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Im Schatten des Vaters

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
von

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Prolog

Es war schwierig mitten in der Nacht heimlich passende Unterwäsche und Kleidung zu organisieren. Noch schwieriger war es die neugierigen Nachbarn zu verscheuchen. „Es lief keine Nackte im Treppenhaus herum“, sprach zum wiederholten Male Sohei und schlug seine Haustüre laut zu. Durch die geschlossene Türe konnte man die Diskussion der Nachbarn hören. Ein Kind weinte, wollte zurück ins Bett. Ein Ehemann befahl seiner Frau endlich zurück in die Wohnung zukommen. Das ältere Ehepaar von unten wollte die Polizei rufen. Zwei andere Kinder spielten Fangen im Treppenhaus.

Soheis Nerven waren angekratzt. Wegen einer Erkältung durfte er nicht zu einer Zwischenprüfung gehen und jetzt dies. Geschätzt jeder Bewohner im Wohnblock konnte schwören, eine Nackte um den Wohnblock herumschleichen gesehen zu haben.

Langsam beruhigten sich die Leute. Sohei horchte. Die Kinder und ihre Eltern verschwanden, was die Lautstärke erheblich minderte. Man einigte sich, die Sache weiterzuverfolgen. Das ältere Ehepaar klopfte nochmals an die Türe, um sich für die Ruhestörung zu entschuldigen. Sohei wollte nicht unhöflich erscheinen und wechselte trotz seiner schlechten Laune einige Worte. Auf die Frage, ob seine Mitbewohnerin schliefe, gab der Gefragte eine nichtssagende Antwort.

 

 

„Es ist alles gut. Sei still“, flüsterte Yuki fürsorglich. Sie merkte die Furcht. Roch sie förmlich.

Sanft flüsterte sie weiter. Die Stimmen der Nachbarn schrillten regelrecht in ihren Ohren. Mit Mühe konnte sie ein Knurren unterdrücken. Yuki wollten dem Ankömmling nicht mehr Angst einflössen. Eng kuschelte sich dieser an sie. Fiepte. Um ihm Mut zu machen, tröstete Yuki ihn weiter. Spitzte die Ohren und drückte sich eng an ihren zitternden Gast.

Endlich hörte sie, wie die Nachbarn gingen. Ungeduldig warte sie die Frage ab. Ein Kichern verliess ihren Mund das sich wie ein Jaulen anhörte. „Sohei kommt, erschrecke nicht“, sprach Yuki und erhob sich. Der Ankömmling kroch unter die Decke, welche Sohei als Schutz für ihn benutzte. Kopfschüttelnd trabte Yuki zur Türe und öffnete diese vor Sohei. Es dauerte einen Augenblick, bis er zum extra zum Studieren eingerichteten Zimmer kam.

„Wir haben nun endlich Ruhe. Yuki?“

„Sie hat noch Angst, ist dir aber dankbar. Warum schaust du mich so an?“

Statt zu antworten, lachte Sohei. So herzlich, dass ihm die Tränen kamen und er nach Luft schnappen musste. Yuki knurrte, da sie sich beleidigt fühlte und ihr Gast fiepend unter dem schweren Bürotisch Schutz suchte. Sohei hörte erst auf zu lachen, als Yuki ihn unsanft zur Boden drückte. Nochmals stellte sie ihm die Frage, weshalb er sie so ansah und Lachen musste.

Er sagte einen Satz. Ein Satz, der Yuki rot werden und sie sich wünschen liess, in ein tiefes Loch zu fallen. „Du hast dich verwandelt.“

 

 

Unsicher sah der Gast sich um. Ihre Ohren waren gespitzt, ihre Nase zuckte nervös. War es ein törichter Traum, der sich in ihrem Herzen breit machte? Dieser Sohei schien nett zu sein. Er duftete schwach nach Wald und Berg. Hilflos fiepend kroch sie unter dem Tisch hervor.

„Sohei, bitte verlass den Raum“, sprach Yuki. Yuki war genauso unerschrocken, wie ihr Vater sie beschrieben hatte. Obwohl sie nur noch schwach nach Tier roch, fühlte sie eine Vertrautheit. Grinsend tat der Mensch dies. Ob er wohl Kleidung finden würde? Yuki sprach davon, bevor die anderen Menschen dazukamen und sich um den Bau versammelten. Bevor sie sich verkroch und bei Yuki Schutz suchte.

„Zurückverwandeln ist anstrengend.“ Stöhnend streckte sich Yuki. Neugierig versuchte der Gast sie genau zu betrachten. Fasziniert bewunderte sie den Körper und den Geruch. Sah zu, wie sich Yuki anzog. Langsam kam der Gast näher und fiepte.

„Hab dich nicht vergessen. Willst du dich verwanden oder so bleiben?“ Sie wollte ein Mensch sein. Eine Menschenfrau wie Yuki. Dafür hat sie ihre geliebte Heimat verlassen. Ihren Vater.

Kein Tier wollte sie mehr sein. Kein Wolf.

Ihr wahres Ich entdecken.

Mürrisch strich Sohei sich über die Haare. Es war kein verrückter Traum. Er hatte ebenfalls nicht zu viele verschiedene Medikamente eingenommen oder litt unter Schlafmangel.

Yukis Nichte war da. Ein Wolfmensch. Menschwolf.

Wie auch immer man sie bezeichnen wollte. Irgendwie hatte er Kleidung organisieren können. Auch, wenn es beinahe unmöglich war. Natürlich schickte Yuki ihn. Er hatte auf die Schnelle einen Bademantel und Höschen organisieren können. Wo er es gekauft hatte, darüber schwieg er lieber. Trotzdem schuldete Yuki ihn einen riesigen Gefallen. Das wäre nicht mit einem selbstgemachten Essen oder einer Einladung ins Kino getan!

Sie konnte das nächste Mal selbst mit den Nachbarn diskutieren und sich um den Gast kümmern.

Erschöpft wollte er ins Badezimmer, um sich frisch zumachen. Auf dem Weg lief er an Yukis Schlafzimmer vorbei. Ohne es zu wollen blieb er stehen und lauschte. Yuki sprach mit ihrer Nichte. Leise und sanft. Sohei vernahm ein Winseln. Wie verbrachte wohl das Mädchen die Nacht? Schlief sie gut oder vermisste sie den Himmel und den Duft des Waldes? Kopfschüttelnd verschwand Sohei im Badezimmer. Er musste sich um sein eigenes Leben kümmern.

Langsam erwachten seine Lebensgeister. Der Reis war fertig und eine erste Tasse Tee genoss Sohei schon. Eigentlich wollte er einfach gehen, ohne für Yuki und ihren Gast zu sorgen. Aber seine guten Manieren hielten ihn davon ab.

Er bereitete ein klassisches Frühstück zu. Irgendwie machte es ihm sogar ein wenig Freude. Misosuppe, Reis, Tee und die restlichen Kleinigkeiten anzurichten. Stolz betrachtete er sein Werk. Vorsichtig trug er das Tablett zum Schlafzimmer und klopfte an. Wartete eine Reaktion ab.

„Yuki, ich habe Frühstück gemacht. Das Badewasser ist auch fertig, falls… Ähm… Deine Nichte sich erfrischen will. Ich geh, soll ich was für euch mitbringen?“

„Auf dich kann man sich verlassen. Bring Lachs und Thun mit, damit wir ein Festessen machen können. Und bitte einen dicken Ast oder sowas.“
 

Dick eingewickelt betrachtete das Wolfsmädchen Yuki, wie sie aus dem Fenster blickte. Sie spürte die Anspannung ihrer Tante. „Was geschieht?“, fragte sie leise. Geduldig erklärte Yuki, was wohl in den anderen Mieter vor sich geht und weshalb gestern Nacht dieser Aufruhr herrschte. Mit keinem Wort gab sie ihr die Schuld dafür. Trotzdem blickte das Wolfsmädchen weg und wimmerte.

Vaters Worte waren wohl wahr. Ein Mensch könnte ich niemals werden Die Menschen werden mich verstossen. Diese Gedanken kreisten wirr umher. Yukis Umarmung erschreckte sie so sehr, dass sie knurrend zurückwich. Yuki tadelte nicht. Fröhlich summte sie eine Melodie und setzte sich auf den Boden. Mit der Zeit beruhigte sich das Wolfsmädchen und sie suchte Schutz in den Armen ihrer Tante.

„Wir waschen nun zusammen ab. Danach müssen wir für dich anständige Kleidung besorgen. Und einen Namen. Weshalb gab mein Bruder dir keinen Namen? Na ja, ist auch nicht wichtig. Komm, versuch es einmal in deiner Menschenform.“

„Ich gebe mein Bestes.“

Yuki liebte es mit Musik den Haushalt zu machen. Oder irgendeine Sendung im Hintergrund laufen zulassen. Heute liess sie es sein. Genauso wie anderen Dinge, welche sie heute erledigen wollte. Zur Apotheke gehen, einkaufen und in der Uni Informationen sammeln für ihre Hausarbeit.

Nun ging es um das Kind ihres Bruders. Den sie nie aus dem Herzen verbrannte. Gleich, wie sehr sie ihn nicht verstehen konnte. Ob ihre Mutter davon wusste? In einer ruhigen Minute würde sie ihre Nichte fragen.

Ängstlich blickte ihre Nichte aus der Türe. Wimmernd wich sie zurück. Es roch nach fremden Menschen, Essen, Katzen und noch vielem mehr. „Komm, wir gehen nur kurz zum Briefkasten“, versuchte Yuki ihr Mut zuzureden. Zögerlich schritt sie hinaus. Blickte sich um. Schnupperte.

Langsam führte Yuki sie die Treppen hinunter. Blieb stehen, wenn ihre Nichte zusammenzuckte.

Yukis Gedanken tauchten tief in ihre Kindheitserinnerungen. An ihre Mutter und ihre Kindheit. Ob Mutter sich manchmal wünschte normale Kinder geboren zu haben? Schamvoll dachte sie an ihre Taten. Wie ungeduldig sie oft war und deswegen ihre Identität beinahe verriet. Doch mit unglaublich viel Geduld und Liebe zog ihre Mutter Ame und sie gross.

„Ich… Ich... Möchte zurück…“ Yuki sah ihr tief in die Augen und schüttelte den Kopf. „Du hast es bald geschafft“, sprach sie und tätschelte sanft den Kopf des Wolfsmädchens. Zitternd öffnete sie die Eingangstüre und lief zum Briefkasten. Auch wenn es die Schrift nicht lesen konnte, wusste es, welches Brieffach Yuki und Sohei gehörte.

„Du hast das grossartig gemacht! Deine ersten Schritte als Mensch bist du gelaufen. Du trägst Kleidung und hast zubereitendes Essen zu dir genommen.“

„Danke…“

Yuki lachte und drückte ihre Nichte fest. Diese seufzte und erwiderte die Umarmung. Yuki spürte das leichte Zittern. „Komm, gehen wir bevor Frau und Herr Suzuki vom Einkaufen zurückkommen. Und keine Sorge eigentlich sollte dich niemand erblickt haben.“ Dankbar nickte das Wolfsmädchen und blickte zum Himmel. „Es kommt Regen“, sagte sie und klammerte sich an ihre Tante.

„Vorsichtig! Nicht das du dich verbrennst!“ Die Tasse mit Tee stellte Yuki auf die Fensterbank. Alle ihre Kleider lagen überall verstreut in ihrem Schlafzimmer. „Schau nochmal in Ruhe meine Sachen an. Ich wasche und ändere sie für dich.“

Friedlich verbrachten sie den Nachmittag. Yuki versuchte sich beim Nähen und erklärte ihrer Nichte alles. Was sie tat und wie die benutzen Gegenständen genannt wurden. Was für Geräusche sie wahrnahm. Ob das Hupen eines Autos, das Miauen einer Katze oder die Geräusche der Nachbarschaft, alles versuchte Yuki mit einfachen Worten zu erklären. Dankbar und jedoch ängstlich hörte das Wolfsmädchen zu. Manchmal erschrak sie wegen eines Geräusches, doch die Neugier wurde geweckt. Schnuppernd und horchend sog es die unbekannte Welt auf. Der Geruch von Sohei und Yuki gaben Sicherheit. Trotzdem war da die Abscheu im Herzen. Der Instinkt des wilden Tieres. Störend fühlte sich die menschliche Form an.

„Wir brauchen noch einen Namen für dich. Will…“ Die Frage wurde durch das Klingeln ihre Handys unterbrochen. Leise fluchend erhob sich Yuki. Die Störung konnte sie nicht gebrauchen. Ausserdem versetzte der Anrufer ihre süsse Nichte in Schrecken.

Ihre Nichte war entzückend. Wie hübsch sie in einem Kimono aussehen würde oder in westlicher Kleidung. Sie könnte sogar Cosplay machen. Yuki sah schon die Bilder vor sich, die sie Fotografien würde. Der Entschluss, ohne Hilfe von Mutter aus dem Wolfsmädchen ein Mensch zu machen, wollte sie in jedem Fall folgen. Es wäre so schön eine Gefährtin zu haben.
 

Ein Blick auf das Handy reichte, um ihre Laune zu verschlechtern. Die Uni wollte was von ihr. Zähneknirschend nahm sie ab.

Beruhigend streichelte sie über das Fell ihrer verwandelten Nichte. Warum nur war sie laut geworden? Es war ja nicht ihre Schuld, dass… Gut. Die Uni konnte auch nichts dafür, dass Unterlagen verschwanden. Und teilweise log sie die Uni an.

Plötzlich wurde Yuki was bewusst. Etwas, was sie in ihrer Freude vergass. Zögerlich fragte sie ihre Nichte, wann sie geboren wurde. Die Antwort half nicht weiter. Auch die weiteren Antworten gefielen ihr nicht. Doch Yuki musste der Wahrheit ins Auge sehen:

Es reichte nicht ihrer Nichte menschliches Verhalten beizubringen. Sie musste in die Menschenwelt integriert werden.
 

Sohei kratzte sich verlegen an der Wange. Wie sollte sein Leben mit einer weiteten Frau weitergehen? Was kam noch alles dazu? Anständige Kleidung wäre das einte, aber da kamen noch viele weiteren Sachen dazu. Brauchten sie noch ein Schlafbereich? Was war mit den weiblichen Problemen? Einen Moment lang starrte Sohei entgeistert in die Luft, was den Fischverkäufer und seine Frau erheiterte. Sie waren gerade dabei seine Bestellung einzuwickeln und einzupacken.

„Noch was, junger Mann?“, fragte die Frau und holten Sohei aus seinen Gedanken.

„Über was sich wohl der junge Mann Gedanken machte?“ Den Lappen in den Eimer mit Wasser tauchend sah die Frau ihren Gatten an. „Vielleicht darüber, warum er zum Fisch kaufen gehen muss? Hat wohl seine Mutter verärgert“, gab ihr Mann zur Antwort und lachte laut darüber. Auch seine Frau musste nun Lachen. „Das erinnert mich an deine Mutter. Sie hat dich auch heute noch im Griff. Ein Wort von ihr und du bist ruhig.“ Der Mann nickte und ergänzte: „Sie hat auch einen anständigen Burschen grossgezogen.“

Das der Grund ein völlig anderer war, konnten sie nicht wissen. Den wahren Grund würde kein Mensch erahnen können. Wer würde schon auf den Gedanken kommen das Sohei sich fragte, ob es bei ihrem Gast möglicherweise eher Hitze hiessen würde.
 

Der Regen kühlte die Luft angenehm ab. Sohei sah zufrieden aus dem U-Bahnfenster. Seine Erledigungen konnte er trotz seiner Erkältung erledigen. Sogar an den Ast hatte er gedacht. Fast ein wenig stolz betrachtete er diesen. Eine ältere Dame sah ihn an. Höflich fragte er, ob sie Hilfe gebrauchen könne. Sie schüttelte den Kopf, fragte jedoch, ob sie ihm eine Frage stellen könne.

Sohei nickte, konnte es sich jedoch denken was die Frage wäre.

„Nochmals entschuldige ich mich, junger Mann.“

„Bitte, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich muss ihnen danken.“

„Hach, keine Ursache. Ich hoffe, ihre Schwester freut sich über das kommende Geschenk.“

Sohei sah der Dame nach. Das Gespräch war für ihn hilfreich. Über die Frage, weshalb er einen Ast bräuchte, entwickelte sich Gespräch zu Haustieren, bis es am Schluss bei Familie endete. Er behauptete, eine Schwester nach Jahren wiederzusehen und fragte, was man ihr wohl schenken könne. Jemanden, der nicht viel über Japan wisse. Auf die verdutzte Frage der Dame, weshalb er nicht seine Familie oder Freunde fragen würde, gab Sohei eine abweisende Antwort.

Leichte Kopfschmerzen kündigten sich an. Ob es wegen der Erkältung oder des vielen Nachdenkens war, interessierte ihn nicht. Langsam lief er nach Hause, der Regen tat ihm momentan sehr gut. Gerne wäre er ohne Regenschirm unterwegs gewesen, jedoch würde ihn Yuki nicht hineinlassen. Lachend malte er sich aus, wie er draussen schlafen musste und Yuki ihm aus dem Fenster lehnend eine Standpauke hielt. Natürlich würde es seiner Erkältung nicht guttun. Weitere Fehltage konnte er sich nicht leisten.
 

 

***

 
 

Sei du ruhig! Schrei nicht herum.“

„Sohei du Dummkopf! DUMMKOPF!!“

„Schrei. Nicht. Bitte.“

Stampfend verliess Yuki den Raum. Sohei stand in der Küche und seufzte. Er sah auf den halb abgeräumten Tisch und auf das Wolfsmädchen. Die sich ängstlich, in ihrer Menschengestalt, in einer Ecke sass und sich die Wolfsohren zuhielt. Wie konnte es dieses Mal in eine solche Diskussion enden?

Der Abend hatte doch friedlich angefangen. Mehr oder weniger friedlich. Sicherlich, er hatte sich mit Yuki ein wenig in die Haare gekriegt. Aber wie würde sie sich fühlen, wenn sie mitten in der Nacht was zum Anziehen auftreiben müsste? Deswegen hat er sich aufgeregt, als er nach Hause kam. Und der Ast wurde einfach in die Ecke gestellt. Ohne ein grosses Danke.

Das Abendessen konnte er auch mehr oder weniger alleine kochen. Natürlich verstand er, dass Yuki sich um das Wolfsmädchen kümmern wollte. Ach nein, nicht das Wolfsmädchen. Sayoko. Yuki gab ihr den Namen Sayoko. Es passe ja gut zu ihr. Wie ihre Mutter ihrem Bruder und ihr einen passenden Namen schenkte. Kind der Nacht. In der Nacht geboren. Ein schöner Name, aber was sollte er schon sagen?

Dann wurde herumgemäkelt, da er zu viele Gewürze verwendet hatte und das Essen zu heiss war. Auf seine Anmerkungen ging Yuki nicht ein. Im Gegenteil, er bekam noch mehr Vorwürfe zuhören.

Als sie dann von der Uni anfing, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Nur weil SIE ihre Unterlagen verschlampte, sollte er ihr wieder helfen? Sie konnte ihre Prüfungen ablegen, er war krankgeschrieben. Seine Zukunft hing an einem seidenen Faden und Yuki musste sich bis auf Weiteres keine Sorgen machen.

Wer hatte nach der goldenen Woche einen Kater und vergass die Frist? Yuki. Wer hatte sie gewarnt und wurde nicht ernst genommen? Er.

Und jetzt noch Sayoko. Sie sollte zurück in ihre Heimat. Zu Yukis Mutter.

Sie hatte Erfahrung mit Wolfsmenschen. Auf dem Land würde Sayoko sich wohler fühlen. Er würde das in die Hand nehmen müssen.
 

Yuki stürmte die Strassen entlang. Der Streit mit Sohei erschütterte ihr Vertrauen in ihm. Sie dachte, sie würden zusammenhalten. Für immer.

Sayoko brauchte Hilfe. Wie ihr Vater, als er und Yuki Kinder waren. Nie wollte er in die Schule. Wollte sich nicht unter Menschen mischen. Yuki ballte ihre Hände zu Fäusten. Dieses Mal würde sie nicht versagen. Nicht dickköpfig und egoistisch sein.

Während Yuki durch die Strassen der Stadt lief, versuchte sie ihre Erinnerungen an ihren Bruder zu vergessen. Sie hatte keinen Bruder mehr. Offiziell galt Ame als verschollen. Mutter sagte, es wäre besser für alle. Hätte sie mehr Zeit mit ihm verbringen sollen? Ame mitzunehmen an die Feste des Dorfes? Mit ihm und den anderen Kindern zu spielen?

Die vielen Streitereien, welche sie als Kinder hatten, spielten sich vor ihrem Auge ab. Ames braune Augen, die in seiner Wildheit gefährlich glitzerten. Seine schwarzen, zerzausten Haare. Als Mensch und Wolf hatten sie einen leicht bläulichen Schimmer. Yuki erinnerte sich, wie sie ihm in einem Streit büschelweise Haare herausriss, er dafür ihr kräftig in das Bein biss, bis fast auf die Knochen. Meistens versteckte Ame sich jedoch. Sprach selten was. Seine Augen strahlten, wenn er in der Natur war. In Wolfsgestalt.

Ein Regenschauer kam wieder und überraschte Yuki. Sie flüchtete wie die anderen überraschten Leute in das nächstbeste Gebäude. Es war ein kleines Kaffee in westlichen Stil. An den Wänden hingen Bilder von berühmten europäischen Sehenswürdigkeiten. Yuki beschloss, hier den Regen abzuwarten. Sohei konnte sie momentan nicht in die Augen sehen. Wieder kam das Gefühl in ihr hoch, nicht verstanden zu werden.

Sayoko brauchte sie. Wie ihr Bruder sie brauchte.
 

Sayoko kuschelte sich an ihre Tante. Eng eingekuschelt auf einem Futon verbrachte, den sie mit Yuki teilte, das Wolfsmädchen ihre zweite Nacht.

Dieser Tag war anstrengend gewesen. Nicht wegen der neuen Umgebung oder den unbekannten Dingen. Der Streit zwischen Yuki und Sohei machte ihr Angst. Das sie der Grund dafür war, gab ihr ein Stich ins Herz. Weshalb ihre Tante solche verletzter Worte zu Sohei sagte, verstand sie nicht. Obwohl es ihm nicht gut ging, half er. Er war ein guter und treuer Freund. Seine Absichten waren zum Wohle aller Anwesenden. Als Yuki ging, säuberte er den Tisch und schwieg solange, bis sie selbst das Wort an ihn richtete. Er war geduldig und lieb.

„Sohei“, flüsterte sie und erhob sich vorsichtig. Yuki schlief tief und fest. Leise lief Sayoko zur Wand und lauschte. Sohei hustete. Ob seine Krankheit schlimmer wurde? Sie wollte helfen. Doch was sollte sie schon grossartiges tun?

Leise verliess sie das Zimmer und ging zur Küche. Sohei trank Wasser mit Tropfen. Medizin nannte er das. Die Geräusche, für Menschen kaum wahrnehmbar, erschreckten sie. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, breitete sich in ihr aus. Nicht einmal den Himmel konnte Sayoko erblicken, der ihr sonst Trost gab.

Tapfer betrat sie die Küche. Mit ihrer feinen Nase erschnüffelte sie die Packung. Ungeschickt nahm sie die Packung heraus. Der Geruch stank für Sayoko so sehr, dass sie es auf den Boden fallen liess. Erschrocken horchte sie, ob ihre Tante und ihr Gefährte aufwachten. Nichts geschah. Vorsichtig nahm sie das Gefallnene auf. Ob es kaputt war? Geschirr kann zerbrechen. Papier zerreissen. Stoffe verfranzen. Gefährlich waren die Geräte, die mit Strom liefen. Ihre Tante warnte sie davon.

Ein leiser Seufzer verliess ihren Mund. Ihr Kopf drehte sich von all den Gefühlen und Gedanken. Sie dachte an ihren Wald. An die klare Luft und das saubere Wasser. Hier roch alles unrein. Nach Mensch. Sie wollte zurück. Nach Hause. Zu ihrem Vater. Winselnd kroch sie auf allen vieren zu einem Fenster und blickte hinaus. Vater, hilf mir. Hier möchte ich nicht sein. Es ist alles ein Fehler.

 

 

 

 

***

 

Gähnend streckte sich Sohei und schenkte dem Jungen ein Lächeln. Dieser plapperte ununterbrochen auf ihn ein. „Mama sagt, diese junge Frau sei eine Verrückte. Aber man darf nicht unnötig die Polizei rufen. Habe es meinen Freunden erzählt. Zuerst glaubten sie mir nicht, aber ich werde einen Beweis finden, jawohl!“ Sohei wuschelte ihn durch die Haare. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, das er davon was wusste.

Seit gut drei Wochen wohnte Sayoko bei ihnen. Yuki ging nicht zur Uni. Die Anrufe ignorierte sie und blockt jeden Besucher ab. Die Nachbarn erkundigten sich bei ihm, was wohl los sei. Er tat so, als wusste von nichts. „Yuki ist ohne ein Wort zu sagen gegangen. Vermutlich besucht sie ihre Mutter.“ Wie oft er diesen Satz von sich gab, konnte Sohei nicht mehr zählen.

Yuki hatte sich eine fixe Idee in den Kopf gesetzt. Hilfe nahm sie nicht an. Tat sie es für ihre Nichte oder für sich selbst?

„Minko geht gar nicht mehr hinaus. Mama sagt, er muss zum Tierarzt“, plapperte der Junge weiter. Minko war ein schwarzer Kater, der nachts durch das Treppenhaus lief. Fast, als würde er die Lage kontrollieren wollen. Seit dem Auftauchen von Sayoko verliess er die Wohnung nicht mehr.

Sohei spürte, dass es nicht richtig war, weiterhin Sayoko hier zu behalten. Sie war nicht glücklich und Yuki würde sich ihr Leben kaputt machen. Heute würde er den ersten Schritt tun, um Yukis Seele zu befreien.
 

„Wie ich es mir dachte. Diese Farbe steht dir.“

Glücklich musterte Yuki Sayoko. Die Farbe stand ihr ausgezeichnet. Sie sah aus, wie ihr Vater. Strahlend schubste Yuki sie vor einem Spiegel. Die Haare hatte Yuki von ihrer Nichte hochgesteckt. Sayoko trug einen Kimono. Einen selbstgeschneiderten Kimono. Sayoko sollte wie eine Prinzessin aussehen beim nächsten Stadtfest.

Yuki malte die schönsten Bilder sich aus. Wenn Sayoko ein Fest erlebt hat, konnte sie gar nicht anders, als ein Mensch bleiben zu wollen. Die Zeit, die sie mit ihrem Bruder nicht verbringen konnte, würde sie mit ihr nachholen können. Das war das Beste für Sayoko. Danach konnte sie sich mit den Formalitäten abplagen können. Oder vielleicht müsste sie das gar nicht tun?

Solange Sohei schwieg, konnte ihre Nichte einfach hier leben. Das Menschsein geniessen, ohne Konsequenzen und Verpflichtungen. Wenn ihr Bruder nicht in die Schule hätten gehen müssen, wäre er auch ein Mensch geblieben.

Wie sich Sayoko fühlte? Gefangen und missverstanden. Die Kraft sich zu wehren fehlte ihr vollkommen. Yukis Fürsorge zerquetschte ihren Willen. Stumm fügte sie sich den Wünschen ihrer Tante. Das Spiegelbild machte ihr Angst. Das war nicht mehr sie.

Yuki sah nicht mehr Sayoko im Spiegelbild, sondern ihn.

 

 

 

 

 

 

***

 

Sohei blickte auf die Uhr. Es war Zeit, um es zu tun. Dieser Schritt fielen ihm schwerer als gedacht.

Das Gefühl Yuki zu verraten kroch in ihm hoch. War es wirklich das Beste? Die Augen schliessend nahm er sein Handy aus der Tasche. Sie leidet. Genauso wie sie auch. Jemand muss etwas unternehmen. ICH muss es tun.

Ein Mitstudent rief ihm was zu. Sohei schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Der Student dankte ihm trotzdem und suchte jemand anderes, der mit ihm zum Karaoke gehen würde. Das Leben ging seinen gewohnten Gang. Gleich, ob er krank war oder Yuki unentschuldigt der Uni fernblieb. Ob sie ein Mensch oder Wolf war.

Obwohl er es versuchte zu unterdrücken, zitterten ihm die Hände. Es läutete, bis eine Männerstimme sich meldete. Höflich stellte Sohei sich vor, wurde aber unterbrochen. „Yukis Freund ist es. Hier nimm.“ Er hörte, wie die Gespräche verstummten und die Schritte derer, die der Anruf galt.

„Guten Tag, Sohei. Wie schön es ist, dich zu sprechen.“

Sohei schluckte unbewusst und setzte sich gerade hin. Die Stimme von Yukis Mutter zu hören, erleichterte und verängstige ihn gleichermassen. Er brachte ein stammeltest „Guten Tag“ hervor, bis ihm ein Kloss im Hals das Sprechen erschwerte.

Hana, die Mutter von Yuki, spürte instinktiv das Sohei was plagte. Sonst hätte er nicht ein heimliches Telefongespräch vereinbart. Da Hana abgeschieden in einem Dörfchen wohnte, war dies schwierig. Doch nicht unmöglich, wie diese Aktion bewies. Während Sohei die richtigen Worte überlegte, drehte sich Hana zum Ladenbesitzer um. Ohne ein Wort zu sagen, verstanden sie sich. Er und die zwei Hausfrauen verliessen den Laden.

„Sohei, du kannst frei sprechen. Ich bin jetzt allein.“

Als wäre dies das Signal gewesen, sprudelte alles aus dem jungen Mann heraus. Yukis Veränderungen und das Geheimnis um den nächtlichen Gast.
 

Sayoko nieste. Lachend wünschte Yuki ihr gute Besserung.

„Vielleicht denkt jemand an. Oder redet über dich“, sagte sie ohne daran zu denken, das allein drei Personen Sayoko kannten. Sohei, Ame und sie. Wehmütig blickte das Wolfsmädchen aus dem Fenster. Gerne wäre sie spazieren gegangen. Den Wind in den Haaren gespürt. Sogar an die Anwesenheit anderer Menschen hätte sie sich irgendwie gewöhnt.

„Sayoko, ich werde mich um alles kümmern. Überlass es mir.“ Diese Worte bereiteten ihr keine Freunde. Ein neues Gefühl überkam sie, wenn sie an ihre Tante dachte: Angst.
 

Soheis Herz klopfte. Er fühlte sich wie ein Verräter. Mit einer Halbwahrheit lockte er Yuki hinaus. Zur Uni und zurück bräuchte sie eine gute halbe Stunde. Und falls er Glück hatte, traf sie auf ihre Professoren. Sicherlich auf andere Studenten, die sie ausfragen würden. Ihre Worte hallten in seinen Ohren. „Lass niemanden hinein!“ „Sayoko ist empfindlich.“ „Wehe dir, ihr geschieht was, während ich nicht da bin!“ Es war fast herzzerreissend, wie sich Yuki von ihrer Nichte verabschiedete. Sohei schwieg die ganze Zeit über, versuchte unbeteiligt auszusehen.

Ob Yuki was ahnte? Vielleicht. Und vielleicht wollte ein Teil in ihr diese ungesunde Beziehung auch beenden.

Sayoko sass auf dem Boden. Sie sah aus wie eine Puppe mit Wolfsohren. Fast, als wäre sie ein lebendiges Spielzeug. „Sohei?“, fragte sie leise und erhob sich. Tapsig schritt sie auf ihn zu und wäre fast hingefallen, wenn er nicht auf sie zu gerannt wäre. Schockiert betrachtete er sie. Sie war mager und blass. Geschminkt wie eine Geisha. Dieses Mal trug sie einen weissen Kimono. Hergestellt aus Yukis Kleidung und Gardinen. Lieber wäre Sohei spät nachts wieder herumgerannt, um Unterwäsche zu kaufen, als Sayoko so zusehen.

„Was wolltest du fragen?“, sagte er und versuchte, die peinliche Situation zu überspielen. Mit grossen Augen sah sie ihn direkt an. Ihre Ohren zuckten leicht. „Darf ich wieder nach Hause?“

Soheis Blick wanderte zu einem kleinen Tischchen, auf dem Yuki und er Erinnerungstücke aufstellten. Er hatte ein paar Fotos und ein geschnitztes Tierchen von seinem Cousin aufgestellt. Yuki hielt wie er ein paar Familienfotos in Ehren. Jedoch waren diese verschwunden. Nun waren nur noch Fotos von ihr mit Sayoko darauf aufgestellt. Geschossen mit ihrem Handy, ausgedruckt vom Laptop. Den Ast, welcher er mitbringen musste, war verziert. Yuki hatte versucht einen klassischen Schirm aus ihm zu machen. Danach sah er sich in der Wohnung um. Sie machte keinen verwahrlosten Eindruck auf den ersten Blick. Jedoch schien eine Schwere in dieser Wohnung an den Wänden und Möbel zu haften. Fast so, als wäre diese Wohnung verflucht worden.

„Du wirst nach Hause gehen, Sayoko.“ Diese Worte zauberten zum ersten Male, seit das Wolfsmädchen in die Fremde gezogen war, ein ehrliches Lächeln auf ihr Gesicht. „Deine Grossmutter wird dich abholen kommen. Werde glücklich“, sprach Sohei und wischte sich die kommenden Tränen aus den Augen.

 

 

 

 

 

 

***

 

Strahlend schnupperte das Wolfsmädchen an den blühenden Blumen. Es war ein herrliches Gefühl herumzutollen und die Sonne zu spüren. Hana sass auf der Treppe ihres Hauses und blickte ihrem Enkelkind zu. Sie stellte keine weiteren Fragen an jenem Tag, als sie in die grosse Stadt reiste, um sie abzuholen. Und würde auch keine weiteren Stellen. Wie lange Sayoko schon hier war, konnte sie nicht sagen. Ame, ihr Vater, kam wohl ab und zu vorbei, sprach jedoch nicht mit ihr. Was seine Beweggründe waren, wollte Hana nicht wissen. Ihr Sohn sollte sein Leben auf seine Weise Leben. Genauso wie ihre Tochter. Und ihr Enkelkind.

„Die Frauen vom Dorf kommen“, rief Sayoko, während sie zum Haus lief. Hana nickte und erhob sich nicht. Geschwind verschwand Sayoko unter dem Haus. Vor ihrer Grossmutter zeigte sie sich in beiden Gestalten. Fremden Menschen wollte sie sich nicht zeigen.

„Hast du Wasser?“

„Ja, habe ich.“

Zufrieden darüber, das Sayoko versorgt war und sich sicher fühlte, wartete Hana ab. Was es wohl heute zum Besprechen gab? Gab es frohe Kunde über Minako? Zog jemand Neues ins Dorf? Jeden Tag war für Hana ein Geschenk, den sie mit einem Lächeln begrüsste und verabschiedete.
 

Gut verborgen beobachtete Ame das Haus seiner Mutter. Der Wind wehte und trug seinen Geruch zu seiner Tochter. War er dankbar über das Wiederkommen seines Kindes? War er enttäuscht über das heimliche verschwinden? Ame konnte es nicht sagen. Er dachte, dass er all diese menschliche Gefühle abgelegt hatte. Er war der Beschützer des Waldes. Eins mit der Schöpfung der Götter. Und doch fühlte er wie damals, als er noch ein Mensch war. Seit Jahren besuchte er seine Mutter nicht mehr. Er wollte ihr keinen Kummer bereiten.

Während er das Haus besah, bedauerte er einen Entschluss. Den Entschluss, selbst Vater zu werden. Er dachte nicht daran das eines seiner Kinder die Gabe erben würde, in der Menschenform zu Leben. Sie war die einzige seiner bisherigen Kinder, die diese Gabe besass.

Der Wind drehte sich und nun nahm er ihren Geruch war. Ame setzte sich hin. Er hörte die Stimme seiner Mutter. Die fröhlich über Yuki redete und ihre Arbeit.

Du hast es nicht leicht. Du liebst uns alle. Vater, Yuki, mein Kind und mich. Gleich, ob du den Zorn und Hass anderer oder uns auf dich ziehst. Wie Sonne die Erde wärmt und der Regen alle Lebewesen nährt, bist du dies für uns. Was Yuki meiner Tochter antat, kann ich schwer verzeihen. Krank und besuhlt kehrte sie zurück. Nicht mehr sie selbst. Ihre Schönheit zerbrochen.

Ame blieb so lange, bis die Frauen mit Hana runter in das Dörfchen gingen. Er wartete eine Weile, danach lief er zum Haus. Seine Tochter kroch hervor und blickte ihn an. Sie wusste auch ohne Worte, was er von ihr wollte.
 

Beim siebten Male klappte es. Erleichtert fragte Hana, ob sie störe. Immerhin rief sie Sohei einfach an, ohne mit ihm was abgemacht zu haben. Zum Glück war seine Vorlesung vorbei und die nächste fing erst in gut zwanzig Minuten an. Das passte auch Hana, da der Ladenbesitzer ihr den Raum nur für einen Moment geben konnte. Sie wollte die Freundlichkeit nicht ausnutzen, sowie Sohei die Zeit nicht stehlen.

„Konnte uns Yuki verzeihen?“ Sohei war nicht überrascht, diese Frage zu hören. Wie jede Mutter sorgte sich auch Hana um ihre Tochter. Er hätte gerne gewusst, wie es Sayoko ging. Da er jedoch nicht zur Familie gehörte, schluckte er seine Frage hinunter.

Yuki war nach der Abholung mehr als enttäuscht. Sie schrie und tobte nicht, was Sohei schon befürchtete. Lange blickte sie auf das Tischchen der Erinnerungen und den Brief, der ihre Mutter geschrieben hatte. Dabei lag ein roter Apfel. Ein Apfel von ihrem Baum, den sie als Kind im Garten gepflanzt hatte. Den sie nach dem Verschwinden Ames liebevoll gepflegte.

Danach ging sie wortlos in ihr Zimmer. Am nächsten Morgen war sie verschwinden. Sohei suchte nicht nach ihr, wollte ihr Zeit lassen. Erst am dritten Tag ging er auf die Suche nach ihr. In einem Kaffe fand er sie schliesslich. Ihren Blick auf ein Bild von Romulus und Remus gerichtet.

„Sie wird dieses Semester aussetzen. Ich habe das Nötigste für sie organisieren können. Vielleicht wird sie das Studium abbrechen.“

„Sohei, ich danke dir. Ich sollte bei ihrer Seite sein. Stattdessen bist du es. Bitte wirf achte noch weiter auf sie. Auch, wenn eure Freundschaft zerbrach.“

Schweigend sah Sohei auf den Boden. Er konnte die negativen Gefühle nicht einfach vergessen.

Doch er würde ein gegebenes Versprechen nicht vergessen.

Epilog

Der Mond schien hell. Die Sterne glänzten wie Glühwürmchen am Himmelszelt. Als hätten die Götter für Vater und Tochter eine besondere Atmosphäre schaffen wollen.

Sayoko genoss den Wind und Geruch des Waldes. Die Klänge des Waldes beruhigten sie. Dies war ihre Heimat. Ihr Leben. Oder nicht?

Sayoko setzte sich hin. Sah zum Himmel und liess ein trauriges Heulen erklingen. Die Zeit bei ihrer Tante war die Hölle. Dennoch war nicht alles beklagenswert. Sie gab sich solche Mühe und opferte ein Teil ihres Lebens für sie. Die erste Zeit war neu und aufregend. Sie fühlte sich irgendwie zu Hause.

Ebenso die Zeit bei ihrer Grossmutter war herrlich. Als Mensch buken sie Leckereien. Pflanzten Gemüse und Blumen. Wanderten in der Natur. Sassen still auf der Treppe. Schwiegen.

So zu leben würde ihr gefallen. Nicht in der Stadt. Was würde ihr Vater zu ihrem Wunsch sagen?

Ihr Vater näherte sich seiner Tochter. Sanft begrüsste er sie. Eine Weile sassen sie nebeneinander. Heulten den Mond zusammen an. Ame sprach leise mit menschlicher Stimme: „Komm mit. Ich möchte dir was zeigen.“

Der Apfelbaum schien nicht hier herzuhören. Umrundet von Sträuchern und geschützt von einem Ahron.

Staunend sah Sayoko in an. Weshalb zeigte ihr Vater ihr diesen Ort nicht? Dies fragte sie ihn. Zuerst schwieg er.

Dieser Baum wuchs aus den Kernen eines Apfels, der seiner Schwester und Mutter pflanzte. Er wusste nicht, weshalb er dies tat. Ab und zu ging er zu diesem Baum. Es half ihm Baum nachdenken.

Nach der Erzählung ging Ame. Sayoko blieb beim Baum und bestaunte seine besänftige Schönheit.

Sie dachte über ihre Tante und Grossmutter nach. Und ihrem Vater.
 

Yuki sprach viel über ihren Bruder. Laut und stumm. Sie spürte Yukis Hoffnungen und Sorgen. Wollte ihr gerne das geben, was sie sich wünschte. Den Ersatz ihres geliebten Bruders zu werden.

Oft wünschte sie sich in Wolfsform nicht wie ihr Bruder auszusehen. Sie spürte die Blicke ihrer Tante. Als Sayoko daran dachte, konnte sie ein Zittern nicht verhindern.

Ob sie ihre Tante verraten hatte? Ihren Vater? Sie fühlte wieder Schuld in sich aufkeimen.

Ihr Vater gab ihr Halt und Stärke. Sanft beschützte er sie und lenkte ihr Leben, ohne sie zu bevormunden. Das bemerkte sie erst, als sie wieder in ihre Heimat kam. Er lernte sie das Jagen und Überleben in der Wildnis. Gerne hätte Sayoko in noch mehr über das Verhältnis zu seiner Schwester gefragt.

Sayoko spürte, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Leben wie ein Mensch oder Wolf? Was wäre das Richtige? Wen würde sie enttäuschen müssen? Ob ihr Vater sich damals genauso fühlte?

Diese und andere Fragen wirbelten in ihrem Kopf herum, während das Wolfsmädchen den weiterhin Baum betrachtete. Ein Wunsch, stärker als der den sie einst in Stadt führte, formte sich in ihrer Brust.

Mut fassend heulte sie den Himmel an. Dieses Mal würde sie nicht von ihren Gefühlen davon rennen. Wie ihr Vater würde sie zu ihren Gefühlen stehen.

Sie war das, was sie war.



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