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Einsamkeit

von

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Familie

Es fühlte sich merkwürdig für Asami an, als er die Tür zum Penthouse öffnete und Anjing zum ersten Mal sein persönliches Reich zeigte. Der Junge hatte bisher noch kein Wort an den Yakuza gerichtet und auch jetzt stand er respektvoll hinter dem Älteren und wartete dessen Erlaubnis ab, die Wohnung betreten zu dürfen. Mit einem leisen Ächzen schoben sich Suoh und Kirishima an ihnen vorbei und brachten die Einkäufe hinein. Erst als sie im Wohnzimmer standen, sahen sie ihren Boss etwas ratlos an, wussten sie doch nicht wirklich wo sie die vielen Taschen abstellen sollten. Mit einer Handbewegung signalisierte Asami ihnen das sie einfach alles dort stehen lassen sollten wo sie gerade standen. Hastig verneigten sich die beiden und verließen kurz darauf die Wohnung.

Zögernd folgte Anjing dem Yakuza und sah sich interessiert in seinem neuen Zuhause um. Asami der gerade die Küche ansteuerte um sich als erstes einen großen Whiskey einzuschenken wurde in diesem Moment zum ersten Mal klar, dass er nicht die geringste Ahnung von Kindern hatte. Akihito war zwar jünger als er gewesen, doch immerhin alt genug um sich in allen Belangen selber zu versorgen. Wie das jetzt mit Anjing funktionieren sollte, wusste er nicht wirklich. Am liebsten hätte er jetzt den Russen verflucht. Ein Hund wäre für ihn vielleicht doch die bessere Wahl gewesen. Als er sich dann jedoch im Geiste sah wie er mit einer dieser Plastiktüten die Hinterlassenschaften des Hundes aufsammelte, bildete sich sofort eine Gänsehaut auf seinen Armen und der mehr als doppelte Whiskey verschwand in einem Schluck. Nein, einen Hund wollte er doch lieber nicht.

Das löste jedoch noch immer nicht das Problem das sich mit rot-braunen Augen neugierig umsah. Widerwillig stellte Asami den Whiskey zurück an seinen Platz. „Du sprichst Japanisch?“

Zögernd nickte der Jüngere und versuchte dem Blick aus den strengen goldenen Augen auszuweichen. „Huang-sama hat sehr viel Wert auf meine Allgemeinbildung gelegt. Er war davon überzeugt dass dies eine sehr gute Wertanlage ist.“

„Aha.“ Innerlich fasste Asami sich für diese geistreiche Bemerkung an den Kopf. Ausgerechnet er, der König der Tokioer Unterwelt, stellte sich hier gerade dämlicher an als ein Fünfjähriger. Selbst Anjing sah ihm jetzt skeptisch ins Gesicht. „Asami-sama?“

„Ja?“ Heute war wohl der Tag der eloquenten Antworten. Zumindest hatte er diesmal ein echtes Wort hinbekommen, aber was noch nicht war, konnte ja noch werden, immerhin hatte der Junge seine Frage noch nicht gestellt.

„Was mache ich hier? Ich möchte wirklich nicht undankbar erscheinen und mir gefallen die Sachen, die Kirishima-san mit mir ausgesucht hat, sehr gut. Doch verstehe ich nicht wirklich warum Albatof-sama mich aus Taiwan geholt hat, damit ich sie hier her begleite. Soweit ich verstanden habe, handeln sie nicht mit Menschen und haben auch sonst kein Interesse an meinem Körper, was wollen sie dann also von mir?“

„Ähm.“ In diesem Moment wünschte sich der sonst so beherrschte Yakuza ein Loch im Fußboden. Normalerweise waren seine Worte wie Waffen, mühelos schaffte er jedes Gespräch zu dominieren und in die Richtung zu lenken die er wollte. Doch jetzt im Angesicht eines Neunjährigen wusste er nicht was er sagen sollte. Vielleicht sollte er das nächste Mal erst mit dem Jüngeren reden und dann Whiskey trinken. Ein leichtes Lächeln schlich sich auf die Lippen des Yakuzas, als Anjing den Kopf auf die Seite legte und ihn mit gekrauster Nase misstrauisch beobachtete. „Kann es sein das sie überhaupt nicht wissen was sie mit mir anfangen sollen?“

„Ich denke wir sollten uns einmal kurz das Penthouse ansehen und dann werden wir uns unterhalten.“ Erleichtert diesmal zumindest einen vollständigen Satz rausgebracht zu haben, drehte sich der Ältere herum und zeigte Anjing den Rest der Wohnung. Ohne noch einmal aus dem Takt zu kommen erklärte er ihm alles zum Büro, Schlafzimmer und Badezimmer. Erst vor dem ehemaligen Gästezimmer, als würde er jemals Gäste in seiner Wohnung übernachten lassen, stockte er. Es kostete Asami überraschend viel Überwindung die Tür zu öffnen. Reglos verharrte er auf der Türschwelle und starrte in den Raum, in dem sich in den letzten zwölf Monaten nichts verändert hatte. Auch als der Jüngere neugierig an ihm vorbeitrat um sich besser Umsehen zu können, sagte er nichts. Anjing schien genügend Feingefühl zu besitzen, nichts zu berühren, während er sich langsam durch das Zimmer bewegte. Vor einem gläsernen Schrank mit teuer aussehenden Kameras blieb er schließlich stehen und drehte sich zu Asami herum. Dieser bekam nicht wirklich mit wie der Jüngere den Raum betrat. Sein Blick war an dem überladenen Schreibtisch hängen geblieben, auf dem etliche Papiere, Fotos und kitschige Figuren aufgetürmt lagen. Komplettiert wurde das Ganze mit Kamerazubehör und etwas das verdächtig nach den Lieblingsschokoriegeln des Jüngeren aussah. Der Yakuza konnte spüren wie der Anblick ihm die Luft abschnürte. In diesem Moment erkannte er das der Russe recht hatte. Während dieser sich auf seine ganz eigene, und ziemlich merkwürdige, Art seiner Trauer gestellt hatte, war er vor ihr geflüchtet, hatte sich in Arbeit vergraben.

Erschrocken zuckte er zusammen als sich eine kleine Hand in die seine schob. Scheue rot-braune Augen sahen zu ihm auf.

„Asami-sama?“

Nur mit Mühe schaffte der Ältere es seinen Blick von dem Zimmer zu lösen.

Akihito. Wieder wurde es enger in seiner Brust, während der Schmerz noch genauso präsent war wie vor einem Jahr. In diesem Augenblick realisierte der Yakuza das dieser Schmerz vielleicht niemals verschwinden würde. Was jedoch nicht hieß das er noch länger vor ihm fliehen konnte. Sanft, um den Jüngeren nicht unnötig hart zurückzuweisen, löste er die kleine Hand von sich und drehte sich ohne etwas zu sagen in Richtung Küche um. Zu seiner Überraschung war Anjing schon vor ihm da und hielt ihm ein gefülltes Whiskey-Glas entgegen. Ohne zu zögern legte der Japaner den Kopf in den Nacken und leerte das Glas in einem Zug. Sofort war der Junge an seiner Seite und füllte das Glas erneut. Er bekam kaum mit wie ihn zarte Hände in Richtung der Couch dirigierten und ihn anschließend mit einer Wolldecke zudeckten. Das einzige was Asami noch registrierte war das gefüllte Glas in seiner Hand und die erschreckende Stille die ihn umgab. Mit zitternden Fingern fuhr er das rote S auf der Decke nach. Im Geiste sah er wieder wie der Jüngere auf dem dicken Teppich lag und wild fluchte während seine Finger hektisch auf dem Controller herumhackten. Den zarten Körper verführerisch unter der Decke versteckt.

Wie oft hatte er über diese Angewohnheit den Kopf geschüttelt, wie oft hatte er Akihito getadelt und ihn gebeten leiser zu sein?

Zu oft, wie er jetzt erkannte. Zum Schluss hatte sich der Kleinere nur noch zum Spielen hier her gelegt, wenn er selber nicht Zuhause war.

Ein neues Glas wurde ihm gereicht, ohne dass er bemerkt hätte das es schon wieder leer gewesen war. Ein unglaublicher Schmerz zerriss ihm die Brust, während ein Laut aus seiner Kehle kam, den er nicht von sich kannte. Nicht kennen wollte. Trotzdem war er da, genauso wie die Nässe auf seinen Wangen. Beides ließ sich nicht stoppen, im Gegenteil es wurde immer mehr. Hilflos verkrampften sich die Hände Asamis in der weichen Decke, als er sie anhob um noch einmal den Geruch des Fotografen einzuatmen. Nur noch einmal wollte er ihn riechen, ihn spüren, einmal über die weiche Haut fahren. Doch da war nichts mehr. Das einzige was er wahrnahm war der Geruch von Waschpulver. Kein Akihito. Nie wieder.

Aus dem flehenden Noch einmal wurde mit grausamer Endgültigkeit ein Nie wieder.

Nie wieder würde er in diese blauen Augen mit ihrem ganz eigenen Feuer sehen. Nie wieder würde er über die warme Haut Akihitos fahren. Nie wieder würde er die erregenden Geräusche des Jüngeren hören wenn er in diesen eindrang. Immer wieder hämmerten diese zwei Worte durch seinen Verstand und verdrängten alles andere.

Zum ersten Mal seit er in die Tasche gesehen hatte, gestatte es Asami sich seinen Gefühlen wirklich nachzugeben. Er wandelte die Trauer diesmal nicht in Wut um, hatte noch nicht einmal die Kraft dazu. Diesmal blieb er vollkommen still sitzen und litt. Nahm vollkommen bewusst den Verlust wahr, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ.

Er bemerkte nicht wie oft sein Glas aufgefüllt wurde, oder dass ihm angezündete Zigaretten gereicht wurden. Zu gefangen in seinen Gefühlen ließ er es einfach zu ohne es wirklich wahrzunehmen.

Zum ersten Mal ließ er es zu das seine Welt zerbrach und ihn vollkommen schutzlos und allein zurückließ.
 

Stöhnend griff sich Asami an den Kopf. Mit unsicheren Fingern versuchte er sich die schmerzenden Schläfen zu massieren. Allerdings gab er das schnell auf, als diese kleine Bewegung ausreichte das Hämmern in seinem Kopf noch zu verstärken. So langsam wie es ihm möglich war drehte sich der Yakuza auf die Seite. Erleichtert schmiegte er seine Wange in das kühle Kissen und genoss das angenehme Gefühl auf der Haut.

Zu seiner Überraschung war noch jemand mit ihm in dem Raum. Da die andere Bettseite leer war, hatte er angenommen allein zu sein. Doch auf dem dicken Teppich direkt vor dem Bett lag Anjing eingerollt in eine dünne Decke und schlief. Asami brauchte einen Moment bis er verstand was er da gerade sah. Gleichzeitig versuchte er sich daran zu erinnern wo der Junge gewesen war, während er getrauert hatte. Erst jetzt fiel dem Yakuza sein erstaunlicherweise immer gefülltes Glas und auch die neuen Zigaretten auf. Er konnte sich nicht daran erinnern auch nur einmal Whiskey nachgeschenkt zu haben, doch sein Brummschädel sprach eine mehr als deutliche Sprache. Auch wusste Asami nicht mehr wie er in sein Schlafzimmer gekommen war. Und selbst wenn er es aus eigenem Antrieb hier her geschafft hatte, niemals hätte er es in seinem Zustand geschafft sich einen Schlafanzug aus dem Schrank zu holen und diesen anzuziehen. Mal davon abgesehen das er sonst auch keinen trug. Doch er hatte ganz eindeutig einen Schlafanzug an.

Anscheinend hatte er irgendein Geräusch gemacht, denn es dauerte keine zehn Sekunden bis Anjing hochschoss und verlegen seine Decke zwischen seinen Fingern zusammendrückte. „Asami-sama!“

Noch während der Yakuza mühsam versuchte den tauben Lappen, der einmal seine Zunge gewesen war, in seinem Mund zu bewegen, hatte der Junge schon hastig das Schlafzimmer verlassen.

Stirnrunzelnd sah Asami dem Kind hinterher. Wage erinnerte er sich daran, dass er eigentlich noch hatte mit Anjing reden wollen. Doch dann verschwamm alles in einem dichten Alkoholdunst und er konnte nicht mehr wirklich sagen ob sie jetzt geredet hatten oder nicht. Hatte er vielleicht etwas gesagt, was den Jungen verschreckt hatte? Noch während er darüber nachdachte tauchte der Jüngere bereits wieder auf, in der einen Hand ein Glas Wasser, in der anderen eine Kopfschmerztablette.

Asami nahm beides dankbar entgegen und trank das Glas in großen Schlucken aus. Wieder verschwand der Junge, doch diesmal folgte ihm der Yakuza nach einem kurzen Moment.

Zu seiner Überraschung war Anjing nicht vor ihm geflohen. Im Gegenteil, der Jüngere war nur in die Küche gegangen um seine Vorbereitungen für das Frühstück fortzusetzen. Wortlos lehnte sich der Ältere gegen den Tresen und beobachtete wie der Junge gekonnt an der Pfanne stand und gerade das Dashi maki tamago zusammenrollte um es vorsichtig auf ein bereitstehendes Brettchen zu legen und dort in kleine Portionen zu schneiden. Zusammen mit dem Tamago kake gohan, stellte er das Omelett und verschiedenes eingelegtes Gemüse auf den Tisch. Schüchtern sah Anjing zu dem Yakuza auf, bevor er nach der Kanne griff und frischen Tee in die Tasse vor dem Älteren goss.

„Ihr Frühstück, Asami-sama.“

Obwohl der Magen Asamis eindeutig der Meinung war, noch keine Nahrung zu brauchen, setzte sich der Yakuza und ließ sich von dem Jüngeren von allem etwas auf seinen Teller legen.

„Was ist mit dir?“

Unsicher wich Anjing ein Stück zurück. „Mit mir?“

„Was frühstückst du?“

„Ich bin mir sicher, dass ausreichend übrig bleiben wird, Asami-sama.“

Stirnrunzelnd hob Asami eine Augenbraue als er auf den Kleineren herab sah. „Ich möchte aber dass du dich zu mir setzt, um mit mir zusammen zu frühstücken.“

Deutlich konnte der Yakuza die Verunsicherung des Jungen sehen, als dieser sich herumdrehte um sich ebenfalls einen Teller aus dem Schrank zu holen. Anschließend stand Anjing unschlüssig neben Asami, wie als würde er jetzt nicht wissen wie es weiter ging.

„Setz dich.“

Langsam, beinahe als würde er annehmen das die weiche Oberfläche des Sitzes im letzten Moment Stacheln bekommen, glitt der Jüngere auf den Stuhl. Dabei hielten die kleinen Hände noch immer krampfhaft den Teller fest. Seufzend löste Asami die verkrampften Finger und stellte den Teller auf den Tisch, nur um Anjing anschließend ebenfalls etwas von dem Essen aufzufüllen. Da der Junge keine Tasse mitgebracht hatte, schob der Yakuza ihm seine zu. „Asami-sama, was machen sie da?“

„Warum fragst du mich das so oft Anjing? Ich möchte mit dir zusammen frühstücken und mich mit dir unterhalten.“

Verlegen senkte der Junge den Kopf, während er zögernd nach seinen Stäbchen griff. „Entschuldigen sie, Asami-sama.“

Nicht wirklich hungrig nahm jetzt auch Asami seine Stäbchen in die Hand. Noch immer war er sich nicht wirklich sicher wie sein Magen auf etwas essbares reagieren würde. Trotzdem nahm er sich etwas von dem Omelett und probierte es. Anjings Augen leuchteten regelrecht als der Yakuza meinte. „Das ist sehr lecker.“

Der Rest des Frühstücks verlief schweigend, bis der Jüngere sich daran machen wollte den Tisch abzudecken. Hastig griff der Ältere nach dem Kind und schob es zurück auf seinen Stuhl. Als sich die großen rot-braunen Augen auf ihn richteten, wurde dem Yakuza wieder klar woran sein Gespräch gestern Abend gescheitert war. Er hatte einfach keine Ahnung von Kindern, sie hatten ihn nie interessiert. Noch während er überlegte wie er ein Gespräch anfangen solle, ohne sich genauso zu blamieren wie gestern, spürte er auf einmal eine kleine Hand auf seinem Arm. Anscheinend war es nicht das erste Mal das Anjing ihn ansprach. „Asami-sama?“

Überrascht sah er das er den Jüngeren noch immer fest hielt. Um seine Verlegenheit zu überspielen, räusperte sich der Yakuza und ließ das Kind los. So schwer konnte es schließlich nicht sein, sonst hatte er es doch auch mit ganz anderen Kalibern zu tun. „Wir sollten reden. Das allererste ist die Anrede.“

Nervös schluckte Anjing und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Asami-sa…“

„Mein Name ist Ryuichi, und ich möchte das du ihn benutzt.“

Die Augen des Jungen wurden so groß das der Ältere einen Moment lang befürchtete sie würden ihm einfach aus dem Kopf fallen. Doch dann fing sich das Kind wieder und sah den Anderen misstrauisch an. „Welches Suffix soll ich dazu verwenden?“

„Gar keins.“

Ganz langsam schob sich der Kleinere auf seinem Stuhl nach hinten, bereit bei der allerkleinsten Bedrohung aufzuspringen und zu fliehen. „Warum?“

Seufzend griff sich der Yakuza an die Stirn. Das Gespräch wurde tatsächlich genauso anstrengend wie er befürchtet hatte. Natürlich hatte er sich denken können, dass Anjing nicht einfach freudstrahlend darauf eingehen würde. Nicht bei der Vorgeschichte des Kindes. Immerhin war er nicht einfach so zum Diener Huangs geworden, er war sein Besitz gewesen. Er mochte zwar erst neun Jahre alt sein, doch auch ein Kind in diesem Alter begriff recht schnell das es ihm Leben nichts umsonst gab. Am allerwenigsten die Freiheit. Nachdenklich starrte Asami auf die Tischplatte. Wenn er so darüber nachdachte war der Preis dafür das der Jüngere hier saß tatsächlich sehr hoch gewesen. Immerhin hatte er Akihito verlieren müssen um nach Taiwan zu reisen und dort Anjing kennenzulernen.

Ein Leben für ein Leben. Zynisch verzogen sich die Lippen des Yakuzas, während er in die ungewöhnlich rötlich gefärbten Augen des Jungen sah.

„Weil man sich in einer Familie so anspricht.“

Im nächsten Moment klapperte es, als Anjing so hastig aufsprang das der Stuhl zu Boden fiel. Asami sah nur noch wie der schwarze Haarschopf im Badezimmer verschwand, dann wurde auch schon die Tür abgeschlossen.
 

Nachdenklich starrte Asami den Jüngeren an, der ihm gegenüber im Jet saß. Ihr erstes Gespräch, bei dem er es tatsächlich geschafft hatte in ganzen Sätzen zu reden, war jetzt vier Wochen her. Vier sehr anstrengenden Wochen. Der Yakuza hatte in dieser Zeit eine Menge über Kinder gelernt und er hatte gelernt das Anjing kein normales Kind war. Er konnte es noch immer nicht fassen das er sich sogar dazu hatte überreden lassen, sich mit Someya Shinobu zu treffen. Bis jetzt wusste er nicht ob dies ein Scherz von Kanou gewesen war, oder ob dieser seinen Ratschlag wirklich ernst gemeint hatte. Das Buch das sie ihm mitgegeben hatte, war auf jeden Fall sofort in den Müll gewandert. Der Yakuza hatte noch nicht einmal einen Blick hineingeworfen. Der Titel hatte schon vollkommen ausgereicht. Wie man sich um kleine Tiere kümmert!! Nur der Gedanke an dieses Buch brachte Asami dazu die Zigarette, die er sich eigentlich hatte anzünden wollen, zu zerbröseln. Was er jedoch nicht leugnen konnte war, das Someya sehr gut mit Kindern umgehen konnte. Wann immer er Anjing erlaubte die Okama-Bar aufzusuchen, strahlte der Junge.

Doch auch er hatte langsam Fortschritte gemacht.

Es hatte etwa eine Woche gedauert bis der Jüngere endlich bereit war mit im Bett zu schlafen und nicht mehr auf dem Teppich davor. Sein eigenes Zimmer war bereits in Arbeit. Jetzt gerade waren die Handwerker dabei eine neue Wand einzuziehen, nachdem sie sein Büro verkleinert hatten um den benötigten Platz zu schaffen. Für Asami hatte es außer Frage gestanden, dafür Akihitos Zimmer herzugeben. Er mochte vielleicht in seiner Trauerbewältigung weiter gekommen sein, doch so weit war er dann doch noch nicht und würde es womöglich auch nie sein.

Ansonsten war der Junge ein sehr angenehmer Mitbewohner, was wahrscheinlich an seiner bisherigen Erziehung lag. Konnte sich der Yakuza doch nicht wirklich vorstellen das normale Neunjährige sich derart für den Haushalt interessierten. Allerdings konnte er nicht leugnen dass es ihm gefiel, wenn er morgens aufwachte und Anjing bereits das Frühstück vorbereitet hatte.

Mittlerweile war es auch schon zu einem Ritual geworden das sowohl Kirishima als auch Suoh mit ihnen frühstückten. Hatten die beiden Leibwächter den Jungen erst misstrauisch aufgenommen, so akzeptierten sie ihn mittlerweile voll als Asamis Begleitung. Selbst ins Shion hatte Anjing ihn schon begleitet und bei wichtigen offiziellen, also legalen, Geschäften den Tee serviert. Es hatte den Yakuza nicht wirklich überrascht das der Junge hervorragenden Tee kochen konnte.

Auch jetzt gerade zeigte ihm der Jüngere das er kein normales Kind war. Kirishima hatte für Anjing ein Smartphone besorgt auf dem neben einer Tracking-App angeblich auch die angesagtesten Spiele installiert waren. Doch im Gegensatz zu Suoh benutzte der Junge keines von ihnen. Er war eifrig dabei etwas zu schreiben was für Asami verdächtig nach einem Essensplan und einer Einkaufsliste aussah. Seufzend lehnte sich der Yakuza zurück und nahm sich eine neue Zigarette um diese dann auch wirklich anzuzünden.

Natürlich kontrollierte er auch die Internetseiten die Anjing aufsuchte. Hatte er zuerst angenommen dieser würde seine neu gewonnene Freiheit dazu benutzen sich jetzt alles anzusehen was ihm bisher verwehrt gewesen war, so war er eines besseren belehrt worden. War er erst überrascht, als er auf Seiten wie Ernährung zum Muskelaufbau gestoßen war, war er zum Ende seiner Recherche regelrecht sprachlos gewesen. Denn erst da hatte er bemerkt das Anjing diese Seiten nicht aufgesucht hatte, weil er sich für die Themen persönlich interessierte. Denn da dieser nicht rauchte, war er mit Sicherheit nicht auf eine Ernährung angewiesen die angeblich das Krebsrisiko senkte.

Zumindest verstand der Yakuza jetzt warum er die Tage zum ersten Mal in seinem Leben hatte Grünkohl essen müssen und auch weshalb der Jüngere das Obst anscheinend der Farbe nach aussuchte und Kirishima, der für sie einkaufen ging, damit regelmäßig in den Wahnsinn trieb.

Vielleicht hatten sie beide das Konzept einer Familie noch nicht richtig verstanden, doch sie arbeiteten dran und Asami hatte keinen Zweifel daran das Akihito sich über ihn köstlich amüsiert hätte.

Immerhin war er der König der Tokioer Unterwelt. Es gab kaum etwas was ihn aus der Fassung brachte. Und doch war er in den einfachsten Momenten mit Anjing überfordert, obwohl dieser es ihm mehr als leicht machte. Doch Vertrauen war etwas, das einem Asami Ryuichi mehr als schwer fiel.

Doch genau das war es warum sie jetzt im Jet saßen. Der Yakuza hatte sich nie Gedanken um eine Familie gemacht, zumindest nicht bis er Akihito getroffen hatte. Dieser einzigartige Mafiamagnet hatte es nicht nur geschafft seine Aufmerksamkeit zu erregen, sondern auch die gleich zwei anderer Männer und hatte sie so miteinander verbunden. Anscheinend auch über seinen Tod hinaus, was der Japaner mehr als nur erstaunlich fand. Immerhin hatte er mit dem Russen zu Lebzeiten des Fotografen kaum ein Wort gewechselt und es mehr als nur widerwillig geduldet das Akihito das Bett mit ihm geteilt hatte. Besonders wenn er danach die Striemen auf der hellen Haut gesehen hatte, hätte er Eury am liebsten über den Haufen geschossen. Nur die Reaktion Akihitos hatte ihn immer von diesem Schritt abgehalten, konnte er doch nicht wirklich verstehen was dieser in dem Eisklotz von Russen sah.

Mit Feilong war es ähnlich gewesen. Diesen kannte er zwar deutlich länger und auch besser, doch auch dieser hatte das Bett mit Akihito geteilt. Mehrfach. Was auch immer Akihito an sich gehabt hatte, er hatte es mühelos geschafft den Älteren für sich zu gewinnen. Der Baishe-Drache war sogar so weit gegangen den Fotografen unter seinen Schutz zu stellen. Asami verstand noch immer nicht wie aus dieser Feindschaft, so etwas wie Akzeptanz und dann auch noch eine schwierige Freundschaft hatte werden können. Eine Freundschaft die ihn dazu gebracht hatte den Jüngeren als Familie zu bezeichnen um ihn retten zu können. Dabei hatte er noch nie jemanden außer Akihito gerettet und dabei auch noch versagt. Doch jetzt waren die Nachrichten aus Hongkong so besorgniserregend das er keine andere Wahl hatte, als dort hin zu reisen.

Nach einem letzten Blick auf Anjing der gerade begeistert Rezepte durchsah, nahm Asami seinen eigenen Bericht vom Tisch auf und begann zu lesen.

Natürlich hatte er bemerkt das etwas anders war in Hongkong, doch erst der Anruf von Eury hatte ihn veranlasst zu handeln.

Anscheinend hatte der Russe schon viel früher reagiert als er. Er hatte mittlerweile eine nicht unbeträchtliche Anzahl seiner Leute auf den Straßen der Stadt und sorgte da auf seine ganz eigene Art für Ruhe. Gefährliche Gerüchte hatten begonnen ihre Runde zu machen. Gerüchte über den Drachen der Baishe, die für die zurückhaltende Gesellschaft der Chinesen, ungewöhnlich waren und sehr schnell zu einem Todesurteil werden konnten.

Anscheinend hatte Feilong sich zurückgezogen. Niemand hatte den Triaden-Führer mehr gesehen. Asami hatte sich daran gewöhnt das der Jüngere nicht ans Telefon ging wenn er ihn anrief, doch als er jetzt hörte das auch Tao ihn nicht mehr erreichen konnte hatte er begonnen sich sorgen zu machen. Denn wenn ihre Welt eines nicht verzieh dann war es Schwäche. Und genau das wurde vermutet wenn man von einem Tag auf den anderen seine Geschäfte ruhen ließ und sich nicht mehr meldete.
 

Es war kalt, während sich Feilong seinen Weg zwischen den Gräbern suchte. Weiße Atemwolken bildeten sich vor seinen Lippen, während er sein Haar nach hinten strich. Wieder hatte er seine Jacke vergessen, doch es störte ihn nicht, zeigte ihm die Kälte doch das er noch lebte. Kurz vor Yan-Tsuis Grab blieb der Chinese wie angewurzelt stehen. Gewohnheitsmäßig war sein Blick zu dem Grab seines Vaters gewandert, als er dort einen ihm fremden Jungen niederknien sah um die mitgebrachten Räucherstäbchen zu entzünden. Er war von diesem Anblick so gefangen, dass er den Yakuza erst bemerkte als dieser direkt hinter ihm stand. Warme Arme legten sich um den schmaleren Körper und zogen ihn an den hinter ihm stehenden. Überrascht keuchte er auf als er die Wärme des anderen spürte. „Asami.“

Er konnte den Atem des Yakuzas in seinem Nacken spüren, während dieser das dichte, schwarze Haar beiseiteschob und einen leichten Kuss auf die weiche Haut setzte.

„Du schreibst nicht, du rufst nicht zurück und kommst mich nicht besuchen. Was soll ich nur mit dir machen?“

Gereizt schob der Chinese den Arm des Älteren beiseite und befreite sich so aus der Umarmung. „Lass das!“ zischte der Jüngere wütend und trat einen Schritt zurück.

Asami ließ sich von dieser Zurückweisung nicht stören. Langsam trat er auf den Grabstein Yan-Tsuis zu und betrachtete die Schriftzeichen. Abschätzig trat er mit dem Fuß gegen den Stein und warf dabei die abgebrannten Räucherstäbchen um. „Warum trauerst du um ihn?“

Ohne es zu wollen wurde der Blick Feilongs wieder von dem Jungen angezogen der noch immer vor dem Stein seines Vaters kniete. „Gehört er zu dir?“

Zustimmend nickte Asami und schnippte einmal mit den Fingern. Das Kind schien nur auf dieses Geräusch gewartet zu haben, denn er erhob sich sofort und drehte sich, nachdem er sich noch einmal ehrerbietig vor dem Stein verneigt hatte, zu dem Yakuza um. Selbst auf diese Entfernung konnte Feilong die ungewöhnliche Augenfarbe des Jüngeren erkennen, als dieser Asami abwartend ansah.

„Auto.“

Ohne ein Wort zu sagen, nickte das Kind und machte sich hastig auf den Weg den Friedhof zu verlassen.

„Wer ist er?“ Nicht eine Minute hatte der Chinese den Jungen aus den Augen gelassen, während dieser sich seinen Weg zwischen den Gräbern hindurch bahnte.

„Familie.“

Für einen Sekundenbruchteil stockte Feilong der Atem, dann drehte er sich zu dem Älteren herum um diesem in die Augen zu sehen.

Unaufgefordert fuhr der Japaner fort zu sprechen. „Sein Name ist Asami Anjing.“

Die Lippen des Jüngeren zitterten während er den Namen lautlos nachsprach. Bevor er es wirklich begriff, war der Yakuza einen Schritt nach vorne getreten. Wieder schlangen sich starke Arme um ihn und pressten ihn so fest gegen den Älteren, das sein Kopf auf der Schulter Asamis zu liegen kam. Fest krallte sich eine Hand in seine Haare und zwang ihn dazu in dieser Position zu verharren. „Warum trauerst du am Grab eines Mannes der unsere Familie angegriffen hat?“

Unsicher fanden die Hände Feilongs Halt in dem Mantel des Yakuzas. „Unsere Familie?“

Asami ließ es zu das der Chinese seinen Kopf hob um ihm in die goldenen Augen sehen zu können. Genau wie damals sah der Japaner eine solche Zerbrechlichkeit in den Augen des sonst so selbstbewussten Triaden-Führers, dass es ihm den Atem zu rauben drohte. Trotzdem lächelte, während er die Tränen die sich in den Augenwinkeln des Jüngeren bildeten wegwischte. Jeden Moment rechnete er damit das sich der Chinese von ihm losreißen würde, schließlich kannte er das Temperament Feilongs. Allerdings brach er den aufkommenden Widerstand genau so schnell wie aufgekommen war. „Glaubst du denn wirklich das unser Kleiner dir nichts hinterlassen hat?“ Sofort konnte der Asami spüren wie Feilongs Knie weich wurden. Anscheinend hatte er genau die richtigen Worte gefunden, denn der Chinese riss sich nicht von ihm los. Im Gegenteil, er schlang einen Arm um Asamis Hüfte und presste sich ihm noch fester entgegen.

Zusammen mit dem Jüngeren verließ der Yakuza den Friedhof ohne noch einmal zu den Grabsteinen zurückzusehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2021-06-02T14:08:43+00:00 02.06.2021 16:08
Das war das beste was Asami tun konnte, schön das er es geschafft hat.
Akihito hätte nicht gewollt das sie alle drei, in ewiger Trauer versinken.
Weiter so,freue mich auf das nächsteKapitel.

LG
Onlyknow3


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