßigen Schönheit. Es überrascht mich wenig, dass der Bürgermeister uns diese zukünftigen Tribute sogleich vorstellt. Passend zu ihrer glamourösen Erscheinung tragen auch sie Namen die an Gold, Edelsteine und Luxus erinnern.

„Unser Marvel und unsere Glimmer sind momentan die Favoriten für die Spiele im nächsten Jahr“, sagt der Bürgermeister verschwörerisch. „Mal sehen ob Distrikt vier uns da Konkurrenz machen kann.“

Alle lachen höflich, doch ich sehe den Ehrgeiz in den Gesichtern der beiden potentiellen Tribute aufblitzen. Unweigerlich springen meine Gedanken zurück zu Shine, meinem ganz persönlichen Albtraum aus Distrikt eins. Ob auch sie einst hier stand und dem Sieger ehrfürchtig Fragen zu den Spielen stellte, so wie die Tributkandidaten jetzt Riven befragen? Kaum, dass ich den Gedanken zu Ende gebracht habe sehe ich sie schon vor mir, strahlend schön in der weißen Uniform und mit den goldenen Locken. Doch auf ihren Lippen liegt wieder dieses fiese Grinsen, das Grausamkeit verspricht. Ich weiß, dass sie nicht wirklich da ist, doch ihr Blick scheint mich zu durchbohren. Als würde sie mich wieder jagen wollen. Ein Schauer durchfährt mich. Mein Griff am Glas wird locker, das Kristallglas droht mir zu entgleiten. Hastig schließe ich die Augen und als ich sie wieder öffne ist Shine verschwunden.

„Annie?“ Floogs berührt mich leicht am Oberarm.

Verwundert blicke ich mich um. Die Gruppe von Tributkandidaten starrt mich geschlossen an. Scheinbar habe ich einen Teil der Unterhaltung verpasst. Unsicher lächle ich, in dem Versuch die peinliche Stille zu überspielen.

„Ah, entschuldigt bitte, ich war in Gedanken“, sage ich.

Rivens geringschätziges Schnauben ist für jeden zu hören. Allerdings schenke ich ihr nicht viel Aufmerksamkeit, da es mir in diesem Moment erscheint, als hätte ich Shine erneut in der Menge erspäht. Nicht in der Uniform, sondern in einem eleganten Abendkleid. Wie gebannt starre ich in die Menge und tatsächlich, es sieht aus wie Shine in der Ferne, nur älter. Als hätte sie die Spiele überlebt. Das kurze Aufflackern dieses Gedankens reicht aus um mir doch noch das Glas aus den Fingern gleiten zu lassen. Klirrend schlägt es auf dem marmornen Boden auf, wo es in tausend Teile zerbricht. Einen Moment starre ich entsetzt auf die mit Scherben gespickte Pfütze zu unseren Füßen. Überraschte und erschrockene Blicke liegen auf mir und vertreiben Shine aus meinem Kopf. Bestürzt lasse ich mich auf die Knie fallen, beschämt über mich selber.

„Oh, oh nein, das tut mir so leid“, stürzen die Worte aus meinem Mund, „das war ein Versehen, ich bin so ungeschickt!“ Mit fahrigen Händen versuche ich so schnell wie möglich alle Scherben aufzusammeln, ohne darauf zu achten wo hin ich greife. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Bediensteten mit einem Besen heraneilen, doch ich will ihm nicht mehr Arbeit machen. Jemand packt meine Unterarme und hält sie erstaunlich fest.

„Stopp, Annie, stopp!“ Amber kniet vor mir. „Du tust dir weh“, setzt sie leiser hinzu. Wie zum Beweis zieht sie meine rechte Hand hoch, auf der blutige Schnitte klaffen. Zunächst fühle ich nichts, obwohl Blut über mein Handgelenk rinnt. Erst als Amber mich kraftvoll auf die Füße zieht, dringt der Schmerz langsam in mein Bewusstsein. Alle stehen um uns herum, starren uns an. Hunderte Fragen stehen in ihren Gesichtern, doch ich kann es mir selber nicht mehr erklären. Auf dem Marmor hat sich der Sekt mit den blutigen Scherben vermischt. Bei dem Anblick rebelliert mein Magen. Nur mit Mühe gelingt es mir Fassung zu bewahren, zumindest das Bisschen, was mir bleibt. An niemand bestimmten gewandt hauche ich noch einmal „Es tut mir so leid.“

Eine Frau schiebt sich durch die Menge auf mich zu. Sie trägt das silbrig blaue Kleid, das ich eben noch an Shine gesehen habe. Doch von Nahem erkenne ich, dass es nicht Shine sein kann. Sie sieht ihr erstaunlich ähnlich, angefangen bei den hellen Locken, über die schmale Nase, zu der schmalen Figur, nur ist sie bestimmt sechs oder sieben Jahre älter. In ihren braunen Augen liegt Sorge und die schmalen Lippen verziehen sich nicht zu einem gehässigen Grinsen als sie mich anblickt.

„Darf ich mal sehen?“, fragt sie höflich. „Ich bin Glista, Ärztin hier im Distrikt.“

Nur zögerlich reiche ich ihr die verletzte Hand. Kühl umfasst ihre Hand das Handgelenk. Ihr Blick scheint die Wunde rasch zu analysieren.

„Keine Sorge, eure liebe Annie ist bei Glista in guten Händen. Sie ist eine unserer Besten, nicht umsonst ist sie die Leiterin der Klinik“, lacht der Bürgermeister fröhlich. „Sie wird sie ruckzuck verarzten, solange räumen wir das kleine Missgeschick fort und es kann mit der Feier weiter gehen!“

Angestellte kehren bereits die Scherben zusammen. Finnicks besorgter Blick streift mich und er bedeutet mir mit einem Nicken, der Ärztin zu folgen. Auch Amber lässt mich jetzt los. Wankend bleibe ich stehen. Die Ärztin bahnt sich bereits einen Weg zu einer Tür am Rande des Saals. Mir bleibt nichts anderes übrig als ihr zu folgen.

„Annie ist wirklich besonders – besonders verrückt“, höre ich Riven noch sagen, ehe wir aus dem Saal verschwinden. Hinter mir erhebt sich neuerlich lautes Stimmengewirr und verschluckt die Antwort darauf. Ich werde in einen dunklen Flur und von dort in ein kleines Arbeitszimmer geführt. Glista bedeutet mir, mich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen, während sie in einem Schrank herum wühlt. Mit einem Verbandstäschchen unter dem Arm kommt sie schließlich zum Schreibtisch zurück.

„Zum Glück gibt es hier immer etwas Verbandsmaterial, falls sich mal einer am Papier schneidet“, sagt sie lächelnd. „Dann lass mich mal vernünftig schauen.“

Ich lege meine blutige Hand in ihre und sie beugt sich mit fachmännischem Blick darüber.

„Da hast du dich wirklich ordentlich am Glas geschnitten. Achtung, das brennt jetzt leider“, erklärt sie und kaum, dass sie ein Desinfektionsmittel aufgetragen hat, spüre ich stechenden Schmerz. Glista behält meine zuckende Hand fest im Griff. „Ich fürchte ich muss ein paar kleine Splitter aus den Wunden ziehen, bevor ich sie verbinden kann.“ Sie schenkt mir ein kleines Lächeln. Auf ihrem Gesicht, das dem Shines so ähnlich ist, sieht es falsch aus. Vermutlich meint sie es nur gut, aber die unheimliche Ähnlichkeit beunruhigt mich trotzdem. Als sie zu merken scheint, dass ich nichts erwidern werde, wendet sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Konzentriert zieht sie mit einer Pinzette winzige Stücke des Glases aus meiner Hand. Ich beiße mir fest auf die Innenseite der Wange, um keinen Laut von mir zu geben. Für heute bin ich genug aufgefallen.

„Es tut mir Leid, falls ich dich erschreckt habe“, sagt sie urplötzlich. „Das war nicht meine Absicht. Scheint so, als würde ich meiner Schwester doch ähnlich sehen.“ Mit einem kleinen Ruck zieht sie einen weiteren Splitter aus der Wunde und ich vergesse ganz, meine Lippen zusammen zu pressen. Ein kläglicher Schmerzlaut entweicht mir. Ich starre sie an.

„Wie meinst du?“

Sie lächelt noch einmal. „Na, ich vermute mal, dass mein Anblick dich erschreckt hat, weil ich meiner Schwester Shine so ähnlich sehe.“ Jetzt treffen unsere Blicke sich. „Leider wart ihr ja nicht gerade… Freunde.“ Bedauern liegt in ihrem Blick. „Es muss hart für dich sein“, setzt sie nach einer kleinen Pause hinzu.

Sprachlos blicke ich die Ärztin an, wie sie die letzten Splitter entfernt und dann umsichtig meine Hand säubert. In meinem Kopf herrscht Chaos. Wenn sie wirklich die Schwester von Shine ist, warum ist sie dann so freundlich zu mir? Sollte sie mich nicht hassen? Immerhin ist Shine nie aus der Arena heimgekehrt, wegen mir. Mein Gesicht scheint meine Gedanken widerzuspiegeln, denn Glista bedenkt mich mit einem sanftmütigen Lächeln.

„Bevor du fragst, nein, ich mache dir keine Vorwürfe.“ Sie streicht eine hellviolette Creme auf meine Schnitte. „Die Creme wird dafür sorgen, dass die Wunden schnell verheilen. Dann bleiben auch keine Narben zurück.“

„Du hättest allen Grund mich zu hassen“, sage ich tonlos. Manchmal hasse ich mich sogar selber.

Glista wickelt einen Verband um meine Hand.

„Weißt du, nicht alle in Distrikt eins sind gleich.“ Mit einer kleinen Schere schneidet sie das Ende ab. „Wir wollen keine Feinde sein.“ Ein Klebestreifen fixiert den Verband und ihr Lächeln wird melancholisch. „Genauso wie ihr, tun wir nur alles für unser Überleben.“ Sie fängt an das Verbandszeug wegzuräumen. „Ich glaube das ist nur natürlich. Also mach dir lieber nicht zu viele Gedanken.“

Ich erwidere ihr freundliches Lächeln kurz. Dank ihrer klaren, sanften Art kann man ihr wirklich nicht böse sein, selbst wenn sie mich so stark an Shine erinnert. In meiner Hand pocht es dumpf als die Creme ihre Heilwirkung entfaltet. Anscheinend eines der Wunderwerke direkt aus dem Kapitol.

„Vermutlich erinnerst du dich nicht mehr an mich, aber ich war da bei deiner Siegestour.“ Glista verschließt die Verbandstasche. „Ich habe nur ahnen können wie sehr sie dich mit Morfix vollgepumpt haben.“ Ein Seufzen entrinnt ihr. „Spätestens da konnte ich keinen Hass mehr auf dich empfinden. Du hast gelitten, viel mehr als Shine. Shine wusste, worauf sie sich eingelassen hat. Sie hatte ihre Gründe und ich habe sie geliebt. Wir sind nicht alle Monster. Aber am Ende muss jeder für sich kämpfen.“ Kurzzeitig sieht sie gedankenverloren aus. Dann reißt sie sich aus ihren Gedanken und räumt das Verbandszeug weg. Lediglich die Salbe wirft sie mir zu. „Die wird niemand hier vermissen, aber du kannst sie gebrauchen. Wenn du die Stellen heute Abend noch einmal eincremst wird man morgen kaum noch etwas sehen.“

Dankbarkeit erfüllt mich. Ich starre auf meine frisch verbundene Hand. Glista hätte dies nicht tun müssen und ich hätte es auch nie von ihr erwartet. Tatsächlich habe ich Distrikt eins immer wie einen Feind gesehen, obwohl ich nur Shine kannte, die mich hasste. „Vielen Dank, Glista.“

„Gerne.“

Wir halten beide inne, blicken uns an. Die Feier wartet auf uns, doch ich würde lieber nicht gehen. Auch Glista sieht unentschlossen aus. „Trotzdem tut es mir leid, mit Shine. Ich wäre lieber nicht ihre Feindin gewesen.“ Ich weiß nicht warum, doch es ist mir wichtig ihr das zu sagen.

Sie nickt. „Ich weiß. Nun denn, viel Erfolg Annie. Möge das Glück stets mit dir sein.“

 

Der Rest der Feier fliegt an mir vorbei und ehe ich mich versehe sind wir bereits wieder im Zug. Kaum haben wir Distrikt eins verlassen, erreichen wir auch schon das Kapitol. Zumindest erscheint es mir so. Aber zwischen den beiden Orten liegt schließlich auch nicht viel Strecke. Die Festlichkeiten in der Villa von Präsident Snow sind das Highlight der gesamten Tour. Hunderte geladene Gäste werden auf unsere Ankunft warten. Tatsächlich verschlingen die Vorbereitungen für die Feier den gesamten Vormittag. Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären warum das Styling so lange dauert, doch als wir endlich alle fertig beisammen stehen ist die Sonne am Horizont bereits wieder versunken.

Gegen meinen Willen stecke ich nun in dem samt-schwarzen Kleid mit verführerisch hohem Schlitz. In meine sorgsam arrangierten Haaren, die in leichten Wellen meinen Rücken herabfließen, ist der Blumenkranz, den ich im Zug gebastelt habe, eingeflochten. Schlussendlich habe ich mich für weiße Lilien entschieden, zusammengebunden mit einem dunkelroten Band. Aber das wahre Highlight des Kranzes sind die dornigen Stiele der Rosen, ihrer stinkenden Blüten beraubt. Sie winden sich unauffällig durch den Kranz, fallen erst auf den zweiten Blick richtig auf. Snow will, dass ich ihm seine Rosen präsentiere, aber das bekommt er nicht von mir. Vermutlich ist es eine dumme Entscheidung, aber da mich auch niemand von dem Kranz abgehalten hat werde ich ihn tragen. Wenn alles so läuft wie ich es mir vorstelle werde ich Präsident Snow ohnehin nicht begegnen. Finnick mag noch Hoffnung darauf haben, dass er Riven an meiner statt als Mentorin berufen wird, doch ich weiß tief in mir drinnen, seitdem ich Snows Brief gelesen habe, dass ich der Aufgabe nicht entgehen kann. Er will mich in dieser Rolle sehen und deshalb wird es so geschehen. Ich werde nicht auch noch zu ihm gehen um nach Gnade zu betteln. Über die zwölf Tage Siegestour die hinter uns liegen habe ich versucht all meinen Mut zu sammeln um wenigstens heute die stärkste Version meiner Selbst zu zeigen. Sollen ruhig alle sehen wie ich mich hoch erhobenen Hauptes meiner Aufgabe stelle. Es kann mir nur helfen. Zum Glück ist meine Hand beinahe verheilt und nur feine Linien erinnern an die tiefen Schnitte, obwohl sie gestern noch frisch waren. Mit einem Verband an der Hand wäre es ein anderer Eindruck.

Gemeinsam geben wir Sieger schon ein verrücktes Bild ab. Riven trägt etwas, das wohl dem letzten Schrei im Kapitol entspricht. Es ist sehr bauschig, sehr glitzernd und sehr golden. Die arme Amber hingegen steckt in einem rosa Albtraum, der so überhaupt nicht zu ihrem breiten Kreuz passen will. Die Männer mit ihren Anzügen haben es definitiv am Besten getroffen, auch wenn die merkwürdige Lederoptik von Floogs Anzug ebenfalls zum Schreien aussieht.

Viel Zeit um einander zu bewundern – oder auszulachen – bleibt uns nicht, denn Cece scheucht uns in das Hovercraft, das uns bis vor den Palast fliegt.

Das erste was mir auffällt, als wir in den prunkvollen Saal im Herzen der Präsidentenvilla geführt werden, sind die überdimensionalen Kronleuchter, die von der hohen Decke herab hängen. Unzählige Kristallsplitter brechen das Licht der Kerzen und tauchen die bunte Gästeschar in scharfkantiges Licht, gezackt wie Messer. Ich spüre einen leichten Schauer meine Wirbelsäule entlang laufen. Die Lichter sehen aus als wären sie bereit einen aufzuspießen. Nur mit Mühe kann ich meinen Blick lösen. Das nächste was meinen Blick einfängt sind die Berge an Essen die sich auf langen Tafeln vor uns auftürmen. Ein Überfluss an erlesensten Speisen, die man so nur im Kapitol serviert bekommt. Doch das Essen hat längst seinen Charme verloren nachdem wir zwölf Tage lang jeden Abend ein Festessen hatten. Am Anfang kam es mir noch wie der Himmel auf Erden vor, doch mittlerweile schmeckt alles gleich. Zu fettig, zu künstlich. Inzwischen sehne ich mich einfach nur nach einem Bissen frischen Fisches, doch alles was ich hier sehen kann sind Garnelen, die längst nicht mehr fangfrisch sind. Stattdessen sind sie ölig eingelegt um den Geschmack zu verschleiern. Das halten sie im Kapitol nur für eine Delikatesse, weil sie noch nie einen frischen Fisch hatten, immer nur Eingefrorenes, denke ich.

Den anderen Mentoren scheint es ähnlich zu gehen. Auch sie machen um die Garnelen einen großen Bogen. Nur Cece schlägt mit Wonne zu, sich offensichtlich nicht bewusst, dass wir anderen die Garnelen verschmähen. Ich begnüge mich mit ein wenig Reis und Hühnchen, da ich sowieso keinen großen Appetit habe. Wir werden ohnehin immer wieder unterbrochen von begeisterten Leuten aus dem Kapitol die unbedingt Riven vorgestellt werden wollen, oder einen Plausch mit den Mentoren halten wollen. Mir kommt jetzt meine Rolle als „die Verrückte“, wie sie mich nennen, zu pass, denn die meisten von ihnen ignorieren mich glatt, auch wenn mich hin und wieder neugierige Blicke streifen. Sie wollen lieber Finnick hofieren, der seine Rolle heute Abend mal wieder voll ausfüllt. Ich kann ihn dabei beobachten wie er mit Leuten jeglichen Alters flirtet. In meinem Magen regt sich ein eigenartiges Gefühl und ich wende mich lieber ab. Es ist die eine Sache daheim in Distrikt vier zu sein und nur zu ahnen was jedes Mal im Kapitol passiert, doch eine andere jetzt hier zu stehen und es einfach ertragen zu müssen. Am liebsten würde ich es den ganzen bunten Kapitolvögeln gleich tun und aufs Klo stürmen um mich zu übergeben. Nicht, weil ich etwa von dem klaren Abführmittel getrunken habe so wie sie, sondern um meinen Magen endlich zum Schweigen zu bringen.

Ich drücke einem vorbei eilenden Avox meinen halbvollen Teller in die Hand, da ich keinen Bissen mehr runter bringe. Stattdessen lasse ich lieber den Blick über die Menge schweifen. Man könnte sich glatt ein Spielchen daraus machen die wildesten Kostüme in der Menge zu suchen. Ich habe wirklich vergessen wie verrückt es hier ist. Ob ich wohl auch Lust auf ein paar Tierohren hätte, wäre ich im Kapitol geboren? Gerade sinniere ich noch darüber nach welches Tier zu mir passen würde, als eine rundliche Frau an mich herantritt. Sie trägt ein überraschend schlichtes weinrotes Kleid, nur verziert mit einer goldenen Stickerei am Ausschnitt. Kleine Fische und Dreizacke. Nett. Ihr rabenschwarzes Haar ist zu einem schlichten Knoten geschlungen und außer einigen goldenen Strähnen und sehr stark aufgetragenem Eyeliner kann ich nichts ungewöhnliches an ihr entdecken.

„Sie sind Annie Cresta, nicht wahr?“, fragt sie mich mit fröhlicher Stimme.

Überrascht starre ich sie an. Man hat mich also nicht vergessen. Ich nicke höflich.

„Freut mich!“, sie streckt mir eine mit Ringen geschmückte Hand entgegen, „ich bin Titania Creed.“

Ich schüttle ihre Hand und bin erstaunt wie kräftig ihr Händedruck ist. Als ich nichts weiter sage fügt sie hinzu:

„Erste Sekretärin der Innenministerin.“

Unsicher was ich mit dieser Information anfangen soll nicke ich noch einmal und schenke ihr mein bestes Höflichkeitslächeln. Cece wäre stolz auf mich. Mein Schweigen scheint die kleine Frau ohnehin nicht zu beirren, denn sie spricht einfach weiter.

„Aber für Sie bin ich einfach Tita!“ Sie lächelt mich verschwörerisch an, als wären wir beste Freundinnen.

„Dann können Sie mich Annie nennen“, sage ich der Höflichkeit halber. Das scheint Titania zu entzücken, denn sie schenkt mir ein noch breiteres Lächeln.

„Ganz schön viel Trubel heute Abend, nicht wahr?“ Sie wirft einen Blick in Richtung Riven, die zusammen mit Amber und Finnick von einer großen Traube Bewunderer umgeben ist. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit eure entzückende Siegerin kennen zu lernen.“ Sie seufzt gespielt dramatisch, doch ihr Blick haftet sich jetzt an Finnick, der gerade irgendeiner Dame im zitronengelben Ballonkleid etwas zuflüstert. Täusche ich mich, oder gleitet ein düsterer Schatten über das Gesicht von Titania Creed?

„Aber von dir hört man ja auch Interessantes in letzter Zeit“, wendet sie sich wieder an mich.

„Äh, so?“, rutscht es mir steif heraus. Da scheint sie wohl die erste zu sein, die mich interessant findet.

„Stimmen die Gerüchte und du trittst in die Fußstapfen von der alten Mags?“

Mir gefällt nicht wie sie das „alt“ betont. Als wäre Mags eine alte Spielsache die langweilig geworden ist und jetzt entsorgt werden soll. Aber für das Kapitol sind wir ja letztlich auch nichts anderes als Entertainment. Unbestimmt zucke ich mit den Schultern.

„Mags ist leider krank, also wer weiß…“, sage ich vage. Ich sehe keinen Anlass darin ihr mehr Informationen als nötig zu geben.

„Ja, ich habe es gehört, schrecklich, nicht wahr? Die Arme ist ja so etwas wie eine Legende, die erste weibliche Siegerin, da geht einem das schon zu Herzen.“

„Hmm“, murmle ich, nicht wirklich wissend was ich sagen soll. Als Mags ihren Schlaganfall hatte, hat das Kapitol sie jedenfalls ignoriert und keine helfenden Medikamente geschickt, obwohl sie das hätten tun können. Ich denke an die Wundersalbe die Glista mir gegeben hat. Es sieht nicht so aus als wären wir die Lieblingskinder des Kapitols. Aber das werde ich Titania sicherlich nicht erzählen.

Deren Blick ist aber ohnehin schon wieder sehnsüchtig zu Finnick geschweift, der sich inzwischen nicht mehr mit der Zitronendame unterhält sondern mit einigen älteren Männern in steifen Anzügen, die alle gleich aussehen. Obwohl ich die Spielmacher nur einmal, während der Vorbereitung auf meine Spiele, getroffen habe, erkenne ich sie sogleich wieder. Anscheinend hat sich bei ihnen nicht viel geändert, angefangen bei den uniformen Anzügen. Meine Hände werden zittrig und ohne groß darüber nachzudenken schnappe ich mir ein Glas bernsteinfarbener Flüssigkeit, das ein Avox auf einem Silbertablett durch die Menge trägt. Hauptsache meine Hände sind beschäftigt. Hoffentlich nur lasse ich das Glas nicht wieder fallen. Zum Glück ist Titanias Aufmerksamkeit noch auf Finnick fixiert und so bemerkt sie meine Unsicherheit nicht. Das Getränk muss irgendetwas alkoholisches sein, denn es brennt scharf in meiner Kehle als ich einen winzigen Schluck nehme. Ich frage mich wie Haymitch Abernathy diesen Geschmack bloß aushält. Titania schafft es jetzt endlich ihren Blick von Finnick zu lösen und sie winkt den Avox zu sich, um sich ebenfalls ein Glas zu nehmen.

„Nun denn, auf die nächsten Hungerspiele mit dir als Mentorin“, prostet sie mir zu.

„Danke“, entgegne ich als unsere Gläser mit einem leisen Klirren gegeneinander stoßen. Auch der zweite Schluck brennt in der Kehle. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Husten.

„Weißt du, ich habe eine kleine Vorliebe für Distrikt vier“, sagt Titania mit einem Zwinkern und deutet überflüssigerweise auf ihre thematische Stickerei am Kleid, „also bin ich schon sehr gespannt auf die 74. Hungerspiele. Zwei aufeinanderfolgende Sieger, das wäre doch ein Traum! Ich glaube das hat es seit Ophelia und wie hieß er noch… Brandon? Nicht mehr gegeben.“ Sie seufzt schwärmerisch. „Die beiden waren ein tolles Paar und so eine rührende Geschichte. Kaum zu glauben, dass sie beide schon tot sind.“

Mein Höflichkeitslächeln verrutscht leicht. Distrikt vier hat in der 73-jährigen Geschichte der Hungerspiele bisher genau neun Sieger und zwei davon sind bereits tot. Weder Ophelia noch Brandon habe ich je kennengelernt. Aber ihre Geschichte ist berühmt. Gewinner der 23. und 24. Hungerspiele im Alter von 16 Jahren. Nur ihre jüngste Tochter hatte Glück, als sie im Alter von zwölf Jahren für die 52. Hungerspiele ausgelost wurde, meldete sich jemand freiwillig für sie. Was kein Schicksal war, denn Ophelia und Brandon waren diejenigen, welche die Trainingsakademie begründet und damit unseren zeitweisen Ruf als Karrieredistrikt zementiert haben. Ich beschreibe ihre Geschichte lieber als traurig, anstatt als rührend.

„Ach, da fällt mir ein, natürlich, Cashmere und Gloss, die beiden haben auch aufeinanderfolgende Spiele gewonnen. Wie konnte ich die nur vergessen!“ Titania lacht laut und ich zucke zusammen. „Muss wohl sein, weil ich keinen Distrikt so ins Herz geschlossen habe wie vier.“

Sollte ich mich jetzt geehrt fühlen?

„Nun jedenfalls“, sie legt eine Hand auf meinen Arm, „wenn mir gefällt was ich sehe kann ich bestimmt die ein oder andere Unterstützung organisieren. Vielleicht ja auch etwas, was nicht auf dem Menü steht.“

Ich muss mich zusammenreißen um ihr nicht meinen Arm zu entziehen, denn das wäre mit Sicherheit unhöflich.

„Da werden wir bestimmt drauf zurück kommen“, entgegne ich flach. Die Gewichtigkeit von Sponsoren muss sie mir nicht erst in Erinnerung rufen. Jemand anderes an meiner Stelle hätte Titania bestimmt geschickter umgarnen können, aber ich bin froh sie überhaupt noch nicht verschreckt zu haben. „Ich fühle mich geehrt“, schiebe ich schnell hintendrein. Offenbar scheint das gereicht zu haben, denn sie zeigt mir ein neuerliches Grinsen.

„Alles für den schönsten Distrikt Panems.“

Ich könnte schwören, dass ihr Blick schon wieder zu Finnick hinüber gleitet. Ein saurer Geschmack macht sich in meinem Mund breit. Da ich nur dieses eine Getränk habe nehme ich noch einen Schluck um den Geschmack zu vertreiben. Warm kribbelnd breitet sich der Alkohol in meinem Magen aus. Titania gelingt es unterdessen Finnicks Aufmerksamkeit zu erregen. Zu meinem Übel kommt jetzt auf einmal der bunte Haufen rund um ihn herüber, auch die Spielmacher. Einzig Amber ist es gelungen sich aus dem Staub zu machen.

Mehr als einen kurzen Blick kann ich nicht mit Finnick tauschen, doch ich kann an dem Schatten in seinen Augen erkennen, dass dieses Fest ihn genauso anstrengt wie mich. Ich versuche mein Bestes, ihm ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. Wenn wir diesen Tag durchgestanden haben können wir endlich wieder nach Hause und alles wird normal werden. Obwohl wir jeden Tag auf engem Raum beieinander waren habe ich mich noch nie ferner von ihm gefühlt als jetzt. Schon schiebt sich Titania zwischen uns und eine beringte Hand landet auf Finnicks Schulter.

Neben mir steht jetzt ein beleibter Spielmacher, der sich eifrig Häppchen in den Mund schiebt, auch wenn alle anderen schon bei den Drinks angelangt sind. Als er meinen Blick bemerkt, schenkt er mir ein Lächeln von fetttriefenden Lippen. Es kostet mich einige Überwindung zurück zu lächeln.

„Miss Cresta, ich muss sagen, ich hätte Sie fast nicht wiedererkannt heute Abend“, bringt er zwischen zwei Bissen heraus. „Das letzte Mal als ich Sie gesehen habe war glaube ich auf Ihrer Siegertour, als Sie etwas neben der Spur wirkten.“ Er lacht wenig charmant. „Es scheint als wären Sie erwachsen geworden.“

In meinem Kopf höre ich Ceces Stimme, die mir Höflichkeit um jeden Preis einhämmert. Mit dem schmalsten Lächeln erwidere ich: „Dinge ändern sich.“ Gleichzeitig versuche ich mich möglichst so hinzustellen, dass der Schlitz geringstmöglich auffällt. Lüsterne Blicke haben mir gerade noch gefehlt. Dem Spielmacher scheint es nicht aufzufallen.

„Dann können wir ja gespannt sein, was wir bei den 74. Hungerspielen von Ihnen sehen dürfen“, sagt er mit einem Zwinkern.

Zu meiner Rettung schiebt sich aus dem Nichts Trexler zwischen uns, trotz seines Alters immer noch eine imposante Erscheinung. Sein Anzug spannt sich straff über das breite Kreuz und der Spielmacher mitsamt Häppchen sucht nicht lange danach das Weite. Ich schicke Trex einen stummen Dank mit den Augen. Eine Sekunde später bin ich noch dankbarer für seine Anwesenheit, denn ich erspähe einen blütenweißen Anzug in der Menge, ganz in unserer Nähe. Der schiere Anblick von Präsident Snow schafft es mein Blut zum Gefrieren zu bringen. Wenn er nicht wäre, dann hätte ich noch eine Familie. Alles an ihm stößt mich ab, bringt die Kälte zurück in meine Glieder. Gerade will ich hinter Trex verschwinden, als Titania Creed die Aufmerksamkeit des Präsidenten auf unser Grüppchen lenkt. Ausgelassen winkt sie Snow zu und schon richten seine Schlangenaugen sich auf uns. Zu spät um abzuhauen. Also gebe ich mein Bestes um in Trexlers Schatten möglichst klein und unscheinbar auszusehen. Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie gefährlich er ist.

Ein schmales Lächeln liegt auf Präsident Snows Lippen als er zu unserem Grüppchen stößt. „Miss Sanders, es ist mir eine Freude unsere strahlende Siegerin wiederzusehen! Ich hoffe Sie haben Spaß an Ihrem Ehrentag?“

Riven erglüht förmlich, als er sie anspricht. „So ein großes Fest ist eine wirkliche Ehre. Ich genieße jede Sekunde“, antwortet sie. Eine Bilderbuchantwort.

Auch Snow scheint es so zu sehen, denn er nickt bedächtig. Mit angehaltenem Atem schiebe ich mich weiter in Trexlers Schatten. Dieser scheint es zu bemerken und tätschelt mit seiner rauen Hand kurz die Meine. Snow jedoch wendet seine Aufmerksamkeit ohnehin Titania Creed zu, die sich jetzt darüber ergeht was für ein wundervoller Tribut Riven war und was für großartige Arbeit die Mentoren geleistet haben. Dabei himmelt sie immer noch Finnick an, als wäre er ein Gott für sie. In seinen Augen kann ich sehen wie es ihn drängt Snow auf die Sache mit den Mentoren anzusprechen. Für ihn scheint die Gelegenheit sicherlich ideal, da sogar Zeugen aus dem Kapitol anwesend sind. Vor ihnen hat Snow eine andere Rolle zu spielen. Mit einem Kopfschütteln versuche ich ihm zu bedeuten, dass es nicht mehr wichtig ist, ich meine Rolle akzeptiere. Ob er es versteht kann ich nicht sagen. Schon bei unserem Disput im Zug hat er nicht verstanden. Ich wünschte ich könnte ihm irgendwie vermitteln, dass er es nicht versuchen soll. Die Idee scheint sich jedoch bei ihm gefestigt zu haben. Dabei könnte ein falscher Satz ihn Gefahr bringen.

Der Präsident sieht aus als würde er etwas ahnen, denn er verfolgt langsam Finnicks Blick zu mir. Beinahe erwarte ich, dass etwas schreckliches passieren wird, aber er neigt nur den Kopf in meine Richtung.

„Miss Cresta, ich bin erfreut, dass auch Sie meiner Einladung gefolgt sind. Wie ich gehört habe sind Sie an der Hand verletzt? Ich hoffe die Schnitte heilen gut.“

Überrascht zucke ich zusammen. Es scheint zu stimmen, dass Snow seine Augen und Ohren überall hat. Wieder einmal zwinge ich mich zu einem Lächeln.

„Vielen Dank, Sir. In der Tat merke ich es kaum noch.“

Er lächelt, ganz so, als würde die Antwort ihn erfreuen.

„Nun denn, dann hoffe ich, dass das auch bedeutet, dass Sie Ihrer Aufgabe gewachsen sind.“

Als wäre es das Stichwort für Finnick räuspert er sich. Doch Snow kommt ihm zuvor. Ob absichtlich oder nicht, kann ich nicht sagen. Ich bezweifle, dass er etwas dem Zufall überlässt.

„Meine lieben Sieger, es wäre mir eine Ehre wenn sie mich für einen Moment begleiten. Ich hatte schon lange nicht mehr das Vergnügen Distrikt vier zu Gast zu haben. Es gibt sicherlich einiges zu erzählen. Sie müssen mir unbedingt von Miss Flanagan erzählen, denn ich sorge mich sehr um ihre Genesung.“ Einladend breitet er einen Arm aus in Richtung der großen Glastüren, die zu den Balkonen führen. Er scheint meinen Blick zu bemerken und fügt hinzu: „Um die Fische müssen sie sich im Übrigen keine Sorge machen, Miss Cresta. Wir haben Vorkehrungen zu ihrem Schutz getroffen.“

Unangenehm berührt laufe ich rot an. Ich bin nicht besonders stolz darauf bei meiner Siegesfeier in einem Teich des Präsidenten gelandet zu sein und einen der teuersten Fische zerquetscht zu haben. Was er nicht weiß, ist, dass es seine Anwesenheit war, die jene Panikattacke ausgelöst hat. Um mich herum brechen alle in Lachen aus. Anscheinend scheint ausgerechnet dieser Fehltritt dem Kapitol in Erinnerung geblieben zu sein.

Draußen auf dem Balkon empfängt uns ein frischer Winterwind. Einzelne Schneeflocken trudeln vom dunklen Himmel herab. Damit der Balkon nicht verschneit wird stehen in den Ecken große Heizstrahler. Snows Gärten sind hell erleuchtet mit dutzenden Lampions. Allerdings nehme ich ebenfalls ein schwaches Flackern wahr, direkt hinter der Balkonbrüstung, vielleicht zwei Armlängen entfernt. Ich wette, dass es ein Kraftfeld ist. Scheint als hätte es Snow nicht gefallen, dass ich mich in seine Gärten verirrt habe. Vereinzelt stehen kleine Grüppchen hier draußen, doch wir sind größtenteils alleine. Niemand, der uns belauschen könnte.

Trex steht wie ein Schatten hinter mir, stumm und abwartend. Insgeheim bin ich dankbar für seine Anwesenheit. Sollte ich wieder eine Panikattacke haben kann er mich festhalten. Riven dagegen plaudert mit Snow über ihre Spiele, wie andere über einen Spaziergang am Strand sprechen. Hintendrein folgt Finnick, endlich von Titania Creed befreit. Jetzt, wo Snow seine Pläne durchkreuzt hat blickt er noch unglücklicher drein. Sein Anblick weckt in mir den Wunsch ihn fest an mich zu ziehen. Später, wenn wir wieder in Distrikt vier sind, verspreche ich mir. Dann werde ich ihn festhalten und lange Zeit nicht loslassen. Präsident Snow beendet jetzt seine Unterhaltung mit Riven um sich wieder Finnick zuzuwenden.

„Ich glaube sie wollten mir etwas sagen?“, fragt er in überzeugendem Unschuldston.

Finnick nimmt all seinen Mut zusammen. Nach außen hin ist er schon wieder in die Rolle des selbstsicheren Siegers geschlüpft und lächelt verschlagen, aber ich kann die Risse in der Fassade sehen. Ob Snow es auch kann?

„Sir, wenn ich so frei sein darf, aber ich hätte eine Anregung vorzubringen.“

Jedes von Finnicks Worten ist sorgfältig gewählt. Er sagt nicht Bitte, versucht nicht zu flehend zu klingen. Und doch spüre ich, dass es nicht laufen wird, wie er es sich erhofft. Snow betrachtet ihn aufmerksam.

„Ich ahne bereits, was sie mir vorschlagen könnten, mein Junge. Aber gut, ich will ihre Argumente hören.“

Finnick holt tief Luft.

„Ich sage es nur ungerne, aber ich befürchte, dass es ein Fehler ist Annie Cresta als Mentorin zu berufen.“

Schweigen senkt sich über die Gruppe. Riven steht die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Sie ist die Einzige, die nicht damit gerechnet hat.

„Das Kraftfeld über Ihren Gärten dürfte sie ja nur zu gut daran erinnern, was letztes Mal passiert ist, als sie im Kapitol war.“ Finnick deutet hinter sich auf die Grünfläche. „Gestern war es ein zerbrochenes Glas. Aber was könnte es morgen sein?“ Hier macht er eine Pause um Snow eindringlich anzuschauen.

Ich wende meinen Blick ab. Trexlers raue Hand legt sich stützend auf meine Schulter. Auch wenn ich weiß, dass Finnick es nicht so meint, tun die Worte doch weh.

„Mit Verlaub, aber sie hat ihre Spiele durch Glück gewonnen, nicht durch Können. Distrikt vier ist stolz auf seine Sieger. Um diese Tradition fortführen zu können brauchen wir Mentoren, die wenigstens zurechnungsfähig sind. Jemanden wie Riven.“

Seine Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Aufgeregt schnappt Riven nach Luft. Endlich scheint ihre Chance gekommen. Ich halte meinen Blick weiterhin gegen Boden gerichtet. Am liebsten wäre ich abwesend von dieser Unterhaltung.

„Ihre Sorge rührt mich, Mr. Odair. Aber ich wüsste nicht warum das gegen Miss Cresta als Mentorin sprechen sollte. Sie hat ihre Spiele dennoch mit Bravour gewonnen. Niemand gewinnt nur durch Glück, das sollten sie eigentlich wissen. Vielleicht mag es sein, dass einige ihr den Spitznamen ‚die Verrückte‘ gegeben haben. Aber das heißt ja nicht, dass sie es wirklich ist.“ Sein Blick scheint auf mir zu ruhen. „Nein, ich glaube nicht, dass Sie verrückt sind, Miss Cresta.“ Ich wappne mich um Snow erneut anzublicken. Seine Schlangenaugen bohren sich in mich, dann wandern sie über die Blumenkrone auf meinem Haupt. „Ich würde sagen, Sie sind einfach nur anders.“ Ein Funkeln scheint durch die kalten Augen zu gleiten. „Aber das, Mr. Odair, belebt die Spiele nur. Es wäre wünschenswert, dass sie diese Aufgabe übernimmt. Schließlich wollen wir Miss Sanders doch nicht gleich im ersten Jahr überfordern. Ihre Zeit wird noch kommen. Zunächst will der Sieg genossen werden.“ Er schenkt Riven einen freundlichen Blick. Diese sieht nicht gerade glücklich aus, doch natürlich wagt sie es nicht gegen ihn zu sprechen. So einfach ist es also, schon ist Finnicks Vorhaben in sich zusammen gefallen. Er sieht aus als würde er noch etwas sagen wollen, nicht so einfach aufgeben. Kurzentschlossen straffe ich meine Schulter und komme ihm zuvor.

„Natürlich werde ich die Aufgabe übernehmen, Sir. Schließlich ist es meine Verpflichtung.“

So kann ich es den anderen wenigstens ersparen diesen Kampf für mich zu führen. Sie davor bewahren sich möglicherweise noch in Gefahr zu bringen. Snow blickt erfreut drein und tritt einen Schritt näher an mich heran.

„Nun, wie erfreulich! Ich bin mir sicher, dass Sie eine gute Mentorin sein werden, nicht wahr, Miss Cresta?“ Der Geruch von Blut scheint plötzlich von Präsident Snow aufzusteigen. Einen Wimpernschlag später scheint der Eindruck verflogen und ich nehme nichts anderes als den durchdringenden Geruch von Rosen wahr. Dennoch reicht es aus um ein Kribbeln durch meinen Körper zu senden. Worauf lasse ich mich nur ein wenn ich mich dem Kapitol als Mentorin verpflichte? Ich weiß nur zu gut wozu Snow in der Lage ist. Als Mentorin werde ich ihm nicht ausweichen können. Statt ihm zu antworten nehme ich noch einen Schluck aus meinem Glas. Der Alkohol brennt sich durch meine Eingeweide. Es ist ohnehin zu spät jetzt. Ich denke zurück an die zukünftigen Tribute in Distrikt eins. Snow hat uns zu Feinden gemacht. Alles was ich tun kann, ist unseren Kindern eine Chance zu schenken.

„Ich werde mein Bestes für die Tribute geben“, sage ich und meine es auch so. Nicht für Snow, die Zuschauer oder mein Gewissen. Aber für die Kinder wie ich es einst war, die keine andere Wahl haben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: irish_shamrock
2021-02-21T15:57:07+00:00 21.02.2021 16:57
Hallo Coronet,

nach langer Zeit komme ich endlich dazu, ein weiteres Kapitel zu lesen.
Mir gefällt die Art, wie Annies Gedanken in Worte fasst, wirklich gut. Ihre Furcht, was die Begegnung mit Glista und Snow betrifft, hast du toll eingefangen.
Nun kommt Annie nicht mehr um die Verantwortung einer Mentorin herum. Ich hoffe sehr, dass Finnick ihr zur Seite steht.

LG,
irish C:
Antwort von:  Coronet
21.02.2021 22:31
Hey irish :D

Ich freue mich gerade riesig wieder etwas von dir zu hören!
Und es freut mich, dass du Annies Gedankengänge nachvollziehbar findest :) Gerade in diesem Kapitel war es mir wichtig, dass man Annies Angst, aber auch ihre Entschlossenheit nachempfinden kann und warum sie sich letztlich entscheidet die Aufgabe zu übernehmen. Finnick wird auf jeden Fall alles tun um sie beschützen, aber wird das auch immer so funktionieren? Im Kapitol kann so einiges passieren...
Vielen Dank für deinen Kommentar und liebe Grüße
Coronet


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