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Spiel ohne Limit

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Mit etwas Verspätung, hab' ich es endlich geschafft, weiterzuschreiben 🙈 dafür ist es ein längeres Kapitel geworden. Viel Spaß Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo,
wie der Name des Kapitels schon verrät :D ist das hier ein Filler zur Zeitüberbrückung und rollt ein bisschen die Beziehung zwischen Rin und ihrer vermeintlich großen Liebe auf. Natürlich dürfen ein paar Duele nicht fehlen und der ein oder andere Charakter schleicht sich auch heimlich in die Geschichte.
Ich wollte es jedem freistellen, ob er sich das "antun" möchte, ich habe es ein wenig übertrieben, das ais einer kleinen Idee wieder mal ein Riesenfass aufgemacht wurde .xD
Wer das nicht liest, verpasst lediglich ein paar Insider.

Es ist der erste von 3 Fillern - ich betrachte meine Geschichte im Aufbau ein wenig als Serie, deshalb dürfen Filler nicht fehlen.

Liebe Grüße und eine schöne Weihnachtszeit Komplett anzeigen

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Prolog

Gerade noch rechtzeitig hatte es Rin über die Kreuzung geschafft und sich unter einen der herausragenden Dächer eines Supermarktes unterstellen können, bevor aus vereinzelten Tropfen ein regelrechtes Geplätscher entstand. Vor ihren Augen prasselten die Regentropfen auf die Straßen und Häuser Dominos-Citys hernieder und ließen binnen weniger Minuten gewaltige Pfützen entstehen. Autos und Busse fuhren an ihr vorbei, dass sie die Wassermassen von den Böden auf die ihnen nächstgelegene Fußgängerzone schleuderten.

Rin seufzte. Eigentlich wollte sie doch nur einen kleinen Umweg über die Innenstadt machen und ein paar Buchläden abklappern. Sie brauchte dringend ein paar Bücher, die sie von den langweiligen Stunden im Call Center ablenken konnten. Acht Stunden am Stück vor dem Schreibtisch sitzen und nichts tun war einfach nichts für sie. Aber mit irgendetwas musste sie ihre Brötchen verdienen. Ihr Blick schweifte auf die andere Straßenseite. Ein Kiosk hatte seine Fensterläden mit den neuen Plakaten des anstehenden Duell-Monsters-Worldcup versehen. Ein schwarzes Magiermädchen zwinkerte ihr zu, der hellblaue Stab schwang über ihren Kopf und zeigte direkt auf die übermächtigen Buchstaben. Rin hatte nie verstand, wieso diese Figur solch einen Hype auslöste. Für ihren Geschmack stöhnte die Magierin etwas zu viel, wenn sie aufs Feld gerufen wurde.

So etwas können sich nur Männer einfallen lassen

Sie ballte die Hände zur Faust. Es war einfach nicht fair. Das ganze Leben war nichts als reines Glücksspiel und Rin war dabei, all ihre Einsätze auszuspielen. Wie oft hatte sie sich bereits um eine Festeinstellung als Duellantin beworben? Wie viele Bewerbungen und Eigeninitiativen hatte sie bereits gestartet, um wenigstens ein Vorstellungsgespräch ergattern zu können? Wie viele Absagen waren bereits zu ihr nach Hause geflattert, hatten nach einem leisen Hoffnungsschimmer alles zunichte gemacht. Sie konnte ja froh sein, dass ein paar von ihnen wenigstens so viel Anstand besaßen, ihr eine vorgefertigte Nachricht zu senden. Manche hatten sich bis heute nicht gemeldet, dass es Rin immer wieder aufs Neue versucht hatte. Sie wusste, dass der Job nicht nur begehrt war; die Chancen für Duell-Monsters-Spielen bezahlt zu werden, standen so hoch wie einen Sechser im Lotto zu gewinnen. Zwar gab es viele namenhafte Firmen, die akribisch nach jungen Talenten suchten, doch letztendlich dienten die meisten Anzeigen als pure Publicity, um ihre eigene Beliebtheit zu steigern und jungen naiven Menschen wie Rin eine Illusion von einer realistischen Chance vorzuspielen. Mit ihren Augen versuchte sie Todesblicke an die leicht bekleidete Magierin zu senden, die den Anschein erweckte als wäre es ein Kinderspiel der neue Duell-Monsters-Champion zu werden. In Wahrheit brauchte man mehr als Talent, Hingabe und Ehrgeiz. Die wahre Zauberformel spielte sich im Inneren des Portemonnaies ab, sowie in der Anzahl guter Beziehungen. Rin hatte weder das eine, noch konnte sie behaupten, das andere zu besitzen. Sie kam aus mittelständischen Verhältnissen, mit mittelmäßigen Beziehungen, die sie nicht dorthin bringen konnten, wohin sie wollte - nämlich an die Spitze der Duell-Monsters-Liga. Sie wusste, sie hatte das Zeug dazu. In ihrem Bekanntenkreis war sie die beste Duellantin, einige kleine Turniere während der Schulzeit hatten ihr öfters den Sieg eingebracht. Nur den Tritt in die richtige Richtung, den hatte sie noch nicht erhalten. Noch immer sehnte sie sich nach einem Zeichen, irgendetwas, dass sie in ihrem Vorhaben bestätigen sollte. Ein kleiner Lichtblick in den endlosen Weiten der Dunkelheit, dass sie mit Selbstvertrauen ihren Eltern entgegentreten konnte, die ihren Traum für nichts anderes als ein Hirngespint hielten. Seit Wochen hörte sie die Enttäuschung heraus, dass die Telefonate nur noch Krampf waren. Immer dieselbe Rechtfertigung, jedes Mal dieselben Erklärungen. Rin hatte es so satt. Die Telefonate zogen sie herunter, dass immer ein Stück Zweifel zurückblieb, der sich in ihr Innerstes einnistete.
 

"Mann, ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal so einen Regen erlebt habe." Neben ihr stellte sich ein großgewachsener junger Mann mit schwarzen, leicht gelockten Haaren und lächelte Rin an.

"Du kommst nicht von hier, stimmt's?", lächelte sie zaghaft zurück, dass er sie perplex anblinzelte und Rin darauf erwiderte: "Hier regnet es mindestens einmal im Monat so heftig, dass der Fluss beinahe überläuft. Jemand, der von hier ist, weiß das."

"Du hast mich erwischt", lachte er verlegen und schob seine Brille hoch, "ich bin erst vor einer Woche hierher gezogen. Yamato Shiba"

"Rin Yamamori", entgegnete sie und nahm seine Hand entgegen.

"Du bist aus Domino?"

"Hier geboren und aufgewachsen", nickte Rin.

"Vielleicht kannst du mir bei nächster Gelegenheit die Stadt zeigen", Yamato kratzte sich an den Kopf, dabei wuselten die Finger durch sein volles Haar, für welche Rin eine Schwäche entwickelt hatte, "ich kenne hier kaum jemanden und ich habe noch keine Ahnung, wo ich hier gut essen kann." Sein Lächeln wurde breiter. Für gewöhnlich verabredete sie sich nicht mit wildfremden Menschen - auch wenn es in diesem Fall ein süßer Kerl war, der scheinbar gefallen an ihr hatte. Sie war eher jemand von der distanzierten und zurückhaltenden Art, dass sie ihre bisherigen Beziehungen auch an einer Hand abzählen konnte - weswegen sie sich nicht schämte. Aber Yamato schien nicht nur attraktiv und sympathisch zu wirken. Er war auch noch der erste, der sie auf offener Straße angesprochen und um ein indirektes Date gebeten hatte.

"Bis Ende der Woche habe ich Spätschicht", erwiderte sie und rief sich ihren Schichtplan für diesen Monat ins Gedächtnis, "aber dieses Wochenende habe ich Zeit. Ich zeig`dir gerne die Stadt. Ein paar gute Läden und Restaurants kenne ich auch", sie grinste und zückte ihr Smartphone aus dem Trenchcoat. Yamato strahlte sie ebenfalls an und zog aus seiner Hosentasche sein eigenes Telefon heraus. Sie tauschten ihre Nummern aus, dass Rin ganz aufgeregt die Zahlen eintippte.

Der Tag hat gar kein so schlechtes Ende genommen

Sie ließ beinahe ihr Telefon fallen, als es in ihrer Hand zu vibrieren begann und eine unbekannte Geschäftsnummer aufleuchtete. Geradeso konnte sie sich ein Kreischen verkneifen und wischte mit dem Daumen auf annehmen.

"Hallo?", sprach sie leise, um den Schrecken zu verbergen.

"Frau Rin Yamamori? Hier Saito Kenshin von der Kommerz-Abteilung der Kaiba Corporation. Es geht um Ihre Bewerbung zur Berufsduellantin." Rin blieb das Herz stehen, sie riss die Augen auf: "Ja?", fragte sie vorsichtig als könnte sie jeden Augenblick von dem kleinsten Geräusch geweckt werden und sich herausstellen, dass sie nur geträumt hatte.

"Es ist kurzfristig ein Termin zum Probeduell frei geworden. Wir würden Sie gerne in die Hauptzentrale des Kaiba Buildings einlassen, damit wie uns einen Eindruck von Ihnen machen können."

"Wann wäre der Termin?"

"Schaffen Sie es in einer halben Stunde da zu sein?" Ihr blieb ein Kloß im Hals stecken.

Eine halbe Stunde Sie war im südlichen Viertel der Stadt, einige Kilometer vom Firmensitz entfernt. Sie musste den Bus nehmen und die restliche Strecke zu Fuß meistern. Ihre Beine waren vom vielen Sitzen aus der Übung, Sport hatte sie das letzte Mal in der Mittelstufe betrieben. War es überhaupt möglich, in so kurzer Zeit pünktlich zu erscheinen? Noch dazu im heftigen Gewitterregen, durch rutschige Pfützen und glatten Fußwegen?

"Sind Sie noch dran?", die Stimme aus der anderen Leitung klang ungeduldig, "wenn Sie den Termin nicht wahrnehmen können, suchen wir uns jemand anderen, der mehr Interesse hat-"

"Nein, nein", rief sie ins Telefon, "ich komme. Vielen Dank." Damit legte Kenshin auf. Rin fasste sich ans Herz.

"Alles in Ordnung?", Yanato klang wirklich besorgt, seine dunkelbraunen Augen sahen sie herzerweichend an.

"Es tut mir leid", winkte Rin ab, "aber ich muss sofort los. Ich habe gerade einen echt wichtigen Anruf bekommen, der vielleicht das Zeichen ist, auf das ich schon so lange warte."

"Ich verstehe zwar nur Bahnhof,", Yamato stemmte die Hände in die Hüften, "aber es scheint ja echt wichtig zu sein. Dann wünsche ich dir viel Glück. Ich hoffe, wir sehen uns am Wochenende." Sie nickte ihm zu, bevor sie aus dem Trockenen in die stürmische Sintflut schritt.

Hart schlugen die Hände auf das polierte Mahagoniholz, dass die darauf liegenden Blätter zu vibrieren begannen. Zwei stechend blaue Augen sahen über den Schreibtisch hinweg, direkt in Richtung des zusammengestauchten Mannes, der nach einem Taschentuch zückte, um sich dieses an die Stirn zu tupfen.

"Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen", knurrte der Größere von beiden und sprang von seinem schwarzen ledernen Sessel, dass der kleine Mann kurz zusammenzuckte, "dass Sie niemanden finden können, der Ansatzweise die Grundregeln von Duell-Monsters beherrscht. In einer Woche beginnen die Duelle für den Worldcup. Sie und Ihr Team stellen meine Bereitschaft Ihrer Kompetenzen in Frage."

"Aber Herr Kaiba", stotterte sein Gegenüber und versuchte ein freundliches Gesicht aufzusetzen, "wir bemühen uns, Ihren Ansprüchen gerecht zu werden-"

"Und ist das so schwierig", fiel ihm sein Boss ins Wort, "Sie sollen nur einen Amateur-Spieler finden, nicht die Welt aus den Angeln heben."

"Nun", der schmierige kleine Mann zerknäuelte das Taschentuch und stopfte es sich zurück in die Hosentasche, "die Tests-"

"Was ist damit?"

"Sie...naja, sie erweisen sich schwieriger als erwartet. Bisher hat keiner der Bewerber die Prüfung bestanden."

"So ein Unsinn!", Seto Kaiba verlor bei so viel Inkompetenz die Geduld. Er hatte seine Angestellten nur diese eine Aufgabe übergeben: Sie sollten einen weiteren Duellanten anlässlich des Worldcups finden, dass sein Quartett komplett wäre. Neben seinen drei Profis sollte ein unbekannter Neuling das Team abrunden. Ein Amateur für die Publicity und besonders das Publikum. Dieses liebte es nämlich, jemanden aus ihren Reihen unter den Topstars und Sternchen zu sehen. Es vermittelte das Gefühl, dass Träume wahr werden konnten und steigerte zudem die Sympathie des Unternehmens, das sich als den moralischen Helden aufspielen konnte. Seto Kaiba wusste, wie dieses Spiel gespielt werden musste, und in diesem Jahr, wo er in Kürze ein neues Spiel mitsamt neuester holographischer Technik auf den Markt bringen wollte, würde er mit den anderen vermeintlich großzügigen Wohltätern gleich ziehen müssen. Lediglich der Haufen von Versagern, die sich Medienspezialisten und Duellanalysten nannten, bekamen es einfach nicht auf die Reihe, seinen Anforderungen gerecht zu werden. Genervt fasste sich der Braunhaarige an die Schläfe.

"Alles muss man selbst machen", murmelte er bissig und schloss die Augen, "wie viele Bewerber haben Sie für heute noch angesetzt?" Sein Angestellter sah auf seine Armbanduhr.

"N-noch zwei."

Kaiba schüttelte den Kopf. "Dann hoffe ich für Sie, dass einer von denen was taugt. Sonst können Sie sich Ihre Zukunft an den Nagel hängen." Damit schritt er aus seinem Büro, steuerte den Fahrstuhl an und ließ sich ins vierte Untergeschoss fahren - in die Testräume der Kaiba Corporation, in denen sämtliche Trainingseinheiten durchgenommen und neueste Technologien ausprobiert wurden. Er nahm eine Abkürzung durch eine der abgeriegelten Flure, durch die man nur mit Zugangskarte oder Authentifizierung gelangte. Damit war er in weniger als einer Minute dem ellenlangen Gang entkommen und stand direkt an der Hintertür des Kontrollraums. Als er diese aufriss und hindurchmarschierte, drehten sich zwei Augenpaare zu ihm um. Der eine nahm sein Headset vom Kopf und richtete sich augenblicklich auf.

"Herr Kaiba", brachte der andere, Saito Kenshin, hervor und glotzte ihn ungläubig an.

"Sie da", er zeigte auf den Handlanger, den er für einen Praktikanten oder ähnliches hielt, "Sie können gehen." Ohne ein Wort zu erwidern sprang der junge Bursche vom Stuhl und verließ den Raum. Nun richtete Kaiba sein Augenmerk auf die kugelsichere Glasscheibe vor sich. Dahinter stand ein junger Mann mit langem braunen Haar, der zunächst seine DuelDisk fixierte, bevor er sich Seto Kaibas Gegenwart gewahr wurde. Dieser hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte breitbeinig auf seine holographische Meisterleistung, die sich langsam zu glitzernden Staub auflöste.

"Er hat also verloren", bestätigte Kaiba das Offensichtliche und sah dem Versager mit zwei gefährlichen Schlitzen hinterher.

"Danke, Herr Teido, Sie können jetzt gehen. Ich melde mich in Kürze bei Ihnen."

Was für eine Heuchelei. Also ob du jemals eine Antwort bekommen würdest.

"War das der letzte?", Kaiba wandte sich ab und sah auf die Instrumente vor der Glasscheibe: Ein riesiges Pult für allerlei Spielereien lag offen. Mit diesem Gerät waren nicht nur Simulationsduelle in den verschiedensten Schwierigkeitsmodi möglich, man konnte auch sämtliche Spielstrategien und Kartenkombinationen durchgehen. Ein Muss für jeden Berufsduellanten, wenn er sich weiterentwickeln wollte.

"Nein, Herr Kaiba", entgegnete Kenshin und reckte seinen Hals, dass er von seiner sitzenden Position auf seinen Boss hinaufschauen konnte, "wir haben noch einen Bewerber."

"Dann schicken Sie ihn rein." Daraufhin drückte Kenshin einen Knopf, der einen Mitarbeiter am Empfang signalisieren sollte, den nächsten Interessenten herein zu bitten, denn im nächsten Augenblick öffnete sich erneut die Tür und ein neuer Bewerber betrat den Raum. Besser gesagt, eine Bewerberin. Seto Kaiba erinnerte sich nicht an das letzte Mal, dass sich ein weiblicher Bewerber um die Stelle des Berufsduellanten riss. Nicht, dass er Frauen diesen Berufszweig nicht zu traute, das weibliche Geschlecht selbst war es, das vor den privaten Einschränkungen des Businesses zurückschreckte. Duellant zu sein bedeutete, Familie und Freunde hinten anzustellen, ständig auf Achse zu sein und kaum Freizeit aufbringen zu können. Denn Arbeitszeiten gab es keine direkten, nur Duelle; zu jeder Zeit an jedem Ort, sobald sich die Gelegenheit ergab. Nur so erlangte man Ruhm und Erfolg. Jeder, der anderer Meinung war, brauchte hier nicht anzutanzen.
 

"Frau Rin Yamamori, richtig?", richtete der Leiter des Bewerbungsgespräches sein Wort an die junge Frau, die Kaiba für kaum jünger als er selbst einschätzte. Ihr Aussehen machte nicht gerade den Eindruck als hätte sie sich ausreichend auf die Bewerbung vorbereitet. Ihr braunes langes Haar war vollkommen durchnässt, dass die Spitzen des Ponys zu tropfen begannen. Ihre Kleider war ebenfalls vom Regen getroffen worden. Der dunkelblaue Trenchcoat war geöffnet, dass die weiße Bluse durchschimmernd hervorlugte, dass selbst Seto Kaiba sich nicht der Vorstellung entziehen konnte, was unter dem durchweichten Stoff verborgen lag. Ihre schwarze Jeans wirkte durch die angezogene Feuchtigkeit noch schmaler, dass sie wie eine zweite Haut auf der schlanken Figur lag. Ihre Augen sahen zu dem jungen Firmenchef, der nicht umhin kam, ihren Blick zu erwidern. Die dunkelgrünen Seelenspiegel waren ein völliger Kontrast zu dem restlichen Gesicht, das - vor allem wegen des fehlenden Make-Ups - relativ jung und naiv wirkte. Ihr Blick hingegen hatte etwas von einer Kopra - lauernd und anstachelnd.

"Vielen Dank", entgegnete Kenshin, dass die junge Frau ihre Augen zu ihrem Bewerbungspartner wechselte, "dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten."

"Kein Problem", ihre Stimme war leicht zittrig, er spürte, wie sie versuchte seinen Blicken auszuweichen und sich ganz auf Kenshin zu konzentrieren, "ich danke Ihnen für die Chance."

"Dann würde ich Sie gleich einweisen", begann Kenshin und räusperte sich, "wir führen mit Ihnen einen kleinen Test durch - nichts aufregendes, nur eine Simulation, die ihre Duellfähigkeiten testen soll, damit wir uns ein besseres Bild von Ihnen machen können. Waren Sie schon einmal für eine andere Firma tätig oder haben Sie durch Wohltäter bereits DuellMonsters auf Profiniveau gespielt?"

"Nein", kam es ganz klar von Rin Yamamori.

"In Ordnung. Haben Sie Ihr Deck dabei?"

"Ja."

"Dann gehen Sie bitte bis an die rechte Wand - von Ihnen aus gesehen - und nehmen Sie sich die Duel-Disk. Stecken Sie Ihre Karten in das vorgesehene Fach. Und wundern Sie sich nicht, über das eigenartige Kribbeln im Arm. Wir testen nur ihre Puls- und Herzfrequenz, um ganz sicher zu gehen, dass es Ihnen gut geht."

So ein Quatscht Die Messungen hatten lediglich den Zweck, die Belastbarkeit des Duellanten zu überprüfen. Jemand, der bereits vor dem kleinsten Angriff zurückschreckte, war es nicht wert, weiter beachtet zu werden."

"Nur keine Panik", schaltete sich Seto Kaiba mit ruhiger Stimme ein, "das ist nur eine einfache holographische Reproduktion, nichts, was noch keiner gesehen hat." Die junge Frau nickte, ohne dabei Kaiba direkt anzusehen. Stattdessen griff sie in ihre Handtasche, die locker um ihre Schulter hing und holte eine Duellbox hervor. Dann legte sie ihr Deck in die DuelDisk, dass ein Bildschirm, rechts neben dem Pult, zu leuchten begann und sämtliche Karten ihres Decks offen legte.

Deshalb bist du so nervös

Drei weiße Drachen mit eiskaltem Blick begegneten seine Augen, dass er innerlich zu schmunzeln begann. Sie besaß zwar nicht die Erstausgabe - mit denen sich einzig Kaiba rühmen konnte - doch waren diese Karten seit jeher hoch im Kurs, dass sie selbst für eine Neuauflage gutes Geld hingeblättert haben musste. Auch sonst machte ihr Deck einen soliden und durchdachten Eindruck. Sie schien eine richtige Liebhaberin von Drachen und Zauberkarten zu sein. Die Auswahl an seltenen und limitierten Ausgaben verriet, dass sie nicht wahllos eine teure Karte nach der anderen erworben hatte, wie es so mancher tat, der nicht wusste, was er mit seinem vielen Geld anstellen sollte.

"Beginnen wir mit der Simulation", sagte Kenshin und startete das System. Eine elektronische Frauenstimme ertönte durch die Glasscheibe und kündigte den Test an. Anschließend flimmerte die Auswahl des Schwierigkeitsgrades an. Kurz wanderte der Blick seines Angestellten zu ihm herüber.

"Worauf warten Sie", murrte Seto Kaiba.

"Sollten wir nicht lieber", entgegnete Kenshin mit gedrückter Stimme, dass man ihn hinter der Glasscheibe nicht hören konnte, "eine andere Schwierigkeitsstufe wählen?"

Ein eiskalter Blick begegnete ihm: "Die Voraussetzung um diesen Job zu bekommen ist den Test auf mittlerer Schwierigkeitsstufe zu bestehen. Alles andere ist inakzeptabel."

"Wie Sie meinen", beugte sich Keshin dem Willen seines Bosses und drückte auf den entsprechenden Grad. Grelles Licht entfaltete sich vor der jungen Frau, ein lauter Schrei ertönte, gefolgt von einem lebensechten Kreischen. Der weiße Drache unterstützt durch den Herren und der Herrin der Drachen erschien auf der Bildfläche und präsentierte seine gewaltigen Flügel, die sich in schwingenden Bewegungen über den Boden bewegten. Rin Yamamori sah auf das Monster. Ihrem Blick (und ihren Karten) zu urteilen, war dies nicht die erste nahe Begegnung mit dem Ungeheuer. Ihre Augen verrieten weder Unruhe, denn Einschüchterung.

"Frau Yamamori", Kenshin tat einen tiefen Atemzug, "Ziel des Test ist es, die Lebenspunkte der künstlichen Intelligenz auf Null zu bringen, bevor Sie von ihm besiegt werden. Beide Seiten beginnen mit viertausend Lebenspunkten, die Regeln bleiben unverändert. Da dies nur ein Simulationsbeispiel ist, können Sie bereits im ersten Zug einen Angriff durchführen. Haben Sie noch Fragen?"

"Nein."

"Dann viel Glück." Für Kaiba hatte dies nichts mit Glück zu tun. Er sah diesen Test auch weniger als solch einen an. Viel mehr handelte es sich um eine Art Rätsel, das zu lösen galt. Wenn die junge Frau nicht dahinter kam, würde dieses Probeduell schnell beendet sein. Doch zunächst zog sie sechs Karten und konzentrierte sich auf jede einzelne von ihnen. Ruhig blickte sie zwischen Monstern und Karten hin und her. Schließlich nahm sie eine der Karten in die andere Hand: "Ich spiele Feindkontrolle."

Lass´mich raten. Du willst den Blauäugigen auf deine Seite ziehen. Aber in wieweit hilft dir das zu gewinnen?

"Und ich wähle", ihr Finger zeigte auf einen der Magier, "den Herr der Drachen!" Kaibas linke Augenbraue zückte in die Höhe.

"Als nächstes spiele ich diese hübsche Karte", sie stattete das Monster mit einer Drachenrufflöte aus, dass der junge Firmenchef unweigerlich mit den Mundwinkeln zuckte. Zwei weiße Drachen erschienen auf ihrer Seite, ebenso erhaben und mächtig wie ihr Gegenüber.

"Weißer Drache", die junge Frau richtete ihren Blick hinauf zu dem Weißen, "greif`die Herrin der Drachen an." Wie erwartet reagierte das System auf den Angriff. Statt das Monster auf den Friedhof zu befördern, wurde eine Karte auf den Friedhof gelegt. Die Magierin blieb unversehrt, ebenso die Lebenspunkte, da das Monster sich im Verteidigungsmodus befand. Die junge Frau blinzelte nicht einmal, stattdessen streckte sie ihre freie Hand aus und befahl dem zweiten Weißen, die Herrin anzugreifen. Diesmal hatte der virtuelle Gegner keine Drachenmonster auf der Hand, um diese auf den Friedhof zu legen und damit der Zerstörung zu entgehen. Das war jedoch nicht genug: "Herr der Drachen, greif' seinen Weißen an." Das Monster gehorchte und strahlte seine finstere Energie auf den weißen Drachen mit eiskaltem Blick, dass dieser zum Gegenangriff ansetzte und den Magier besiegte, sowie über die Hälfte ihrer Lebenspunkte. Mit gesenkten Lidern legte sie abschließend eine verdeckte Karte ab und beendete ihren Zug. Neben Kaiba begann Kenshin zu seufzen. Er schien um seinen Job zu bangen. Schließlich wusste er, was die virtuelle Simulation vorhatte. Sie war darauf vorbereitete, angegriffen zu werden. Indem die Herrin der Drachen attackiert wurde, konnte das Programm das nötige Monster auf den Friedhof befördern, um dieses im nächsten Zug durch Monsterreanimation wieder zu beleben. Im Anschluss zückte das Programm Topf der Gier aus seinen gezogenen Karten, griff sich zwei weitere und landete einen Treffer, in dem es sich Fusion auf die Hand zog. Mit einer weiteren Karte, nämlich Drachenodem der Zerstörung, wurden alle gegnerischen Monster auf der Stelle zerstört. Explosionsartig löste sich ihr weißer Drache zu einer funkelnden Staubwolke auf.

"Fortsetzen von Main Phase eins", informierte die elektronische Frauenstimme, "Zauberkarte wird gesetzt." Polymerisation erschien auf dem Feld und verschmolz die zwei Drachen inklusive des zu Beginn des Spiels gezogenen blauäugigen weißen Drachen. Wer bereits vor einem Weißen schlotternde Knie bekam, verneigte sich vor der gewaltigen Kraft drei vereinter weißer Drachen, die eine ultimative Macht entfalten konnten.

"Battle Phase. Blauäugiger ultimativer Drache greift direkt an." Drei Neutronenblitze ballten sich in den Mäulern der Kreaturen auf, setzten grelle Lichtkugeln frei, die auf die junge Frau gerichtet waren. Diese hob ihre rechte Hand. "Meine Falle aktiviert sich: Angriff anulieren. Damit ist die Battle Phase beendet." Rotes Licht hinderte den blauäugigen Ultradrachen, seine Energie zu entladen. Stattdessen verschwanden die Lichtkugeln zurück in ihre Kehlen.

"Zug beenden", entgegnete die elektronische Frauenstimme, dass Rin Yamamori an der Reihe war. Sie zog eine Karte, betrachtete diese stillschweigend. "Ich spiele eine Zauberkarte - Inzahlungnahme. Wenn ich ein Monster der Stufe acht auf den Friedhof lege, darf ich zwei weitere Karten ziehen", damit legte sie die soeben gezogene Karte auf den Kartenfriedhof und setzte das Gesagte in die Tat um. "Als nächstes spiele ich diese nette Karte - Seelentausch. Damit hole ich mir den blauäugigen Ultradrachen."

Kenshin verzog das Gesicht, dass die Stirn falten schlug: "Sollte sie denn nicht wissen, dass diese Zauberkarte dem Anwender verbietet, mit dem Ultradrachen anzugreifen?"

Das weiß sie

Ihre Haltung war aufrecht, der Blick auf das neu eroberte Monster gerichtet, dem sie voller Zuwendung begegnete: "Ich opfere den Ultradrachen, um ihn aufs Feld zu rufen." Ein weißes Licht blendete den gesamten Saal, es regnete Abermillionen Funken von der Decke als der leuchtende blauäugige Drache das Feld betrat. "Mit dieser Karte", sie zeigte die zweite frisch gezogene Karte, "rüste ich mein Monster mit fünfhundert zusätzlichen Angriffspunkten aus. Und ich greife direkt an." Der leuchtende blauäugige Drache entlud seine gesamte Energie, dass ein langer weiß-silberner Strahl aus dem Maul schoss und ein Grollen gefolgt von einem donner-ähnlichen Gebrüll freisetzte.

"Wie-", rieb sich Kenshin die Augen, "warum sind die Lebenspunkte auf Null gefallen? Das Monster hatte doch nur dreitausendfünfhundert Angriffspunkte?"

"Scheinbar haben Sie nicht richtig aufgepasst", schaltete sich Kaiba ein und war überhaupt nicht über den Ausgang des Duells verwundert, "Zwei ihrer weißen Drachen wurden auf dem Spielfeld zerstört. Damit hatte sie mindestens zwei Drachenmonster auf dem Friedhof. Pro Drachenmonster gibt es für den Leuchtenden dreihundert zusätzliche Angriffspunkte. Ich vermute sogar, dass drei der weißen Drachen auf dem Friedhof liegen." Die junge Frau nickte, also war das achtstufige Monster der Blauäugige gewesen - so wie er es vermutet hatte.

"Eine Frage habe ich, Frau Yamamori", Kaiba zwang ihr regelrecht seinen Blick auf, den sie mit ihren stechenden Augen gut zu kontern wusste. Noch immer funkelte das Selbstbewusstsein eines Sieges auf ihren Zügen, dass sie geradezu vor Selbstsicherheit strotzte.

"Warum haben Sie zuerst die Herrin der Drachen angegriffen?" Sie sah ihn mit blinzelnden Augen an, das Grün schimmerte weit weniger stark wie noch einen Augenschlag zuvor: "Ich hatte das Gefühl, dass diese Monsterkombination darauf ausgelegt war, mich im nächsten Zug zu besiegen. Also tat ich das, was die Simulation von mir erwartet hat."

"Von Ihnen erwartet hat?"

"Sie wusste, dass ich den Weißen nicht angreifen konnte, solange sie auf dem Feld war. Und ihre Fähigkeiten sind mir bekannt. Sie kann so oft Drachenmonster abwerfen lassen, wie sie will. Im Gegenzug kann sie nicht zerstört werden. Viele sehen das als ihren Schwachpunkt, aber wenn man sie richtig spielt, kann es von ungeheurem Vorteil sein, seine Monster auf dem Friedhof zu haben, statt auf der Hand."

"Das genügt", winkte Kaiba ab, "Kenshin, setzen Sie den Vertrag auf und sorgen Sie dafür, dass er morgen pünktlich auf meinem Schreibtisch liegt."

"Natürlich", nickte Kenshin eifrig. Damit wandte sich Kaiba ab und verließ den Raum, dass er ihr >Vielen Dank< gar nicht mehr hören konnte.

"Lumina", pirschte sich Rin von hinten an ihre beste Freundin heran, die vor der Couch auf dem Boden hockte und auf ihren Laptop hämmerte, während ihre Ohren von zwei breiten Kopfhörern bedeckt wurden, aus welchen die Bässe des Visual Keys erklangen. Rin grinste verschmitzt, als sie noch immer nicht bemerkt wurde, selbst als sie die Wohnzimmertür scheppernd aufgerissen hatte, war der schwarzhaarige Wuschelkopf regungslos geblieben. Also schlich sich die junge Frau von hinten an sie heran, breitete die Arme aus und legte ihre durchnässten Hände auf die Augen der Nichtsahnenden, die daraufhin nach hinten kippte und mit weit aufgerissenen Augen Rin anstarrte, die ihr lediglich die Zähne zeigte. Ihre langjährige Freundin aus Schultagen riss sich die Kopfhörer herunter und legte den Laptop neben sich.

"Was zum Geier sollte das", knurrte die Schwarzhaarige und sprang vom Boden.

"Ach nichts", säuselte Rin und folgte ihrer Freundin, die auf das kleine Fenstersims zusteuerte und sich die halbleere Zigarettenschachtel krallte, "ich wollte dich nur daran erinnern, dass du heute für unser Essen aufkommst."

"Und wie komme ich zu dem Vergnügen?", entgegnete Lumina, die sich gerade eine Zigarette zwischen die Lippe presste und die Luft scharf einzog.

"Weil ich die Wette gewonnen habe." Rin stellte sich direkt vor ihre Freundin, deren Rauch an ihr vorbeiwehte. Lumina riss das Fenster auf, ließ die Abendsonne in ihre winzige Zweizimmerwohnung scheinen und begann nun ebenfalls breit zu grinsen: "Na sie mal einer an", nuschelte sie zwischen ihren Zügen, "hast du es doch endlich geschafft." Daraufhin zückte die Schwarzhaarige ihr Smartphone aus der Lederhose und tippte die Nummer ihres Lieblingspizzeranten ein. Seit sie in der Mittelstufe dem Kendoclub beigetreten waren, gehörte Pizzaessen bei * zur Tradition, die sie sich bis heute beibehalten hatten.

"Und ich will diesmal extra viel Käse auf meiner Thunfischpizza", fügte Rin hinzu und ließ es sich ebenfalls auf der Fensterbank bequem machen. Sie tat einen tiefen Atemzug. Die frische Luft vermischt mit dem vertrauten Zigarettengeruch gaben ihr ein Stück weit Ruhe und Ausgeglichenheit. Obwohl sie selbst noch nie in ihrem Leben eine Zigarette in den Mund genommen hatte, beruhigte sie die Gegenwart des Duftes, der ihre Freundin seit ihres vierzehnten Lebensjahr umgab und somit ein Stück weit Familie für sie bedeutete.

"So", Lumina drückte ihre Zigarette in den Spinnen förmigen Aschenbecher auf dem ein rosanes Herz klebte, "erzähl`mal. Wo bist du denn jetzt gelandet?" Rin zögerte nicht lange und holte aus ihrer Handtasche den Vertrag heraus. Diesen hielt sie wedelnd vor der Schwarzhaarigen, die daraufhin laut zu stöhnen begann.

"Kaiba Corp. Ich glaub, ich kotz gleich." Kopfschüttelnd fasste sie sich an die Stirn.

"Ich bin froh, dass mich überhaupt jemand genommen hat", murrte Rin, die auf solch eine Reaktion Seitens ihrer Freundin gefasst gewesen war, "die haben mich kurz vor Schluss angerufen und mir die Pistole auf die Brust gelegt. Ich war schon erstaunt, dass ich es rechtzeitig bis in die Kaiba Corporation geschafft habe."

"Alles arrogante Spinner. Die denken, die können machen was sie wollen. Dass denen jeder hinterherrennt." In dem Fall stimmte es auch. Rin war wie der Teufel gerannt, dass ihr das Herz bis in die Lunge gebrannt hatte. Zeitweise konnte sie ihren eigenen Puls in den Ohren hämmern hören. Ihre Mund hatte sich trocken angefühlt und einen metallischen Geschmack hinterlassen, den sie erst auf dem Heimweg losgeworden war. Auf den letzten Metern hatte sie zu allem Übel Muskelkater bekommen, der ihr fast die Galle in den Rachen gedrückt hatte. Noch nie war Rin um ihr Leben gerannt, aber dieser Moment hatte sich vergleichsweise angefühlt. Sie war stolz auf sich, dass sie nicht zusammengeklappt war. So eine Nummer hätte bestimmt keinen guten Eindruck hinterlassen.

"Und die blauäugige Schmalzlocke?", fragte Lumina und verdrehte bereits die Augen, "der lässt sich zu so was nicht herab."

"Schön wär´s", seufzte Rin und entledigte sich ihres Trenchcoats, den sie auf die Wäscheleine am Fenster trocknen ließ. Vor einer halben Stunde hatte der Regen aufgehört, die Sonne war für den letzten großen Auftritt hervor gekommen und hinterließ das Gefühl von Frühling.

"Sag`nicht", verschränkte die Schwarzhaarige die Arme vor der Brust, "Seine Majestät hat sich von seinem Thron erhoben."

"Er war zumindest da."

"Und?", hakte Lumina nach, "ist er so furcht einflößend wie man sich erzählt?"

"Wenn man drei Weiße in seinem Deck hat, dann schon."

"Was?!", prustete Lumina los. Ihrer Sitznachbarin war weniger zum Lachen zumute gewesen, als sie in sein Antlitz gesehen hate, wissend dass er gleich ihren Lieblingsmonstern - also seinen - begegnen würde.

"Du hast nicht ernsthaft mit deinen weißen Drachen mit eiskaltem Blick gespielt", sichtlich versuchte ihre Freundin das Lachen zu unterdrücken, die Wangen waren von Luft aufgeblasen, um den Augen entstanden winzige Falten.

"Was hätte ich denn machen sollen?", murmelte Rin und sah beleidigt zur Seite, "ich hatte nur mein altes Standarddeck bei mir." Ihr erstes selbst zusammengestelltes Deck trug Rin immer bei sich. Es war eine Art Glücksbringer. Die viele Mühe und Liebe, die sie dort hineingesteckt hatte, erinnere sie daran, warum sie ihren Traum nicht aufgeben durfte. Dass es seit Jahren nicht mehr als Duelldeck genutzt wurde, war eine andere Sache. Wie hätte sie auch ahnen können, von der Kaiba Corporation derart überrumpelt zu werden. Sie konnte froh sein, überhaupt ein Deck bei sich zu tragen, sonst hätte sie die Stelle gleich vergessen können. Ein Schauer durchfuhr sie als sie an den Blick des Braunhaarigen denken musste, der sie und ihre Karten genaustens gemustert hatte. Sein undurchschaubarer Blick hatte es ihr schwer gemacht, sich vollständig zu konzentrieren. Die Tatsache, dass sie eine der mächtigsten Karten von Duell Monsters spielte, für die Seto Kaiba berühmt geworden war, machte es nicht einfacher für sie. Wenn sie sich hätte vorbereiten können, wäre das Duell anders verlaufen und sie hätte sich nicht mit der Peinlichkeit rumschlagen müssen. Vor dem Chef der Kaiba Corporation gerade diese Monster auszuspielen, war mehr als unangenehm gewesen. Sie war sich wie ein kleiner dummer Fan vorgekommen.

"Also", holte sie Lumina zurück aus den Tagträumereien, "musstest du dich duellieren." In groben Zügen schilderte Rin das Probeduelle, das sich eher wie ein kleiner Ausschnitt eines Finalsieges angefühlt hatte.

"Irgendwie war das ganze schon seltsam", Rin stützte sich mit dem Ellenbogen am Fensterrahmen ab und legte das Kinn in die Hand.

"Was hast du denn erwartet? Dass du im Buro sitzt und dir die Frage gestellt wird, wo du dich in drei Jahren siehst?"

"Nicht ganz", zuckte Rin mit den Schultern. Weiter kam sie nicht, als es an der Haustür klingelte und Lumina aus dem Wohnzimmer (welches gleichzeitig auch das Schlafzimmer der Schwarzhaarigen darstellte) schlurfte und das Geld zusammenzählte. Lächelnd sah Rin ihrer Freundin hinterher. Seit über zehn Jahren, seit Lumina mit ihren Eltern aus dem alten Kontinent nach Domino City ausgewandert war, zählte die Schwarzhaarige, die ihr gerade einmal bis zur Schulter ging, zu ihren engsten Freunden. In jedem wichtigen Abschnitt ihres Lebens hatten sie einander unterstützt und Halt gegeben. Lumina war auch die einzige, die ihren Traum vom Duellchampion nicht als Witz abgetan und ihr gut zugeredet hatte, selbst als Rin Zweifel gekommen waren. Für beide kam nach Schulabschluss nichts anderes in Frage als sich eine gemeinsame Wohnung zu suchen und irgendwie über die Runde zu kommen. Während Rin von einem langweiligen Job in den nächsten wechselte, versuchte Lumina ihr Sprachstudium erfolgreich abzuschließen. Mit dem angesparten Vermögen und Rins Überstunden hatten sie sich keine große aber gemütliche Wohnung zulegen können, und mussten nicht in den tiefsten Norden ziehen, dessen Wohnungen mit denen eines Mauselochs mithalten konnten - von Größe und Standard. Rin hoffte, dass sie bald weniger Geldsorgen hatten. Ihr Blick huschte über den zehnseitigen Vertrag, der dieselbe Schriftgröße besitzen musste wie eine Bibel. Stutzig sah sie auf ihre leere Hand als Lumina an ihr vorbeischritt und den Vertrag an sich riss. Mit der anderen Hand balancierte sie die beiden Pizzaschachteln und stellte sie auf den quadratischen Tisch direkt neben dem Fenster, den sie eigentlich nur für Papierkram nutzten.

"Ich weiß", begann Rin und beugte sich zu den Schachteln herüber, dass der Duft von ofenfrischer Pizza in ihre Nase stieg, "es ist erstmal nur Mindestlohn, aber so viel mehr hab ich beim Call Center auch nicht verdient." Dafür hoffte Rin, mit kommenden Duellen viele Boni zu verdienen. Besonders wenn nächste Woche der Duell-Monsters-Worldcup in die erste Runde ging, würden viele nette Preisgelder fließen. Aus den vorherigen Meisterschaften wusste sie, dass die besten drei Spieler Domino-Citys Gelder in Höhe von bis zu zwei Millionen Dollar gewinnen konnten. Zudem führten Beliebtheit und Erfolg zu weiteren lukrativen Verträgen. Wenn sie Glück hatte, würde sie jemand sponsern, dass sie auf gar keine Firma mehr angewiesen war. Aber so weit wollte sie noch nicht denken. Zunächst war sie überglücklich, überhaupt beachtet und für voll genommen worden zu sein. Auch wenn das Bewerbungsgespräch nicht nach ihren Vorstellungen gelaufen war - was für ein Vorstellungsgespräch?! - hatte sie die erste Hürde ihres Traums gemeistert. Eine entscheidende obendrein. Außerdem war sie weit weniger von der Vorstellung angewidert für die Kaiba Corporation zu arbeiten als ihre Freundin. Sie hatte größten Respekt vor Seto Kaiba, sowohl als Geschäftsmann sowie als Duellanten.

"Sag`mal", Lumina zeigte auf Rin, die wieder einmal in ihren eigenen Gedanken gefangen war und kopfschüttelnd daraus erwachte, "bist du so in die Kaiba Corporation gegangen?"

"Denkst du, ich hatte die Chance mich umzuziehen?"

"Jetzt verstehe ich auch, wie du ihn rumbekommen hast."

"Was?!", protestierte Rin und sah zu sich herunter. Augenblicklich wich sämtliches Blut in ihr Gesicht. Ihre Bluse war wie ihr Trenchcoat von den Regenmassen erfasst worden, dass das milchige Weiß durchsichtig ihre Haut zum Vorschein brachte und den ebenfalls weißen Spitzen-BH offen legte.

"Natürlich", ging Rin auf die Spitzeleien ihrer Freundin ein, "ich hab`ihm all meine Vorzüge dargelegt. Für diese Stelle tue ich doch alles", dabei versuchte sie einen lasziven Unterton hinzubekommen, scheiterte aber kläglich, da ihre Lippen in ein breites Grinsen übergingen. Vor Lumina konnte sie solche ironischen Kommentare loslassen. Sie wusste, dass Rin nicht der Typ war, der sich auf solche Spielchen einließ. Es lag weniger an der Moral als an dem Gefühl der Erniedrigung und Unterwerfung, die sie allein bei dem Gedanken daran empfand, sich einem Mann an den Hals zu werfen, für den sie keine Gefühle hegte. Wie sie so auf sich hinabblickte, musste sie unweigerlich daran denken, wie Seto Kaiba sie angesehen hatte. Sie war froh, ihren Trenchcoat anbehalten zu haben, sonst hätte sie tatsächlich noch ein falsches Bild abgegeben.

Herzhaft biss sie in ein großes Stück ihrer Pizza hinein. Genüsslich kauend verfolgte sie die Blicke ihrer Freundin, die in den Vertrag vertieft war und nur zwischendrin an ihren Margerita knabberte.

"Hast du dir mal die Zusatzklauseln durchgelesen?", erklang ihre ernste Stimme, die sie sonst nur beim Lernen aufsetzte, "auch wenn das ein Zweijahresvertrag ist und du keine offizielle Probezeit hast, kannst du jederzeit fliegen, wenn du nicht aufpasst."

"Wie meinst du das?", Rin rutschte an ihre Freundin heran und linste in den Text.

"Hier steht", begann Lumina, "dass du nur eine gewisse Anzahl an Duellen verlieren darfst. Wenn du die überschreitest, wirst du von einem Tag auf den anderen gekündigt. Das gilt auch für Versäumnisse, auffallenden Krankentagen und fehlender Bereitschaft, die >Regeln und Bestimmungen der Kaiba Corporation ordnungsgemäß zu befolgen<"

"Dass ist doch alles kein Thema", winkte Rin ab, "das müssen die doch schreiben, sonst kann man ja bei diesem Job denken, dass man sich auf der faulen Haut ausruhen kann. Außerdem", das letzte Stück wanderte in ihren Mund, "gibt es keinen Weg zurück. Ich habe den Vertrag unterschrieben und dem anderen Saftladen gekündigt. Da stand ja noch die Probezeit aus, von daher war das kein Problem."

"Wollen wir hoffen, dass es sich auszahlt", daraufhin griff Lumina nach zwei Dosen Cola und stieß mit ihrer Freundin an.
 

Im Bett fand Rin keine Ruhe. Die Auswirkungen des Tages zeigten in der spätesten Stunde ihr wahres Ausmaß. Ihr Herz flatterte in der Brust, sie lag auf dem Rücken, die Hände auf den Brustkorb gelegt. Sie konnte nicht aufhören zu grinsen. Die Aufregung fand keine Grenzen, sie wusste nicht, wie sie sich ihrer entladen konnte. Wenn es geholfen hätte, sie wäre auch in Tränen ausgebrochen. Aber dafür war sie nicht der Typ, kein Tropfen rann die Innenseite ihrer Augen entlang. Ihre Händen begannen unruhig auf ihrer Haut zu trommeln. Den Blick zur Seite geneigt, sah sie auf ihr Handy. Die Uhr zeigte weit nach Mitternacht an, trotzdem schrieb sie eine Nachricht an Yamato. Eigentlich war sie noch etwas verunsichert gewesen. Obwohl sie ihm ihre Nummer gegeben hatte, hatte sie noch nicht entschieden, ob sie ihm wirklich antworten wollte. Die Situation hatte sie derart überrumpelt, dass dieses Gefühl in Unsicherheit umgeschwenkt war. In den meisten Fällen ignorierte sie derartige Ereignisse, da sie in der Vergangenheit zu keinem guten Ausgang geführt hatten. Heute war alles anders. Sie war nicht nur gut drauf, sie strotzte vor Selbstbewusstsein und überschwenglicher Freude, dass sie ohne viel nachzudenken drauf los tippte und die Nachricht abschickte.

Sie hatten sich an derselben Stelle verabredet, an der sie einander begegnet waren. Diesmal schien die Sonne, keine Wolke benetzte den Himmel und ließ nur eine sanfte Brise durch ihre Jacke wehen, die den baldigen Sommer ankündigte. Eigentlich wollten sie sich schon für Samstag verabreden, Hayato hatte letztendlich dann doch den Sonntag vorgeschlagen, da er noch letzte Erledigungen seines neuesten Umzuges zu tätigen hatte. Rin war es Recht gewesen, so hatte sie genug Zeit, sich auf die kommende Woche vorzubereiten. Ihr Herz schlug bei dem Gedanken schneller, sie grinste über beide Ohren - diese Woche würde sie mit einem gemütlichen Spaziergang durch die Innenstadt ausklingen lassen, dass etwas Ruhe in ihren hektischen Gemütszustand einkehren konnte. Der schwarzhaarige junge Mann stand bereits am vereinbarten Ort. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt, mit einer schwarzen Lederjacke, die perfekt in seine Naturhaarfarbe überging, lächelte er Rin an, als diese über die Straßenkreuzung lief. Sie lächelte zurück, dabei ließ sie die Hände vor ihrem Schoß und begrüße den großgewachsenen Mann, der sich leicht zu ihr herunterbeugte.

"Entschuldige die Verspätung", entgegnete Rin und sah leicht zur Seite, dass sie seinen Blicken nicht direkt begegnete, "der Verkehr im Zentrum ist wieder mal wie lahmgelegt."

"Das habe ich auch schon bemerkt", Hayato sah dabei zu den aufgestellten Bannern und Fahnen, die an den Laternenmasten angebracht waren, "ich habe völlig verdrängt, dass ich hier in der Gründungsstädte von DuelMonsters bin." Schon bei dem Wort bekam die junge Frau einen wohligen Schauer, der sie noch breiter strahlen ließ.

"Am besten", sie tippte sich ans Kinn, "wir fangen mit dem Hafen an. Der ist nur zehn Minuten von hier entfernt und ist jetzt zur Mittagszeit noch relativ entspannt." Hayato nickte, dass sie sich in Bewegungen setzten und gemütlich durch die Innenstadt spaziertenbis der Hafen mitsamt Promenade vor ihnen erschien. Wie erwartet war hier bereits alles für den kommenden Worldcup vorbereitet. Jeder Stand war entsprechend in den Farben von DuelMonsters Karten eingekleidet, der Fischmarkt wurde gänzlich geräumt und durch verschiedene Attraktionen und Souvenirläden ausgetauscht. Kurz huschten Rins Augen zu einer Bronzestatur eines weißen Drachen mit eiskaltem Blick herüber, die gut in ihre Sammelvitrine gepasst hätte. Zum Glück waren die Stände nur aufbereitet worden und würden erst Morgen ihre Pforten öffnen, dass Rins Geldbeutel verschont blieb.

"Wahnsinn", die braunen Augen des Schwarzhaarigen sahen sich gespannt um, "ich wusste, dass DuelMonsters beliebt ist, aber so einen Trubel hab ich echt nicht erwartet."

"Dann warte ab, was erst am Mittwoch los ist", erwiderte Rin und hielt vor einer Brüstung inne. Sie ließ den Blick über die offene See schweifen und genoss für einen Augenblick die feuchte Brise: "Ab zwölf Uhr werden sämtliche Straßen zur Innenstadt für die Eröffnungsparade abgesperrt. Bus und Bahn werden stillgelegt. Über hunderttausend Menschen stopfen sich auf den Fußgängerwegen. Man kommt dann nirgendswo mehr hin, die Leute ziehen einen quasi in ihren Strudel. So was ist nichts für Klaustrophoben."

"Und das startet Mitten in der Woche, am hellichten Tag?" Hayato schüttelte ungläubig den Kopf und lehnte sich an die Brüstung.

"An dem Tag haben die Schüler einen beweglichen Ferientag - damit sie auch bei dem Event dabei sein können. Im ersten Jahr hatte es so viele Schulschwänzer gegeben, dass die Behörden keine andere Wahl hatten. Am Mittag findet auch nur die Parade statt, mit ein paar Musikeinlagen und Gratis-Boosterpacks. Das ist ein bisschen wie zum Karneval nur mit verrückteren Figuren. Am Abend geht es dann erst richtig los." Sie zeigte nach draußen, auf eine Insel, die von einem hohen spitzen Turm dominiert wurde. "Auf Kaibaland findet zwanzig Uhr das große Eröffnungsduell statt. Letztes Jahr war es Yugi Muto gegen Allister *. Ich bin gespannt, wer dieses Jahr gegeneinander antritt." Sie wusste, dass der ehemalige König der Spiele mit diesem Eröffnungsschlag seinen Abschied aus der Duell-Monsters-Liga angekündigt hatte, damit er sich ganz auf den Spieleladen seines Großvaters und der Erfindung von eigenen Spielen konzentrieren konnte. Tatsächlich tauchte ein Jahr nach Bekanntgabe ein Brettspiel auf, dass sich am ersten Tag über eine Millionen Mal verkauft hatte, obwohl es überhaupt nichts mit DuelMonsters zu tun hatte.

"Ab Mitternacht beginnen dann die richtigen Duelle."

"Du kennst dich ziemlich gut in diesen Dingen aus", sagte Hayato, dass sich Rin verlegen an die Stirn kratzte.

"Nun ja, das muss ich auch. Ich nehme nämlich dieses Jahr auch am Worldcup teil."

Der Schwarzhaarige machte große Augen. "Das hätte ich nicht erwartet. Also ich meine", er suchte sichtlich nach den richtigen Worten, dass Rin ihn nicht weiter hilflos straucheln ließ.

"Schon in Ordnung. Ich bin auch erst ab morgen eine offizielle Berufsspielerin. Ich starte also ganz neu in der Branche."

"Hatte der Anruf neulich etwas damit zu tun?"

"Genau", nickte Rin und bekam wieder dieses Kribbeln im Bauch, "ich habe eine Festeinstellung bei der Kaiba Corporation erhalten. Erstmal nur in der Amateur-Liga, aber bei meinem niedrigen Erfahrungsstand ist das auch vollkommen logisch."

"Bei der Kaiba Corp", Hayato sah noch einmal flüchtig zu dem Spitzturm herüber, "dann werden wir uns vielleicht öfter über den Weg laufen. Ich arbeite gegenüber, bei den Stadtwerken." Rin hörte interessiert zu, während der Schwarzhaarige über seine bisherige Laufbahn berichtete. Ursprünglich kam er aus Tokyo, hatte einen Abstecher in Kyoto gemacht und bekam schließlich ein gutes Angebot aus Domino-City als Finanzplaner. Rin hätte ihn nie für einen Büromenschen gehalten, seine lockere und lässige Art machten es ihr schwer, sich Hayato vor einem Schreibtisch vorzustellen. Lediglich das Bild von Hayato in einem Anzug ließ sie innerlich schmunzeln. Seine sportliche Figur musste in Hemd und Anzughose wirklich heiß aussehen. Sie erwischte sich dabei, wie die Vorstellung in ihrem Kopf immer mehr an Form gewann. Ihr wurde augenblicklich heiß im Gesicht, dass sie zum Weiterlaufen ansetzte. Hayato lief dicht neben ihr und fragte sie zu ihrem Leben aus. Während Rin über ihre letzten Jahre resümierte und ein paar ihrer liebsten Beschäftigungen aufzählte, fiel ihnen auf, dass sie beide dieselben Filme bevorzugten und ein paar derselben Bücher in den Schränken besaßen. Sogar in puncto Musik waren sie auf derselben Wellenlänge, dass sie ganz aufgeregt von ihren neuen musikalischen Errungenschaften erzählte, während sie ihn derweil in eine weniger belebte Straße, am Rande der Innenstadt, führte und eine Pause im nächstgelegen Cafe´vorschlug, von dem sie wusste, dass dort die besten Eiscafés serviert wurden.

"Wie stelle ich mir so einen Job als Duellant vor?", fragte Hayato als die Bestellungen an ihren Tisch gekommen waren. Rin betrachtete ihr hohes Glas, aus dem die Sahne herausquoll und zückte nach dem Löffel.

"In erster Linie", begann sie und versuchte ihr angesammeltes Wissen darüber zusammenzutragen, "also, wenn man in einen der Firmen eingestellt ist, dann geht es hauptsächlich um deren Vermarktung. Duel Monsters bringt richtig gutes Geld ein. Die Unternehmen verdienen Millionen mit ihren Duellanten allein für Werbung und Marketing. Als Berufsduellant geht es meist darum, an verschiedenen Meisterschaften teilzunehmen oder diversen Events beizuwohnen. Man ist viel unterwegs. Wenn man richtig erfolgreich ist, reist man um die ganze Welt. Es läuft ein wenig wie bei Models, bloß dass statt Agenturen die verschiedenen Unternehmen die Spieler von einem Duell ins nächste schicken. Aber das ist weit entfernt von dem, was ich tue. So richtig kenne ich meine Aufgaben noch nicht, aber da der Worldcup ansteht und die erste Runde die Duel-Monster-City-Turniere sind, denke ich, dass ich den ganzen Tag in der Stadt herumirre und mir meine Gegner aussuche." Hastig nahm sie einen Schluck der kühlen Flüssigkeit, bevor sie sich wieder ganz der Sahne widmete. Hayato beobachtete sie dabei, während seine Finger über den Rand seiner Kaffeetasse wanderten.

"Das klingt nach viel Arbeit und wenig Freizeit", fasste er zusammen, "aber wenn es genau das ist, was du willst-"

Und wie es das ist! Sie nickte und kam nicht umhin, zu dem morgigen Meeting abzuschweifen, bei dem sie die ersten Instruktionen erhalten sollte. Tage vorher hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wie sie sich am besten darauf vorbereiten sollte. Außer an ihrem neuen Deck zu pfeilen und ein paar Online-Duelle zu bestreiten, war sie noch nicht sehr weit gekommen. Sie konnte es kaum abwarten, endlich loslegen zu können. Verträumt sah sie durch den Schwarzhaarigen hindurch, bevor sie sich ihrer Schwärmereien bewusst wurde, die ihr Gegenüber vielleicht misverstehen könnte. Sie biss sich auf die Lippen und begann weiter zu erzählen. Es war einmal eine entspannte Abwechslung mit jemandem über Duel Monsters zu reden, der noch wenig Erfahrung darin hatte. In der Schule hatte sie viel Sympathie bei den Jungs gewinnen können. Ein Mädchen, dass DuelMonsters spielte, war auf der Oberstufe immer noch eine Seltenheit. Bis auf Lumina gab es keine weitere Schülerin in ihrer Klasse, die sich fürs Duellieren interessierte. Die Kerle fanden es zunächst cool, dass Rin ebenso begeistert spielte wie sie. Dass Rin jedoch um Längen besser war als die meisten von ihnen, war weniger cool. Sie dachten, der süßen Braunhaarigen ein paar Regeln und Strategien beibringen zu können. Da hatten sie sich getäuscht, denn Rin musste nicht erklärt werden, wie Duel Monsters gespielt wurde, schon gar nicht von so Halbstarken wie ihre Schulkameraden. Mit Hayato ließ es sich da schon leichter darüber reden. Er war nicht davon abgeschreckt, dass ihr Talent so weit ausreichte, dass sie eine Chance in der größten Spielefirma der Welt bekommen hatte.

"Ich blicke bei diesem Spiel einfach nicht durch", lachte der Schwarzhaarige und zahlte die Rechnung, "ich weiß, es ist ab sechs Jahren geeignet, aber - meine Güte! - welcher Sechsjährige versteht denn diese Regeln. Einmal hab ich eine Karte zu Gesicht bekommen, da stand ein halber Roman drauf und ich hatte nur Fragezeichen im Kopf."

"Mein erstes Duell hat drei Stunden gedauert, weil meine Freundin und ich ständig die Regeln nachlesen mussten." Auch Rin begann zu lachen. Ganz beiläufig ergriff er ihre Hand und lief mit ihr die Straße herüber. Rin wusste nicht, ob die Aufregung in ihrem Inneren von dem Schwarzhaarigen herrührte oder doch der sehnsüchtigen Erwartung geschuldet war, die ihre neue Arbeit für sie bereit legte. Warum auch immer, sie erwiderte seine Berührung und setzte den Stadtrundgang händchenhaltend fort.

Sie vergasen völlig die Stunden, die an ihnen vorbeizogen, dass bereits die Abenddämmerung einkehrte. Es war Zeit zurückzukehren. Rin musste morgen früh raus, sie musste fit sein - sowohl körperlich als auch geistig. Hayato bestand darauf, sie nach Hause zu begleiten und Rin hatte zugestimmt. Die Gegenwart des Schwarzhaarigen fühlte sich weniger aufgezwungen an als sie zu Beginn ihrer Verabredung befürchtet hatte.

"Danke, dass du mir die Stadt gezeigt hast", seine Stimme war weich, er blieb ein paar Meter vor ihrem Wohnblock stehen, dass auch Rin innehielt.

"Jetzt weiß ich, wo ich das nächste Mal mit dir essen gehen kann", seine Augen sahen sie eindringlich an, dass sie nicht anders konnte als seinen Blick zu erwidern. Er hatte wirklich schöne Augen, die von dunklen Wimpern umrahmt wurden. Plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals stecken, sie ließ die Lider sinken. "Solange du mir nicht übel nimmst, wenn unser nächste Treffen nicht ganz so bald ist. Die kommenden Wochen werden bestimmt viel Freizeit einbüßen."

"Das macht nichts", aus dem Augenwinkel sah sie sein Lächeln, "sobald du Zeit hast, führe ich dich aus. Du kannst mir auch gerne spontan schreiben, wenn es für dich passt. Ich werde mir schon irgendwie die Zeit nehmen." Sie nickte, etwas zu heftig, bevor sie sich mit einer leichten Verbeugung verabschiedete. Rin wollte dem Moment entgehen, in dem sie sich entscheiden müsste, ob sie ihm die Hand reichen oder umarmen sollte. Zum anderen war sie sich nicht sicher, ob er sie womöglich geküsst hätte, wenn sie nicht seinen Blicken ausgewichen wäre. Zu viele Möglichkeiten schwirrten in ihrem Kopf, dass sie sich für die schnellste Methode entschieden hatte. Hayato blickte etwas verdutzt drein, spielte jedoch mit und verabschiedete sich, in dem er ebenfalls den Oberkörper nach vorne beugte. Danach beeilte sich Rin, dass sie schnellstmöglich in ihre Wohnung kam und weiteren Peinlichkeiten entging.

Das erste Mal hatte das Kaiba Building weitaus bedrohlicher auf sie gewirkt. Der Regenschauer, gepaart mit einer einzigen Wolkendecke, die den Himmel in Finsternis getaucht hatte, hatte die Kaiba Corporation wie eine düstere Festung aussehen lassen, die niemand freiwillig betreten würde. Am Morgen hatte der gigantische Wolkenkratzer, der aus der Tiefe wie ein einziges Glasgebilde wirkte, weniger abschreckend gewirkt, wenn auch ein Hauch von Ehrfurcht Rin erfasste, als sie direkt vor seinem Eingang stand und die Lichtreflektion direkt auf eine der Glasfenster schien, dass es ihre Augen blendete. Die Hand über den Augen haltend, die leicht zugekniffen waren, sah Rin hinauf zu der Satellitenspitze als könnte sie etwas darin ausmachen. Etwas, das ihr helfen könnte, die Aufregung zu dämmen. Ihr Herz raste in einem Rhythmus, den sie nicht mehr für gesund hielt. Ihre Wangen fühlten sich hitzig an - hätte sie ein Thermometer bei sich, es hätte ihr wohl leicht erhöhte Temperatur angezeigt. Zudem waren ihre Augen am Morgen verquollen gewesen und hatten die unruhige Nacht in einem optischen Bild zusammengefasst. Wie sie sich im Spiegel betrachtet hatte, erkannte sie ihr unsicheres und verängstigtes Ich, das sie seit Jahren gut unter Kontrolle hatte, aber bei Weitem nicht an den Punkt war, an dem sie sich dieser Unsicherheit entledigen konnte. Obwohl sie Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten hatte, nagten doch so manche negativen Gefühle an ihr, dass es Rin schwer fiel, die Fassung zu wahren. Manchmal erwischte sie sich dabei, wie sich ihr Magen zusammenzog. Ihr wurde übel und schwindlig als würde sie den Boden unter den Füßen verlieren.
 

Rin seufzte. Das Gebäude in all seiner Herrlichkeit entlockte ihr die Selbstzweifel.

Reiß´dich zusammen!

Sie musste sich zusammennehmen, nicht zu knurren. Ihre Augen formten sich zu Schlitzen, im Geiste sprach sie ihr Mantra rauf und runter.

Du hast es verdient. Du hast die erste Hüde geschafft. Du schaffst auch das.

In diesem Sinne lief sie durch die Drehtür, schob sich an zwei ältere Herren in gestreiften Anzügen vorbei, die sie mit erhobener Augenbraue musterten. Rin atmete erleichtert die klimatisierte Luft aus und sah sich um: Als sie wegen ihrer Bewerbung hier gewesen war, hatten sich nicht so viele Menschen in der Eingangshalle gescharrt. Um zehn Uhr morgens jedoch herrschte reger Betrieb in Domino-Citys erfolgeichster Spielefirma, dass die Schritte auf den marmorierten Platten in ihren Ohren zu hämmern begannen. Ähnlich wie ihr Puls, der ihr förmlich aus der Kehle springen wollte. Sie fühlte sich nie in Gegenden wohl, die sie nicht wie ihre Westentasche kannte. Zwischen all diesen Anzugträgern und Model-Sekretärinnen kam sie sich wie ein Fettfleck auf einer frisch gewaschenen Bluse vor. Auch wenn sie selbst von sich behaupten konnte, einen verlässlichen Modegeschmack zu besitzen und sich auch nicht für hässlich oder dick hielt, wie einige ihrer Klassenkameradinnen, denen sie für solche Sprüche am liebsten eine geknallt hätte. Sie fand sich schon in Ordnung wie sie war, nur vermittelten ihr die abschätzenden Blicke der Angestellten einen anderen Eindruck, dass sie wünschte wie eines dieser Mauerblümchen zu sein und nicht beachtet zu werden.

Nur nicht die Nerven verlieren. Logisch denken

Daraufhin marschierte sie auf den Empfangstresen zu. Sie sah zu der blond gefärbten Frau herunter, die in ein reges Telefonat steckte. Ein schrilles Lachen ertönte aus dem mit dunkelrotem Lippenstift versehen Mund, dass Rin nicht anders konnte als darauf zu starren. Die bleiche Haut war ein solcher Kontrast zu ihren Lippen, dass sie keinen anderen Fixpunkt hatte. Schließlich wurden ihre hypnotischen Blicke bemerkt, ein verächtliches Schnauben ertönte von Seiten der Blondine: "Sie wünschen", ihre quäkende Stimme ließ diesen lasziven Anblick im Keim ersticken, dass Rin lächeln musste: "Rin Yamamori. Ich suche den Meetingsraum für die Duellantenbesprechung."

"Einen Augenblick", entgegnete die Empfangsdame und legte den Hörer beiseite, dass sie sich auf den Bildschirm ihres Rechners konzentrierte. Mit flinken Fingern tippte sie ein paar Buchstaben, dann wandte sie sich erneut der jungen Frau zu, dass der Schlafzimmerblick von eben zurückkehrte. "Zwanzigstes Stockwerk, Zimmer 214."

"Danke", versuchte Rin so freundlich wie möglich vor zu bringen, bevor sie auf die Fahrstühle zusteuerte, von denen einer voller als der andere war. Am liebsten hätte sie die Treppe genommen, aber sie hatte Kaiba Corporation genaustens betrachtet, dass ein Versuch zu Fuß die zwanzigste Etage zu erreichen, bereits mehr als dämlich gewesen wäre. Also wartete sie, bis einer der Fahrstühle einstiegstauglich war und betrat diesen. Sie stellte sich an die Seite, dicht neben den Knöpfen. Ein weiteres duzend Mitarbeiter füllte den Lift, dass Schweiß, Deodorant und Parfüm auf unangenehmste Weise miteinander verschmolzen. Rin versuchte durch die Nase zu atmen, ein süßlicher Duft, dem sie der schwarzhaarigen kurvigen Frau zusprach, kribbelte sie derart, dass sie kaum Luft bekam. Den Blick auf die Anzeige richtend, vergingen die Sekunden wie am letzten Schultag, als alle Blicke auf die Wanduhr gerichtet waren. Dass jeder der Anwesenden auf ein anderes Stockwerk musste, ließ die Zeit wie eine endlose Qual vergehen. Noch dazu hatte sie das Gefühl angestarrt zu werden. Aus dem Augenwinkel konnte sie tatsächlich einen jungen Mann ausmachen, der eindeutig sie meinen musste. Er trug eine große runde Sonnenbrille auf seinem dunkelgrünen Schopf. Mit seinen gelblichen Augen sah er sie unverwandt an, dass Rin das Gefühl hatte, ihn schon einmal gesehen zu haben. An seiner Kleidung konnte sie erkennen, dass er keiner der Buchhalter oder Analytiker war, die mit verschränkten Armen vor der Tür standen und finster dreinblickten. Dieser Kerl trug dunkelblaue zerschlißene Jeans, dazu ein schwarzes Shirt mit passender Jeansjacke, auf der allerhand Aufdrucke zu sehen waren. Um das Bild abzurunden kaute er auf seinem Kaugummi als wollte er jedem das Innerste seiner Mundhöhle zeigen. Je länger er sie anstarrte, umso unwohler fühlte sich Rin, die derartige Blicke nicht ab konnte. Endlich zeigte der Bildschirm ihre Etage an und mit einem regelrechten Hechtsprung sprang sie aus dem Fahrstuhl. Noch nie war sie so froh, die endlosen Weiten des Flures zu erblicken, der nichts all Leere und Stille offenbarte.

Na toll Sie hörte Schritte hinter sich, dass sie trotz ihres Tempos eingeholt wurde. Neben ihr steckte der junge Mann die Hände in die Hosentasche und lächelte verschmitzt: "Dann bist du wohl die Neue, die sie letzte Woche noch schnell in die Runde geworfen haben." Sein Tonfall passte Rin gar nicht, sie versuchte ihn zu ignorieren, doch er stellte sich ihr direkt in den Weg, dass sie stehen blieb.

"Sie haben erzählt, dass eine für die Amateurliga angeheuert wurde. So ganz verstehe`ich ihre Entscheidung nicht." Rin erinnerte sich, woher sie sein Gesicht kannte: "Yoshihiko Taba", sagte sie ohne Emotionen in die Stimme zu legen. Seine provokante Wortwahl ließ sie innerlich kochen. Wie sehr verabscheute sie es, seine unterschwelligen Sticheleien einfach hinzunehmen. Stattdessen versuchte sie sich auf das zu konzentrieren, weswegen sie hier war.
 

In den Jahren hatte die junge Frau eine Methode entwickelt wie sie ihre schüchterne Art überwinden konnte - Duel Monsters. Das Spiel hatte in ihr eine neue Seite geweckt, die sie so nicht von sich gekannt hatte. Selbst Lumina musste sich an das veränderte Wesen Rins gewöhnen, sobald sie sich duellierte. In ihrem eigenen Spiel hatte sie ein neues Ich kreiert, das von ihrer besten Freundin gerne als > das Arschloch-Phänomen< bezeichnet wurde, da Rin bei Duellen dazu neigte, eine abfällige und leicht narzisstische Seite aus sich herauszuholen, die jegliche Arroganz in den Schatten stellte. Dieses Gefühl versuchte die junge Frau aus sich herauszuholen. Sie stellte sich einfach vor, ihren Gegner vor sich zu haben: "Ich kenne dich", verschränkte Rin selbst die Arme vor der Brust, "du warst es doch, der beim Champions-League-Finale die Hosen voll bekommen hatte."

"Nimm`deinen Mund lieber nicht zu voll", knirschte Yoshi mit den Zähnen und zeigte auf seine nagelneue DuelDisk, mit der Rins veraltete Ausgabe nicht mithalten konnte. Gut, dass sie sich in letzter Minute dagegen entschieden hatte, diese zur Besprechung mitzubringen.

"Und was dann?", feixte sie zurück, "du möchtest doch wohl kaum gegen eine Frau verlieren, noch bevor die Battle-City-Turniere begonnen haben."

"Du solltest es nicht drauf ankommen lassen", er hob seinen linken Arm, dass Rin lächelnd abwinkte und an ihm vorbeilief.

"Wir sollten nicht unpünktlich sein", damit lief sie auf Raum 214 zu, der bereits einen Spalt breit offen stand. Im Raum selbst standen bereits zwei weitere junge Männer und hoben ihre Köpfe als sie Rin erblickten. An ihren Gesichtern konnte sie ablesen, dass sie jemanden wie sie nicht erwartet hatten.

Was haben sich diese Schwachköpfe eigentlich vorgestellt? Unsicherheit drückte sich nach außen, dass sie stumm die beiden Duellanten begrüßte, die sie ebenfalls aus vereinzelt kleineren Wettkämpfen kannte. Der große weißhaarige Mann musste aus der Profiliga sein, ebenso sein Gegenüber, den Rin als Finalisten der Regionalmeisterschaften wiedererkannt hatte. Sie hatte also nur mit erfahrenen Spielern zu tun, die bereits ihr Talent unter Beweis gestellt hatten. Rin hatte da weitaus weniger vorzuweisen. Nie hätte sie sich mit den Junioren- oder College-Meisterschaften gerühmt, bei denen sie eine gute Platzierung abgeräumt hatte und in den letzten Jahren vor Abschluss sogar als Sieger hervorgegangen war. Schon da hatte Rin gehofft von einem Scout entdeckt und gefördert zu werden. Zu dem Zeitpunkt hatte sie nicht gewusst, dass diese nur als Schaulustige dienten und wieder einmal nur der Publicity wegen erschienen waren. Ihre Mitstreiter führten ihr vor Augen, dass gut situierte Kinder eine bessere Chance hatten aufzusteigen als ein einfacher Bürger wie Rin.
 

"Entschuldigt die Verspätung", meldete sich eine Stimme im Hintergrund, die Rin ihren Verdruss runterschlucken ließ. Ein Junge mit schwarzen wuscheligen Haaren trat auf die kleine Gruppe zu und lächelte sie breit an. Rin hatte Mokuba Kaiba für kleiner eingeschätzt. Im Fernsehen sah er neben seinem großen Bruder immer noch wie ein kleiner niedlicher Junge aus, der er zu Seto Kaibas Duell-Zeiten auch gewesen war. Rin schätzte den Teenager um die sechzehn Jahre. Seine Augen hatte das Kindliche verloren, ebenso seine Gesichtszüge, aus denen das Baby-face zu einem richtigen Teenie umgeschwenkt war.

"Dann sind wir alle vollzählig?", er blickte in die Runde und stemmte die Hände in die Hüften, nachdem er einen silbernen Koffer neben sich auf den Boden abgestellt hatte. Dann begann er die vier Duellanten zu begrüßen, bevor er sich Rin widmete und vorstellte, dass diese rote Ohren begann. Ihr fiel nichts besseres ein als zustimmend zu nicken als Mokuba alle anderen bekannt machte und auf eine gute Zusammenarbeit appellierte: "Wie ihr wisst, starten übermorgen gegen Mitternacht die City-Turniere. Jeder Duellant startet mit Null Punkten, die dreißig besten kommen in die nächste Runde - den Rooftop-Turnieren. Ihr habt dieses Mal acht Wochen Zeit euch auf den High Score nach oben zu arbeiten. Rin, du weißt es noch nicht, deshalb sag`ich noch kurz was zum Marketing. Wie im letzten Jahr verteilen wir den Fokus auf diejenigen, die das Publikum und uns überzeugen. Das heißt, je mehr Siege von nennenswerten Duellanten errungen werden, umso höher legen wir das Augenmerk auf euch. Wir besitzen über fünfhundert Kameras, die wir auf alle Knotenpunkte von Domino-City verteilt haben. Von unseren knapp tausend Bildschirmen bringen wir die Duelle, die die Leute sehen wollen. Also strengt euch an, dass ihr zu denen dazugehört. Natürlich werden die Boni für eine gelungene Show entsprechend eurer Leistung ausfallen. Gibt es noch Fragen?" Verschmitzt sah der junge Kaiba durch die Runde. Rin traute sich nicht, die Stille zu brechen, obwohl ihr genug Fragen im Kopf herum schwirrten. Auch wenn Mokuba freundlich geblieben war, hatte der anspornende Druck seine Wirkung nicht verfehlt. Das einzige, was ihr Mut machte, war die Tatsache, dass sie eine faire Chance bekäme, auch wenn sie zunächst bei den Amateuren herumdümpeln musste. Letztendlich begannen alle an demselben Punkt, wenn sie sich also richtig anstrengte-

"Rin?", Mokuba drehte sich zu der jungen Frau, die ihn blinzelnd ansah, "du müsstest noch mal mit mir mitkommen. Du hast noch nicht alle nötigen Ausstattungen erhalten, die dir als Duellant der Kaiba Corporation zustehen und für das Turnier zwingend notwendig sind."

"Okay", meinte sie nur und folgte Mokuba aus dem Zimmer, während ihr Rücken von Augenpaaren durchlöchert wurde. Mokuba brachte sie einige Zimmer weiter, in dem Trophäen und Medaillen an den Wänden hingen, gold limitierte Karten ausgestellt wurden und viele Sondereditionen übereinander gestapelt waren. Da konnte ihre vollgestellte Vitrine nicht mithalten.

"Das sieht nicht wie ein Zimmer zum Arbeiten aus", platzte es aus Rin heraus, dass Mokuba anfing zu lachen.

"Nein, ich wollte nur einen Raum haben, in dem die Stimmung nicht ganz so eisig ist. Da fiel mir nur dieser ein. Im Übrigen ist das keine Gedenkstätte wie ihn einige fälschlicherweise bezeichnen. Den hab ich nur so herrichten lassen, weil ich nicht wollte, dass das ganze Zeug bei uns Zuhause voll läuft."

"Dann frage ich lieber nicht, wie viel sich davon noch dort befindet", Rin musste sich ein Kichern verkneifen. Die offene Art des Schwarzhaarigen ließ sie die anfängliche Nervosität vergessen.

"Mehr als du denkst, aber kommen wir lieber zu deinem neuen Equipment," Damit klopfte er auf den silbernen Koffer, den er kurz vor seinem Abgang zur Hand genommen hatte, "ich hab hier ein paar Sachen über die du noch aufgeklärt werden musst." Er wandte sich einen Rundtisch zu, dass er den Koffer darauf platzieren und problemlos öffnen konnte: "Duellanten der Kaiba Corporation arbeiten nur mit den neusten Technologien." Rins Augen sahen zu der DuelDisk herrüber, die in einem weißblauen Ton funkelte als wäre sie aus den Schuppen des blauäugigen Drachen entstanden. Mokuba überreichte sie ihr, dass Rin das leichte Material sofort auffiel. Ihre DuelDisk, die sie sich aus dem Internet ersteigert hatte, gehörte noch zur ersten Generation, als eine DuelDisk noch zwei Pfund schwer war und regelrechte Krämpfe beim Duellieren verursachen konnte. Dieses Stuck war leicht und geschmeidig auf der Haut, das spürte Rin bereits bei der bloßen Berührung.

"In dieser DuelDisk", begann Mokuba, "befindet sich ein Anmeldechip. Sobald du sie einschaltest, wirsd du automatisch in das System der Kaiba Corporation eingeloggt. Sieh`es ein wenig wie eine Aufzeichnung deiner Arbeitszeiten an. Zudem befindet sich ein winziger Mikrochip mit Speicherdaten darauf, eine Multifunktionskamera, ein Lautsprecher, ein Peilsender, ein stummer Alarm und ein Pulsmesser. Aber", zwinkerte Mokuba ihr zu, "das eigentlich Interessante ist die kleine gelbe Anzeige an der Seite, neben der Monsterkartenzone. Dort wird dein Punktestand angezeigt, damit du einen Überblick über deine Siege und Niederlagen behälst. Pro Sieg gibt es entsprechend deiner Gegner Punkte. Die fallen ganz unterschiedlich aus. Amateure bringen zwei, Hobbyduellanten sogar nur einen Punkt. Wirklich spannend wird es erst in der Profiliga, dort werden - je nach erster, zweiter und dritter Liga, bis zu fünf Punkte ausgegeben. Gegen einen Duellanten aus der Meisterschaftsebende gibt es zehn Punkte." Rin schwirrte der Kopf von all den Informationen. Sie legte sich die Duell-Disk um und versuchte das Gesagte auf sich wirken zu lassen.

"Nun zum zweiten Teil", grinste der schwarzhaarige Wuschelkopf, welcher im Laufe der Jahre immer mehr an Definition gewonnen hatte, dass die Frisur nicht mehr ganz so unkoordiniert wirkte. Er wandte sich wieder dem Koffer zu und holte etwas Metallenes hervor: "Das hier", er hielt es in die Höhe, dass es Rin an den silbernen Gelenkschmuck erinnere, den Seto Kaiba an seinen beiden Armen trug. Auf der Innenseite war in schwarzer Schrift Kaiba Corp. eingraviert. "Das hier weist dich als Mitglied des Kaiba Corporation-Teams aus. Außerdem bekommst du von vielen unserer Kooperationspartnern saftige Rabatte, also immer schön tragen und vorzeigen", ergänzte Mokuba, dass Rin Folge leistete und an den linken Unterarm befestigte. Mit einem leisen Klick rastete das Metall ein und legte sich wie eine zweite Haut um ihr Gelenk. Zunächst entstand ein leichter Druck auf ihrer Haut, der sich wie ein aufkommendes Kribbeln anfühlte, als wollte ihr Arm jeden Moment einschlafen. Dann änderte sich das Gefühl, das Metall erwärmte sich, dass es auf Körpertemperatur stieg und ließ das anfängliche Empfinden verschwinden.

"Eine Frage habe ich", entgegnete Rin und betrachtete das Metall, von dem sie sich nicht mehr so sicher war, ob es tatsächlich daraus gemacht war, "wie schaffe ich es, aus der Amateur-Liga herauszukommen?"

"Ganz einfach", erwiderte Mokuba und klappte den Koffer zu, "in dem du dich oft genug duellierst und nicht verlierst. Ab hundert Punkte hast du einen Rangaufstieg von der Amataeur- in die dritte Profiliga. Danach wird es etwas schwieriger, aber das erklär`ich dir, wenn es soweit ist."

"Das reicht mir auch für den Anfang", nickte sie ihm zu.

"Bevor du gehst", hinderte er Rin daran, ihre Jacke zuzuknöpfen, "müsstest du das noch unterschreiben." Er hielt ihr die Papier hin, dass die schwarzen dick bedruckten Buchstaben ins Auge fielen. Haftungsauschluss "Die Kaiba Corporation haftet nicht für Schäden, die durch die Benutzung holographischer Technologien zustande kommen. Des Weiteren werden keine Entschädigungen übernommen, die den Verlust oder Diebstahl einer von Kaiba Corporation gesponserten oder ausgehändigten Artikel beinhalten. Rin versuchte sich vorzustellen, wie oft es bereits passiert sein musste, dass Häuser beschädigt oder Fenster eingeschlagen worden waren - allein wegen ein paar lausigen Duellen.

Vermutlich ziemlich oft

Sie hatte das Ausmaß der Technologien am eigenen Leibe erfahren können als sie während eines Turniers von zwei Axträubern angegriffen worden war und die Auswirkungen dazu geführt hatten, dass Rin eine Woche nicht die Schule besuchen konnte, da sie mit Gehirnerschütterung im Bett lag. Zu dem Zeitpunkt waren die Hologramme noch nicht auf dem Stand, auf dem sie heute waren. Mit der neuen Generation hatte es viele Neuerungen gegeben, dass die Angriffe noch immer echt wirkten, jedoch weniger Schäden verursachten, die sich besonders auf Kopf, Geist und Augen bezogen hatten. Trotzdem zögerte Rin, bevor sie die Erklärung unterschrieb. Sie wollte sich gar nicht die Summen ausmalen, die bei einem Schaden entstehen konnten. War sie überhaupt im Stande, diese im Ernstfall bezahlen zu können?

"Nur keine Sorge", brach Mokuba die drückende Stille, "das ist nur Routine, damit kein Missbrauch mit den DuelDiscs betrieben wird. Früher hat es immer mal ein paar Leute gegeben, die sich mit den Hologrammen böswillige Scherze erlaubt haben und am Ende die Kaiba Corporation dafür verantwortlich machen wollten. Mit dem Unterzeichnen wollen wir uns nur absichern; das ist alles. Mit den Straßen-DuelDisks kann man heute gar keine Dächer mehr zum Einstürzen bringen." Sie nickte und unterschrift mit schnellen geschwungenen Linien das Blatt.

Was hab ich denn auch für eine Wahl?

Kaum war sie zurück am Eingangsbereich, begann auch schon ihr Magen zu knurren. Es war bereits Mittagszeit und Rin hatte noch keine Gelegenheit für ein richtiges Frühstück gehabt. Wenn sie ihren Hunger noch weiter ingnorieren würde, wäre sie bald nur noch kriechend unterwegs. Also entschied sie sich in das nebenstehende Café zu gehen, das ebenfalls zu dem gewaltigen Komplex der Kaiba Corporation gehörte. Neben einer Cafeteria, zwei Restaurants und einem Schnellimbiss, die ebenfalls Teil davon waren, sah das Café in der Ecke wie ein farblich umgestalteter Starbucks aus. Silber, Weiß und Blau waren die Farben; die Wände waren in einem kühlen Ton bemalt, an denen nur ein einziges Bild hing - die Statue des weißen Drachen mit eiskaltem Blick, geschossen auf einem der Themenparks. Die Möbel waren ebenso clean und so aufgestellt worden, dass sie eine beabsichtigte Asymmetrie abbildeten. Lediglich die Kassenzone war mit allerhand Leckereien versehen, die Rin das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Es gab Törtchen in den buntesten Farben, viele klassische und moderne Gebäcksorten, eine riesige Auswahl an Frühstücksbrötchen und belegten Baguettes, dass sich der Magen gierig zusammenzog und Rin sich an das Ende der Schlange stellte, die überraschend klein für diese Uhrzeit war.

"Was kann ich für dich tun", eine junge Frau mit braunrotem Pferdeschwanz lächelte sie warmherzig an. Rin bestellte als erstes einen großen Kaffee, für den sie heute Morgen keine Zeit mehr gehabt hatte, nachdem sie von ihrem eigenen Spiegelbild angegesprungen worden war.

"Und noch was Herzhaftes, dass du mir und meinem leeren Magen empfehlen kannst." Die Kassiererin musste nicht lange überlegen, sie nahm eine der größeren Baguettes mit allerlei bunten Saucen, Gemüse und geschnetzelten Hühnerstreifen, dass Rin begeistert nickte.

"Das macht dann...ach halt, warte. Du trägst doch ein Armband der Kaiba Corporation."

Ich würde es jetzt nicht als Armband bezeichnen, aber- "Ja", bestätigte Rin und drehte die Innenseite ihres Unterarms, dass die Kassiererin freie Sicht auf die Gravuren hatte.

"Du bist neu, stimmt`s", damit tippte sie etwas in ihre Kasse ein, dass der Preis um fünfzig Prozent sank.

Gar nicht mal so übel

"Heute ist mein erster Tag", bestätigte Rin und zählte die Scheine, "ich muss mich noch an das System gewöhnen. Bisher kannte ich nur klebrige Esssensmarken, für die ich mir ein paar labbrige Nudeln bestellen konnte."

"Hier und in den anderen Stores", sie deutete auf die benachbarten Geschäfte und Lokalitäten, "bezahlst du immer nur die Hälfte. Es lohnt sich auch, in der Innenstadt das Armband zu zeigen. Manche Läden bieten dir dann ein paar Prozente an. Besonders wenn sie dich aus dem Fernsehen wieder erkennen." Für Rin war es noch nicht greifbar, dass sie jemand wiedererkennen könnte. Weder hatte sie sich bisher einen Namen machen können, noch war sie an dem Punkt, an dem sie sich für jemand hielt, dessen Namen man kennen musste. Rin wusste, dass sie bald anders zu denken hatte, dass sie daran arbeiten musste, nach vorne zu kommen, damit sie aus der Amateur- in die Profliga aufstiege. Das war wirklich von Bedeutung.

"Verrätst du mir noch deinen Namen?", fragte die Kassiererin und überreichte Rin das Wechselgeld, "vielleicht werde ich bald mehr von dir hören."

"Rin Yamamori."
 

Während sie sich einen Platz aussuchte, musste Rin feststellen, dass das Innere doch nicht so kühl wirkte wie es auf den ersten Blick den Anschein erweckte. Die Stühle hatten eine angenehme Form - nicht zu kantig und spitz, eher geschwungen, dass es sich gut ihrem Rücken anpasste. Nach einem ersten Schluck der dunklen Flüssigkeit, die sie sich mit einem winzigen Schuss Milch aufgehellt hatte, und einem kräftigen Bissen in das Baguette, war sie vollends von dem Laden überzeugt. Genüsslich kauend griff sie in ihre Hosentasche und zückte ihr Handy hervor. Sie schrieb eine kurze Nachricht an Lumina, dass sie sich für Mittwochabend nichts vornehmen sollte. Zwei Eintrittskarten für das Eröffnungsduell hatte sie von dem jüngeren der Kaiba Brüder erhalten. Rin war bereits in Richtung Fahrstühle spaziert als sie Mokuba kurzfristig angehalten und ihr die Tickets ausgehändigt hatte. Rin bekam ein breites Grinsen als sie die Nachricht abtipppte:
 

Ich sag`nur Geflügelter Drache trifft auf Dunkle Todesfurcht
 

Rin wusste, dass ihre beste Freundin darauf anspringen würde, auch wenn sie kein besonders großer Fan von Ryu Bakura war, der bei ihr mit seinen Zombie- und Geistermonstern immer einen leichten Schauer verursachte. Dafür war der amtierende Champion des Orients umso überzeugender. Nicht, weil die Schwarzhaarige von Marik Ishtar so begeistert war, sondern der geflügelte Drache des Ra zu einem ihrer Lieblingsmonster gehörte.

Die Götterkarten waren die am schwierigsten zu erstandenen Karten, die es bei Duel Monsters gab. Anders als beim weißen Drachen oder dem schwarzen Magier - Luminas favorisierte Monsterkarte - waren die drei ägyptischen Götter eine Rarität, die es nur in einmaliger limitierter Auflage gab. Soweit Rin sich entsinnte, gab es insgesamt zwanzig Stück - zehnmal Obelisk und jeweils fünfmal Ra und Slifer. Marik besaß zwei dieser ultimativen Götterkarten, von denen er meist nur Ra aufs Spielfeld setzte. Im Grunde genügte auch die Beschwörung eines einzigen Gottes -besonders dem stärksten von ihnen, Ra - um das Spiel für sich zu entscheiden. Neben dieser starken Karten bedarf es aber auch einer gut gespielten Hand und einem passenden Deck, von dem der Aschblonde beides besaß.

Es dauerte nicht lange, dass ihre Freundin mit einem aufrechten Daumen antwortete und Rin ihr Baguette gemütlich zu Ende aß. Während noch die letzten Bissen durch ihren Mund gingen, entschied sie sich Yamato zu schreiben. Dieser hatte ihr gestern Abend noch eine Nachricht zukommen lassen, in der er noch einmal betonte, wie sehr ihm der Tag gefallen hatte. Mit diesem Gedanken lud sie ihn spontan ins Café ein. Rin wusste nicht, ob der Schwarzhaarige ihre Nachricht überhaupt lesen konnte. Zwar kannte sie seine Arbeitszeiten, aber nicht die genauen Pausenabschnitte, dass es sogar sein konnte, dass sie diese bereits verpasst hatte. Aber sie musste es versuchen. Schließlich könnte dies vorerst die letzte Möglichkeit sein, sich zu sehen. Wer weiß, wann sie das nächste Mal in der Nähe wäre, wenn sie einmal mitten im Battle-City-Turnier steckte. Wie lange konnte sie seine Geduld auf die Probe stellen, bevor er das Interesse an ihr verlöre? Bei seinem Aussehen und seinem Auftreten war sie sich sicher, dass er keine Schwierigkeiten hatte, jemand Neues kennen zu lernen, der ihm mehr Aufmerksamkeit schenken konnte. Innerlich musste Rin seufzen. Sie musste schnellstmöglich an etwas anderes denken. Nach einem weiteren kräftigen Schluck ihres Kaffees kramte sie aus ihrer Umhängetasche eine Blechbox hervor, in dem sie ihre potenziellen Karten für ihr neues Deck aufbewahrte. Ihr Blick fiel auf den weißen Nachtdrachen. Der hellblaue, wie Diamanten funkelnde Drache war ihre erste Wahl gewesen, nachdem sie ihren weißen Drachen mit eiskaltem Blick abschwören musste. Für Rin stand fest, dass sie ihr Deck in seinen Grundfesten nicht ändern wollte. Sie war nun einmal ein Liebhaber von Drachen, daran würde sie nicht rütteln. Schließlich verdankte sie es den erhabenen Geschöpfen, dass sie die Leidenschaft zu Duell Monsters für sich entdeckt hatte. Neben ihren geliebten Kreaturen gab es nur wenige Monsterkarten, die in ihr dieselbe Leidenschaft entfachen konnten. So steckte sie all ihre Leidenschaft mit jahrelangem Wissen zusammen und baute an einem neuen Deck, dass sich auf den weißen Nachtdrachen fokussierte. Ein paar ihrer alt bewährten Karten behielt sie, besonders ihre Zauber- und Fallenkarten, die so manches Blatt zu ihren Gunsten gewendet hatten, würden sie auch im künftigen Battle-City-Turnier unterstützen. Sanft strich sie über die Innenseite der Karte. Matt funkelte sie und mit einem verschmitzten Lächeln wandte sie sich den anderen zu. Eingehend studierte sie die besten Karten ihrer Sammlung - immer und immer wieder.

"Hier", die Kassiererin von vorhin hatte sich vor ihren Tisch gestellt und platzierte ein Mandarinentörtchen neben ihren Kartenstapel, "das geht aufs Haus." Schon allein der Gedanke an die Mascarpone in ihrem Mund, ließ sie auf Wolke sieben schweben.

"Als könntest du meine Gedanken lesen", säuselte Rin und bestellte noch einen weiteren Pott Kaffee als sie einen flüchtigen Blick auf die Uhr warf. Es war bereits drei Uhr Nachmittag, sie hatte völlig die Zeit an sich vorbeiziehen lassen - nichts Ungewöhnliches, wenn sie einmal in ihre Karten vertieft war.

"Kommt sofort", damit schwang die junge Frau ihren Pferdeschwanz nach hinten und eilte zurück an den Tresen, noch bevor Rin fragen konnte, ob sie ihn sich selbst holen sollte. Kurz darauf kehrte die Kassiererin mit einem frischen Pott Kaffee zurück, den sie bereits mit etwas Milch versehen hatte. Die Frau war wirklich aufmerksam.

"Und wie ist dein Name?", fragte Rin als der alte Becher gegen den neuen ausgetauscht wurde.

"Makoto", lächelte die Kassiererin und tänzelte zu ihrem Platz zurück.
 

Ich glaube, so passt es.

Damit legte Rin die Karten zurück in die Box. Sie hatte ihr Deck soweit verbessert, dass ihre Strategie Erfolgschancen versprach. Bald würde sie es testen können, vielleicht sogar noch heute Abend, wenn sie Lumina davon überzeugen konnte, mal wieder eine Partie mit ihr zu spielen.
 

Sie sammelte ihre Sachen zusammen, nachdem sie sich sicher war, dass ihr Yamato vor Feierabend nicht mehr antworten würde. Zumindest sähe er ab achtzehn Uhr, dass sie sich gemeldet hatte und sich genauso auf ein Wiedersehen freute. Ihre Augen wanderten müde in Richtung Schaufenster als sie einen langen weißen Mantel vorbeihuschen sah, der sich trotz eiserner Windstille aufrecht stellte als könnte er der Schwerkraft trotzen. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür des Cafés aufgerissen und niemand geringeres als Seto Kaiba betrat den Kassierbereich. Erst jetzt viel der jungen Frau auf, dass sie mit einem Pärchen, dass sich direkt am Eingang niedergelassen hatte, die einzige im Café war. Ohne eine Anweisung zu geben, drehte sich Makoto zu der Kaffeemaschine, stellte etwas an dem kompliziert aussehenden Gerät um und ließ die Kaffeebohnen mahlen. Sein Blick war ruhig, wenn er auch nicht das Gefühl von Entspannt-sein vermittelte. Mit einer leichten Kopfbewegung, die sie kaum wahrnahm, ließ er den Blick in ihre Richtung schweifen. Seine Augen waren ausdruckslos, Rin war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt erkannte. Darum wandte sie sich ab und verstaute die Box in ihre Tasche. Anschließend legte sie die Teller und Tassen zusammen auf einen Stapel und ließ den Blick über das Café wandern. Sie wusste nicht, ob sie das Geschirr selbst wegschaffen oder einfach stehen lassen sollte. Nach vorne gehen und fragen konnte sie jetzt unmöglich!

Ihr Boss bekam gerade seinen Kaffeebecher überreicht, sowie ein belegtes Sandwich, das Makoto frisch zubereitet hatte. Irgendwie beruhigte sie der Anblick, der so viel Normalität ausdrückte wie sie in dieser Welt, in welcher Seto Kaiba lebte, nicht erwartet hatte. Denn, zu ihrer Überraschung, setzte sich der Chef der Kaiba Corporation auf die mit Leder bezogene Bank in der hintersten Ecke des Cafés und widmete sich seines Heißgetränks.

Ein Unwohlsein machte sich in ihr breit, dass sie am liebsten das Café verlassen hätte. Doch sie wusste nicht, wie sie sich entsprechend verhalten sollte. Sie konnte ja unmöglich hinausgehen, ohne ihren Chef begrüßt zu haben.

Und wenn er mich nicht erkennt, stehe ich da wie der letzte Depp Aber hinauszugehen, ohne ein Wort zu sagen, erschien ihr ebenfalls als großer Fehler. Am Ende erkannte er sie doch und würde ihr Auftreten als unhöflich bewerten. Es konnte auch genauso gut sein, dass er nicht gestört werden wollte und ihn ansprechen genauso fatal war. Rin biss sich auf die Lippen. Sie war in einer ihr selbst geschaffenen Zwickmühle gefangen. Ihr war bewusst, dass ihr Verhalten dämlich war, nur konnte sie es nicht abstellen. Das einzige, dass ihr einfiel, war ein Blatt mitsamt Kugelschreiber aus ihrer Tasche hervor zu holen und die Einkaufsliste für diese Woche zusammenzustellen.

Schreiben sieht immer wichtig aus![/I

Dabei zog sie ihre Duellbox mit ihren aussortierten Karten heraus, die sie zunächst neben den Zettel ablegte. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich durchs Haar, während sie sich mit der linken Notizen machte. Solange ihre Finger beschäftigt waren, hatte sie ihre Nervosität gut im Griff. Sie versuchte, nicht zu dem Chef der Kaiba Corporation herüber zu linsen, der noch immer mit seiner Präsens eine eisige Stimmung frei setzte.

Du bist echt lächerlich, Rin. Sie knallte den Kugelschreiber auf den Tisch und starrte ins Leere.

Du packst jetzt deine Sachen zusammen , und verschwindest von hier. Tu einfach so, als würdest du nicht bemerken, dass er noch immer da sitzt und sein Sandwich in aller Seelenruhe verputzt. Und was für schmale lange Finger er hat...Ach, was denkst du denn da. Sie stopfte sich das Papier in die Tasche und erhob sich. Rin wunderte sich selbst über ihren plötzlichen Entschluss, den sie auch noch in die Tat umsetzte. Ihre Beine bewegten sich in Richtung Ausgang. Ihr Herz begann in einer heftigen Tour zu rasen und stellte damit den gesamten Morgen in den Schatten. Leicht bog sie nach rechts und war schon fast an der Tür.

"Mach`s gut, Rin, und beehre uns bald wieder", rief ihr Makoto hinterher, dass sich Rin zusammenreißen musste, ihr nicht einfach den Rücken zuzukehren. Stattdessen drehte sie sich in Richtung Kasse und lächelte zum Abschied, bevor sie ihre Weg fortsetzte. Sie öffnete die Tür. Ihr Atem setzte für einen Augenblick lang aus als eine Hand sich von hinten über ihre Schulter bewegte und die Tür scheppernd zuknallte. Ihre Augen starrten zu dem muskulösem Arm, der vollkommen in Schwarz eingekleidet war. Weiter wanderte ihre Blick hinauf als dieser zwei eisblauen Augen begegnete.

"Haben Sie nicht etwas vergessen, Frau Yamamori", mit der freien Hand hielt er ihre Duellbox vor's Gesicht, dass Rin leicht den Mund öffnete.

"Oh", hauchte sie und nahm wie hypnotisiert die Box entgegen, "danke", fest umklammerte sie ihr altes Deck, dass das Weiß ihrer Knöchel hervortrat. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich von ihr ab und schritt zurück an seinen Platz, während Rin bereits aus dem Café geflüchtet war.

Es war lange her, dass sich Rin so penibel im Spiegel betrachtet hatte. Sie drehte ihre Hüften und begutachtete ihren Hintern in diesen verdammt engen Jeggings, die sie sich aus Luminas Kleiderkiste geborgt hatte.

"Was hast du heute Abend noch einmal vor?", feixte die Schwarzhaarige und ließ sich auf das Bett ihrer Freundin fallen. Dabei hatte sie größte Mühe nicht auf einen der Kleiderhaufen zu landen. Rin stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf.

Nein, so konnte sie nun wirklich nicht auf der großen Eröffnung des Worldcups erscheinen.

"Ich habe einfach keine Idee, was ich anziehen soll", murrte die junge Frau und sah von der Spiegelung zu Lumina herüber, welche bereits fertig eingekleidet und frisiert war. Lumina prustete, dass die Zigarette an ihrem Ohr zu wackeln begann: "Seit wann hast du denn solche Mädchenprobleme?", sie griff mit der Hand nach einem der Teile und hielt es in die Höhe. Ihre Augen begannen bei dem Anblick der schwarzen Lederhose diabolisch zu funkeln: "Hat die dir nicht immer Glück gebracht?"

"Ach, hör schön auf", murrte Rin und schnappte sich die teuerste Investition ihres Kleiderschrankes, "ich meine es ernst. Ich muss irgendetwas finden, dass auffallend ist, aber nicht zu sehr", sie legte den Zeigefinger auf die Lippen, "etwas, dass sich von den anderen abhebt, nur nicht zu viel aussagt."

"Du hast ganz schön viele Ansprüche", schüttelte Lumina den Kopf und ließ den Blick über die Auswahl schweifen, "es ist doch nur die Eröffnung. Da schauen die Leute sowieso nur auf die Stars. Halt lieber den Ball flach, dass du nicht am Ende schlecht auffällst. Du weißt doch, wie sich die Presse auf übertriebene Outfits stürzt und niedermetzelt." Rin wusste, ihre Freundin hatte recht. Sie durfte nicht schon in der ersten Woche ein schlechtes Bild abgeben. Alles, was sie tat, würde sich nur auf die Firma, für die sie arbeitete, auswirken. Also für die Kaiba Corporation, die solche Art von Publicity strafen würde, dessen war sie sich sicher.

"Trotzdem", beharrte Rin weiterhin auf ihren Entschluss, "ich muss mehr nach Rin Yamamori, der Duellantin aussehen. Nicht wie Rin, die schüchterne kleine Butterblume."

"Jeder, der dich kennt, weiß, dass du nicht schüchtern bist", erwiderte Lumina und wühlte in den größten Berg, "nur eben etwas unsicher, wenn du mit Fremden zu tun hast." Fündig geworden zog die Schwarzhaarige ein weißes Leinenkleid in Blusenoptik hervor. Das sommerliche Stück ging Rin geradeso über ihr Hinterteil, dass es für die Arbeit im Call Center durchgefallen war. Auch wenn sie für ihre Kunden nicht sichtbar gewesen war, war sie es für ihre Kollegen schon gewesen. Noch nie zuvor hatte Rin derartige Blicke abbekommen, die Teils Neid von den Frauen als auch Bewunderung von Seiten der Männer ausdrückten, dass der erste Auftritt mit diesem Kleid auch ihr letzter geblieben war.

"Bist du dir sicher?", fragte Rin und betrachtete das Teil, welches ihr doch eigentlich von Anfang an gefallen hatte.

"Wenn du dir noch deinen Bastgürtel und die passenden Stiefeletten anziehst, bist du auf jeden Fall ein Hingucker ohne den Ausdruck von >hey, ich will doch nur ein bisschen Spaß beim Duellieren haben." Worauf sie mit einem Nicken auf ihr jetziges Outfit deutete.

"Also schön", gab die junge Frau nach und nahm das Kleid entgegen.

"Na endlich", sandte Lumina Stoßgebete an die Decke, "wir haben ein Kleid!"
 

Die restliche Zeit verging im Fluge. Da Rin bereits zu viel Zeit in ihr Outfit investiert hatte, mussten Frisur und Make-Up hinten anstehen. Sie schaffte es gerade noch einen Lidstrich zu setzen und die Haare zu einem hohen Zopf zu knoten, als sie auch schon los mussten. Ihr Bus fuhr ab achtzehn Uhr unregelmäßig, dass sie ihn nicht verpassen durften. Schließlich mussten sie noch mit der Bahn Richtung Hafenstadt.

"Zeig mir mal das hübsche Stück", entgegnete Lumina, während sie sich einen Platz in der Tram besetzte. Mit den Händen ging sie über die nagelneue DuelDisk, für die sie, das wusste Rin, im Stillen beneidet wurde.

"Irgendwie hat sie ja was", säuselte sie und ließ die Finger über den Punkteanzeiger wandern, "wenn es auch ziemlich kreapy ist, dass du damit quasi ständig überwacht werden kannst."

"Nur wenn sie eingeschaltet ist", erwiderte Rin und zückte ihr Handy aus der Umhängetasche, das soeben vibriert hatte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen.

"Hat dein Traummann wieder geschrieben?", neckte sie Lumina und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

"Wenn du Yamato meinst", Rin bekam einen leichten Roséton auf ihren blassen Wangen, "dann ja."

"Du musst schon zugeben, dass er genau der Typ ist, den du mir immer beschrieben hast. Mann, er hat sogar diese Wuschelfrisur und schwarze Haare. Was willst du mehr?"

Wenn ich das wüsste

"Gar nichts", murmelte Rin und antwortete auf Yamatos Nachricht, in dem sie ein Bild aus den Fensterscheiben schoss, dass von Weitem den Hafen bereits erblicken ließ. Er hatte ihr viel Glück gewünscht, worauf sie gerne gekontert hätte, dass es nicht unbedingt Glück war, das sie brauchte, aber das konnte sie ihm unmöglich schreiben. Sie fand es schon süß, dass er wegen ihr die Regeln gelernt und verinnerlicht hatte, dass er zumindest verstand, worum es bei DuelMonsters ging. Rin musste über die teilende Begeisterung lächeln. Er war wirklich achtsam und interessiert. So hatte sich bisher niemand ihr gegenüber verhalten. Ihre Miene verfinsterte sich.

Nein, du denkst jetzt nicht daran. Das gehört der Vergangenheit an. Konzentriere dich auf die Gegenwart!

"Alles okay", tippte sie Lumina von der Seite an, dass Rin zusammenzuckte.

"Sicher."

"Dann solltest du jetzt mit mir aussteigen, sonst landen wir in der Fischfabrik statt in der Duellarena." Daraufhin richtete sich Rin auf und stürmte mit ihrer Freundin aus der Bahn. Ihre Köpfe bewegten sich suchend nach dem Weg zu den Seilbahnen. Um auf Kaibaland zu kommen, nahm man entweder die Seilbahn oder fuhr mit dem Shuttlebus durch den Tunnel, über dem nichts als Wasser war. Ihre Freundin hatte gegen die zweite Möglichkeit wehemment protestiert, dass nur noch die Seilbahnen übrig blieben, die hunderte Meter über dem Meer bis auf den höchsten und einzigen Berg der Insel führten. In Luminas kränkliches Gesicht zu blicken, die sich krampfhaft an ihrer besten Freundin festhielt, ließ diese Idee nicht für die beste erscheinen.

"Ich hasse dich", murrte Lumina mit zusammengebissenen Zähnen, "warum mach`ich das hier eigentlich mit?"

"Weil du scharf auf einen Gott bist", entgegnete Rin breit grinsend, bevor sie sich einen schmerzhaften Schrei verkneifen musste, als Luminas Nägel sich durch ihren Unterarm bohrten. Rin wollte noch etwas hinzufügen, doch der ihnen dargebotene Anblick raubte ihr kurzer Hand den Atem: Die Kaiba Insel war durchtränkt von einem fluoreszierendem Licht, dass sich in mehreren Farben ergoss. Achterbahnen und Riesenräder waren in den Farbtönen des Turniers gekleidet, holographische Projektionen erweckten den Eindruck als könnten sie aus ihrem Waggon steigen und über die breiten Striche schweben, die den Weg in die Duell-Arena weisten. Rins Herz begann in heftigen Schlägen an ihre Brust zu klopfen. Noch nie war sie einem derartigen Spektakel so nahe gewesen. Die letzten Turniere, an denen sie selbst teilgenommen hatte, besaßen noch keine Specialeffects. Erst in den letzten zwei Jahren war der Worldcup zu einem weltweiten Highlight geworden, dass Besucher aus aller Welt der großen Eröffnung entgegen fieberten.

"Na gut...", murrte Lumina, "das war es tatsächlich wert." Sie ließ von ihrer Freundin, denn sie hatten endlich Boden unter ihren Füßen. Rin hingegen steuerte direkt den großen Bau an, der mehr an eine Gladiatoren-Arena erinnerte als an ein DuellMonsters-Spiel. Von Außen wirkte es klassisch Altertümlich, doch Rin kannte aus früheren Besuchen das gewaltige Innere der Duellarena, mit der die technologischen Möglichkeiten vollends ausgeschöpft werden konnten. Seto Kaiba selbst sorgte jedes Jahr dafür, dass die Arena einem schöpferischen Meisterwerk glich, das der Vergangenheit einen Stuch in den Rücken verpassen ließ. Wie auch heute Abend. Gleißendes Licht, als wäre das Innere mit einem durchsichtigen Schleier versehen, ließ die Arena im neuen Glanz erstrahlen. Rin trat einen Schritt näher an die Eingangspforte, vor der die Besucherschlange einem Albtraum glich. Dabei standen sie bereits vor dem Bereich, an dem nur Zuschauer mit Tickets Einlass hatten. Der andere Kassenbereich war auf der anderen Seite. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie viele Menschen dort sein mussten und darauf zu hoffen hatten, einen Platz in den hinteren Reihen bekommen zu dürfen, bevor die Tickets ausverkauft waren. Die junge Frau wusste, dass die letzten zu vergebenen Tickets nur Stehplätze in den undankbarsten Bereichen waren und für unverschämte Preise verhöckert worden, dass selbst Rin die Jahre zuvor darauf verzichtet hatte. Normale Eintrittskarten waren nicht schwer zu bekommen - es war unmöglich. Nach Ticketalarm hieß es bereits in sämtlichen Stores und Internetseiten, dass keine Tickets mehr zur Verfügung stünden. Rin hätte gerne gewusst, ob dies wieder einer dieser Tricks war um den einfachen Leuten etwas vorzumachen. Bei nächster Gelegenheit würde sie Mokuba danach fragen, er würde ihr sicherlich ehrlich antworten.

"Tickets", eine tiefe Bassstimme knurrte in ihr Ohr, dass Rin mit zittrigen Fingern nach den Karten in ihrer Tasche kramte und vorzeugte. Der bullige Kerl beugte sich näher zu den Tickets vor. Sein Blick huschte zu Rin und ihrer DuelDisk.

"Ich brauch`noch einen zweiten Ausweis." Rin blinzelte, bevor sie sich an ihren Handgelenksschmuck erinnerte, den sie an ihrem linken Handgelenk behalten hatte. Sie zeigte dem Einlasser ihre Gravuren, dass dieser nickte und einen Kollegen herbeiwinkte.

"Hier", er deutete auf Rin und Lumina, "Kaiba Corporation. Kennziffer 2.1.4. Zeig`ihnen ihre Plätze."

"Wenn ihr mir folgen würdet", sprach ein hochgewachsener und ebenso massiver Mann mit Stoppelbart, dass sich die beiden jungen Frauen an eine Reihe Zuschauer vorbei zwängten, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Letztendlich führte er sie in einen mittleren Bereich, von wo sie eine relativ gute Sicht auf die Tribüne hatten. Noch bevor sich eine von ihnen bedanken konnte, war der Kerl verschwunden, dass Rin lediglich mit den Schultern zuckte und einfach froh war, dass sie ihren Platz sicher hatten.

"Die Karten sind gar nicht mal so schlecht", rief Lumina, die näher an Rin heranrückte, um nicht von drei Teenagern umgerannt zu werden, "beim nächsten Mal will ich, dass du uns Plätze für die erste Reihe besorgst."

"Ich werde mir Mühe geben, dass wir nächstes Jahr ganz vorne mit stehen. Sie ging auf die Zehenspitzen und versuchte aus den ersten Reihen jemanden zu erspähen. Als lautes Gekreische ertönte, suchten ihre Blick nach der Quelle. Ein schwarz-blauer Schopf wurde sichtbar.

Bestimmt Ryota Kajiki

Rin begann breit zu grinsen. Ein zweites Mal jubelte die Menge aufgebracht, diesmal konnte Rin nichts Deutliches erkennen, da sich zwei Kerle vor ihre Sicht gestellt hatten. Mürrisch verschränke sie die Arme vor der Brust und sandte Todesblicke an die zwei breiten Rücken vor ihr. Einer von ihnen drehte sich genau in ihre Richtung und grinste sie breit an.

"Na, auch schon auf die heutige Show gespannt."

Nein, wir sind bloß zum Schlafen hierher gekommen Sein Grinsen verebbte, mit dem Zeigefinger deutete er auf die DuelDisk um ihrem Arm, die nun mehr als offensichtlich ihren Unterarm schmückte. Der einzige Unterschied zu ihren Konkurrenten war, dass sie ihre um ihr rechtes Handgelenk legte. Zwar musste sie auf diese Weise spiegelverkehrt spielen, dafür aber ließen sich die Karten als Linkshänder besser mit dieser Karten ziehen und halten.

"Mein Freund hier", damit legte er den Arm um dessen Schulter, "will sich nachher auch duellieren. Vielleicht gibt es ja die Chance, dass man auf einen richtigen Profi trifft und gegen ihn spielen kann."

"Ja", entgegnete Rin mit stoischer Stimme, "würdet ihr uns trotzdem den Gefallen tun und ein wenig beiseite treten. Ihr versperrt uns die Sicht." Ihre Augen fixierten die beiden, die nicht sicher zu sein schienen, ob ihr Blick tatsächlich töten konnte. Mit beleidigten Gesichtern wandten sie sich ab und gingen ein paar Schritte nach rechts, dass zumindest Rin wieder freie Sicht hatte.

"War das gerade Rin, die Duellantin, die aus dir sprach", grinste Lumina breit.

"Das war ihre nette kleine Schwester", antwortete Rin und konzentrierte sich wieder auf den vorderen Bereich. Die Lichter erloschen, die Arena war in völlige Dunkelheit getaucht, dass Rin ein Schauer der Vorfreude durchzuckte. Endlich war es soweit. Einzelne blaue Lichtstreifen drangen vom Himmel und trafen sich an einer Schnittstelle, die sich zehn Meter über der Tribüne befand. Donner ertönte, aus der Lichtmitte erschien eine gigantisch große goldene Kugel.

Ra

Ihre Augen nahmen das Gold in sich auf als würde ein magischer Sog in ihnen liegen. Langsam öffnete sich die Kugel, setzte noch mehr Licht frei, bevor die Gestalt des geflügelten Drachen in Phönixformation erschien. Die Flammen seiner Haut spiegelte sich in Rins Seelenspiegeln wider. Hitze durchflutete sie, dass Rin sich nicht sicher war, ob es vielleicht sogar von Ra selbst entsandt worden war. Sie traute der Technologie alles zu. Das mächtige Göttermonster streckte seine Flügel aus, dass es locker die gesamte Arena umfassen könnte. Sein Maul öffnete sich, ein lautes Kreischen ertönte, das durch sämtliche Nervenbahnen ging. Dann riss es sein Maul noch weiter auf, eine kleine Flammenkugel entstand und wuchs mit jedem Atemzug, den Rin verpasste zu tätigen, bevor eine monströse Feuerflut freigesetzte wurde und direkt auf das Publikum zusteuerte. Die ersten begannen bereits lauthals zu schreien, andere duckten sich oder hielten die Hand vor das Gesicht. Ein paar von ihnen wirkten als würden sie jeden Moment die Flucht ergreifen. Nur Rin blieb regungslos auf der Stelle stehen. Sie schaute nur zu dem Göttermonster hinauf, dessen Flammenkugel eine Lichtexplosions auslöste und Rin für einige Sekunden blendete. Noch immer konnte sie die Augen davor nicht verschließen. Die holographischen Leistungen überwältigten sie. Langsam verschwand das Feuer, die Sicht wurde freigemacht für die große goldene Kugel, die wieder an ihrem Ursprungsort war. Oben auf stand der Schöpfer, mit verschränkten Armen, den Blick hinunter zu den Zuschauern gerichtet, die in ein jubelndes Echo übergegangen waren, dass Rin kaum verstehen konnte, was er sagte. Mit wenigen Worten begrüßte Seto Kaiba die Zuschauer - auf seine eigene Art, mit seinen eigenen Worten, dass sie aus dem Augenwinkel sah, wie Lumina sich den Finger in den Hals steckte. Rin schüttelte lächelnd den Kopf. Weiter sprach der führende Leiter des Worldcups - zumindest in Domino-City. Kurz erklärte er die Regeln der kommenden acht Wochen, bevor er sich der heutigen Hauptattraktion widmete und den angekündigten Duellanten den Platz frei räumte, dass er sich mit einem Blitzschlag in Luft auflöste und das Göttermonster gleich mit.

"Duell! Duell!", riefen die Zuschauer im Chor als verlangten sie bereits nach einer Zugabe. Rin verstand die Euphorie. Sie konnte es ebenfalls kaum erwarten.

Es ist Zeit für ein Duell

"Was soll das heißen? Ich darf hier nicht rein?", fassungslos starrte Rin auf die Anzeigetafel über dem Gebäude - Duellarena, hier war sie doch eindeutig richtig. Sie war extra früh aufgestanden und hatte den Bus in die südlichen Kreisgebiete genommen. Von früheren Besuchen wusste sie, dass sich dort ein paar Duellarenen befanden, denen so einige bekannte Spieler beiwohnten. Es lohnte sich also die weite Strecke auf sich zu nehmen und ein paar Duelle zu bestreiten. Nachdem sie am Eingang ihre DuelDisk durchscannen ließ, hatte sich der Einlasser vor die junge Frau gestellt und den Eingang mit seinen zwei Metern abgesperrt.

"Das ist ne Duellarena nur für Profis. Amateure haben hier keinen Zutritt", entgegnete er und stemmte die Hände in die Hüften, dass er sich um einige Zentimeter streckte, die Rin für unnötig befand.

"Das ist doch nicht ihr ernst", versuchte die junge Frau so ruhig wie möglich zu sagen.

"So sind nun mal die Regeln, Kleines. Tut mir Leid."

Wen nennst du hier Kleines?

Rin knirschte mit den Zähnen. Gut, dass sie bereits zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, sonst wäre sie dem Riesen bereits an die Kehle gesprungen. Stattdessen beruhigte sie sich und stieß laut die Luft aus.

"Und wo kann ich mich duellieren?"
 

Der Einlasser hatte sie in die nördlichste Richtung geschickt. Mit verschränkten Armen hatte sie sich in das hinterste Abteil des Busses gesetzt. Über eine Stunde hatte sie sinnloserweise verschwendet. Sie war wütend. Warum hatte sie sich vorher auch nicht kundig gemacht, anstatt blauäugig ans andere Ende der Stadt zu reisen, um dort mit verachtenden Blicken beleidigt zu werden. Im Bus hatte sie genug Zeit über ihre Naivität nachzudenken. Je mehr Zeit verging, umso rasender wurde sie. Wo blieb da die faire Chance mit den anderen mitzuziehen? Sie war so dumm, dass sie angenommen hatte, mit den anderen gleichziehen zu können. Dass sie wirklich mit der Rest bei Null anfing. Dort, wo sich Rin befand, lag noch weit jenseits der Null - irgendwo im dreistelligen Minusbereich, der sie mit mittlerem Zeigefinger begrüßte. Zu allem Übel musste sie in den verdammten Nordbereich, um überhaupt ein paar Punkte abstauben zu können. Als der Einlasser ihr ein paar Adressen genannt hatte, hatte sich bei Rin bereits der Magen gedreht. Das war nicht einfach nur der Norden von Domino-City. Nein, diese Gegenden waren verrufen und bei Nacht mehr als gefährlich - besonders für hilflose junge Mädchen, die schnell in eine Gasse gezerrt werden konnten und sonst was mit ihnen getrieben würde. Diese Erzählungen waren keine, die aus dem Spiel Stille Post herrührten. Teils eigene Erfahrungen, teils Bekannte, denen aus eigener Hand unangenehme und zwielichtige Gestalten begegnet waren, ließen die Geschichten zu einem Abschreckungsbild entstehen, das sich Rin nur ungern ins Gedächtnis rief. Auch wenn hellichter Tag war, genoss sie mit Vorsicht die aufkommenden Wohngegenden, die mit jeder Haltestelle schäbiger und herunter gekommener wurden. Am Endausstieg bemühte sie sich, den Blick nicht zu sehr durch die Gegend schweifen zu lassen. Ein paar angetrunkene Gesichter beäugten sie. Aus dem Augenwinkel machte Rin ein kleine Gruppe Obdachloser aus, die sich auf zwei Parkbänken breit gemacht hatten und ihr Kleingeld zählten. Auf der gegenüberliegenen Straßenseite liefen ein halbes Dutzend Jugendlicher, die eigentlich schon seit Stunden in der Schule hocken müssten, doch stattdessen laut miteinander feixten oder stritten - bei ihren Wortlauten konnte es Rin nicht ganz heraushören. Sie beschleunigte ihren Schritt und überquerte eine Seitenstraße. Das Smartphone aus der Jackentasche zückend tippte sie die genannte Adresse ein. Auch wenn sie von der Kneipe bereits gehört hatte, war sie bisher nicht oft im nördlichen Teil der Stadt zugegen gewesen, dass ihr die Straßennamen alle fremd waren. Schnell über die Map gewischt wusste sie, dass es nicht mehr weit war. Sie sah auf und blickte in ein verschlafenes Männergesicht, mit dessen verquollen roten Augen sie angestarrt wurde. Rin bemühte sich locker zu bleiben und zwängte sich an den jungen Mann vorbei, der sie kaum wirklich wahrzunhemen schien. Selbst als sie schon einige Meter von ihm entfernt war, blieb er an derselben Stelle regungslos stehen. Rin durchfuhr eine Gänsehaut, die ihren Schritt beschleunigen ließ. Noch nie war sie so froh die aushängende Tür einer Kneipe vor sich zu haben. Sie hatte ihr Ziel erreicht - vorerst. Die Stadtrundfahrt mit anschließendem Spaziergang reichte ihr für die nächsten zwanzig Jahre. Sie fragte sich schon seit Längerem, warum dieser Teil Dominos nur so herunterkommen musste. Von ihren Eltern wusste sie, dass vor zwanzig, dreißig Jahren das Stadtgebiet noch nicht so schäbig war. Im Gegenteil - der Norden war zu seiner Gründung vor sechzig Jahren richtig lukrativ und modern gewesen. Jeder hatte sich um eine Wohnung in den Punkthochhäusern gestritten. Parks und Gärten hatte es gegeben, einen Jugendclub und mehrere Einkaufsmärkte. Erst nachdem die alten Häuser der restlichen Stadt aufgewertet und restauriert wurden, ließ der Flair des Nordens nach. Die Preise gingen wegen mangelnder Mieter nach unten, viele Sozialwohnungen entstanden und schließlich wurden die verlassenen Bauten von unheimlichen Gestalten besetzt, an die sich nicht einmal die Polizei so wirklich herantraute. Rin hätte lieber mehr von den Blumenbeeten gesehen, die es noch vor einigen Hochhäusern geben sollte. Anstatt den Duft frischer Erde oder blühender Sommergewächse in sich aufzunehmen, roch es in der Kneipe nach kaltem Rauch, der sich mit anderen unbekannten Gerüchen vermischte, über die Rin nicht weiter nachdenken wollte. Die Hände in die Tasche ihres Trenchcoats gesteckt lief sie vor an den Tresen. Sie hielt ihre DuelDisk dem Barkeeper vors Gesicht, dass dieser in die hinterste Ecke seines Schuppens deutete und Rin den Hinterausgang ansteuerte, der wohl früher einmal in den Hinterhof geführt haben musste. Zu ihrer Überraschung kam sie tatsächlich nach draußen. Dort standen bereits ein paar Männer um einen mit Kreide gezogenen Ring und feuerten die Männer innerhalb des Kreises an. Sie war inmitten eines Duells hereingeplatzt. Ein geflügeltes Ungeheuer zersäbelte die Gestalt der mystischen Elfe, dass diese in tausend Scherben ausstreute.

Hier würde wohl eher ein Blutgemetzel besser rein passen

Sie verzog angewidert den Mund und versuchte nicht weiter über Abschlachtung und Kastration nachzudenken, das beides ihre Gedanken in einen FSK 18 Film steckten.

"Hey du", hörte sie jemanden dicht hinter ihr sprechen. Rin hatte nicht die Ambitionen sich umzudrehen. Sie tat es trotzdem.

"Du bist doch nicht ernsthaft hier, um dich zu duellieren", er nickte in Richtung ihrer DuelDisk und bekam ein schiefes Grinsen, das eine Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen deutlich sichtbar wurde. Rin tat einen tiefen Atemzug.

Erinnere dich, was wir Zuhause geübt haben

"Ich bin nicht hierher gekommen, weil sie hier so guten Tee zubereiten." Daraufhin fing der Kerl hinter ihr zu lachen an. "Hast ganz schön Mumm, dich hierher zu trauen. Du solltest wissen, dass dir dein Armbändchen hier nichts bringt."

"Ich brauche nur meine DueiDisk", entgegnete Rin und formte ihre Augen zu winzigen Schlitzen, "um euch fertig zu machen." Sie spürte, wie sie die Aufmerksamkeit ihrer Nachbarn auf sich zog. Ohne es gemerkt zu haben, war das laufende Duell beendet; das verriet die aufkommende Stille, dass die Stimme des Kerls umso mächtiger ertönte.

"Wenn du so überzeugt bist, schlage ich vor, dass du dich auf der Stelle mit mir duellierst. Und mit vorschlagen meine ich, dass du keine andere Wahl hast." Plötzlich war sie von zwanzig Männern umzingelt, die sie auffordernd musterten. Ihr Herz raste, Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, der durch ihren Pony glücklicherweise verdeckt wurde. Sie wusste, dass sie es sich selbst zuzuschreiben hatte, dass sie nun einer Meute wilder Amateurduellanten ausgeliefert war. Wenn sie jemals eine Chance gehabt hätte, aus dieser Misere zu flüchten, dann war diese nun endgültig vorbei.

Nein, du kneifst jetzt nicht. Und du holst auch keine Hilfe

Ihr Blick huschte über ihre DuelDisk, so ganz hatte sie Mokuba nicht verstanden, wo sich der Alarmknopf befand.

Wenn du hier raus willst Sie sah ihren Gegenüber tief in die Augen, dass sein Lächeln verschwand. Dann musst du dich duellieren und zwar-

"Ich drücke mich vor keinem Duell." Sie ließ ihre DuelDisk ausfahren. Bis auf die fünf Duelle nach der Eröffnunszeremonie auf Kaiba-Land hatte sie sich noch kein einziges Mal gegen einen richtigen Spieler duellieren können. Ihr erster Gegner war ein Schüler aus der fünften Klasse gewesen, der unheimlich großer DuelMonsters-Fans war und sich riesig gefreut hatte, als er einem richtigen Duellanten begegnet war. Wie hätte Rin dem Jungen diesen Wunsch verwehren können; auch wenn sie sich ihr erster Duell anders vorgestellt hatte. Zumindest gab es für diese Spiele Punkte, auch wenn es schwer würde allein mit Hobbyduellanten aus der Amateurliga herauszukommen.

Hier, zwischen Männern, vor denen sie lieber weglaufen würde, anstatt sich ihnen zu stellen, würde sie zumindest gegen erfahrene Spieler antreten und obendrein mehr Punkte einheimsen, wenn es auch nicht viele waren.

"Du hast es nicht anders gewollt", knurrte der Kerl angriffslustig und ließ selbst seine DuelDisk ausfahren, "ich werde mit dir den Boden aufwischen, Kleines."

"Merk`dir eines", erwiderte Rin bissig, "ich bin nicht dein Kleines Ich bin Rin Yamamori. Damit du später weißt, wer dich und deine Freunde zu Kleinholz verarbeitet hat....Ja, du hast mich richtig verstanden. Ich fordere jeden einzelnen von euch heraus!"

Wie jeden Montagnachmittag saß Seto Kaiba an seinem Schreibtisch und ging die Bilanzen der letzten Woche durch. Eigentlich hatte er dafür weniger Zeit, doch von anderen die Aufgaben abgenommen zu bekommen, passte nicht zu dem jungen Firmenchef. Selbst wenn, er konnte es bestimmt nicht lassen, selbst noch einmal drüber zu gehen.

Nachdem er die Aktienkurse durchflogen und Geschäftsbriefe unterzeichnet hatte, ließ er seinen Chef der Abteilung für Duellanalyse und -statistiken heranzitieren. Der Gesichtsausdruck seines Angestellten war typisch für diejenigen, die ihrem Feierabend entgegenblickten und einen letzten Besuch bei ihrem Chef zu tätigen hatten. Seine Stirn lag in Falten, die Lippen zuckten leicht, während sich die Augen darum bemühten, nicht auf die Digitaluhr am Handgelenk zu starren. Der linke Fuß begann sich wippend zu bewegen, was Seto Kaiba überhaupt nicht leiden konnte und mit seinem eiskalten Blick zum Ausdruck brachte.

"Ihr Bericht, Senjin", forderte der junge Firmenchef, während er auf seinen Rechner blickte und sein E-Mail-Postfach durchging, dass sich mit sinnlosen Müll zugestaut hatte.

"Nun", räusperte sch Angesprochener und sah auf das Blatt Papier, das er mitgebracht hatte und mit seinen zittrigen Fingern leichte Knicke an den Rändern verursachte, "es läuft alles zu unserer Zufriedenheit, Herr Kaiba. Die Anzahl der Hobbyduellanten ist in diesem Jahr um fast zwanzig Prozent gestiegen. Die Rabattaktion für die DuelDiscs wird auch sehr gut aufgenommen. Die ersten Geschäfte fordern schon wieder eine Neulieferung. Ich denke, bis zur nächsten Veröffentlichung werden wir den Jahresumsatz wie gewünscht um drei Prozent aufgewertet haben."

Gut.

Wenn alles weiter nach Plan verliefe, würde er vor Beginn der internationalen Battles sein neues Duellsystem präsentieren und damit ein weiteres Stück Geschichte schreiben. Dafür war es entscheidend die derzeitigen Technologien vor Release der neuen DuellDisc weitestgehend abzuverkaufen - und welches Ereignis eignete sich besser dazu als der Worldcup. Es gab noch viele Träger der ersten und zweiten Duellgeneration. Diese sahen den Worldcup gerne als Gelegenheit, ihr altes Modell gegen das aktuelle einzutauschen, in der Hoffnung, damit bei den Battle-City-Turnieren zu punkten. Schließlich gab es viele junge Leute, die noch ernsthaft an gleiche Chancen für alle glaubten. So als wäre es tatsächlich möglich, als Hobbyduellant an die Spitze der Weltrangliste zu gelangen.

Das Fernsehen macht diese Kinder heutzutage nur noch weich in der Birne

Mit dem Zeigefinger scrollte Seto Kaiba die Betreffzeilen herunter. Viele seiner Mails waren für ihn nichts weiter als Spam - überflüssige Informationen und Nachrichten, für die der CEO der Kaiba Corporation nicht die Zeit hatte. Manchmal fragte er sich, was in den Köpfen derjenigen vorging, die scheinbar genug Freizeit während ihrer Arbeit besaßen, diese sinnlosen Mails abzuschicken.

"Sprechen Sie weiter", entgegnete er und öffnete ein weiteres Fenster auf seinen Bildschirm, dass die Umsatzzahlen der letzten zwei Jahre als Kreisdiagramme erschienen.

"Unsere Duellanten schlagen sich ebenfalls erwartungsgemäß gut. Yohishiko * befindet sich derzeit in den Top fünfzig der Chartliste. Und Saito und Hanabate kurbeln wie immer den Merchandise auf Kaiba-Land an. Ihre Duelle verlaufen wie die letzten zwei Jahre. Nicht unbedingt nennenswert aber pasabel."

Dafür werden sie schließlich bezahlt.

Seine beiden Spieler der zweiten und dritten Profiliga hatte er speziell für seinen Themenpark angeheuert. Quasi als Vorzeigemodelle seiner Technologien. Außerhalb des Worldcups traten sie in seinen Themenparks auf und dienten zur Unterhaltung der Themenparkbesucher, sowie der Vermarktung seiner Produkte. Für Kaiba waren sie nichts weiter als Spielfiguren, die für den Zeitvertreib auf Kaiba-Land mit verantwortlich waren. Mehr brauchten sie nicht zu sein. Dass sie in den letzten zwei Jahren ihre Plätze bei den Worldcups verbessern konnten, hatten sie nur ihrer täglichen Routine zu verantworten. Ursprünglich war es vorgesehen, nur Yoshihiko * als Teilnehmer der Kaiba Corporation vorzustellen. Seto Kaiba hatte ihn eigens dafür angeheuert, dass er seine Firma auf einer gute Position vertreten sollte. Er war auch der einzige, der tatsächlich das Potential dazu haben könnte, unter die diesjährigen Top drei zu gelangen. Da störte es den jungen Firmenchef auch nicht, dass sich der Regionalfinalist gerne einmal aufspielte und seine Klappe zu weit aufriss. Solange er seinen Job machte, konnte er für Kaiba auch der größte Vollarsch der Welt sein. Schließlich hatte er sonst mit dem selbstgefälligen Duellanten nichts zu schaffen.

"Sorgen Sie dafür, dass * auf genügend Bildschirmen zu sehen ist. Wenn alles nach Plan läuft wird er in die Rooftop-Battles kommen, da können wir es nicht verpassen, ihn vorher entsprechend vorzustellen. Erinnern Sie ihn daran, dass die Leute keine aufgeblasenen Überflieger mögen. Er soll sich bis zur nächsten Runde zusammenreißen und sich mit den richtigen Gegnern duellieren, dass die Presse ein gelungenes Foto schießen kann."

"Ich werde es zur Konferenz am Mittwoch erwähnen."

"Wäre das dann alles?", Kaiba tippte dabei ein paar Zahlen in seinen Rechner, während sein Angestellter den Zettel überflog.

"Oh ja", begann Senjin zu lächeln, " es gäbe noch ein paar erfreuliche Nachrichten aus der Amateurliga. Unsere Duellantin hat einen neuen Rekord aufgestellt. Sechzig Punkte in vier Tagen mit einer Erfolgsquote von hundert Prozent." Kaiba hörte auf zu tippen und blickte seinen Chefanalysten von der Seite an. Dieser sprach ungehindert weiter: "Vierzig Duelle. So viele hat in dieser Zeit noch keiner Bestritten. Wenn auch noch kein nennenswerter Name unter den Gegnern gefallen ist. Da will scheinbar jemand seinen Battle-City-Bonus abkassieren. Typisch für die Amateurliga - rennen jeder Pennymünze hinterher."

"Wohl kaum", entgegnete Kaiba und hatte derweil die Personalakte von Rin Yamamori auf dem Bildschirm geöffnet. Hier hatte er sämtliche Daten zur Person und ihren bisherigen Werdegang. Die junge Frau war einundzwanzig, ein Meter zweiundsiebzig groß und hatte Blutgruppe B. Es gab keine Vorekrankungen und keine nennenswerten Un- oder Vorfälle. Zwei Bilder hafteten an der rechten Seite. Das erste stammte aus ihrer ersten Bewerbung von vor zwei Jahren. Sie musste gerade die Schule beendet und eine Art Sammelaktion in Sachen Bewerbung abgeliefert haben. Zumindest schrie das beigelegte Foto danach - ein standardisiertes Bild, mit leicht geneigtem Kopf und einem falschen Lächeln. Das aktuelle Bewerbungsfoto war da schon anders. Auf diesem blickte sie weniger freundlich und aufgeschlossen. Leichte Provokation lag in ihrem Lächeln, die Augen waren stärker betont und verrieten das Feuer, das in ihnen versteckt war. Zumindest während eines Duells. Bei der Duellsimulation hatte die junge Frau weniger eingeschüchtert gewirkt wie noch Minuten zuvor.

Rin Yamamori. Sie war auf keinen Fall eine typische Duellantin der Amateurliga. Auf diesem Level spielte die verzweifelte Rige von DuelMonsters. Junge Duellanten, die nichts zu verlieren hatten. Deren Existenz von Siegen abhing, da ihnen sonst nichts blieb. Spieler, die einen schlechten Abschluss besaßen (wenn sie überhaupt einen hatten) und keine Jobperspektiven. Diese Leute wurden zu Duellanten, denen einziges Ziel es war, aus jedem Sieg etwas Gewinn herauskratzen zu können. Zu diesen Leuten zählte Rin Yamamori nicht. Aus ihren Zeugnissen war abzulesen, dass sie zu den besten ihres Jahrganges zählte. Sie war eine Einserschülerin gewesen, von der ersten bis zur Abschlussklasse an der Spitze ihres Jahrganges hervorgegangen. Sie beherrschte neben Japanisch drei weitere Sprachen, hatte in der Kindheit Klavier gespielt und besaß den zweiten Dan im Kendo. Nach der Schule hatte sie an einer Vorprüfung zum Medizinstudium teilgenommen und bestanden. Warum sie den Plan nicht weiterverfolgt hatte und stattdessen sich durch sämtliche niederen Berufsbranchen gehangelt hatte, konnte sich der junge Firmenchef nicht erklären. Eines konnte sich Seto Kaiba jedoch sicher sein: Sie beherrschte DuellMonsters soweit, dass sie ihn auf Amataueniveau nicht blamierte. Dass sie mit solchem Ehrgeiz an die Sache heranging, nahm er als willkommenen Bonus an, der sich für sein Geschäft nur positiv auswirken konnte.

Mit der Maus öffnete er weitere Informationen zu der jungen Duellantin. Sobald jemand bei ihm angestellt war, wurde derjenige genauestens unter die Lupe genommen. Er wollte sich keine Wanzen ins Haus holen, die seine Firma in ein schlechtes Licht rücken könnten. Mit seinen Möglichkeiten holte er sämtliche Informationen, die ihn jede Person wie ein offenes Buch präsentierten. So konnte er sehen, dass Rin Yamamori zusammen mit ihrer emigrierten Freundin aus Schulzeiten zusammenwohnte und nur wenig Kontakt in den sozialen Medien pflegte, wodurch sie schwieriger zu durchleuchten, aber es kein Ding der Unmöglichkeit war. Aus ihrer Akte war zu lesen, dass ihre Eltern gewöhnliche Leute der Arbeiterschicht waren. Ihr Vater hatte sogar eine relativ gute Position in einer privaten Versicherungsfirma. Noch ein Grund mehr, dass Seto Kaiba die junge Frau nicht auf dieselbe Stufe stellte wie die anderen heruntergekommenen Duellanten, die aus zerrütteten Familienverhältnissen stammten und nichts mit normalen zwischenmenschlichen Beziehungen zu schaffen hatten. Die junge Frau hatte eine saubere Akte; ohne Skandale, möglichen Gerüchten oder sonstigen heiklen Geschichten. Es gab nicht einmal peinliche Bilder, die in der heutigen Zeit schon einmal schnell ins Netz gelangen konnten. Alles spielte auf eine einfache junge Frau hin, die ihr Leben eines Tages in einem kleinen Haus zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Liebe und all diesem langweiligen Quatsch verbringen würde. Einzig ihre Duellstatistik wich von dem gewöhnlichen, wenn auch überdurchschnittlich gutem Lebenslauf ab. Anhand ihrer abgespeicherten Daten konnte Seto Kaiba die Liste der Duellgegner der letzten vier Tage einsehen, sowie ihre Spielstandorte. Ihre Routen waren unterschiedlich, wenn sie auch hauptsächlich im Norden unterwegs war, schien die junge Frau jeden Tag einen anderen Weg zu nehmen. Ihre Arbeitszeiten konnten sich sehen lassen. Bereits sieben Uhr gab es erste Aufzeichnungen von der jungen Frau, die letzten fanden nicht vor Mitternacht statt. Wenn sie in diesem Tempo weitermachte, könnte sie Ende der Woche von der Amateur in die Profiliga aufsteigen. Vorausgesetzt sie fand in der kurzen Zeitspanne noch genügend Spieler zum Duellieren.

"Informieren Sie mich, wenn Rin Yamamori ihren Rangaufstiefg schaffen sollte", damit schloss er die Personalakte und kümmerten sich weiter um seine Geschäfte, "bis dahin konzentrieren Sie sich auf unseren Favoriten und kurbeln Sie seine Vermarktung an. Um den Rest kümmern wir uns, wenn es von Wert ist."

Rin erhob sich zusammen mit Yamato, dessen Pausenzeit gleich beendet war. Warum konnten sich dreißig Minuten manchmal so zäh anfühlen und im nächsten Moment wie eine Rakete an ihr vorbeischießen? Aber sie wollte nicht undankbar sein. Schließlich war sie über jede Minute froh, die sie mit dem Schwarzhaarigen verbringen konnte. Tatsächlich hatte er Wort gehalten und sich irgendwie die Zeit nehmen können, dass er Rin nach ihrem täglichen Gang zur Kaiba Corporation abpassen konnte, um mit ihr auf einen Kaffee in ihr inzwischen Lieblingscafé zu gehen. Die junge Frau fragte sich, ob Yamato wohl extra seine Pausenzeiten geschoben hatte, um sie zu sehen. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz kribbelig im Magen, sie musste lächeln, dass Yamato sie mit erhobener Augenbraue ansah.

"Nichts", schüttelte sie grinsend den Kopf, "ich musste nur an etwas Schönes denken."

"Na wenn das so ist", begann auch Yamato breit zu grinsen und zog sich sein Jackett über. Wie Rin vermutet hatte, sah der Schwarzhaarige im Anzug einfach himmlisch aus. Er trug einen dunkelblauen Anzug, der perfekt auf seine Figur geschnitten war, sowie ein weißes Hemd, dessen letzter Knopf offen stand, dass es nicht ganz so streng wirkte wie bei den Mitarbeitern der Kaiba Corporation, die mehr als verbohrt und spießig aussahen. Die Krawatte hatte er sich gelockert, nachdem sie sich auf Rins Stammplatz niedergelassen hatten, dass sie seine Finger dabei beobachtete, wie diese durch die Schlaufe gingen. Rin konnte einfach nicht anders, dass sie schließlich von Yamato breit angelächelt wurde und dadurch die Hitze in ihren Kopf gestiegen war.
 

"Sag`mir beim nächsten Mal wieder Bescheid, wenn du in der Nähe bist", er blieb vor der Glastür stehen und sah sie eindringlich an, dass die Wärme zurück zu ihrem Gesicht kehrte. Stumm nickte sie und verkniff sich einen Kommentar. Lieber erwiderte sie seinen Blick, dass der Wunsch seine Lippen auf ihren zu spüren ins Unermessliche stieg. Ihr Puls begann an ihrem Nacken zu pochen als er sich leicht zu ihr herunterbeugte. Trocken wurden ihre Lippen, dass sie am liebsten mit der Zunge drüber gefahren wäre. In letzter Sekunde beherrschte sie sich. Das Gefühl beobachtet zu werden schlich sich so stark in ihr ein, dass sie ihren Kopf leicht neigte und ihre Wangen zu glühen begannen. Makoto betrachtete die beiden aus dem Augenwinkel. Mit einem verschmitzten Lächeln polierte sie scheinbar unschuldig die Gläser, dass für Rin der besondere Augenblick verflogen war. Yamato sah in die Richtung, in welche die junge Frau blickte und schien zu verstehen. Warmherzig wurde sein Blick.

"Dann hoffentlich bis bald."

"Ja", hauchte sie ungewollt, dass ihre Wangen noch stärker glühten. Schließlich riss der Schwarzhaarige die Tür auf und verschwand mit einem letzten Wink. Rin seufzte.

"Wer ist denn der süße Typ?", feixte die Kassiererin und stellte die Gläser zurück in ihre Vitrinen.

"Ein Freund", murmelte Rin und lief auf den Kassenbereich zu, dass sich Makoto sofort daran machte, eine frische Tasse Kaffee aufzubrühen. Dabei füllte sie den Behälter mit frischen Bohnen auf, dass der Geruch in Rins Nase stieg. Sie liebte den Geruch des schwarzen Goldes, besonders an späten Nachmittagen wie diesen, dass sie das Gefühl von Wochenende überkam, obwohl sie gerade frisch in die Woche gestartet hatte.

"So so", entgegnete Makoto und schaltete die Kaffeemaschine ein, "ein Freund also. Dann wirst du bestimmt nichts dagegen haben, wenn ich ihn das nächste Mal anspreche."

"Mach`doch", ging Rin auf die Stichelei ein. Sie wusste dass Makoto mit Kaito, dem Schaffer dieser leckeren kleinen Meisterwerke, zusammen war. Aus ihren Gesprächen wusste sie, dass die beiden bald ihr Zehnjähriges feierten.

"Was fest steht", Makoto überreichte ihr die volle Tasse, "dass er eindeutig auf dich steht."

"Meinst du", tat Rin so als probierte sie die brühend heiße Flüssigkeit.

"Das sieht ein Blinder mit Krückstock."

"Trotzdem", die Aussage der Kassiererin machte sie etwas verlegen, "ich möchte nichts überstürzen. Ich hab in der Vergangenheit immer viel zu impulsiv gehandelt. Das war nicht immer die beste Entscheidung. Diesmal soll es anders sein."

"Wenn er der Richtige ist, dann spielt das Tempo keine Rolle", erwiderte Makoto und stemmte die Hände in die Hüften.

Davon habe ich auch schon mal gehört

Scheinbar die Aussage ignorierend setzte sich Rin zurück an ihren Platz. Sie hatte ihre DuelDisc auf dem Tisch liegen gelassen, dass sie wie eine stumme Androhung wirkte. Sobald sie diese um ihr Handgelenk befestigt hatte, leuchtete der obligatorische Punktestand auf. Sie war bereits bei knapp siebzig Punkten. Heute morgen erst hatte sie ein paar Schüler der West-Domino-City-Oberschule abgepasst. Sie hatte festgestellt dass die Schüler immer zu einem Duell bereit waren; selbst wenn sie nur noch fünf Minute bis Schulbeginn hatten. Manchmal reichte die Zeit sogar aus, sie zu besiegen. Zwei Züge waren ihr bisheriger Rekord gewesen. Nicht, dass sich die junge Frau damit brüstete, gegen Jugendliche zu gewinnen. Aber jeder von ihnen brachte ihr einen weiteren Punkt - sie konnte keine Herausforderung abschlagen. Schon gar nicht von denjenigen, die darauf brannten gegen einen richtigen Berufsduellanten anzutreten.

Vorsichtig verriegelte Rin das dünne Metall, dass die DuelDisk bequem einrastete. Die modernste Version war ein gewaltiger Unterschied zu ihrem eigenen veralteten Modell. Die Monster wirkten noch lebendiger, mit jeder aktivierten Karte spürte sie ein angenehmes Kribbeln im Handgelenk.

"Wie läuft`s eigentlich", rief Makoto und deutete auf das auffallende Schmuckstück an ihrem Unterarm.

"Ist okay", entgegnete Rin. Solange sie in der Amateurliga versauerte, wollte sie noch nicht zu viel Euphorie aufbringen. Noch war sie mit ihren Leistungen nicht zufrieden. Duelle gewinnen war ja schön und gut, aber bisher war noch kein richtiger Gegner dabei gewesen, bei dem sie das Gefühl hatte, ihren Sieg hart erarbeitet zu haben. Ihr Blick schweifte zur Seite. Dort war die aktuelle Spitzenliste aufgeführt. Die dreißig besten Duellanten, die später in die nächste Runde kämen. Noch sah sich Rin weit von ihnen entfernt. Der Punktestand der hiesigen Spieler waren jenseits ihrer Möglichkeiten. Allen voran die Spitze der Duellliga, mit Katsuya Jonouchi oder Mai Kujaku, deren Erfolge nicht mehr von Kindern abhingen, dass ihr Punktestand bereits im dreistelligen Bereich lag. Der Anblick deprimierte Rin, obwohl sie sich geschworen hatte, sich nicht runter ziehen zu lassen. Wenn sie es heute richtig anstellte, hatte sie die Chance, die letzten dreißig Punkte zusammen zu bekommen, um in die nächste Liga aufzusteigen. Sie war heute extra früh auf den Beinen gewesen, um vorher bei der Kaiba Corporation nach einem Trainingsausweis nachzufragen. Rin wusste, dass sie mit ihren bisherigen Gegnern kaum an Erfahrung dazugewonnen hatte - zumindest nicht im Bereich DuelMonsters. Mokuba hatte ihr einmal gesagt, dass sie die Möglichkeit für die virtuellen Trainingseinheiten nutzen könnte, welche die Kaiba Corporation jedem ihrer Duellanten zur Verfügung stellte. Nach langen Diskussionen am Empfang hatte man ihr schließlich eine dieser Karten ausgehändigt, dass Rin sofort losgelegt hatte. Es tat gut, einmal einen schweren Gegner vor sich zu haben, auch wenn es sich dabei nur um eine KI handelte.

"Kopf hoch", riss Makoto sie aus ihren Träumereien, dass Rin augenblicklich hoch sah, "die Turniere gehen noch nicht einmal eine Woche. Da bleibt noch viel Zeit aufzuholen."

"Zumindest ist das der Plan", lächelte Rin halbherzig und nahm einen Schluck Kaffee. Sie bemerkte nur noch wie Makoto eine straffere Haltung einnahm und sich zu der Kaffeemaschine drehte, als die Tür zum Café geöffnet wurde. Rin hatte sich bereits daran gewöhnt, ihren Chef gegen sechzehn Uhr im Cafè vorzufinden. Scheinbar war dies seine gewohnte Pausenzeit. Sie begegneten einander mit stummen Blicken, bevor sich jeder seinem eigenen Getränken zu wandte. Bisher war es dreimal vorgekommen, dass sie ihren Chef abpasste. Rin hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, tägliche ihren Punktestand mit dem auf der elektronischen Anzeige der Kaiba Corporation abzugleichen. Sie vertraute nicht darauf, dass wirklich jeder Punkt mitgezählt wurde. Es kam schon einmal vor, dass die einzelnen Punkte aus Duellen mit Hobbyspielern verzögert aufgelistet wurden. Rin wollte einfach sicher gehen, dass sich keine Fehler einschlichen. Sie brauchte jeden Punkt, und außerdem zählte jedes Duell zu ihrer offiziellen Arbeitszeit, die sie sich auf jeden Fall gut schreiben lassen wollte.

Nachdem sich der Chef der Kaiba Corporation an seinen Platz gesetzt hatte, erhob sich die junge Frau und holte sich aus dem Fach neben dem Tresen eines der Tablets hervor. Als Mitarbeiterin der Kaiba Corporation hatte sie nicht nur kostenloses Wlan, sondern konnte auch sämtliche Laptops und Tablets ohne Aufpreis nutzen. Makoto hatte sie neulich darauf aufmerksam gemacht, dass Rin die Chance dazu nutzte, sich die täglichen Duellrouten zusammenzustellen. Ein Blick auf den Stadtplan zusammen mit einer App, die sämtliche laufende und kommenden Duelle aufzeigte, genügte, dass sie sich an die Arbeit machte. Mit flinken Fingern notierte sie sämtliche Punkte, die sie bisher noch nicht erkundet hatte. Ein baldiges Duell im tiefsten Nordbezirk erweckte ihre Aufmerksamkeit. Dort spielten Duellanten, die zumindest erfahren in dem Spiel waren. Vom Hörensagen wusste Rin, dass diese Spieler nicht zu unterschätzen waren. Aber wenn sie es richtig anstellte, könnte sie sich ihren Platz in der dritten Profiliga sichern.

Ob es überhaupt jemanden interessiert, wie ich spiele?

Bisher hatte Rin noch kein Feedback Seitens ihrer Vorgesetzen erhalten. Andererseits fand das erste Turnier-Meeting erst am Mittwoch statt. Diesmal würde sie Fragen stellen, damit sie sich nicht wieder so blamierte; das hatte sich Rin fest vorgenommen. Kurz huschte ihr Blick zu dem jungen Firmenchef herüber. Er würde ihr sicher alle Fragen beantworten können. Rin wäre nur nie auf die Idee gekommen, ihn jemals danach zu fragen. Sie schätzte Seto Kaiba so ein, dass er während seiner Kaffeepause nicht gestört und schon gar nicht mit sinnlosem Geplapper belästigt werden wollte. Insgeheim fand sie es schon schade. Dieser Mann kannte sich schließlich wie kein anderer in DuelMonsters aus. Er war jemand, mit dem sie sich richtig darüber unterhalten könnte, ohne mit platonischem Wissen überhäuft zu werden. Obwohl der junge CEO nicht in ihre Richtung blickte, glaubte sie kurz seinem eiskalten Blick zu begegnen, dass sie sich schleunigst wieder ihren Plänen widmete. Als sie damit fertig war, stellte sie das Tablett zurück in das Fach und verabschiedete sich von Makoto, welche noch das Geld für den letzten Kaffee bekam.

"Und?", lächelte Makoto und nahm die Scheine entgegen, "geht´s jetzt in den Feierabend?" Rin bemühte sich nicht laut los zu prusten.

"Sicher nicht", schüttelte sie mit dem Kopf und deutete auf ihre DuelDisc, "heut Abend findet ein Duell statt, das ich nicht verpassen darf. Aber vorher", sie drehte sich in Richtung Ausgang, "nehme ich einen Umweg mit der U-Bahn, dass ich noch ein paar Oberschüler abpassen kann...und grins`nicht so breit, ich weiß, dass sie keine ernst zu nehmenden Gegner sind. Dafür finden die es absolut Spitze, wenn sie meinen Armschmuck wider erkennen und glauben, ich bin nur zu ihrer Unterhaltung gekommen."

"Sie glauben, du wurdest dazu angeheuert?" Rin schüttelte den Kopf.

"So wie ich gehört habe, werden sie von den meisten Duellanten nur abgewimmelt. Es scheint ganz gut anzukommen, dass ich ihre Herausforderungen annehme und ich glaub´ein bisschen Sympathie bei den Leuten kann nicht schaden."

"Das stimmt", nickte Rin, "und wo geht`s dann hin? Wie ich gehört habe, finden die Amateur-Duelle in den Nordbezirken statt."

"Hauptsächlich ja", bestätigte Rin.

"Ich hätte da so Angst im Dunkeln. Ich traue mich nicht einmal tagsüber dort hin, außer mir bleibt keine andere Wahl."

"Anfangs schon", erinnerte sich Rin an den ersten Duelltag, "aber wenn man die Leute erst richtig kennt, sind sie plötzlich nicht mehr so unheimlich." Makoto hob eine Augebraue, dass Rin anfing zu lachen. "Nein, wirklich. Natürlich sind da noch echt unheimliche Wesen unterwegs und alleine traue ich mich da auch nicht mehr nach Mitternacht. Aber mittlerweile hab ich ein paar Leute gefunden, die auf mich acht geben." Das aus ihrem eigenen Mund zu hören, kam Rin ebenfalls seltsam vor. Doch es stimmte. Nachdem sie in der ersten Kneipe jeden Duellanten besiegt hatte, war die Reaktion nicht so gekommen wie sie zu Anfang befürchtet hatte. Statt Androhungen und Hass hatte sich Rin den Respekt der Männer verdient, die einen guten Duellanten zu würdigen wussten. Dieselben Männer hatten ihr auch geholfen als Rin eines Nachts durch die Gassen herumspaziert war und beinahe Bekanntschaft mit einer Gruppe gewalttätiger Junkies gemacht hätte.

Letztendlich musste sie ihren ersten Eindruck revidieren. Viele der Amateurduellanten waren freundlich und einfach nur daran interessiert ein gutes Spiel abzuliefern. Auch wenn es die einzige Gemeinsamkeit zwischen ihnen und Rin war, reichte er ihr aus, um sich mit ihnen auf einer Ebene zu verständigen.

"Ich bewundere deine Unerschrockenheit", schüttelte Makoto mit dem Kopf als könnte sie nicht glauben, was ihr Rin da gerade erzählte.

"Nicht dafür", winkte Rin ab bevor sie sich von ihrer neuen Freundin verabschiedete und lediglich aus den Spiegelungen der Türscheibe Seto Kaibas Gesicht ausmachte, der sie nicht angesehen, jedoch ganz bestimmt zugehört hatte.

Wie ein widerhallendes Echo ertönten die Schritte über das zuvor gereinigte Parkett, als der Chef der Kaiba Corporation die Vorhalle durchschritt. Vor einer viertel Stunde hatten noch Putzfrauen über die Flure gewuselt, hatten das Glas poliert, die Mülleimer geleert und die Fußböden grundgereinigt, dass sich Seto Kaibas Antlitz in dem hellen Holz widerspiegelte. Dazu benetzte ein Zitrusduft den Raum, der schon bald von übertrieben gepuderten und parfümierten Weibsbildern und zu starkem eau de Toilette der Männer übertüncht würde. Fürs erste hatte der junge Firmenchef noch seine Ruhe. Bis auf die Security, einem Wachpersonal am Empfang und einigen Mitarbeitern der Personalabteilung, die sowieso den ganzen Tag nur vor dem Telefon hockten und zwischendrin ein paar Mails zu tätigen hatten, dass sie kaum sichtbar für ihn waren, hatte er die nötige Ruhe in seiner Firma, die ihn entspannt durch die Flure laufen ließ. Ungestört konnte Seto Kaiba durch den Eingang treten, ohne von überraschten Blicken genervt zu werden - als ob es eine Überraschung wäre, dass der Chef in der Firma war. An ihren verängstigten und nervösen Gesichtsausdrücken hatte sich der junge CEO längst gewöhnt, kannte er diese Blicke bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr, als er Gozaburo Kaiba die Firma spenstig gemacht hatte. Seitdem behandelte ihn niemand mehr wie einen Jungspund, der die Führungskraft von dritten nötig hatte. Sicher hatten es einige versucht, ihre eigenen Idee als die Seto Kaibas zu verkaufen. Allesamt waren sie Idioten gewesen, die längst von der Bildfläche verschwunden waren.

Seine Augen wanderten durch die mit Licht gedämmte Halle, dass er einen Bediensteten der Sicherheitsfirma erblickte, der ihm mit ernster Miene zunickte und sich augenblicklich daran zu schaffen machte, die volle Raumbeleuchtung herzustellen. Ohne weiter auf ihn zu achten, lief Seto Kaiba weiter in Richtung Fahrstühle, als ein dunkler Schatten in die Mitarbeiterumkleide huschte. Der junge Firmenchef hielt inne.

Um diese Zeit? Unmöglich

Eine Augenbraue schnellte in die Höhe als die doppelseitige Tür aufgerissen wurde und Rin Yamamori in die Vorhalle schritt. Ihr Absätze klapperten mit derselben Intensität über den Boden, mit einem geschmeidigen jedoch beschleunigten Schritt lief sie ebenfalls zu den Fahrstühlen, ohne den Blick von ihrer DuelDisk zu nehmen. Ihm war bereits einige Male im Café aufgefallen, dass die junge Frau ihre DuelDisc nicht um den linken Arm hatte - wofür sie eigentlich konzipiert worden war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die spiegelverkehrte Sicht nicht auf Dauer anstrengen würde. Noch nie hatte er einen Linkshänder getroffen, der Probleme mit der Rechtshänder-Variante hatte. Aber vielleicht war es auch nur eine Marotte oder ihre Art sich von den anderen abzuheben.

Die Braunhaarige war so sehr in ihr Arbeitsmaterial vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie sie sich ihrem Boss näherte. Zumindest glaubte er nicht, dass sie von seiner Anwesenheit bereits Notiz genommen hatte, denn der Blick blieb weiterhin konzentriert auf die Anzeigetafel, mit der sie wohl ein Update gestartet hatte. Nur so konnte er sich ihren Fokus auf die Gerätschaft erklären, die volle Aufmerksamkeit von ihr verlangte. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, konnte er nicht anders: "Sie wissen schon, dass es halb sieben am Morgen ist und die Meetings erst um zehn stattfinden?" Ihr Kopf schnellte nach oben, ihr Blick war starr auf den Firmenchef gerichtet, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte und auf einen plausiblen Grund wartete, warum einer seiner Duellanten um diese Zeit hier herum spazierte. Suspekt war gar kein Ausdruck dessen, für was es Seto Kaiba hielt. Statt nach den richtigen Worten zu suchen, deutete Yamamori auf ihre DuelDisk, die soeben Rot aufleuchtete, als Zeichen, dass das Update beendet war.

"Ich will vorher noch ein paar Trainingseinheiten durchgehen", entgegnete sie, ohne von dem jungen Firmenchef abzusehen. Ihre Augen wirkten durch den hohen Zopf, den sie neuerdings trug und ihre Haare straff nach hinten gebunden hatte, noch intensiver. Das Grün leuchtete wie ein Jadestein frisch aus dem Meer entsprungen. Er musste zugeben, dass ihre Augen das Interessanteste an ihr waren. Auch wenn ihre gesamte Erscheinung nicht unansehnlich war, hob sie sich lediglich durch die markanten Blicke von all den anderen durchschnittlichen Frauen ab. Für einen Moment verdrängte er, dass sie ihm bereits eine Antwort gegeben hatte. Das Öffnen der Fahrstuhltüren erinnerte ihn daran. Sein Blick wurde steif und undurchschaubar. Er deutete hinter sich, ins Innere des Lifts.

"Und Sie wollen jetzt über das dritte Untergeschoss zu den Testgeländen gelangen?", fragte er und kannte die Antwort.

"Das ist der einzige Weg, den ich kenne", ihre Stimme klang nicht so sicher, wie noch vor ein paar Minuten.

"Kommen Sie", entgegnete ihr Boss und erreichte einen verwirrten Blick seiner jüngst eingestellten Duellantin, "ich zeige Ihnen einen besseren Weg." Daraufhin setzte sich Seto Kaiba in Bewegung, dass die junge Frau nicht sofort umgeschaltet hatte. Schließlich eilte sie mit ihren Schritten Kaiba hinterher.

Er führte sie durch die erste rechte Tür des Erdgeschosses, hinter welcher ebenfalls zwei Fahrstühle bereit standen. Aus seiner Manteltasche holte er eine schwarze Karte hervor und ließ sie durch den vorgesehenen Schlitz gleiten, dass die Lampe über der Fahrstuhltür grün aufleuchtete und sich daraufhin öffnete.

"Normalerweise besitzen alle Duellanten eine Zulassungskarte", er hielt ihr das Stück Pappe vor die Nase, dass sie nicht lang zögerte und sie entgegennahm.

"Dann sollten Sie Ihr Personal nach Ihren Kompetenzen überprüfen lassen." Ihre Antwort kam so unerwartet, dass seine Mundwinkel ein leichtes Stück nach oben gingen, bevor er wieder seinen gewohnt stoischen Blick aufsetzte. Schweigend drückte er den Knopf, der sie in das vierte Untergeschoss führte. Den Weg, den Yamamori nutzen wollte, war nicht nur umständlich sondern auch enorm zeitaufwendig. Die normalen Fahrstühle führten nur bis in das dritte Untergeschoss, danach musste man durch einen dreihundert Meter langen Flur, der schließlich in einer Feuertreppe endete und in die letzte unterste Etage führte.

Mit einem Ruck setzte sich der Lift in Bewegung, dass sich die junge Frau an die Seite neben Seto Kaiba stellte und die Hände in die Hüften legte. Ihr Schweigen war ihm vollkommen Recht. Er konnte es nicht leiden, wenn die Menschen um ihn herum das Gefühl hatten, ihn mit Smalltalk und unsinnigem Geplapper unterhalten zu wollen. Besonders die Frauen, denen scheinbar ein angeborenes Talent für sinnlose Plaudereien in die Wiege gelegt worden war. Sobald er auf eine seiner weiblichen Mitarbeiter traf, fühlten sie sich dazu in der Pflicht sich mit ihm unterhalten zu müssen oder auf andere Weise seine Aufmerksamkeit zu erzwingen. Rin Yamamori schien nicht der Typ Frau zu sein, zumindest hatte sie ihn bisher nie unerwünscht angesprochen. Dabei war sie ihm seit ihres Rangaufstiegs vorletzte Woche mehrmals über den Weg gelaufen. Kein einziges Mal versuchte sie das Augenmerk auf sich zu lenken und ihre Siege offenkundig auszudiskutieren. Er kannte es von seinen anderen Spielern, die gern in seiner Gegenwart ihre größten Erfolge ansprachen - natürlich nur ganz beiläufig, als bemerkten sie nicht, dass Seto Kaiba zugegen war.

"Verraten Sie mir", während er sprach lag sein Blick auf die Anzeige über ihnen, "warum Sie ausgerechnet um diese Zeit auf die Idee kommen, Ihre Techniken trainieren zu wollen?"

"Ganz einfach", ihr Blick ging ebenfalls ins Leere, "es ist die perfekte Zeit zum Trainieren. Ab neun gehen die Battle-City-Duelle los. Wenn ich tagsüber trainiere, würde ich viele Duelle verpassen, also auch jede Menge potentielle Punkte. Und danach ist meine Konzentrations- und Lernspanne auf dem niedrigsten Stand, dass ein Training reine Zeitverschwendung wäre. Also gehe ich morgens trainieren... Mir gefällt außerdem die Ungestörtheit am Morgen", ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen, dass ihre Gesichtszüge, die eine gewisse Strenge angenommen hatten, weicher wurden und zu dem leicht Kindlichem zurückkehrten, die in ihr innewohnten. Es überraschte ihn, dass sie einen frischen und munteren Eindruck erweckte, obwohl sie täglich bis vierundzwanzig Uhr oder länger im System eingeloggt blieb und aus den Koordinaten abzulesen war, dass sie weite Strecken von ihrem Zuhause zurückgelegt hatte. Sie trug auch kein Makeup, dass die dunklen Augenringe hätte kaschieren können. Stattdessen lag nur ein leichter Lidstrich auf ihren Augen, sonst hatte sie an sich nichts verändert. Dabei hätte der junge Firmenchef schwören können, dass etwas anders war. Dass sie anders wirkte. Und das nicht wegen des hochgesteckten Pferdeschwanzes, der an ihrem Kopf wie eine lange geschwungene Peitsche gebunden war. Nein. Es war etwas anderes. Irgendetwas an ihrer Haltung, ihrer Stimme und den Ausdruck ihres Gesichtes ließ die junge Frau verändert wirken. Aus den Augenwinkeln versuchte er seine Aufmerksamkeit nicht weiter auf ihr Gesicht zu lenken, dass er stattdessen die Blicke schweifen ließ. Schon zu Beginn war ihm aufgefallen, dass ihre Kleidung für einen Duellanten mehr als ungewöhnlich war. Im Grunde gab es nur zwei Typen von Duellanten: Die einen hielten nichts von Mode und Stilbewusstsein. Stattdessen kleideten sie sich in ihrem Null acht fünfzehn Outfit, dass sie morgens über ihren Stuhl lehnend aufgeschnappt haben mussten und liefen wochenlang mit ein und demselben Look herum. T-Shirt und Jeans; die klassische Variante eines Spielers, der den Eindruck erwecken wollte als spielte es keine Rolle wie man aussah. Für ein bestimmtes Klientel sicher auch gut zu vermarkten - wenn man denn auf trottelige Außenseiter stand. Andere wiederum stellten sich mit ihren Sonderanfertigungen regelrecht zur Schau und kreierten so einen eigenen einmaligen Stil. Dieser Kleidungsstil wirkte jedoch nur, wenn man tatsächlich jemand war, der Aufmerksamkeit verdient hatte. Das sahen nicht alle so, dass sich viele Amateure mit ihren Kostümen zum Affen machten, oder drittklassige Profis nur mit ihrem exzentrischen Auftreten auffielen und das nicht gerade im positiven Sinne. Die junge Frau neben ihm sah keinem der beiden Gruppen ähnlich. Sie trug eine weiße locker sitzende Bluse, die sie sich in ihre Stoffhose mit hohem Bund reingesteckt hatte. Der schwarze Stoff wurde durch einen aus Lederimitat festgebundenen Gürtel straff gehalten, dass er genau um ihre Hüften geschlungen war und ihre schmale Taille betonte. Bis über die Knöcheln reichte die Hose, dann gingen ihre Beine in Stiefeletten über, deren Absätze mindestens zehn Zentimeter hoch waren. Ihr Outfit erinnerte ihn eher an eine modebewusste Verkäuferin für Textilartikel als eine aufsteigende Duellantin der dritten Profiliga. Wie Kaiba aus ihrem Lebenslauf wusste, hatte sie tatsächlich für kurze Zeit als solche gearbeitet, vielleicht rührte daher ihr Kleidungsstil.

Ich hab schon schlimmeres gesehen

Es konnte sicherlich nicht schaden, sich von der Masse abzuheben. Immer noch besser als in zerschlissenen Jeans oder viel zu knappen Tangtops durch die Gegend zu rennen. Davon gab es genug und solch ein Duellanten-Typus musste nicht gerade seine Firma repräsentieren.

Mit den Fingern begann sie an der schwarzen Karte herumzuspielen, bevor ihr Blick flüchtig über die Anzeigetafel huschte, dass nur ein geübtes Auge wie Seto Kaibas dies bemerken konnte.

Sie denkt bestimmt über ihren Punktestand nach

Wenn er für die zweite Woche recht pasabel war, lag sie doch weit zurück, was die Spitze von DuelMonsters anbelangte. Im Grunde begann für sie erst mit der Profiliga das Turnier. Sie hatte die erste Woche in der Amateurliga herum gedümpelt, dass sie sich erst einmal an die neuen Duellanten gewöhnen musste. So einfach wie in der letzten Woche würde es für die junge Frau nicht laufen, so viel war sicher. Noch konnte er sie nicht gut einschätzen, ob sie genug Ehrgeiz besäße, sich trotz der Hürden nach oben zu arbeiten. Wenn sie es richtig anstellte, konnte sie zumindest unter den Top hundert landen. Für seine Vermarktung reichte ihm diese Platzierung. Ein leichtes Blitzen tauchte in ihrer rechten Iris auf, als sie den Punktestand regelrecht fixierte. Erst als sich die Tür öffnete, sah sie auf. Kaiba drückte mit dem einen Arm an den Türrahmen, während seine Augen die junge Frau anvisierten:"Wie weit würden Sie gehen", Eisblau traf auf Giftgrün, "um zu gewinnen. Denn", seine Stimme bekam einen beiläufigen Klang, um zu unterstreichen wie egal ihm ihre Antwort war, "sicher ist es ganz nett, ein paar Duelle zu gewinnen, aber wenn Sie wirklich nach oben wollen", sein Blick wurde finster, "können Sie ihre Gegner nicht einfach nur besiegen. Sie müssen sie vernichten."

Seto Kaiba war nett zu ihr gewesen, das musste sie nachher unbedingt Lumina erzählen.

Das wird sie mir nie glauben

Nachdem die Fahrstuhltür wieder zugeschoben wurde, atmete Rin erleichtert auf. Sie hatte sich bemühen müssen, ihre Finger nicht zittern zu lassen. Obwohl sie sich bereits an seine Anwesenheit gewöhnt hatte, fühlte sie sich immer noch von seiner unmittelbaren Präsenz eingeschüchtert - zumindest konnte sie sich nur so ihre Unruhe erklären, als er dicht neben ihr gestanden und sie angesprochen hatte, dass sie sogar seinen Duft ausmachen konnte, der etwas ganz eigenes an sich hatte. Sie hatte sich bemühen müssen, nicht zu sehr auf ihren Chef zu starren, der nun mehr als deutlich ihre Blicke gesucht und damit einmal mehr zum Ausdruck gebracht hatte, wie eiskalt seine Augen wirken konnten. Rin glaubte nicht, dass dieser Blick direkt an sie gerichtet war. Oft hatte sie Seto Kaiba dabei beobachtet, wie er seine Mitarbeiter und Untergebenen auf dieselbe Weise angesehen hatte.

So oft hab ich ihm nun auch nicht hinterhergesehen.

Ihre Wangen begannen zu glühen und mit Tempo näherte sie sich dem Zugang der Trainingshallen. Ein wenig Training würde ihr gut tun, bevor sie sich das Geschwafel ihres Vorgesetzten anhören musste, der nur etwas von Zahlen und Statistiken verstand, statt sich mit der praktischen Seite von DuelMonsters auseinanderzusetzen. In jedem Meeting, dem sie bisher beiwohnen musste (bisher waren es drei gewesen), hatte Senjin bloß über Auswertungen und Umsatzsteigerungen seniert, dass ihr am liebsten die Augen zugefallen wären, wenn sie nicht noch einen Rest Anstand in sich trüge. Die Gegenwart ihrer Kollegen machte es nicht einfacher für die junge Frau. Besonders Yoshi mit seinen gelangweilten Blicken, die so viel Arroganz und Selbstgefälligkeit ausdrückten, dass Rin bei seinem Anblick nur übel wurde. Die anderen Mitstreiter waren weniger auffallend, jedoch genauso wenig daran interessiert, sich auf irgendeine Weise von ihren selbternannten Thronen zu erheben und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Niemand von ihnen schien Rin für voll zu nehmen. Im Gegenteil: dass sie es in die dritte Profiliga geschafft hatte, schien für die Herren bloß eine Unannehmlichkeit zu sein, denn seitdem wichen sie ihr noch stärker aus. Darum hatte sie beschlossen, es ihnen gleich zu tun und sich nicht mehr darum zu scheren, wie sie sich ihr gegenüber verhielten.

Die Kerle wissen gar nicht mehr, wie man sich gegenüber einer Frau zu verhalten hat

Sie durchquerte den Eingang, nachdem eine weitere Zulassungskarte durch den Schlitz gesteckt wurde. Rin musste schmunzeln, als die schwarze Karte ihre Fingerspitzen streifte. Wie konnte man vergessen haben, ihr diese Karte auszuhändigen. Als sie von ihrem Boss den Sonderausweis für die Fahrstühle überreicht bekommen hatte, konnte sie dem Drang nicht widerstehen. Der Kommentar hatte ihr so auf der Zunge gebrannt, dass sie nicht anders konnte. Als die Worte ihren Mund verlassen hatten, war ihr für Sekunden das Herz stehen geblieben. Schließlich hätte sie mit dieser schlagfertigen Gegenreaktion ungewollt Kaibas Unmut auf sich ziehen können. Sie war erleichtert, dass der Chef der Kaiba Corporation nichts darauf erwidert hatte. Wenn Rin einmal in ihrem <Duell-Modus> steckte, war es nicht leicht für die junge Frau, ihr Mundwerk zu zügeln, dass geradezu versessen darauf schien, auf jeden Satz Konter zu geben. Selbst vor Seto Kaiba konnte sie diese Art an sich nicht verbergen, dass sie sich innerlich auf die Schulter klopfte. Dieser antrainierte Wesenszug war ihr tausendmal lieber als vor ihrem Boss wie ein verängstigtes Schoßhündchen zu wirken.
 

Sie musste sich etwas herunterbeugen, um die Anlage mit Licht zu erhellen. Da sie jedes Mal die erste war, welche die Trainingssimulationen nutzte, war es ihre Aufgabe, sämtliche Gerätschaften einzuschalten. Sie hatte sich vorher von einem technischen Mitarbeiter alle nötigen Schritte zeigen lassen, damit sie nicht hilflos hier herum stünde. Rin hatte sich jedes Detail sorgfältig notiert und am nächsten Tag selbst in die Tat umgesetzt.

Die letzten Knöpfe mussten gedrückt werden, dass auch der letzte Teil der Halle beleuchtet wurde.

"Willkommen, Rin Yamamori", meldete sich die elektronische Frauenstimme.

"Guten Morgen", entgegnete Rin, der es nichts ausmachte, mit einer KI zu sprechen. Das Duellsystem war so perfekt ausgearbeitet, dass die junge Frau manchmal vergas einen Computer vor sich zu haben.

"Es ist sechs Uhr neunundfünfzig. Möchten Sie mit den üblichen Aufwärmübungen beginnen?"

"Gerne." Damit verband sich Rins DuelDisc mittels Funkwellen mit dem System der Trainingssimulationen, dass sie für einen kurzen Augenblick blau-weiß funkelte. Dann begann der gesamte Raum von einer fremden Lichtquelle durchflutet zu werden, die in sechs verschiedenen Farben gleichzeitig leuchtete. Hauchdünne Streifen führten von der Decke hinunter bis zum Boden, breiteten sich aus und teilten sich in Abermillionen kleine Streifen. Auf ihren Körper begann sich ein Prickeln breit zu machen. Das passierte zu jedem Simulationsbeginn. Ihr Körper musste sich an die Veränderung der Umgebung gewöhnen. Genauso ihr Gehirn. Unsichtbare Informationswellen benetzten ihren Geist. Ein Mitarbeiter hatte ihr erklären wollen, wie die einzelnen Funktionen wirkten, doch Rin war zu erschöpft und müde gewesen, davon auch nur einen Hauch zu verstehen.

Intensiv waren die ersten Minuten des neu entwickelten Programmes, das - wenn sie richtig verstanden hatte - bald zur neuen DuelDisc Technologie zählen sollte. Neben Seto Kaiba selbst, war es seit Kurzem auch seinen Duellanten gestattet, die Neuheiten auszuprobieren. Dahinter vermutete Rin, dass sie und die anderen als Beta-Tester dienen sollten, um die Veträglichkeit der neuen Technik auszureizen.

Sobald sich Körper und Geist mit der holographischen Schaffung verbanden, hörte das Prickeln auf, ebenso dieser Zustand, der ihr vorgaukelte vom Boden abzudriften. Danach war das neu geschaffene Gefühl unbeschreiblich. Ihr eigener Verstand sorgte für die wandelnde Umgebung. Sie brauchte nur an etwas denken, schon tauchten die Bilder eins zu eins auf. Beim erstem Mal war ihr die Kinnlade heruntergerutscht. Die Grafik war berauschend, realitätsnah und doch so vollkommen anders. Besser war nicht der richtige Begriff dessen, sie war einfach nur fasziniert von den Details, den Farben und der einzelnen Sinne, die aktiviert wurden. Mit dieser Technologie war die Beschwörung ihrer geliebten Drachen eine wahre Augenfreude. Sie tauchten aus dem Boden empor, zersprengten die Marmorplatten und stiegen hinauf als majestätische Kreaturen mit Blick auf ihren Beschwörer. Gänsehaut machte sich in der jungen Frau breit als sie die Lichtschwerter aktivierte und messerscharfe Metalle vor ihr niederprasselten. Ein Lufthauch ließ erahnen wie gefährlich diese Waffen sein konnten, wenn sie nur ein Stück näher herangetreten wäre. Mit der Aktivierung von Blitzeinschlag peitschte der Klang in ihre Ohren, dass sie für einen Augenblick wie betäubt war.

"Gut", lächelte Rin schief und legte die Karten zurück in ihr Deck, "wir können mit den Trainingseinheiten beginnen. Ich habe nämlich heute noch etwas zu erledigen."
 

Seto Kaibas Worte hatten sich so tief in Rin eingebrannt, dass sie immer wieder daran denken musste.

Meine Gegner vernichten.

Sie hatte es noch nie aus dieser Perspektive betrachtet. Während des Meetings war sie ständig abgedriftet und überlegte, wie sie das Gesagte in die Tat umsetzen könnte. Das Wort hatte einen bitteren Beigeschmack. Sie wusste nicht, ob sie wirklich so viel Härte aufbringen könnte, ihre Gegner nicht nur in die Knie zu zwingen sondern diese auch den Dreck unter ihren Füßen fressen zu lassen. Eine andere Metapher fiel der jungen Frau nicht ein, die sich kopfschüttelnd durch die Flure der Kaiba Corporation in Richtung Ausgang bewegte. Einen großen Becher Kaffee für unterwegs besorgte sich die junge Frau noch von ihrer Lieblingcafébetreiberin, dann machte sie sich in die Innenstadt Dominos. Bereits auf halben Weg flogen ihr Windmonster entgegen. Schwertkämpfer holten zum finalen Schlag aus, während Geistermonster über den Himmel schwebten und den finsteren Wolken Konkurrenz machten. Wenn Rin von den Trainingseinheiten zurückkehrte, kamen ihr die Hologramme wie zweitklassige Kopien vor. Es dauerte einige Zeit bis sie sich von der modernsten Technik geistig und emotional abgekoppelt hatte und die klassischen Hologramme wieder Normalität geworden waren. Ihr Blick ging zu ihrer DuelDisc.

Wie vernichte ich meine Gegner? Aber vielleicht ist die bessere Frage, wen ich vernichten soll. Irgendeinen Dulli auf der Straße kann ich mir abschminken. Das wirkt nur billig.

Sie zückte ihr Smartphone aus der Tasche. Eine neue Nachricht blinkte auf, Rin musste lächeln. Sie würde Yamato abends schreiben, wenn sie Ruhe hatte und weniger abgelenkt sein würde. Mit einem Wisch öffnete sie die DuelMonsters-App und suchte die einzelnen Fixpunkte des Battle-City-Turniers. Es gab zehn Standorte von größerer Bedeutung. Zwei davon konnte sie gleich vergessen; da gab es nur Champions, die sie nicht herausfordern durfte.
 

Vor ein paar Tagen hatte sie Mokuba im Flur abpassen können und ihn nach den einzelnen Regeln ausgequetscht. Von ihm wusste sie, dass sie sich in der Profiliga theoretisch mit jedem duellieren konnte, aber nur Duellanten der zweiten und dritten Liga herausfordern durfte. Höhere Spieler mussten sie herausfordern. In den zweieinhalb Wochen war das noch nicht der Fall gewesen und bisher war Rin darüber ganz glücklich gewesen. Noch lag ihre Erfolgsquote bei hundert Prozent. So weit es ihr möglich war, wollte sie diese aufrecht erhalten und sich somit Stück für Stück nach oben arbeiten. So war zumindest der Plan gewesen. Die Worte Seto Kaibas hatten ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es machte sie wahnsinnig ständig daran denken zu müssen und dabei seinen Blick vor Augen zu haben, der sie noch mehr durcheinander brachte, dass sie eine Haltestelle zu früh ausstieg und in Stadtgrenze zum Südbezirk war. Sie biss sich auf die Lippen um nicht wütend los zu schreien. Stattdessen fixierte sie den Bildschirm ihres Handys und sah sich nach einer Möglichkeit um, sich anständig zu duellieren. Ein größerer Punkt auf der Map erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie erinnerte sich an die Gegend. Dort gab es zwei Männer, die einen Club führten, der gleichzeitig als Duellarena fungierte. Die beiden Kerle waren nicht nur die Besitzer, sondern auch Duellanten der dritten Profiliga die sich mit ihrer aggressiven Art einen Namen und einen Ruf gemacht hatten, dass sich kaum einer traute, ihnen Paroli zu bieten. Stattdessen krochen die meisten um sie herum und versuchten den Fokus ja nicht auf sich zu lenken. Die Männer hatten so viele Leute um sich, dass man kaum an sie heran kam - außer man wagte es, sie zu einem Duell herauszufordern. Einen Blick auf die Platzierungen werfend fand Rin die beiden an oberster Stelle der dritten Profiliga.

Dritte Profiliga. Das macht pro Duellant vier Punkte."

Ihr Zeigefinger fuhr über den Punkt, der sich zwei Kilometer von ihrem jetzigen Standpunkt befand.

Was hat Masato gesagt?

Sie versuchte sich an die Worte des Amateurduellanten zu erinnern, den sie damals als erstes besiegt hatte. Die beiden Männer waren Spezialisten für Maschinenmonster - ganz nach dem Vorbild des U.S. Amerikanischen Champions, in der Wahl ihrer Karten als auch in ihrem Verhalten. Rin war kein besonders großer Fan dieses Typus´. In ihrem ersten Starterdeck hatten sich einige Maschinenmonster befunden, mit denen sie nie warm geworden war. Zumindest kannte sie einige dieser Karten, sowie die besonderen Effekte.

"Moment", am Eingang hielt ihr jemand eine Hand direkt vor ihrer Brust, dass sie einen giftigen Blick freisetzte, "Name?"

"Spielt der wirklich eine Rolle?", konterte sie und versuchte einen gelangweilten Unterton zu schaffen, der jedoch wie ein schwerfälliger Seufzer klang.

Ich muss das unbedingt mehr üben

"Ohne Ausweis kommt hier keiner rein", murrte der Mann und steckte die Hände in die Hosentasche.

"Reicht dir das", sie streckte ihren rechten Arm aus, dass die Initialen wie ein Drohung wirkten. Vor ihr begann der Mann breit zu grinsen.

"Ne Profiduellantin also. Und das auch noch aus diesem Snöselladen. Nur hereinpaziert", er öffnete hinter sich die Tür. Rin eilte an ihm vorbei, nicht weiter darüber nachdenkend wie er sie gerade angesehen hatte. Ein weiterer stämmiger Kerl mit dunklen Brillengläsern lächelte sie verschmitzt an.

"Wohin hast du es denn so eilig", knurrte er und zeigte seinen spitzen Fangzähne. Rin verzog genervt das Gesicht.

Wenn ich jetzt von jedem angehalten werde, kriege ich noch die Krise.

"Ich will zu Hanabi und Kim."

"Ha", er legte den Kopf schief, "und was will die Zuckerpuppe von ihnen?"

"Ihnen Zucker in den Arsch blasen." Das Lächeln verschwand, er legte die Sonnenbrille ab um seinen ernsten Blick zu intensivieren. Rin sah durch ihn hindurch und dachte an verfaulte Eier - so konnte sie ihren missachtenden Ausdruck beibehalten.

"Keiner fordert Hanabi und Kim einfach so heraus", das Knurren wurde tiefer.

"Ich bin auch nicht keiner. Geh`ruhig und sag`ihnen, dass hier jemand ist, der sich vor den beiden nicht in die Hosen macht, nur weil sie glauben, dass ein paar Möchtegern-Security mich abschrecken könnten." Sie stemmte die Hände die Hüften und wartete, dass er sich entfernte. Tatsächlich eilte er in Richtung Backstage-Bereich, hinter dem sie die beiden Männer vermutet hatte. Wenig später kehrte ein anderer Mann, ebenfalls mit Sonnebrille zu ihr zurück und wies ihr den Weg.

Eine schwenkende Tür, die sie eher an einen Saloon als an eine Bar erinnerte, wurde aufgerissen. Auf einer gepolsterten Bank saßen zwei Männer in protzigen Anzügen, neben ihnen zwei großbrüstige Frauen - eine blondierter als die andere. Als sich Rin vor ihren Tisch stellte, erhob sich einer von ihnen und musterte Rin bis zu den Fußspitzen. Sie wusste selbst, dass sie hier nicht hin passte. Die vielen bunten Lichter und das Gedröhne des Basses von der Seite waren mehr als störend, aber da musste sie jetzt durch.

"Du bist das also, die die Frechheit besitzt, uns herausfordern zu wollen", entgegnete der Mann und beugte sich über den Tisch. Trotz ihrer Absätze war er mindestens einen halben Kopf größer als sie. Der andere erhob sich ebenfalls und verschränkte die Arme vor der Brust: "Weißt du denn nicht, dass man uns nicht einfach von der Seite ansprechen darf."

"Ich wusste nicht, dass es dafür Sondergenehmigungen gibt", erwiderte sie und ballte die Hände zur Faust.

"Auch noch frech werden", riss der eine die Augen auf um im nächsten Moment in Gelächter auszubrechen, in das die beiden Frauen mit einstimmten, "hör`mal zu. Wir duellieren uns nicht mit dir. Hast du verstanden? Momentan sind wir anderweitig beschäftigt, stör`uns also nicht länger. Sonst können wir nicht für deine Sicherheit garantieren."

"Ich wusste nicht", Rin schwang ihren Pferdeschwanz nach hinten, "dass Hanabi und Kim solche Weicheier sind. Oder fehlen euch einfach nur die Eier, gegen einen richtigen Gegner anzutreten?" Der Größere von ihnen hob eine Hand, dass die Musik augenblicklich verstummte. Schweigen kehrte in den Raum, alle sahen sie zu den beiden Männern und der einen Frau herüber, deren Worte jeder mitbekommen hatte.

"Was hast du gerade gesagt", eine von ihnen riss die Augen auf. Rin kam einen Schritt auf sie zu und entgegnete: "Ihr habt mich schon richtig verstanden. Ich halte euch für zwei aufgeblasene Nichtskönner. Es wird Zeit, dass ich allen in diesem Raum beweise, dass ich Recht habe."

"Also schön", raunte der andere und schlug mit der Hand auf den Tisch, "gnade dir Gott, wenn deine Sprüche nur hohle Luftnummern sind. Hanabi", er deuteten auf seinen Nachbarn, "ich nehm`sie mir als erster vor."

"Nicht nötig", lächelte Rin in sich hinein, "ich werde es mit euch beiden aufnehmen. Und zwar gleichzeitig." Ein Raunen ging durch den Raum. Hanabi und Kim sahen einander an, wortlos schienen sie darüber zu beraten. Schließlich willigten sie ein, ihre Gesichter waren auf Sieg eingestimmt als sie die Fläche freiräumen ließen und das Duell starten konnte.

"Sieh`deinem Untergang entgegen", rief Hanabi und zog eine Karte, "ich opfere meinen Roboterritter und meine Pendelmaschine, damit ich dieses ultimative Monster rufen kann", er warf geradezu das Monster auf die vorgesehene Kartenzone. Blitze sprangen von der Decke, trafen auf einen Punkt in der Mitte des Spielfeldes und schufen ein neues Maschinenmonster. Rins linke Augenbraue schoss in die Höhe: "Noch ein Maschinenkönig", entgegnete die junge Frau mit leichter Langeweile in der Stimme. Sie sah zu dessen Partner, Kim herüber, der in seinem vorherigen Zug bereits den Maschinenkönig beschworen hatte.

"Oh nein", lachte Hanabi und bleckte sich die Zähne, "diese Karte ist noch viel grauenvoller als sein kleiner Bruder." Tatsächlich waren die äußerlichen Unterschiede bei näherer Betrachtung deutlich zu erkennen.

"Das ist der perfekte Maschinenkönig", stellte ihn dessen Besitzer vor und riss die Arme in die Höhe. Weitaus beachtlicher als dessen gewaltige Erscheinung waren seine Angriffspunkte. Während der Maschinenkönig eine Grund-ATK von 2200 Punkten besaß, war sein Nachfolger mit 2700 ATK weitaus beachtlicher.

"Und es kommt noch besser", voller Stolz blickte er auf seine Kreatur, die einem Roboter des letzten Jahrhunderts in nichts nach stand, "wie du bereits erfahren musstest, erhält der Maschinenkönig für jedes Maschinenmonster auf dem Feld zusätzlich 100 Angriffspunkte", sofort schnellten die Punkte seines Gegenübers in die Höhe, "aber dieser Kumpel hier setzt noch einen drauf und stattet sich mit 500 Punkten pro Maschinenmonster aus. Damit hat mein perfekter Maschinenkönig sage und schreibe 3200 Punkte. Aber das war noch nicht alles." Rin kniff die Augen zusammen als Hanabi eine seiner verdeckten Karten offen legte.

"Mit Maschinenumwandlungsfabrik rüste ich meinen König mit weiteren 300 Punkten aus. Du weißt, was das bedeutet."

"Ich kann zählen", entgegnete Rin harsch und beobachtete die weiter steigende Angriffszahl des perfekten Maschinenkönigs.

"Also dann, perfekter Maschinenkönig", der Ruf hallte durch den gesamten Raum. Über zweihundert Menschen hatten sich um die improvisierte Duellzone versammelt und blickten voller Ehrfurcht auf das stärkste Monster.

"Greif`ihren Horus an und beende das Spiel", eine Blitzkugel schoss aus der rechten Hand des angreifenden Königs, dass sich Rin die Augen zuhalten musste. Die Intensität des Lichtes waren wie Schockwellen für ihre Augen.

"Tja", feixte Hanabi triumphierend, "das passiert, wenn man die Klappe zu weit aufreißt." Das Licht glimmte ab, die Sicht auf ihre Gegnerin wurde wieder frei, ebenso ihr stummes Lächeln.

"Wie", blinzelte Kim, "das Spiel müsste längst beendet sein. Dein Horus hatte bloß läppische 2300 Punkte. 1200 weniger als der perfekte Maschinenkönig. Du hattest doch nur noch neunhundert Lebenspunkte, er hätte dich locker besiegen müssen. Warum stehst du immer noch?"

"Nun", schmunzelte Rin und sah auf ihren schrumpfenden Punktestand, "weil ihr in eurer blinden Selbstverherrlichung meine Fallenkarte vergessen habt", sie zeigte auf die aufgedeckte Karte, "diese Karte nennt sich Schadensdiät und halbiert sämtlichen Schaden um die Hälfte."

"Das wird dir auch nichts bringen", knurrte Hanabi und legte zum Schluss noch eine verdeckte Karte. Rin war wieder am Zug. Sie tat einen tiefen Atemzug, und nahm eine Karte vom obersten Stapel.

"Halt!", schaltete sich eine vertraute Stimme in das Spielgeschehen, dass Rin ihren Kopf zur Seite neigte um das passende Gesicht in der Menschenmenge zu finden. Einige Leute machten Platz, dass sich zwei stämmige Männer durch die Meute drängten. Hinter ihnen tauchte ein schwarzhaariger Wuschelkopf mit Aktenkoffer auf. Mokuba Kaiba blickte wütend durch die Dreierrunde.

"Mir wurde eine Missachtung der Regeln mitgeteilt", damit drehte er sich zu Hanabi und Kim, "Zweierduelle sind erlaubt. Zwei gegen einen verstößt gegen das Prinzip des Gegnerausgleichs." Seine sonst treu blickenden und freundlichen Augen bekamen einen dunklen Anstrich, der ihn kaum mehr an den niedlichen kleinen Jungen erinnerte.

"Als Mitglied des Komitees für Sicherheit und Gleichheit ist es meine Aufgabe dieses Duell für nicht zulässig zu erklären-"

"Warte Mokuba", mischte sich Rin ein und blickte zerstreut zu dem Schwarzhaarigen, "ich habe die beiden herausgefordert."

"Was?!", drehte Mokuba abrupt den Kopf zu der jungen Frau, deren grünen Seelenspiegel ihn zu erreichen versuchten.

"Ist es noch regelwidrig, wenn ich mich freiwillig dazu entschließe, allein gegen die beiden anzutreten?"

"Nun, ja", Mokuba schien sichtlich verwirrt, seine Blick ging durch die Runde. Scheinbar gab es niemanden, der etwas gegen eine Fortführung des Duells hatte. Er führte seine rechte Hand zu dem Headset und drückte auf einen kleinen Knopf neben dem Mikrofon. Seine Worte drangen nur murmelnd zu Rin hindurch, dass sie kein verständlicher Satz erreichte. Schließlich nickte der Schwarzhaarige und ließ von dem Knopf.

"Also schön. Sofern deine Entscheidung aus freiwilligen Stücken entstanden ist, kann das Duell fortgesetzt werden."

"Danke", lächelte Rin und bekam ihren stechenden Blick zurück, mit der sie die Karte in ihrer Hand betrachtete, "es wird auch nicht lange dauern", fügte sich hinzu und hielt die gezogene Karte vor ihren Gegnern: "Ich spiele Topf der Gier. Sie erlaubt es mir zwei weitere Karten aus meinem Deck zu ziehen."

"Gib`doch einfach zu, dass du keine Chance hast", schmunzelte Kim, während Hanabi die Arme vor der Brust verschränkte.

"Egal, was du tust, wir werden dich platt machen. Du stehst den zwei gefährlichsten Monstern gegenüber und gegen meinen perfekten Maschinenkönig siehst du alt aus."

"Das werden wir sehen", entgegnete sie und zog zwei weitere Karten. Ihre Augen brannten sich in diese ein.

"Als nächstes spiele ich Melodie des erwachenden Drachen. Wenn ich eine Karte abwerfe, darf ich bis zu zwei Monster mit 3000ATK oder höher von meinem Deck auf die Hand nehmen." Sie wusste bereits ganz genau, welches Monster sie wollte.

"Weiter geht es mit dieser netten Zauberkarte", sie setzte Kosten verringern, dass zwei Schwerter aufleuchteten, "mit einer weiteren abgeworfenen Karte kann ich die Stufen aller Monster auf meiner Hand um zwei verringern", ein diabolisches Lächeln benetzte ihre Lippen.

"Na und", entgegnete Kim und blickte auf ihre leere Monsterzone, "was bringt es dir schwache Monster aufs Feld zu holen. Du hast kein einziges Monster, dass du zum Tribut anbieten könntest, also bringt dir diese Karte überhaupt nichts."

"Wer sagt, dass ich ein Monster von mir brauche", eine weitere Zauberkarte erschien auf dem Spielfeld, "ich nehme mir einfach eines von euren Monstern." Ein blondhaarig menschliches Wesen mit jeweils einem Engels- und einem Teufelsflügel streckte die Hände aus, dass ein winziges Herz in ihren Handflächen zu sehen war - Wandel des Herzens.

"Und ich nehme deinen rostigen perfekten Maschinenkönig", rief Rin, dass das geflügelte Wesen ein Licht freisetzte und dem Maschinenmonster nichts anderes übrig blieb als dessen Willen zu gehorchen.

"Sag´auf Wiedersehen zu deinem Klapper-Roboter! Ich opfere ihn und beschwöre meinen geliebten Weißen Nachtdrachen. Komm, du einzigartiges Geschöpf und zeig` ihnen deine Macht", tausend blau-farbene Diamanten fügten sich zu einem Gebilde zusammen. Der weiße Nachtdrache breitete seine Flügel aus und zeigte seine spitzen Krallen.

"Ich bin noch nicht fertig", ihre Augen verdunkelten sich, "ich decke noch meine letzte verdeckte Karte auf - Tyrannenflügel. Sie rüstet mein Monster nicht nur mit weiteren 400 Punkten aus. Zusätzlich kann es zwei Angriffe deklarieren. Ich hoffe, ihr wisst, was das für euch bedeutet." Die beiden Männer begannen zu knurren. Hanabi ballte die freie Hand zur Faust, während Kim mit den Zähnen knirschte: "So einfach machen wir es dir nicht."

"Denkst du das wirklich", provozierte sie ihn weiter und betrachtete genüsslich den Drachen, der mit 3400 Punkten kaum zu übertreffen war.

"Weißer Nachtdrache", rief sie und streckte die Hand nach ihren Gegnern aus, "greife zuerst den Maschinenkönig an. Diamentenblitzattacke!" Blau weißes Licht wurde frei gesetzt und richtete sich auf das Maschinenmonster. Hektisch sah Kim zu seinem Partner herüber, "tu`doch was", rief er und deutete auf Hanabis verdeckte Karte. Dieser regte sich jedoch keinen Zentimeter: "Schon vergessen? Der Drache kann zweimal angreifen. Du hast nur noch tausend Lebenspunkte. Einer von uns muss geopfert werden." Damit strömte die Attacke durch den Maschinenkönig hindurch, dass Hanabi einen Meter nach hinten geschleudert wurde und nur mit letzter Kraft die Füße auf den Boden behielt. Er keuchte und starrte entsetzt auf seine Punkteanzeige, die auf Null fiel.

"Und nun, mein Nachtdrache", ihre Augen starrten auf Hanabi, "greif`seine Lebenspunkte direkt an." Ein weiteres Mal öffnete das Geschöpf sein Maul.

"Nicht so schnell", rief Hanabi, "ich decke meine Fallenkarte auf. Macht des Spiegels! Sie lenkt deinen Angriff auf dich zurück", sein Lächeln kehrte zurück, doch Rin schüttelte mit dem Kopf: "Du scheinst die besondere Fähigkeit meines Nachtdrachen nicht zu kennen. Er zerstört sämtliche Zauber- und Fallenkarten, die ihn als Ziel wählen." Damit strömte die Diamantenblitzattacke durch Hanabis Körper. Er brüllte und hielt sich die Hände vor's Gesicht, als die Lichtflut die Oberhand gewann.

"Wie war das noch mal?", stemmte Rin die Hände in die Hüften, "wer hat hier die Klappe zu weit aufgerissen?" Ihre Schuhe hallten bei jedem Schritt nach. Still war es geworden. Es wagte sich keiner zu regen oder einen Laut von sich zu geben. Selbst Mokuba stand mit offenen Mund am Rande der Duellzone und beobachtete Rin wie sie auf die beiden Verlierer zulief: "Ihr seid erbärmlich. Ich dachte, ihr hättet zumindest ein bisschen was drauf, aber das hier ist enttäuschend. Da war mir fast meine Zeit zu schade, wirklich jämmerlich von euch Jungs. Und ihr nennt euch starke Draufgängertypen? Dass ich nicht lache", sie richtete den Blick hinab auf Hanabi und Kim, deren Blicke hasserfüllt und wutentbrannt waren. Einer von ihnen drehte sich um und lief auf den Tisch zu, an dem sie vor einer viertel Stunde Platz genommen hatten.

"Du", murmelte er, "wagst es, so mit uns zu reden!", seine Stimme erhob sich, seine Hand packte nach etwas. Er stürmte zurück zu Rin, dass die junge Frau den Gegenstand in seiner Hand als Metallstange erkennen konnte. Schnell waren seine Bewegungen als er ausholte und die Stange auf Rins Kopf zielte. Diese wollt sich gerade ducken, als eine kräftige Hand nach dem Metall packte. Sie sah auf. Eine der Security, die Mokuba mitgebracht hatte, hatte sich vor die junge Frau gestellt. Seine abstehende Frisur versperrte ihr die Sicht auf das weitere Geschehen. Kurze Zeit später drehte sich der Mann zu ihr um. Er trug dunkle Brillengläser, dass sie nicht ausmachen konnte, ob er sie tatsächlich ansah. In seiner Hand hielt er die Stange, dass sich Rin erleichtert aufrichtete. Aus der Ferne sah sie noch, wie die andere Security Hanabi festhielt und in den Hinterausgang schleifte. Kim hingegen hatte sich in eine dunkle Ecke gestellt und blickte mit aufgeblasenen Backen zur Seite.

"Danke", Rin schaltete ihre DuelDisc aus. Die Security nickte, ohne eine Miene zu verziehen. Bevor sich Rin zu Mokuba umdrehen konnte, wurde sie von einer Flutwelle des Applauses getroffen. Männer und Frauen hatten sich hinter der jungen Frau versammelt und jubelten ihr zu, dass Rin alle Mühe hatte, ihre Freude im Zaun zu halten. Sie wollte nicht in den Freudenchor einstimmen, obwohl ihr Innerstes danach schrie. Stattdessen setzte sie ein leichtes Lächeln auf.

"Klasse", zwängte sich Mokuba an ein dutzend Zuschauer vorbei, "ich muss zugeben, ich hatte befürchtet, du würdest es vergeigen. Zwei gegen einen ist schon ne harte Hausnummer", er kratzte sich an den Kopf.

"Nicht, wenn es solche zwei Pappnasen sind", erwiderte Rin, die noch im Duell-Modus steckte, "aber danke, dass du das Duell nicht abgebrochen hast."

"Ich musste mir zwar erst die Erlaubnis abholen", Mokuba grinste schief, "aber letztendlich war es eine gute Entscheidung. Ich werde mich auf alle Fälle darum kümmern, dass genug Leute mitbekommen, was heute passiert ist. Solche Schlagzeilen lesen sich immer gut." Rins Herzschlag ging in die Höhe. Sie spürte wie das Adrenalin durch ihren Körper gepumpt wurde. Der Rausch stellte alles andere in den Schatten. Sie hatte Blut geleckt. Jetzt wollte sie mehr.

Oh mein Gott

Langsam öffnete sie die Tür zum Café, während sämtliche Muskeln ihres Körpers protestierten. Schwerlich bewegte sie sich vorwärts in Richtung Tresen als sie bereits breit angelächelt wurde.

"Was ist denn mit dir passiert?", Makoto ließ den Blick über die junge Frau schweifen, die alle Mühe hatte, ihr Gesicht nicht zu verziehen. Rin wusste selbst, dass sie wie eine alte Frau mit Krückstock lief, konnte jedoch nichts daran ändern.

"Ich habe mir einen falschen Ort zum Duellieren ausgesucht", entgegnete Rin zischend. Selbst Sprechen verschlimmerte das Stechen in ihren untersten Rippen.

"Du hast dich duelliert?", Makoto schüttelte den Kopf und machte sich daran einen großen Becher Kaffee zu servieren, "dein Anblick erinnert mich eher an einen Langstreckenlauf."

Erleichtert stützte sich Rin am Kassenbereich ab und atmete in tiefen Zügen.

"Ich war in einer Rollschuhhalle", entgegnete sie und begann ihre Mähne von dem strengen Zopf zu befreien, der ihr leichte Kopfschmerzen bereitete. Sonst ignorierte sie diese Art von Schmerz, heute war sie dazu kaum mehr in der Lage. Als die Haare ihre Schultern berührten, schüttelte sie sich leicht und spürte die neu gewonnene Freiheit. Mit dem frischen Becher Kaffee besserte sich Rins Laune, dass ihre Lippen ein kleines Lächeln zustande brachten: "Dieser Duellant", stöhnte sie und pustete den heißen Dampf herunter, "er wollte sich nur mit Rollschuhen duellieren. Wäre er nicht unter den Top hundert gewesen, ich hätte mich niemals darauf eingelassen. Ich habe überall Muskelkater", sie drehte ihre Hüften, "sogar an Stellen, von denen ich keine Ahnung hatte, dass ich dort Muskeln besitze." Makoto fing an zu lachen: "Dabei siehst du immer so fit aus."

Fit ist definitiv was anderes

Rin schüttelte den Kopf und richtete mit den Fingern ihre Haare, dass sie nicht ganz so wild lagen. Makoto hingegen wandte sich von ihr ab und fummelte wie so oft an der Kaffeemaschine herum.

"Das sind nur die guten Gene", entgegnete sie und lehnte sich etwas mehr nach vorne, dass ihr Rücken ins Hohlkreuz ging und ihr Hinterteil in den Vordergrund gerückt wurde. Da um diese Zeit kaum einer im Café saß, war es ihr egal wie sie sich präsentierte.

"Der heutige Tag hat mir gezeigt, dass ich dringend wieder in Form kommen muss. Meine Kondition ist völlig im Eimer."

"Sollte eine ehemalige Kendo- Juniorenmeisterin nicht bessere Konditionen haben?"

Rin hielt inne, nur langsam drehte sich ihr Kopf zur Seite. Sie sah hinauf.

Seto Kaiba. Wie immer pünktlich auf die Minute

"Mit einem Shinai in einer dreißig Quadratmeter-Wohnung zu trainieren hat sich als ineffektiv erwiesen. "

Habe ich das gerade tatsächlich gesagt?

Seine eisblauen Augen sahen sie von oben herab an, dass sich Rin sogleich ihrer Körperhaltung bewusst wurde und sich aufrichtete. Der Größenunterschied blieb, trotz ihrer gefährlich hohen Stiefel, welche ihrem Muskelkater perfekt in die Karten spielten. Sie spürte, wie sie gegen den Drang zu schlucken ankämpfte. Ebenso die Hitze in ihrem Inneren zu bekämpfen, die seine unmittelbare Nähe zusammen mit diesem Blick verursachten. Die junge Frau war erleichtert als er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen seinen Kaffee und sein Sandwich entgegennahm und wortlos an seinen Platz zurückkehrte. Rin blieb noch einige Sekunden lang stehen, bevor sie sich ebenfalls an ihren Stammtisch setzte und die Beine ausstreckte. Sie nahm ihre DuelDisc vom Arm und ließ die Finger über das Armband streichen. Obwohl seine Gegenwart ihr nicht mehr das Herz in die Hose rutschen ließ, machte es Rin nervös, wenn er sie direkt ansprach. Noch dazu fiel es ihr immerzu schwerer, ihren Duell-Modus abzuschalten, dass ihr bei jeder Gelegenheit ein Gegenargument über die Lippen kommen wollte.

Wenn ich einmal einen schlechten Tag bei ihm erwische, wird es mich den Job kosten

Sie brauchte jetzt dringend etwas Ablenkung. Also zückte sie ihr Smartphone aus der Tasche ihrer Lederjacke und sah ihr Postfach durch. Zwanzig ungelesene Nachrichten blinkten auf. Dazu gesellten sich drei Mails, die sie von ihrer Arbeit erhalten hatte und bestimmt wieder nur Termine für Meetings und Besprechungen waren. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Kaffee, bevor sie die Nachrichtenliste abarbeitete.

"Also wirklich, Rin", rief Makoto, dass die junge Frau ihren Kopf hob und zu der Braunhaarigen herübersah, welche auf ihre Kasse starrte und die Hände in die Hüften stemmte, "du könntest ruhig etwas sagen."

"Was denn?" Statt einer Antwort beugte sich Makoto zu dem Kühlschrank herunter und holte ein Stück Schokotorte heraus - eine der besten Kreationen, die ihr Verlobter gezaubert hatte . Anschließend dekorierte sie den Teller mit ein paar bunten Streuseln, die aus Rins Entfernung wie Konfetti aussahen. Nun verstand auch Rin, dass sie sich etwas tiefer in den Stuhl zurücklehnte. Ihr Armband musste sie verraten haben.

"Das ist wirklich nicht nötig", murmelte Rin und beobachtete wie Makoto breit grinsend auf sie zukam, dabei das größte Stück Torte vor sich, dass sich Rins Magen sofort meldete.

Ach ja, stimmt. Ich habe heute noch gar nichts gegessen

Sofort spürte Rin wie ihr Bauch versuchte einen Knoten um die Gedärme zu drehen. Mit einem beschämten Lächeln nahm sie den Teller entgegen.

"Heute geht alles aufs Haus", versicherte Makoto, "wenn du willst, kannst du dir noch einen Songtitel aussuchen", zwinkerte sie ihr zu, bevor sie sich mit einem Schwung zurück zu ihrem Platz bewegte.

"Nicht nötig", schmunzelte Rin und schüttelte den Kopf, "ich glaube auch nicht, dass du meine Musik auf deiner Playliste hast."

"Ich habe fast zweitausend Titel auf dem Stick. Da musst du schon mit was Exotischem kommen."

"Nun ja", Rin nahm die Gabel zur Hand und blickte auf das verheißungsvolle Dessert, "wenn ich dir das jetzt sage, verrate ich dir ja ein Geheimnis, dass außer meiner Mitbewohnerin niemand kennt." Ihre Zunge fand die mit Schokolade überzogene Sahne, dass sie das ganze Stück am liebsten in einem Zug in den Mund geschoben hätte. Aber sie riss sich zusammen - schließlich war sie nicht allein.

"Ist es etwa so peinlich?", wollte Makoto einfach nicht nachgeben und lächelte noch breiter.

"Ich denke nicht", erwiderte Rin und versuchte jede Geschmacksknospe zu spüren.

"Spuck`s schon aus", Makoto krallte sich einen Teller und hielt ihn über das fließende Wasser. Dabei begannen ihre Augen zu funkeln, dass Rin diesen Moment auskostete und genüsslich ihre Torte aß.

"Es ist wirklich nichts Besonderes", entgegnete sie schließlich als der letzte Bissen durch ihre Speiseröhre gewandert war, "die Musik ist von keiner bestimmten Band, sondern aus einer Serie, die ich als Kind geschaut habe."

"Und weiter? Welche ist es?"

Rin kratzte sich an den Kopf: "Baburugamu Kuraishisu."

Makoto blinzelte zu ihr herüber.

"Ist das nicht eine Cyperpunk-Serie aus den achtzigern?"

Rin nickte.

"So´n Zeug haben doch die Jungs immer geguckt. Hätte nicht gedacht, dass du auf so was stehst."

Rin legte die Gabel auf den Teller: "Lass`mich raten: Du dachtest, ich bin eher dieser Magical Girl Typ."

"So was ähnliches ja. Nimm´s mir nicht übel."

"Schon gut", winkte Rin ab und legte ebenfalls ihr Smartphone von der Hand, "ich weiß, wie ich auf andere wirke. Hat auch manchmal seine Vorteile, unterschätzt zu werden. So bleibt mir immer der Überraschungseffekt", dabei bekam ihr Lächeln etwas Diabolisches.

"Aber ich versteh`nicht, warum du so ein Geheimnis drum machst. Bei den Kerlen kommt sowas doch super an. Die lieben es, wenn man sich für ihren Kram interessiert."

"Nur solange man nicht mehr davon versteht. Ist bei DuelMonsters dasselbe", erwiderte Rin und verschränkte die Arme vor der Brust, "klar, am Anfang findet es jeder super, dass man dieselben Interessen hat. Sobald man sich aber mal ernsthaft darüber unterhalten will, kriege ich nur blöde Gesichter zu sehen."

"Lass mich raten", Makoto stellte den Teller zum Trocknen und fuhr mit dem nächsten fort, "die Kerle wollen eigentlich nur angeben und nicht wirklich darüber reden."

"Zumindest haben sie nicht viel zu reden." Rin hatte anfangs immer geglaubt, dass ihre Interessen gut ankämen, doch nachdem sie eines besseren belehrt worden war, hatte sie es einfach sein lassen, irgendjemandem von ihren echten Vorlieben zu erzählen. Lumina war die einzige mit der sie über all ihre verquirlten und verrückten Leidenschaften reden konnte. Vor ihr hatte sie keine Geheimnisse, ebenso wenig die Scheu ihr wahres Ich zu zeigen. Die letzten Wochen hatten ihr in dieser Hinsicht gut getan. Auch wenn ihr ganzer Körper von Muskelschmerzen übersät und keine Minute für Freizeit geblieben war, konnte sie ganz ihren Leidenschaften freien Lauf lassen und zumindest einen Teil ihres Wesenszuges offenbaren.

"Ich kann mit diesem Genre überhaupt nichts anfangen", seufzte Rin, "Kaito liebt auch diese ganzen Mecha-Animes, da bin ich voll raus. Keine Ahnung, warum Roboter und Menschen in Roboterkostümen so begeistern."

"Was?!", setzte Rin eine fassungslose Miene auf, die in ein breites Grinsen überging, "machst du Witze? Das ist High-Tech und Science Fiction wie sie in dieser Zeit nur zu träumen war. All diese Technologien und Möglichkeiten. So viel Macht und Power in Wissenschaft und Technik, dass sämtliche Möglichkeiten des menschlichen Bewusstseins gesprengt werden-"

"Okay, okay. Ich verstehe ja schon", lachte Makoto, "deine Augen funkeln als würdest du nicht über eine Serie sondern einen Typen reden."

"Doch nicht wegen der Serie", murmelte Rin, die selbst gemerkt hatte, dass ihre Stimme an Volumen zugenommen hatte. Ohne ihren Blick herüber auf den einzig besetzten Platz zu werfen, legte sie sich die DuelDisc um und erhob sich von ihrem Platz. Dabei kämpfte sie gegen die Schmerzen in ihren Waden und Oberschenkeln. So schlimmen Muskelkater hatte sie noch nicht einmal zu ihrer ersten Kendo-Stunde gehabt - und die war mehr als Kräfte raubend gewesen. Wie sollte es ihr morgen ergehen, wenn sie jetzt schon kaum laufen konnte? Ihre Hand wanderte zu ihrer anderen Jackentasche, in der sich ihr Portemonnaie mit sämtlichen Einlasskarten befand. In den letzten Wochen hatte sie so viele Sondergenehmigungen und Zutritte erhalten, dass ihr Kartenfach so voll war, wie das jener Frauen, vor denen Rin sich am liebsten die Hand vor die Stirn geschlagen hätte. Im Gegensatz zu ihnen war Rins Portemonnaie voll von Karten der Kaiba Corporation. Neben diversen Vergünstigungen, hatte sie Zutritt zu verschiedenen Bereichen des Buildings erhalten, zu dem seit Neustem die Schwimmhalle im ersten Untergeschoss zählte, von der Rin vor Wochen nicht einmal eine Ahnung hatte, dass die Firma solch eine besaß. Sie beschloss, ihrem Körper etwas Ruhe zu gönnen, bevor sie sich auf dem Heimweg noch ein paar Duellanten vorknöpfte, die sie bald aus den Top hundert in die besten fünfzig bringen sollten Gestern hatte sie sich auf Platz neunundneunzig vorgearbeitet, dass sie nun mit ihren zwei Mitbewerbern gleich auf lag. Sie hatte den Gedanken an Yoshi erst einmal beiseite geworfen, da er noch weit von ihrem Ziel entfernt war und womöglich in Kürze seinen Platz für die nächste Runde sichern konnte. Bei dem Gedanken stieg Wut in der jungen Frau auf.

Dieser elende Kotzbrocken.

Seine überhebliche Art machte sie rasend. Jedes Mal, wenn sie aufeinander trafen, würde sie ihm am liebsten mit ihrer DuelDisc eins überbraten oder ihn zumindest zu einem Duell herausfordern. Yoshi schien es regelrecht darauf abzuzielen, mit seinen dummen Sprüchen Rin bis aufs Äußerste ihrer Geduld zu drängen. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem sie ihm zeigen würde, dass arrogantes Auftreten und ein goldener Löffel im Mund nichts mit wahrer Stärke zu tun hatten. Aber darauf müsste sie wohl noch warten. Eine falsche Niederlage von ihr und sie würde sich zum Gespött aller machen. Diesen Triumph gönnte sie ihm nicht.
 

"Du gehst schon?", Makoto beugte sich nach vorne, nachdem sie zwei Kunden abkassiert hatte. Die Kundschaft des Cafés bestand hauptsächlich aus Mitarbeitern der Kaiba Corporation. Anzugträger in den Dreißigern und Vierzigern, die scheinbar keine Zeit für ausschweifende Pausen hatten und ihre Mahlzeiten mit auf Arbeit nahmen, statt sie entspannt im Café zu verzehren. Umso erstaunlicher war es für Rin, dass ausgerechnet Seto Kaiba sich die Zeit nahm, statt sich die Mahlzeiten in sein Büro schicken zu lassen. Beim Vorbeigehen war ihr Blick flüchtig auf seine Statur gefallen. Ihr Boss trug zum ersten Mal nicht seinen weißen Mantel, der für Rin irgendwie dazu gehörte. Stattdessen ließen ihn der schwarze Rollkragenpullover mit den Schnallen an den Ober- und den Metallmanschetten an den Unterarmen schlanker als sonst erscheinen.

Und irgendwie jünger

Rin vergas oft, dass der junge Firmenchef bloß zwei Jahre älter als sie und damit der Altersunterschied nicht so groß war, wie sie manchmal das Gefühl hatte. Es war viel mehr seine Art und das Wissen, dass er das größte Spieleunternehmen der Welt leitete, dass ihn so viel erwachsener wirken ließ, wo hingegen Rin sich klein und unbedeutend vorkam.

So jemand geht nur mit Models und Schauspielerinnen aus...Was denk`ich denn da! Als ob das eine Rolle spielt.

Ohne es zu wollen, beschleunigte sich ihr Schritt.

"Ich hab noch ein paar Dinge zu erledigen", murrte Rin und steckte eine lose Strähne hinter ihr Ohr, "außerdem bin ich für heute noch nicht fertig."

"Übertreib´es aber nicht", entgegnete Makoto und klang dabei wie ihre beste Freundin, "schließlich ist heute dein Geburtstag."

Rin wusste, dass sie ihr nichts dergleichen versprechen konnte.

Kaum hatte sie das Café verlassen, zogen dunkle Wolken über den hell strahlenden Himmel. Der allmonatliche Platzregen kündigte sich an; beinahe so pünktlich wie Seto Kaibas Erscheinen. Rin wusste, dass die langsam schleichende Regenfront kein genaues Uhrwerk war. Konnten sich Wolken binnen Minuten zusammenschließen und ein Unwetter hervorrufen, dass kaum mehr Zeit blieb, sich davor in Sicherheit zu flüchten. Umso mehr fühlte sich die junge Frau darin bestätigt, die nächste Stunde lieber in den sicheren Hallen der Kaiba Corporation zu verbringen und ihre Gliedmaßen zu schonen, bevor sie wieder auf die - wie nannte es Lumina so schön - Jagd ginge. Durch die Drehtür hindurch gezwängt, vorbei an hastigen Angestellten, die nur noch ihren Feierabend herbeisehnten, kreuzte Rin deren Blicke. Sie sah es deutlich in ihren Gesichtern. Die Fassade, die von ihnen fiel, die Erleichterung und Entspannung der Gesichtsmuskeln, sobald sie aus der Tür getreten waren. Vor Kurzem hatte sie noch genauso dreingeblickt. Wenn sie endlich die stickigen Büroflächen des Call Centers verlassen konnte. Für Rin erschien diese Zeit nur noch wie ein verblasstes Bild, das immer undeutlicher wurde. Sie war gänzlich im Hier und Jetzt angekommen. Den Blick über die riesige Anzeigetafel schweifend, sah sie die aktualisierte Spitzenplatzierung - die top dreißig. Jene Duellanten, die es in die nächste Runde schaffen könnten; in die Rooftop-Battles. Allein der Name entlockte der jungen Frau ein schiefes Grinsen. Es stand fest, dass die nächsten Runden von der Kaiba Corporation geleitet wurden, dass sie sich auf ein paar spannende Duellplätze freuen konnte. Aus vorherigen Turnieren wusste sie, dass außergewöhnliche Schauplätze und spannungsgeladene Effekte zu Seto Kaibas Spezialgebiet gehörten und sicher auch dieses Jahr ihre Berechtigung haben dürften. Leicht verdunkelte sich ihr Blick. Die Punkte ihrer Gegner verrieten ihr, dass sie noch einen sehr weiten Weg vor sich hatte - und die Hälfte der Zeit war bereits um. Wenn sie nicht bald die richtigen Gegner fand, würde es dieses Jahr nichts mehr für sie werden. Rin war bewusst, dass dies niemand von ihr verlangte, besonders Lumina holte sie gerne auf den Boden der Tatsachen zurück und riet ihr, alles nicht so verbissen zu sehen. Aber Rin konnte nicht anders. In ihr hatte sich der Wille zu Siegen eingebrannt. Sie wollte es jedem beweisen, der sich ihr in den Weg stellte - dass sie das Zeug zu gewinnen hatte. Mit einem Seufzer wandte sie sich ab und steuerte die Schließfächer der Mitarbeiter an. "Frau Yamamori?", eine tiefe Stimme drängte sich in ihre Gedanken, dass sich die junge Frau zu dieser umdrehte. Ein Mann mit Schnurrbart und dunkelgrünem Haar war zu ihr geeilt. "Für Sie wurde ein Paket abgegeben. Es liegt in Ihrem Postfach für Sie bereit." "Vielen Dank, Isono", entgegnete Rin, bevor sich der Mann flüchtig vor ihr verbeugte und wieder seiner Wege ging. Rin sah ihm kurz hinterher, während sie feststellen musste, vorher noch nie einem Mann begegnet zu sein, der für so viele Dinge verantwortlich war und diese scheinbar alle gleichzeitig ausführen konnte. Sie setzte ihren Weg fort, vorbei an der Glastür, in Richtung Schließfächer. An einer der hintersten Reihen blieb sie stehen, öffnete ihren Schrank und verstaute ihre DuelDisc mitsamt Jacke darin. Sie überlegte, vielleicht erst nach dem Schwimmen in ihr Postfach zu sehen, doch letztendlich siegte die Neugier und sie lief bis ans Ende der Schließfächer, dass sie nur noch von den hundert Briefkästen - die eher wie Miniaturausgaben einer Zeitmaschine aussahen - ihren ausmachen musste. Mit einer ihrer duzend Karten öffnete sich das Fach mit einem metallischen Klicken. Ihre Augen begutachteten das kleine quadratische Päckchen, welches mit einer rot gepunkteten Schleife versehen war. Dahinter befand sich ein dicker Umschlag auf dem die Initialen der Kaiba Corporation versehen waren. Vorsichtig griffen ihre Finger nach dem Päckchen und holten es vorsichtig heraus. Sie begann zu lächeln, als sie das kleine Schild entdeckte - Damit ich dich nie wieder im Regen stehen lassen muss Rin öffnete das Päckchen und staunte nicht schlecht. Der Gegenstand darin hatte die Größe und Form eines Füllers. Statt einer Spitze ragte schwarz weißer Stoff hervor, der an die Form einer sich öffnenden Blüte erinnerte. Am unteren Ende war ein kleiner Knopf, dass Rin nicht anders konnte als ihn zu betätigen und beinahe aufgeschrien hätte als sich mit einer Wucht der Füller entfaltete. Der Stoff platzte regelrecht auf und offenbarte seine wahre Gestalt. Breit grinsend betrachtete Rin den Regenschirm. Er war überraschend groß, größer als die handelsüblichen Schirme, von denen bisher keiner das Domino-City-Gewitter überlebt hatte. Als sie ein weiteres Mal den Knopf drückte, faltete er sich wie zu Beginn zusammen, dass ihn Rin wieder problemlos in das Päckchen verstauen konnte. Sie nahm sich fest vor, Yamato noch vor Mitternacht zu schreiben. Er musste extra in die Firma gekommen sein, in der Hoffnung, Rin irgendwie abzupassen. Die letzten zwei Wochen hatte sich überhaupt keine Gelegenheit ergeben, sich zu treffen, dass Rin bereits ein schlechtes Gewissen hatte, auch wenn Yamato in dieser Beziehung sehr gelassen und verständnisvoll reagierte. Auf den ersten Blick hatte sie ihn nicht so geduldig eingeschätzt. Sie empfand es als Stichelei Seitens ihres Schicksals, dass sie jemandem wie ihm gerade jetzt begegnet war.

Mit derselben Vorsicht steckte sie das Päckchen zurück in ihr Postfach und verschloss dieses. Um den Umschlag ihrer Firma würde sie sich anschließend kümmern, vermutlich waren dies nur ihre Gehaltszettel. Während sie durch die Flure lief, drehte sie ihre Haare zu einem fransigen Dutt und band ihn mit dem Haargummi aus ihrer Hosentasche fest. Die Flure des dritten Untergeschosses waren so verlassen wie es Rin vermutet hatte. Die privaten Schwimmhallen der Kaiba Corporation wurden genauso intensiv genutzt wie die übrigen Freizeitbeschäftigungen der Anlagen. Diese Leute verpassen hier die besten Sachen Rin war es nur Recht. Sie genoss regelrecht die Stille um sich herum. Der starke Kontrast zu den Duellarenen und der Innenstadt taten ihr gut, dass sie für ein paar Minuten abschalten konnte. Zu den Umkleidekabinen gelangend fand sie ihren persönlichen Schrank, der mit Badeanzug, Handtüchern, Duschbad und Badeschuhen versehen war.

Ich frage mich, woher die meine Konfektionsgröße haben...lieber nicht darüber nachdenken Ihre Wangen begannen zu glühen, hastig griff sie nach dem schlichten Stoff, der lediglich durch einen weit ausgeschnittenen Rücken ins Auge stach. Wie sie geahnt hatte, war der Badeanzug perfekt auf ihren Körper angepasst, dass sie diesen Gedanken hastig beiseite schob und sich lieber dem Schwimmbecken zu wandte, in dem hunderte von Leute Platz gefunden hätten. Mit einem Sprung tauchte sie in das kühlende Wasser, dass für einen Augenblick ihr Körper mit Kälte überzogen wurde, die bis in ihre Fußspitzen wanderte. Allmählich gewöhnte sie sich an die Temperaturen, dass sie Arme und Beine in Bewegung setzte und ihre Bahnen zu schwimmen begann. Die Form des Beckens erinnerte sie stark an die Schulzeit. Damals hatte sie nicht viel für den Sport übrig gehabt und sich lieber mit den Kampfsportarten auseinandergesetzt - sehr zum Leidwesen ihrer Eltern, die ihre Tochter lieber in Gymnastik oder Leichtathletik gesehen hätten, so wie es in ihrer Familie üblich war. Dabei fiel ihr ein, dass sie ihre Mutter noch zurückrufen musste. Sie würde sonst nur wieder wochenlang sauer auf sie sein, weil sie an ihrem Geburtstag nicht erreichbar gewesen war. Ihr grummelte der Magen. Rin wusste, dass mit dem Telefonat die übliche Fragerei beginnen würde. Ihr bliebe danach keine Wahl als ihrer Mutter zu sagen, dass sie ihren alten Job wieder einmal hingeschmissen hatte und nun endlich ihren Traumjob ausüben konnte. Noch hatte sich die junge Frau nicht dazu durchringen können ihren Eltern von der Neuigkeit zu erzählen. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagierten, dass ihr Traum wohl endgültig geplatzt wäre. Rin wusste, dass sie insgeheim gehofft hatten, dass sie von selbst zur Vernunft käme und doch irgendwann einen anständigen Beruf ergreifen würde.

Ob früher oder später - sie werden es eh nie akzeptieren. Also was soll`s

Sie schloss die Augen und versuchte dem leisen Rauschen des Wassers zu folgen, das sie mit ihren eigenen Bewegungen verursachte. Langsam verschwanden die Muskelschmerzen, wenn auch nur solange sie im Wasser wäre. Sie tat einen tiefen Atemzug und drehte sich auf den Rücken. Ihre Lider öffneten sich, ihr Blick ging über das Mosaik an der Decke. Rin musste schmunzeln. Die Steine bildeten einen weißen Drachen mit eiskaltem Blick, aus dessen Maul eine Lichtkugel austrat. Der blauäugige Drache war auf den Anlagen allgegenwärtig und erinnerte sie daran, warum sie diese aufgegeben hatte. Manchmal vermisste sie ihre geliebten Kreaturen, die sorgfältig in ihrem Sonderdeck in der Vitrine verstaut worden waren. Ihre besten Duelle hatte sie mit den drei weißen Drachen bestritten. Jahre hatte sie gebraucht bis sie das Geld zusammengekratzt hatte, um sie schließlich in ihren Händen halten zu können. Viele mühselige Stunden hatte sie als Kellnerin eines Maid-Cafés zubringen müssen bis sie endlich den Spieleladen betreten durfte und nach den Karten aus dem verschlossenen Glasschrank verlangen konnte. Sie war damals mit Lumina unterwegs gewesen. Beide hatten sie denselben Job ertragen, um ihre Lieblingskarten ersteigern zu können. Ihre beste Freundin hatte sich den schwarzen Magier in der goldenen Sonderedition ausgesucht, während Rin nur Augen für ihre Drachen hatte. In Rin stiegen die Erinnerungen an zahlreiche Duelle zurück, an denen sie tagelang mit Lumina in einem Zimmer eingesperrt war und beide lediglich mit einer Kiste Cola und einem Jumbopack Tiefkühlpizza ausgestattet waren. Sie hatten sich in ihrer Schulzeit viel duelliert. Wöchentlich, täglich, stündlich. Sogar über Videokonferenz als Lumina zurück in ihr Heimatland geflogen war und ihre Großeltern besucht hatte. Rin dachte gerne daran zurück. Neben dem ständigen Leistungsdruck in der Schule und Zuhause waren die Duelle mit Lumina genau die Ablenkung, die sie gebraucht hatte.

Rin stieg aus dem Wasser und setzte sich an den Beckenrand. Ihre Füße ließ sie über den Rand des Wassers gleiten. Sie sah hinauf auf die Wanduhr. Es war kurz nach sieben, ihre Freundin müsste aus der Unibibliothek zurückgekehrt sein. Lumina steckte gerade mitten im Prüfungsstress, dass sie die meiste Zeit zum Lernen aufopferte und es daher nicht schlimm war, wenn Rin die meiste Zeit von Zuhause fern blieb. Manchmal passten sie sich zum Frühstück ab. Da Rin von beiden der Frühaufsteher war, bereitete sie oft ein paar Pancakes vor und hielt eine halbe Kanne Kaffee für die Schwarzhaarige bereit, die sich manchmal dazu aufrappeln konnte, noch die letzte viertel Stunde zusammen mit Rin am Frühstückstisch zu sitzen. Rin wusste wie schwer es Lumina fiel, aus dem Bett zu steigen, darum schätzte sie es umso mehr, wenn sie es dann doch tat. Denn oft trafen sie sich erst weit nach Mitternacht. Wenn Rin nach Hause kehrte und Lumina bereits auf der Couch eingeschlafen war, stand jedes Mal eine fertige Mahlzeit auf dem Fenstersims - und wenn es nur eine Tütensuppe war. Rin entschied sich zurück zu den Umkleiden zu gehen und sich für den Rest des Tages frei zu geben. Für heute hatte sie bereits genug Punkte gesammelt. Diesmal würde sie eine Ausnahme machen und den Abend für sich nutzen. Sie beeilte sich aus den nassen Sachen herauszukommen, überlegte kurz ob sie den Badeanzug zum Reinigen mit nach Hause nehmen sollte, bevor sie sich gewahr wurde, wo sie sich eigentlich befand und die nassen Sachen einfach im Duschraum bei den Wäscheleinen aufhing. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihre feuchten Haare hatten von der Hochsteckfrisur leichte Wellen bekommen, dass sie etwas von einem gewollten Strandlook hatten. Der Anblick hatte es Fremdes, auch wenn sie eigentlich ganz süß aussah. Sie wischte sich die verschmierten Stellen des Maskaras unter ihren Augen weg, bevor sie die Schwimmhalle verließ. Beinahe hätte sie ihre Geschenke im Postfach liegen gelassen. Das Prasseln an den Glasscheiben erinnerte sie daran.

Ich sollte Yamato ein Bild schicken Wie ein Kind begannen ihre Augen zu strahlen als sie nach draußen kam und der Regenschrim sein volles Potenzial entfaltete. Als er vollkommen vom Regen durchtränkt wurde, bildeten sich dunkelgrüne Ranken, die sich über die gesamte Außenfläche erstreckten. Schnell griff sie nach ihrem Smartphone und schickte Yamato ein Bild mitsamt Gruß. Sie hoffte, ihm bald persönlich dafür danken zu können. Gerade wollte sie ihr Tempo anheben, als der Muskelkater sie daran hinderte. Ab morgen wieder definitiv mehr Sport Stattdessen steuerte sie schlürfend die nächste Bushaltestelle an. Heute schien man mit ihr gnädig sein zu wollen. Keine fünf Minuten später tauchte ihr Bus auf, noch bevor sich eine Pfütze unter ihren Füßen bilden konnte. Geradezu dankend ließ sie sich auf den ersten freien Platz fallen und lehnte sich entspannt zurück. Sie sah zur Seite, aus dem Fenster, das durch die fetten Regentropfen keine richtige Sicht nach draußen zuließ. Der starke Geruch von Männerparfüm ließ sie aufblicken. Vor ihrem Platz stand ein schlacksiger Kerl mit schulterlangem Haar und sah zu ihr herunter. "Bist du die Duellantin, die für die Kaiba Corporation antritt?" "Ich glaube", Rins Stimme änderte sich schlagartig in den Duell-Modus, "dies bedarf keiner Antwort." Dabei drehte sie leicht ihren linken Unterarm, dass die Initialen deutlich zu sehen waren. Der Kerl vor ihr begann breit zu grinsen. "Ich hab gehört, du sollst Hanabi und Kim geschlagen haben?" "Wenn du von den beiden Großmäulern aus Südcity sprichst, dann ja." "Dann", er baute sich vor ihr auf, dass sie sich erhob, "mach`dich auf deine erste Niederlage bereit." Er reckte seinen Hals, dass Rin zum ersten Mal der kleine grüne Stein auffiel, der um eine lederne Kette geflochten war. Ein Duellant von Paradius Inc. "Ich liebe es, wenn ihr Kerle so eine Ankündigung macht", Rin begann zu grinsen, "umso schöner wird der Moment, in dem ich ihre arroganten Mäuler gestopft habe." Der junge Mann wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, seine Chaos-DuelDisc fuhr automatisch aus, dass Rin dem nichts mehr hinzuzufügen hatte und ihre Karten sprechen ließ.

Irgendetwas stimmte nicht. Es war zu einfach. Ihr aufgeboosterter Alexandrit-Drache mit zweitausendfünfhundert Punkten konnte sich zwar sehen lassen, war jedoch nicht bei Weitem eines ihrer stärksten Monster. Trotzdem griff sie ihren Gegner direkt an, der nicht einmal mit der Wimper zuckte als sein Punktestand auf Null abstieg. Rin verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Verlierer.

"Ich sagte doch, du würdest deine große Klappe noch bereuen." Daraufhin begann ihr Gegenüber breit zu grinsen.

"Ach wirklich?", sein Lächeln wurde schief, geradezu diabolisch blickten seine hellgrünen Augen zu der jungen Frau, die seine Reaktion noch immer nicht nachvollziehen konnte. Sie schwang ihren Pferdeschwanz nach hinten.

"Dir scheint noch nicht ganz klar zu sein, dass du dieses Duell verloren hast." Sein Anblick machte sie etwas nervös, obwohl sie sich nichts dergleichen anmerken ließ und ganz in ihre Rolle als Profiduellantin aufging.

"Dachtest du wirklich, dass es so einfach ist?", er zeigte seine spitzen Schneidezähne, "Oder wirst du nur der Firma, für die du arbeitest, gerecht? Dieses selbstgefällige Gehabe, dass ihr euch nur noch in eurem eigenen Licht badet, obwohl ihr von nichts als Dunkelheit umgeben seid." Seine Augen wanderten zur Seite, dass Rin in dieselbe Richtung blickte. Aus den Gassen traten zehn Gestalten in langen schwarzen Ledermänteln hervor. Rin spürte wie ihr Herz einen Satz tiefer sprang. Die Männer waren groß, kräftig und schienen sich mit Ärger sehr gut auszukennen. Einige trugen Narben auf Stirn, Hals oder Schläfe, dass sie ihre Blicke nicht davon abwenden konnte. Einer besaß ein langes gezacktes Brandmal, dass sie sich nicht ausmalen wollte, woher die Wunde stammte.

"Was willst du", zischte sie und beherrschte sich, ihre Stimme nicht zum zittern zu bringen. Ihr Gegenüber legte den Kopf schief und entgegnete: "Du solltest dich eher fragen, was meine Kumpanen von dir wollen." Er breitete seine Arme aus und deutete auf den starken Trupp, der sich hinter ihm versammelt hatte. Rin umklammerte ihre DuelDisc. Ihre Finger wanderten über das Material: "Und was wollen sie?", erwiderte Rin mit zusammengepressten Zähnen, während sie nach dem kleinen unscheinbaren Knopf suchte, den sie nur in Ausnahmesituationen nutzen durfte.

"Nun", hallte die Stimme des Mannes durch die einsame Gegend, an welche der Bus seine Endstation erreicht hatte und sie ihr Duell bestritten hatten. Trotz des Regens, der sich nur langsam beruhigte, war seine Stimme dominant und einnehmend. "Sie wollen genau dasselbe wie du. Nur ein faires Duell."

"Ich kenne euch nicht", sprach sie und spürte endlich den Knopf an ihrem Zeigefinger, "aber wenn ihr euch unbedingt duellieren wollt-"

"Dir bleibt auch nichts anderes übrig", fuhr er sich mit der Zunge über die Zähne, "wenn sich die Jungs erst einmal ein Ziel ausgesucht haben, kann ich sie nur schwer zurückhalten." Daraufhin trat er beiseite, dass sich die Männer in Position brachten. Rin starrte derweil auf die Meute, von denen jeder einen grünen Stein um den Hals trug. Für Rin war es nicht fassbar, dass sie alle Profiduellanten sein sollten. Sie hatte noch nie von einer Firma gehört, die mehr als fünf Spieler unter Vertrag hatte. Es war bekannt, dass Industrial Illusions einen regen Spielerwechsel durchführte und gerne einmal ein bis zwei Duellanten in der Hinterhand behielt, nur um die Führung in der Profiliga zu behalten. Jedoch bildete Pegasus J. Crawford eine Ausnahme, weswegen Rin auch damals viele Bewerbungen an seine Firma geschickt hatte. Im Vergleich zu Industrial Ilusions war Paradius Inc. ein Buch mit sieben Siegeln - unnahbar und immer mit einer undefinierbaren Aura umgeben, so wie ihr Inhaber Dartz. Auch wenn Rin in ihren Bewerbungen niemanden ausgelassen hatte und jede Chance ergriffen hätte, war sie doch froh, nicht in dieser Firma gelandet zu sein. Um seinen Besitzer kursierten viele Gerüchte - eine unfassbarer als die andere. Zudem zeigte er sich nie der Offentlichkeit und blieb nur durch seine diversen Geschäfte im Gespräch. So kaufte er vor etwa vier Jahren sämtliche Orichalcos-Karten auf und ließ nur seine Spieler damit duellieren. Aus vergangenen Worldcups kannte Rin diese seltene Karte, welche nur mit den nötigen Kenntnissen und Fertigkeiten richtig gespielt werden konnte. Als ihr Gegner sie herausgefordert hatte, war sich Rin sicher gewesen, dass diese Zauberkarte ausgespielt werden würde. Dass nichts dergleichen geschah, war nicht nur seltsam - es passte nicht zu Dartz´Duellanten, die es bevorzugten, bereits in den ersten Runden Orichaclos aufs Feld zu bringen. Ihr war bewusst gewesen, dass dies Taktik war und nur dazu diente, Rin in eine Falle zu locken. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, auf diese Weise hereingelegt zu werden.

"Lasst uns nicht lange rumfackeln", murrte Rin und fuhr erneut ihre DuelDisc aus, dass die Dunkelheit von einem weiß-blauen Licht erhellt wurde. Das Leuchten gab ihr ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens. Wenn sie es richtig angestellt hatte, würde bald jemand eintreffen. Bis dahin musste sie irgendwie durchhalten und diese angriffslustige Truppe ablenken. Der erste trat einen Schritt nach vorne. Seine eigens von Dartz kreierte DuelDisc entfaltete sich spitz nach vorne: "Der Spaß kann beginnen", knurrte er und steckte sein Deck in die Halterung.
 

~
 

Ihre Beine begannen zu zittern. Der Angriff des Max-Kriegers, dessen Schwert eher einer verformten Axt glich, wurde direkt auf Rin gerichtet. Sie stand schutzlos dem Monster gegenüber, welches durch Orichalcos Hilfe und seinem eigenen Effekt 2700 Angriffspunkte aufwies. Rins letztes verdecktes Monster wurde vom Schwertjäger, ebenfalls ein Krieger, mit einer Grund-ATK von 2450 gnadenlos zertrümmert. Nun stand die junge Frau regungslos auf der Stelle und blickte auf die Klinge, die sich direkt in ihren Brustkorb bohrte, dass die Hologramme ein dem Schmerz nachempfundenes Gefühl hervorriefen und Rin auf die Knie zwangen, dass sie sich gerade noch rechtzeitig mit ihrer freien Hand abstützen konnte. Ihrer Punkteanzeige erging es da schlechter. Von ihren tausend Lebenspunkten war kein einziger übrig geblieben. Die Tatsache verloren zu haben schockierte sie weniger als die unzufriedenen Blicke ihrer vorherigen Gegner, die sie mit letzter Macht hatte besiegen können. Doch die Tatsache, dass ihr Puls unnatürlich stark an ihr drückte und sowohl Körper als auch Geist allmählich an Kraft verloren, hatte sie von einem Gegner zum nächsten geschleppt, bis sie kaum mehr stehen konnte und ihr Kopf allmählich zu streiken begann. Keiner von ihnen hatte es ihr wirklich leicht gemacht. Sie duellierten sich genauso wie sie aussahen - aggressiv und hart. Der Letzte schien besonders viel Spaß daran zu haben, jede ihrer Fallen- und Zauberkarten auszumerzen bis sie nur noch ein paar mikrige Monster beschwören konnte. Mit dem Ende des Duells stellte sich eine weitere Erkenntnis ein - sie waren noch nicht fertig mit ihr. Zusammengerottet kamen sie langsam auf die junge Frau zu, die sich bereits einen Fluchtplan ausdachte und sich fragen musste, wie sie mit diesen Schmerzen in den Beinen überhaupt rennen sollte.

"Genau dort gehörst du hin", ihr Gegner aus dem ersten Duell sprach mit lachender Stimme, "ganz unten auf den verdreckten Straßen. Denn mehr sind du und die Leute, für die du arbeitest , nicht wert." Rin schwirrte der Kopf. Sie verstand nicht, was man von ihr wollte. Doch fragen war sinnlos. Sie waren nicht hier um Antworten zu liefern. Als sie nur noch ein paar Meter von ihr entfernt waren, ging sie einen Schritt zurück. Sie musste sich beherrschen, nicht aufzuschluchzen. Selbst in den Straßen der Nordcity hatte sie nicht solche Angst gehabt.

"Ich habe verloren. Das war es doch, was ihr wolltet. Ihr könnt also wieder abschwirren." Sie war erstaunt über ihre eigenen Worten, dass sie sich zum ersten Mal für diese Seite hasste. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft an ihrer Brust, als ihr niemand Antwort gab und stattdessen die grinsenden Gesichter nur noch breiter wurden. Instinktiv griff sie mit der Hand in ihre Jackentasche, in der Hoffnung etwas zu finden, dass ihr hilfreich sein könnte. Natürlich befanden sich nur leere Kaugummipackungen und ein Kugelschreiber darin, dass Rin die Lippen zusammenpresste und zwei weitere Schritte nach hinten trat, dass sie die Laterne an ihrem Rücken spürte.

"Ich sagte doch", entgegnete der schlacksige Kerl und hielt die anderen Männer an stehen zu bleiben, "dass ich die Jungs nicht zurückhalten kann."

Das sehe ich anders

Er kam auf sie zu, dass er nur noch eine Nasenlänge von ihr entfernt war. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, mit Genugtuung sah er in ihr verängstigtes Gesicht, dass noch nie in ihrem Leben so hilflos ausgesehen hatte.

"Indem du Hanabi und Kim in den Dreck gezogen hast, hast du gleichzeitig auch uns beleidigt. Du scheinst nicht zu wissen, dass sie und ich denselben Boss haben und er es gar nicht gerne sieht, wenn er auf diese Weise beleidigt wird. Schon gar nicht von einem Schoßhündchen der Kaiba Corporation."

"Ich bin kein Schoßhündchen", raunte Rin, obwohl sie sich in ihren Ohren nicht gerade überzeugend anhörte.

"Ha", hauchte er ihr seinen heißen Atem ins Gesicht, dass Rin nichts als Übelkeit packte, "ihr seid alle gleich. Nichts als Abschaum, der sich um nichts anderes als um sich selbst schert. Das muss aufhören." Rin riss die Augen auf, sie begannen zu brennen. Grelles Scheinwerferlicht blendete sie und ihren Gegenüber, dass sie von der Seite ausweichen konnte und einen sicheren Abstand zu ihm schuf. Langsam drehte Rin den Kopf in Richtung der Scheinwefer, die aus einem dunkelblauen Mercedes kamen, welcher nur wenige Meter vor Rin zum Stehen gekommen war. Aus dem Wagen stieg ein großgewachsener Mann mit Anzug und Sonnnenbrille, aus dem Beifahrersitz trat ein junger Kerl, dessen lilafarbenes Hemd im grellen Licht fast weiß wirkte.

Mokuba

Überrascht blickte die junge Frau auf den Schwarzhaarigen, dessen Miene ernst und konzentriert war. Neben ihm hatte sich sein Fahrer gestellt und schien nur auf eine Anweisung seines Herren zu warten.

"Alles in Ordnung?", sprach Mokuba und hielt sein Smartphone griffbereit. Der schlacksige Kerl zuckte mit den Schultern, seine Kumpanen regten sich nicht, stattdessen waren ihre Blicke auf den Schwarzhaarigen und seine Begleitung gerichtet. Doch der junge Kaiba ließ sich davon nicht beirren: "Es wurden auffällige Aktivitäten um den Ostbezirk gemeldet. Jedem sollte bewusst sein, dass Duelle nach dreiundzwanzig Uhr nicht mehr registriert werden. Fortlaufende Duelle werden als ungültig erklärt und müssen überprüft werden."

"Schon verstanden", säuselte der junge Mann und hatte sich bereits zu den anderen dazugestellt, "wir haben nur unsere Position klargestellt - nichts weiter. Kommt Jungs, lasst und abhauen. Unser Auftrag wurde erfolgreich ausgeführt." Auf ein Zeichen wandten sie sich ab und verschwanden in die Dunkelheit aus der sie gekommen waren. Rin blickte ihnen noch eine Weile hinterher, um ganz sicher zu sein, dass sie auch wirklich verschwunden waren.

"Alles gut bei dir?", Mokuba hatte sich neben sie gestellt. Seine großen warmen Augen sahen sie besorgt an, dass sich Rin zu einem Lächeln aufrappelte.

"Ja", sie streifte sich die DuelDisc vom Arm, "tut mir leid, dass ich dich hierher gescheucht habe. Ich wusste nicht, dass du auftauchen würdest, wenn ich den Alarmknopf drücke."

"Entschuldige dich nicht", seine Lippen formten ein Lächeln, "ich war eh noch in der Firma und als ich gesehen habe, dass du den Alarm ausgelöst hast, war ich auch nicht böse drum. Ich konnte mir schon denken, dass du ihn nur in Notfällen benutzt. Und bei diesen Typen bin ich mir sicher, dass du die richtige Entscheidung getroffen hast."

"Kennst du sie?" Mokuba schüttelte den Kopf.

"Aber ihren Boss. Dartz und seine Männer machen schon seit letztem Jahr nichts als Ärger. Nicht nur uns. Andere Firmen haben schon versucht, die Teilnahme von Paradius beim diesjährigen Worldcup zu verhindern, aber man kommt einfach nicht an ihn heran. Zudem sind seine Spieler allesamt Spitzenduellanten, von denen mindestens einer immer in die Endrunde kommt. Deshalb traut sich auch keiner von der Kommission etwas dagegen zu unternehmen."

"Was wollen sie?" Rin beängstigte die Vorstellung, dass ein einzelner Mann so viel Macht und Kontrolle ausüben konnte, die selbst Männer wie Seto Kaiba scheinbar nicht überstieg.

"So richtig weiß ich das nicht", gab der Schwarzhaarige zu und kratzte sich an den Kopf, "wenn man den Gerüchten glauben schenkt, muss Dartz einer gefährlichen Sekte beiwohnen, die die Leute mit einer Gehirnwäsche glauben lassen, dass Firmen wie unsere die Welt an sich reißen wollen und dass unsere Sünden und unsere Habgier die ganze Welt verpesten. So was ähnliches hab ich zumindest gehört."

"Das erklärt zumindest ihr seltsames Gerede", Rin stemmte die Hände in die Hüften und versuchte etwas Gleichgewicht in ihre Haltung zu bekommen.

"Ich werde mich darum kümmern, dass so was nicht noch mal vorkommt", Mokubas Stimme war voller Entschlossenheit, dass Rin ihm glauben schenkte.

"Danke", murmelte sie.

"Kein Thema", grinste Mokuba, "wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kerle die Battle-City-Turniere sabotieren." Sein Blick wanderte über seine Digitaluhr am rechten Handgelenk, "es ist schon spät, ich werde dich nach Hause bringen lassen. Hast du vorher Lust einen Happen zu essen?", sein Grinsen wurde breiter, "quasi als Gefälligkeit anlässlich deines Geburtstages." Rin blinzelte ihn perplex an. Noch bevor sie etwas darauf erwidern konnte, fasste er um ihr Handgelenk und zog sie zu seinem Wagen. "Ich fasse das mal als ja auf", geradezu schelmisch wurde sein Blick. Er öffnete die hintere Beifahrertür und ließ Rin einsteigen. Tatsächlich waren ein trockener Sitz und die Möglichkeit ihre Beine nicht mehr bewegen zu müssen, ein mehr als verlockendes Angebot, dass sie sich kommentarlos niederließ und die Beine übereinanderschlug. Mokuba setzte sich neben sie und schlug die Tür zu, gleich darauf setzte sich der Wagen in Bewegung und brachte sie raus aus den dunklen Winkeln, von denen Rin bisher keine Ahnung gehabt hatte, dass sie in diesem Viertel existierten. Eine viertel Stunde später, im westlichen Teil der Stadt, hielt der dunkelblaue Wagen. Rin sah aus dem Fenster. Ihre Laune hellte sich auf. Der Schwarzhaarige hatte sie zu einem kleinen Nudelstand gebracht, dem einzigen in diesem Bezirk, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Als die Wagentür sich öffnete strömte der Geruch von gebratenem Schwein und heißer Suppenbrühe in ihre Nase.

"Ich hoffe, du magst Nudelsuppen. Hier gibt es nämlich die besten der Stadt." Rin brauchte darauf nicht zu antworten. Als sie vor den Hockern standen und der Besitzer, ein großgewachsener blonder Mann mittleren Alters, sich zu seinen neuen Gästen umdrehte, begannen seine Augen sich zu kleinen freundlichen Schlitzen zusammenzuziehen.

"Guten Abend, Mokuba. Wieder dasselbe?", mit seiner Kelle deutete er auf die junge Frau neben ihn, "an dein Gesicht erinnere ich mich auch. Wo ist deine kleine Freundin?"

"Vermutlich Zuhause und schläft. Aber lassen Sie sie das nicht hören. Sie kann es nämlich nicht leiden, wenn man sie klein nennt", entgegnete Rin und lachte auf. Sie hätte nicht gedacht, nach der langen Zeit noch erkannt zu werden.

"Für dich dann auch das Übliche?"

"Wie immer", nickte Rin. Sie tat es Mokuba gleich und ließ sich auf dem Hocker nieder. Das Polster war hart, aber momentan interessierte sie nur die Suppe, die heiß köchelnd im Topf darauf wartete, von ihr probiert zu werden.

"Und ich dachte", begann Mokuba und stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem Tresen ab, "dich mit meinem absoluten Geheimtipp beeindrucken zu können."

"Jeder, der einen Sinn für gute klassische Küche hat, sollte Hiruka-Nudeln kennen", sie nahm die zusammengeklebten Stäbchen zur Hand und brach sie auseinander, "außerdem ist nicht weit von hier meine ehemalige Schule. Nachmittags waren meine beste Freundin und ich so gut wie jeden Tag hier."

"Verstehe. Dein Geschmack gefällt mir", Mokuba schob seine dampfende Schüssel zu sich heran und blickte mit Vorfreude auf seine Miso-Rámen, während Rin auf ihre Shio-Ramen wartete, für die sie gerne ein paar Minute ihrer Geduld schenkte. Die salzige Brühe aus frischem Fisch ihrer Heimatstadt war schon immer ihr Favorit gewesen. Ihr Sitznachbar begutachtete neugierig die frischzubereitete Shio-Rámen, wobei er stumm vor sich hin grinste, während er seine eigene in schnellen Zügen aufaß: "Nun erzähl´schon. Wie ist es gelaufen?"

Rin nahm einen ersten Bissen, bevor sie antwortete: "Ich dachte, alle Informationen werden abgespeichert?"

"Nach elf ist das so ne Sache", entgegnete der Schwarzhaarige, "sicher, ich könnte auf die Daten zugreifen, aber das ist viel zu viel Aufwand. Ich war eher damit beschäftigt, dich überhaupt zu finden." Die schwarze Mähne raschelte als er seinen Kopf schüttelte. "Aktivitäten, die nach elf registriert werden, lassen sich schwieriger orten. Vor allem, wenn mehrere DuelDisc's zur selben Zeit im selben Umkreis aktiv sind. Da gibt es immer mal Störungen auf der Frequenz. Ich bin mir sicher, dass sie das mit eingeplant hatten."

"Schon seltsam diese Typen."

"Das ist noch gar nichts", lachte Mokuba auf und nahm einen kräftigen Schluck seiner Brühe, "du wirst schon sehen. Je weiter du in die Oberliga kommst, umso kurioser und verrückter werden die Spieler. Sicher gibt es ein paar Ausnahmen, aber mach`dich lieber auf ein paar verkappte Spinner gefasst."

"Ich glaube, darüber muss ich mir noch keine Gedanken machen", murrte Rin und ließ die letzte Schmach Revue passieren. Trotz ihres pochenden Herzens, drang die Wut zu ihr durch. "Das letzte Duell habe ich verloren", sie griff nach der Schüssel und krallte ihre Finger in das Keramik.

"Keine Sorge", sagte Mokuba, "die letzten Duelle werden nicht gezählt. Offiziell liegt deine Gewinnerquote noch bei hundert Prozent." Rins Blick verfinsterte sich.

"Okay, okay", beschwichtigte Mokuba, "diesen Blick kenne ich. Hab`schon kapiert. Aber lass´dich nicht an deinen Geburtstag so herunter ziehen. Das waren ein dutzend Männer von Dartz. Dass du gegen einen verlierst, ist quasi die Fehlerquote."

"Ich wünschte, ich könnte es so sehen", Rin ließ die Stäbchen in die Brühe sinken, "ich hasse es, auf so eine Weise zu verlieren. Ich habe wie ein verängstigtes Weichei ausgesehen."

"Findest du?", Mokuba stellte seine leere Schüssel auf den Tisch, "dein Blick sah von Weitem ganz anders aus. Ich dachte erst, du hättest dich freiwillig auf diese Typen eingelassen. So wie neulich mit Hanabi und Kim."

"Irgendwie scheint es da auch einen Zusammenhang zu geben."

"Das liegt daran, dass Hanabi und Kim im Hintergrund für Dartz arbeiten." Der Kerl hatte etwas ähnliches erwähnt. Hanabi und Kim hatten auf sie gewirkt, als würden sie niemandem unterliegen - dass sie es zunächst nicht wirklich glauben konnte.

Wie man sich täuschen kann

"Noch ein Grund mehr", seufzte sie, "warum ich froh bin, von dieser Firma keine Antwort auf meine Bewerbung bekommen zu haben."

"Soweit ich weiß, sucht Dartz seine Leute selbst aus. Soll so ein bisschen ablaufen wie beim Geheimdienst."

"Das ist mir zu viel Gangster-Getue für diese Uhrzeit", lächelt Rin träge. Mokuba beugte sich zu ihr vor und entgegnete: "Daran musst du dich leider gewöhnen. Manchmal wünschte ich selbst, es gäbe ein bisschen mehr...Normalität in meinem Leben. Aber andererseits, dann wäre es ja nicht mein Leben - oder?"

"Ich habe mein aufgezwungenes Leben immer verabscheut", ihr Blick ging über die klare Brühe, "diese Eintönigkeit, derselbe Alltagstrott und nichts, dass sich daran ändern ließe."

"Aber das hat es", entgegnete der Schwarzhaarige.

"Normalerweise sollte ich nach diesem Abend anders denken und für jede friedliche Minute dankbar sein, die ich in den letzten Jahrzehnten hatte. Leider ist mein Geist in dieser Hinsicht viel zu irrational."

"Es würde nicht zu dir passen, dich von solchen Erfahrungen abschrecken zu lassen."

"Du bist einer der ersten, der so etwas zu mir sagt."

"Kann ich mir gar nicht vorstellen", kratzte sich der Schwarzhaarige an den Kopf, "ich hab neulich ein Duell von dir gesehen. Du bist nicht der Typ, der gleich den Schwanz einzieht."

"Nicht, wenn ich mich duelliere", ihre Stimme bekam die Festigkeit, die ihr in der letzten Stunde abhanden gekommen war, "ich schwöre dir, beim nächsten Mal, werde ich mich nicht so abziehen lassen." Mokuba nickte und legte das Geld fürs Essen auf den Tisch. Daraufhin bedankte sich der Besitzer und lächelte freundlich: "Soll ich dir noch was von den Shio-Ràmen für deinen Bruder einpacken." Mokuba winkte ab.

"Heute nicht mehr, danke. Wenn sich Seto endlich von der Firma losgerissen hat, hoffe ich, dass er die paar Stunden noch nutzt und sich ausruht, bevor er wieder in seinem Büro abtaucht." Rin fand es seltsam, wenn so direkt über ihren Boss gesprochen wurde. Mokuba schien der einzige zu sein, der Seto Kaiba beim Vornamen nannte.

Hätte mich nicht gewundert, wenn selbst Mokuba ihn mit Nachnamen anspricht

"Apropo Schlaf", Rins Augen wurden träge als sie von Weitem die Uhr des Glockensturms läuten hörte, "ich glaube, wir sollten uns auch losmachen." Mokuba stimmte zu und orderte seinen Fahrer an, Rin nach Hause zu bringen. Obwohl es nur fünf Minuten Fahrt war, wären ihr beinahe die Augen zugefallen. Müdigkeit packte die junge Frau, dass ihr Kopf pulsartig hämmerte. Die heitere Stimme des verwuschelten Schwarzhaarigen lenkte sie so gut es ging ab. Es war erstaunlich wie offen Mokuba über sein Privatleben sprach. Sie hätte nicht geglaubt, dass er neben Schule und Firma so viel Freizeit aufbringen konnte, die verschiedensten Aktivitäten auszuführen. Trotzdem beneidete sie den jungen Kaiba nicht für seine unzähligen Privilegien, die der Name so mit sich brachte. Zwischen den Zeilen konnte sie hören, dass sich Mokuba ab und an etwas Ruhe wünschte.

"Danke fürs nach Hause bringen", ihr müder Blick war nicht einmal mehr zu einem Lächeln fähig. Mokuba winkte ab und wünschte ihr eine gute Nacht, bevor Rin aus dem Wagen stieg und der Mercedes davon rauschte. Mit Mokubas Verschwinden drang ein lauter Gähner aus ihrer Kehle. Die nächsten fünf Stunden waren für ihr Bett reserviert, so viel stand fest.

Mit letzter Kraft hievte sie sich die Treppenstufen hoch, vorsichtig drehte sie den Schlüssel ins Schloss. Knacksend öffnete sie die Tür und sie trat in die Wohnung. Bis auf eine kleine Nachttischlampe auf dem Couchtisch war das Zimmer in völlige Dunkelheit getaucht.

"Rin?", murmelte es aus der zerknäulten Decke, "verdammt Rin, wo bist du gewesen?" Ein schwarzer Schopf lugte aus dem Samt. Lumina blickte sie mit einer Mischung aus Müdigkeit und Besorgnis an, dass Rin die Hände zusammenklatschte und eine leichte Verbeugung tat.

"Es tut mir leid, ich wollte früher nach Hause kommen, ehrlich." Sie setzte sich neben ihre Freundin, die sie immer noch mit ernster Miene ansah.

"Ich weiß, dass du gerne über die Strenge schlägst, aber das sprengt deinen bisherigen Rekord. Was ist überhaupt passiert?"

"Naja", Rins Augen wanderten auf den kleinen runden Tisch, auf dem ein ziemlich dunkler Rührkuchen Platz fand, "Rollschuhduelle, Schwimmen in der Kaiba Corporation und ein paar Typen, die meine Weltherrschaft verhindern wollen.. Ach, und Mokuba Kaiba hat mich zum Essen eingeladen."

"Also ein ganz normaler Tag", daraufhin begann Lumina laut zu prusten, "aber Weltherrschaft ist mal was Neues. Ich dachte, das ist nur Großkotzen wie Kaiba vorbestimmt."

"Das erzähl ich dir morgen in Ruhe, jetzt brauch ich dringend Schlaf."

"Und wenn du mit dem jungen Kaiba anbandeln willst, bitte. Ist mir tausendmal lieber als sein Bruder."

"Was?!" Rin hatte noch keinen einzigen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. Der Schwarzhaarige wirkte selbst auf sie wie ein jüngerer Bruder. Aber Rin wusste, dass es nur wieder eine weitere Gelegenheit war, ihre Verachtung gegenüber dem älteren Kaiba zum Ausdruck zu bringen.

"Ich sag' darauf jetzt nichts und gehe einfach ins Bett", sagte Rin und wollte sich von der Couch erheben.

"Moment", Lumina erhob sich und lief in Richtung ihres Kleiderschrankes, der mehr einem Sideboard ähnelte, und holte ein viereckiges Geschenk heraus. An dem schwarz rosanen Geschenkpapier erkannte die junge Frau, dass Lumina selbst Hand angelegt haben musste. Rin schmunzelte: "Ich dachte, wir schenken uns nichts mehr", sagte sie mit einer Stimme, die eine alte Ehefrau nachmimen sollte.

"Ach, Schatz", entgegnete die Schwarzhaarige, "ich konnte einfach nicht anders." Sie überreichte ihr das Geschenk. "Du wirst gleich verstehen warum." Weniger vorsichtig riss Rin das Papier auf. Ein Buch im braunen Ledereinband kam zum Vorschein.

"Da sind die besten dummen Sprüche aufgelistet, die wir in den letzten zehn Jahren so losgelassen haben. Inklusive DuelMonsters-Flüche und Pseudoweisheiten." Rin schlug die erste Seite auf und begann bereits schief zu grinsen.

"Ich hatte gar nicht in Erinnerung, dass wir in der Schulzeit so versaut waren."

"Hier steht alles drin, völlig unzensiert. Vielleicht kannst du es gebrauchen, als Lektüre für Zwischendurch, wenn dir der Kopf vom Duellieren und der Weltherrschaft zu brennen beginnt."

"Es ist perfekt", nahm sie den kleinen Wuschelkopf in ihre Arme.

"Alles Gute zum Geburtstag."

Seto Kaiba hatte gar nicht gemerkt, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und sämtliches Tageslicht mit sich genommen hatte. Erst spät am Abend fiel ihm auf, dass der Bildschirm seine einzige Lichtquelle geworden war, während sein restliches Büro in völlige Dunkelheit getaucht wurde. Die letzten Zahlen und Bilanzen hatten ihn mehr Zeit gekostet als er zunächst beabsichtigt hatte, dass er erst am frühen Abend mit seinem eigentlichen Projekt - nämlich der Weiterentwicklung eines neuen holographischen Systems - beginnen konnte. Er fasste sich an die Schläfe. Seine Augen begannen zu brennen, was nichts Ungewöhnliches war, jedoch einiges an Nerven kostete, wenn er sich bemühte, hundertprozentige Konzentration aufzubringen. Seit Tagen versuchte er schon, die aktuelle Technologie mit der neuen zu verbinden. Erste Versuche hatte es schon vor Monaten gegeben, seit einigen Wochen hatte er auch die Testgelände und Trainingsmodule dementsprechend angepasst. Indem er seine Duellanten langsam an die neue Technologie heranführte, erhoffte er sich, die Verträglichkeit der neuen Änderungen auszustesten. Keiner seiner Probanten wusste etwas davon, die meisten hielten es für eine verbesserte Version der hiesigen Fassung. Der junge Firmenchef sah auch nicht die Notwendigkeit, irgendjemandem davon zu erzählen. Bisher war sein neuestes Projekt unter strenger Geheimhaltung. Nur Mokuba wusste etwas von Setos neuartiger Idee, seine virtuelle Technologie auf ein neues Level zu bringen, dass alles Bekannte in den Schatten stellen sollte. In dem Tempo, in dem er zurzeit daran arbeitete, würde die neue Technologie Ende nächsten Jahres an den Start gehen - vorausgesetzt, alle nötigen Vorkehrungen wurden durchlaufen und etwaige Mängel beseitigt. Er wusste, dass die Neuschaffung der virtuellen Realität Extremen überschritt, für welche die Menschheit womöglich noch gar nicht bereit war. Es gab viele, die ein Problem mit dieser Art von Technik hatten, sie sogar verteufelten, weil es eine Beleidigung an Gottes Werk war. Der mächtige CEO konnte zwar nicht verstehen, wie es im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Leute geben konnte, die an Religion und Aberglauben festhielten, wo sie doch von allen Seiten eines besseren belehrt wurden. Doch die Vergangenheit hatte ihn gelehrt, diese Menschen nicht einfach zu ignorieren - dafür waren es zu viele. Sein Blick schweifte vom Bildschirm ab, dass er sich in seinem Sessel zurücklehnte und zur Decke starrte. Die Stille ließ ihn das Ticken der Uhr im Flur wahrnehmen. Seine Augen wurden träge. Viel würde er heute nicht mehr zustande bringen. Er entschied sich, die letzten Daten durchzugehen, bevor er sich schließlich nach Hause machen würde. Selbst Mokuba - der aktive Nachtwandler - lag bestimmt schon im Bett und bereitete sich auf seine Standpauke vor, die er ihm unter die Nase binden würde. Sein Blick wanderte zurück auf den Bildschirm, während seine Finger auf der Tastatur zu hämmern begannen. Er öffnete innerhalb seines Programmes ein neues Fenster und ließ die Ergebnisse über den Bildschirm rasen. Mit der rechten Hand ließ er die Maus den gesamten Durchlauf aus Zahlen und Codes durchlaufen, bis er innehielt und den vorletzten Absatz näher betrachtete.

Was zum Henker ist das?

Sein System zeigte eine Veränderung, die Seto Kaiba nicht vorgenommen hatte. Niemand hatte Zugriff auf das Programm, geschweige denn wäre in der Lage, daran rum zu pfuschen. Sein Blick verdunkelte sich, dass die Finsternis tiefe Schatten in sein Gesicht zeichnete. Er sprang vom seinen Sessel auf und schritt in Richtung seines Privatfahrstuhls. Seinen Mantel ließ er auf seinem Platz, er hatte jetzt keine Zeit sich um Details zu kümmern. Am Fahrstuhl angelangt, ließ er sich in das letzte Untergeschoss seines Gebäudes befördern. Seine Schritte hallten bedrohlich über dem Parkett. In den geheimen Anlagen der Kaiba Corporation angekommen, startete er das virtuelle System, dass sich die Halle in Licht eintauchte und sämtliche Programme hochfuhren.

"Guten Abend, Seto Kaiba", meldete sich die elektronische Frauenstimme, dass sich Kaiba breitbeinig und mit verschränkten Armen vor der Anlage platzierte und die Mitte der Halle fokussierte. Ein holographisches Bild eines undefinierbaren Frauenkopfes erschien und sah in seine Richtung: "Meine Gesichtsanalyse ergibt, dass Sie verärgert sind."

Warum nochmal hab ich ihr die Deutung von Emotionen gegeben?

"Ich habe Abweichungen in den graphischen Codes gefunden", entgegnete er kühl, "es scheint, als hätte jemand eine Änderung vorgenommen."

"Es wurden keine fremden Aktivitäten gemeldet", erwiderte sie so emotionslos wie ihr Schaffer, "der Zugriff auf ihr Virtuelles System ist allein Ihnen gestattet. Es ist unmöglich durch die Sicherheitsschlüssel zu kommen."

"Das weiß ich. Schließlich sind es meine Sicherheitscodes. Nenn`mir lieber eine logische Erklärung für die Abänderung."

"Einen Moment bitte. Ich lasse das System überprüfen." Ein leises Zischen erklang, die Datensätzen aus Kaibas Computer erschienen in sekundenschnelle, bevor der Frauenkopf zurückkehrte und Bericht erstattete: "Es scheint, dass sich das System weiterentwickelt hat."

Was hatte sie gesagt? Kaiba kniff die Augen zusammen.

"Unmöglich. Ich habe das System seit Wochen nicht mehr persönlich angwandt."

"Sie scheinen zu vergessen", sagte sie als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, Seto Kaiba an etwas erinnern zu müssen, "dass Ihre virtuelle Technik zum Teil in den Einheiten der Trainingsmodule eingearbeitet sind."

"Willst du mir etwa sagen", erwiderte er mit einem schiefen Grinsen, dass seine blauen Augen zu blitzen begannen, "dass meine Spieler für die Weiterentwicklung verantwortlich sind?" Hätte er einem seiner Angestellten gegenübergestanden, wäre die Antwort eine andere gewesen. Doch seine KI kannte keine Hemmungen und empfand schon gar nicht Angst gegenüber dem Mann, dessen eiskalter Blick für manche als tödlich eingestuft wurde.

"Meine Statistiken ergeben, dass dreiviertel der registrierten Duellanten lediglich ein drittel der virtuellen Technik ausschöpft. Es scheint in der Umsetzung noch Schwierigkeiten zu geben."

"Oder Faulheit", erwiderte Kaiba und konnte sich vorstellen, dass seine Duellanten nur unzureichend Zeit in die Trainingseinheiten steckten, geschweige denn die virtuelle Technik vollends ausschöpften.

"Und das restliche viertel?" Erneut wechselte der Bildschirm, dass eine neue Datei zum Vorschein kam. Als Hologramm erschienen die Stammdaten seiner Profispieler, inklusive der absolvierten Trainingseinheiten und deren Ergebnisse. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er wusste, worauf seine KI anspielte. Trotzdem fuhr die elektronische Frauenstimme fort: "Einer der neuen aufgelisteten Probanten zeigt fortschrittliche Ergebnisse."

"Rin Yamamori", murmelte Kaiba, welcher den Namen in letzter Zeit sehr häufig zu Ohren bekam. In den letzten Tagen hatte sie beachtlich an Punkten gewonnen, dass sie sich langsam den Top fünfzig näherte. Die ersten Werbeangebote hatte es ebenfalls schon gegeben. Wie es schien, hatte die junge Frau unter den Jugendlichen zwischen zwölf und sechzehn Jahren an Bekanntheit zugenommen. Dies zeigte sich auch an den positiven Anstieg verschiedenster Merchandise-Produkte, sowie einem leichten Anstieg der Beliebtheit von Kaiba Corporation in Bezug auf sein Team im Worldcup. Er wusste auch, dass sie regelmäßig Trainings absolvierte - ihre Arbeitszeit schien morgens in der Kaiba Corporation zu beginnen, so wie sie es ihm vor Wochen im Fahrstuhl erzählt hatte. Es wunderte ihn also nicht, dass gerade der Name Rin Yamamori gefallen war. Vielmehr die Tatsache, dass ihm seine KI weiszumachen versuchte, dass sie etwas mit der Veränderung seiner Datensätze zu tun hatte. Also näherte er sich dem Pult und veränderte die Lichtsequenz im Raum, dass Halbschatten an den Seiten entstanden und der Mittelpunkt noch verstärkt wurde.

"Also schön", raunte er, "dann lass`mich sehen, was sie mit meinen Codes zu schaffen hat." Das Bild änderte sich, dass neue Daten freigegeben und die Auswertungen sichtbar wurden. Das System legte ihm sämtliche Daten offen, die es bei virtuellen Duellen analysiert hatte. Schließlich dienten die Testversuche nicht nur dazu, die Verträglichkeit der neuen virtuellen Grafik herauszufinden, sondern auch Vergleiche innerhalb der Testpersonen zu schaffen, um so die einzelnen Anwendungen dementsprechend auswerten zu können. Die Analyse von Rin Yamamori konnte sich sehen lassen. Ihr regelmäßiges Training konnte ein gutes Bild über die junge Duellantin und ihre Fähigkeiten aufzeigen. Seine KI bestätigte ihn in seinen Überlegungen: "Die Analysen haben ergeben, dass Rin Yamamoris Intelligenz im oberen Durchnittsbereich liegt; Spracherwerb und logisches Denken sind ausgeprägt und werden besonders in der Anfangsphase von Duellen angewandt. Außergewöhnlich stark ausgeprägt ist jedoch die rechte Gehirnhälfte, die in sämtlichen Duellphasen dominiert und den Durchschnittswert übertrifft."

"Das heißt?"

"Das heißt, dass ihr Gebrauch von Irrationalität, Phantasie und Risikobereitschaft mit dem virtuellen Programm gekoppelt wurde."

"Zeig`mir, wie sie das System anwendet."

"Sofort", mit einem Flackern tauchte die Halle in ein bläuliches Licht, formte Lichtkugeln und Reflektionen bis die Aufzeichnungen sich wie eine eigene virtuelle Realität ausbreiteten und den gesamten Raum ausfüllten. In der Mitte der Halle tauchte Rin Yamamori auf. Sie stand aufrecht, die DuelDisc um ihr rechtes Handgelenk geschnürt startete sie die Trainingseinheiten. Ihre grünen Augen begannen aufzuleuchten, ihr Blick wandelte sich von Entspannung zu einem Lächeln, dass er so noch nicht bei ihr gesehen hatte. Es war eine Mischung aus Spannung und Vorfreude, vermischt mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein, dass sie bereits jetzt wie der neue Champion aussah. Was danach passiere, erklärte ihren Ausdruck: Die junge Frau ließ den Raum in gesprenkelten Farben erscheinen, die wie Seifenblasen aus dem Boden hinauf zur Decke traten. Dort angekommen platzten sie, dass Farbe hinaus schwabbte, sich miteinander verband und zu einer festen Masse wurde, die Gestalt annahm. Während der Hintergrund ein buntes Strahlen bildete, offenbarte die Gestalt sein endgültiges Aussehen - ein Regenbogendrache. Er flog direkt über der jungen Frau, die zu dem Wesen hinauf sah und noch breiter grinste. Das Geschöpft breitete seine Schwingen aus und reckte seinen Kopf zu ihr herunter, dass es schien als wollte es mit dem Maul ihr Gesicht streichen. Die Szene wirkte trotz der unnatürlichen Farbgebung so real, dass Kaiba glaubte, die Braunhaarige würde jeden Moment den Drachen mit den Fingern berühren.

"Gut", hörte er sie sagen, "dann machen wir weiter wo wir aufgehört haben." Daraufhin stürzte der Regenbogendrache in die Tiefe, sprengte den Boden unter ihren Füßen auf und verschwand darin. Die winzigen Details, die das Aufplatzen des Bodens verursachten, beeindruckte ihn doch ein wenig. Wusste er, dass jede Kleinigkeit von ihr gesteuert wurde. Von Beginn, in dem sie das System startete, oblag das virtuelle Kunstwerk ihrer eigenen Schöpfung.

Wie auch immer sie das abstellt.

Weitere Bilder tauchten auf, mehrere Szenen aus Rin Yamamoris virtuellen Duellen. Aus den ersten war zu erkennen, dass sie zunächst vorsichtig damit umging. Wie die anderen wusste sie nicht, wozu sein System alles in der Lage war. Die letzten Aufzeichnungen zeigten, dass sie mit der virtuellen Technik harmonierte, geradezu selbstverständlich damit umging, dass ihr vielleicht nicht einmal klar war, was sie damit eigentlich konnte. Ihre Bewegungen wirkten leicht und unbeschwert, fast als wäre sie eins mit der virtuellen Realität, die sie selbst geschaffen hatte. Er musste seiner KI zustimmen - Rin Yamamori hatte eine sehr ausgeprägte Phantasie, manchmal ging es sogar ins Abstruse wie sie aus der Zauberkarte Kettenzauber ein Verließ erschuf, das bestens für einen Horrorstreifen geeigenet war. Die Ketten knallten mit einer Wucht aus den Boden, direkt vor ihr, dass ihr Pferdeschwanz zu wedeln begann. Die Ketten hatte sie etwas abgeändert, dass sie nicht mehr wie ein Kreuz aussahen, sondern ein dutzend herausragende Ketten, die als Gitterstäbe fungierten.

Das System hat sich also ihrer Phantasie bedient

Für Kaiba war es noch nicht greifbar, wie seine neueste Technologie mit Hilfe rechter Gehirnströmungen solche bahnbrechenden Veränderungen durchnehmen konnte und eigene Abänderungen vorgenommen hatte. Doch die Ergebnisse lügten nicht - die optischen Verbesserungen waren minimal, für Seto Kaiba jedoch mit jedem Detail sichtbar. Es musste während einer ihrer Trainingseinheiten passiert sein, irgendwo musste sich das System mit ihr verbunden haben, dass es ihre Informationen nutzte und abspeicherte - wie war so etwas überhaupt möglich?

"Wieso bedient sich das Programm ihrer visuellen Informationen und verarbeitet es zur Nutzung neuer Datensätze?", sprach Kaiba laut seine Gedanken aus.

"Sie haben das System geschaffen, Seto Kaiba. Sie sollten am besten wissen, dass Ihr virtuelles System direkt mit ihrem Gehirn verbunden wurde und sämtliche Informationen Ihrem Geist entspringen. Sie haben Ihre Technologie mit überdurchschnittlich rationalem Denken ausgestattet, dass vorwiegend dieser Teil dominiert. Ihre linke Gehirnhälfte entspricht dem Niveau, welches Rin Yamamoris rechte Gehirnhälfte aufweist. Das System hat sich Frau Yamamoris Informationen und Handlungsweisen zu eigen gemacht und damit einen Ausgleich geschaffen. Es hat eine logische Entscheidung getroffen." Kaiba hasste es, wenn die KI seinen Gedankengang beendete. Dass sie recht hatte, war ebenso störend für den jungen Firmenchef. Auch wenn sein gesamtes Handeln nicht ausschließlich von Rationalität bestimmt wurde, kam er doch oft an die Grenzen seiner Phantasien - wenn er die Anforderungen an sich selbst auch sehr hoch stellte. Natürlich waren seine bisherigen Schaffungen kreative Meisterleistungen gewesen. Niemand konnte die Verknüpfung von technologischer Neuerung und Vorstellungskraft besser zum Ausdruck bringen als er selbst. Wenn er jedoch sah, in welchem Tempo Rin Yamamori vorankam und ihrem Geist die verschiedensten Ideen entlockte, dass phantastischste Träume wie ein billiger Abklatsch wirkten, fühlte er Missmut in sich aufsteigen, die sich seltsamerweise mit etwas anderem vermischte. Zu sehen, wie jemand die Möglichkeiten seiner virtuellen Technologie nutzte und in der Lage war, dessen Potenzial richtig anzuwenden, bestätigte ihn in seiner Arbeit, eine neue bessere Realität schaffen zu wollen. Wenn sie in der Lage war, damit umzugehen, würden es auch andere können. Ihr Blick spiegelte sich in seinem wider. Diese Entschlossenheit.

Vielleicht sollte ich die Messlatte noch etwas höher schrauben

"Wir werden etwas Neues ausprobieren", seine Stimme hallte durch den Raum, dass die Aufzeichnungen zu Staub zerfielen und der Raum zu seiner ursprünglichen Leere zurückkehrte, "ich will, dass die Trainingseinheiten von Rin Yamamori stärker dem neuen virtuellen System angepasst werden."

"Um wie viel?"

"Momentan liegt die Anpassung bei fünfzehn Prozent. Probieren wir doch mal, was fünfzig Prozent bewirken."

Es gab ein regelrechtes Klatschen als Rin die Blätter auf den Tisch ihres Vorgesetzten schlagen ließ, welcher gerade dabei war, seine Brille gerade zu rücken.

"Frau Yamamori", begann er mit einem leichten Seufzer in der Stimme, "ich verstehe Ihr Problem nicht. Ihre Gehaltszettel wurden ordnungsgemäß bearbeitet." Rin sah das anders. Sie kniff die Augen zusammen und sah zu ihrem Gegenüber, der eine entspannte Haltung in seinem Sessel eingenommen hatte und die Hände vor dem Bauch zusammenfaltete.

"Tut mir leid, ich kann Ihnen nicht zustimmen", entgegnete die junge Frau und deutete auf den obersten Abschnitt, "die aufgeführten Stunden passen nicht. Hier steht, ich hätte 79,5 Arbeitsstunden geleistet. Das ist völlig unmöglich." Sie verschränkte die Arme vor der Brust, "außerdem", ihre Mundwinkel begannen leicht zu zucken, "wurden meine Boni nicht verrechnet. Ich möchte, dass mein Lohnzettel einer zweiten Prüfung unterläuft." Der Blick Senjins machte sie nur noch rasender. Sie wusste, dass er sie nicht für voll nahm, egal wie ernst sie ihm in die Augen sah und auf jedes Argument kontern würde. Sein Blick erinnerte sie an ihre vorherigen Chefs, die jeden ihm Untergeordneten wie eine leere Hülle betrachteten - ein Objekt, das zu gehorchen und still zu sein hatte. Das leichte Lächeln auf seinen Lippen war ihr zuwider, ihre Haltung verkrampfte, während sie sich eine neue Strategie ausdachte. Anfangs hatte sie nur um ein höfliches Gespräch gebeten. Als der Gehaltszettel wenige Tage verspätet bei ihr eingetroffen und der Auszahlungsbetrag mehr als unzureichend war, wollte sie Aufklärung. Ihr Vorgesetzter schien jedoch keine Anstalten zu machen, ihr überhaupt richtig zuzuhören, geschweige denn ihrer Bitte auf Korrektur nachzukommen. Im Gegenteil: Allmählich schien sie zu glauben, dass die Unstimmigkeiten kein Fehler der Buchhaltung waren, sondern schlampige Arbeit, wenn nicht sogar Willkür.

"Ich will, dass meine Unterlagen überprüft werden", raunte sie, dass nicht mehr viel fehlte bis sie zu Knurren beginnen würde. Senjin schüttelte mit dem Kopf: "Ihre Stunden werden gemäß der Nutzung ihrer DuelDisc gemessen, sobald ein registriertes Duell gemeldet wird. Vielleicht haben Sie einfach nur eine falsche Wahrnehmung bezüglich Ihrer tatsächlichen Spielzeit."

Sicher nicht

Rin hatte sich die Stunden nicht notiert (was sie nun langsam zu bereuen begann), trotzdem wusste sie, dass die aufgeführten Stunden nicht stimmen konnten. Allein in den ersten zwei Wochen hatte sie die Hälfte des Tages nur mit Duellieren verbracht. Die meisten ihrer Duelle dauerten dreißig bis vierzig Minuten, je nach der Stärker ihrer Gegner. So viele Spieler, gegen die sie angetreten war und weniger als achtzig Stunden Spielzeit nach über vier Wochen? Sie brauchte dafür keine großen mathematischen Fähigkeiten um hier den ersten Schwindel zu entdecken.

"Und selbst wenn", sagte Rin und ließ ihren Blick noch arroganter wirken als sie es ohnehin mit ihrer herabblickenden Haltung tat, "mir fehlen sämtliche Extravergütungen, die mir laut meines Vertrages zustehen."

"Boni werden von der Buchhaltung nicht unbedingt sofort bearbeitet. Warten Sie einfach den nächsten Monat ab."

"Die Boni stehen mir aber jetzt zu", allmählich verlor sie die Geduld. Anders als ihr Gegenüber, der die junge Frau einfach nur abwimmeln wollte, reichte es ihr mit dem dummen Geschwafel.

"Wenn die Buchhaltung schon Schwierigkeiten hat, ein paar Subtraktionen durchzuführen, können wir es auch vereinfachen...in dem Sie mir einen angemessenen Lohn zahlen."

"Wie bitte?", Senjin beugte sich nach vorne, sein halbherziges Lächeln wich aus seinen Zügen.

"Sie haben mich schon verstanden. Mein bisheriger Vertrag läuft unter der Prämisse, dass ich als Duellantin der Amateurliga angestellt bin. Die Voraussetzungen haben sich geändert. Als Spielerin der dritten Profiliga steht mir ein dementsprechendes Gehalt zu."

"Wissen Sie, was sie da verlangen?", er starrte sie mit halb offenem Mund an, nicht sicher, ob er auflachen oder schreien sollte, "Sie wollen eine Gehaltserhöhung, obwohl Sie erst seit einem Monat bei uns angestellt sind? Mir ist noch niemand über den Weg gelaufen, der die Frechheit besitzt in mein Büro hereinzustürmen und mit einer Dreistigkeit Forderungen stellt, die völlig an den Haaren herbei gezogen sind."

"Das sehe ich anders", widersprach die junge Frau, "Ihr Vertrag besitzt keine Klausel, in der meine Konditionen unverändert bleiben, sollte ich in der DuelMonsters Liga aufsteigen. Ich fordere lediglich eine entsprechende Angleichung. Das ist nur fair." Dabei versuchte sie ein ebenso herablassendes Lächeln über die Lippen zu bringen.

"Das ist doch", setzte Senjin empört an und stockte im selbigen Moment, als aus der Freisprechanlage ein Piepen ertönte und daraufhin eine Frauenstimme zu sprechen begann: "Herr Senjin, ich soll Sie von Seto Kaiba daran erinnern, dass er Sie um elf zu sich zitiert hatte. Es ist jetzt fünf nach elf-"

"Ich verstehe", seine Stimme senkte sich, geradezu kapitulierend schloss er für einen Augenblick die Augen und drückte den Knopf der Freisprechanlage, dass sie mit einem weiteren Piepen ausgeschaltet wurde. Als sich seine Lider öffneten sah er Rin mit einer Mischung aus Belustigung und Provokation an.

"Nun, Frau Yamamori, es tut mir leid. Ich habe Wichtigeres zu erledigen als mich um Ihre kleinen Probleme zu kümmern."

Ich wüsste noch etwas anderes, dass klein ist

"Ich lasse mich nicht abwimmeln", Rin steckte die Hände in die Taschen ihres Trenchcoats und ballte diese zu Fäusten, "ich werde erst gehen, wenn Sie sich darum gekümmert haben."

"In meinem Büro kann ich Sie nicht allein lassen", er erhob sich von seinem Sessel, "Sie haben es gehört - ich muss zu einer Besprechung. Wenn Sie also nicht beabsichtigen mitzukommen, dann schlage ich vor, Sie wenden sich an das HR Service-Team."

Ich weiß ganz genau, dass du nur bluffst

"Das ist ein fabelhafter Vorschlag", sagte sie. Senjin hatte sie jedoch nicht verstanden, dass sie daraufhin ein falsches Lächeln aufsetzte: "Gerne komme ich mit." Daraufhin fiel Senjins Fassade, dass sämtliche Gesichtszüge sich absenkten und erste Furchen entstehen ließ. Nur langsam gewann er die Erkenntnis, dass sie ihn durchschaut hatte und versuchte Haltung zu bewahren: "Ihnen sollte bewusst sein, dass Sie so kurz davor stehen, Ihren Job zu verlieren. Wenn Ihnen Ihre Zukunft am Herzen liegt, sollten Sie so klug sein und jetzt gehen."

"Nein, danke", winkte Rin ab und verfolgte Senjins schleichenden Bewegungen, die auf die Tür zusteuerten, "ich werde mit Ihnen gehen." Wie ein Roboter und sein Schaffer liefen beide nebeneinander her. Rin begleitete Senjin in den Fahrstuhl, der sie in die fünfundvierzigste Etage beförderte, die einzig und allein dem Chef der Kaiba Corporation vorbestimmt war. Rin war noch nie zuvor so weit oben gewesen. Der Flur war im reinsten Weiß gehalten, lediglich eine Zimmerpflanze, die vor dem Empfangstresen platziert wurde, gab etwas Farbe in die triste Umgebung. Selbst seine Sekretärin hatte platinblondes Haar und trug einen weißen Anzug. Sie lächelte träge als sie Senjin begrüßte. Umso erstaunlicher war der Wandel ihres Gesichtes als sie Rin das erste Mal registrierte. Ihr bleiches Gesicht erhellte sich, ihr Mund öffnete sich leicht als wollte ihr ein Oh entfleuchen. Blinzelnd entgegnete Sie: "Möchten Sie einen Termin?" Rin schüttelte mit dem Kopf.

"Ich möchte nur hier stehen und warten." Die blonde Frau schien nicht zu wissen, wie sie darauf reagieren sollte. Hilfesuchend war ihr Blick in Richtung der Tür aus Milchglas gerichtet, die kein Geheimnis darüber preisgab, was sich hinter ihr verbarg - auch wenn es sich offensichtlich um das Chefbüro handelte.

"Also schön", entgegnete die Sekretärin mit leicht zittriger Stimme, "dann werde ich Sie, Herr Senjin, jetzt ankündigen." Daraufhin nutzte sie das Telefon der Freisprechanlage und setzte das Gesagte in die Tat um.

"Sie können jetzt hereingehen", nickte sie Senjin zu, dessen Hautton sich in den letzten Minuten stark dem der Tapete angepasst hatte, dass sich Rin ein Schmunzeln unterdrücken musste. Stattdessen lehnte sie sich an den Empfangstresen, verschränkte erneut die Arme vor der Brust und sah hinauf zur Decke.

"Entschuldigen Sie", das Flüstern der blonden Frau riss sie aus ihren Tagträumereien, "sind Sie nicht die Duellantin, die neu bei uns angefangen hat?"

"Das ist richtig", Rin bemühte sich aus der Rolle der selbstgefälligen Spielerin herauszukommen. Das Gespräch mit Senjin hatte sie so auf Hochtouren gebracht, dass sie nur schwer den richtigen Ton fand.

"Darf ich fragen, was der Grund für Ihre..Entscheidung ist hier stehen zu bleiben?"

"Ich fordere nur mein Recht ein", Rin drehte sich zu ihr um und grinste breit, obwohl ihr langsam der Magen zugeschnürt wurde. Sie wurde sich gewahr, in was für ein Spiel sie sich gerade hinein manövriert hatte. Die letzten Worte Senjins hallten in ihr Gedächtnis nach. Dass sie ihren Job verlieren könnte...daran hatte die junge Frau noch gar nicht gedacht. So wie sie sich bei ihren Duellen allein aufs Spielen konzentrierte, dachte Rin auch hierbei nur daran, ihren Anspruch geltend zu machen. Als sie diesen Job bekommen hatte, hatte sie sich fest vorgenommen, sich nichts mehr von anderen gefallen zu lassen. Jeder Job war bisher nur eine qualvolle Zeitfressmaschine gewesen, dass sie die Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt schlichtweg ignoriert hatte. Jetzt, wo sie ihr freches Mundwerk in Duellen einsetzte, wollte sie diese Seite an ihr nicht wie eine schlechte Komödie aussehen lassen.

"Ich bewundere Ihre Kühnheit", murmelte die Sekretärin und setzte sich zurück an ihren Platz, "noch niemand hat sich hier unerlaubt aufgehalten. Schon allein aus Angst, den Unmut des Chefs auf sich zu ziehen."

"Das kann ich mir sehr gut denken." Rin hatte es oft erlebt. Die verängstigten Blicke der Angestellten, wenn sie auf Seto Kaiba trafen. Die meisten schienen zu glauben, dass schon direkter Augenkontakt gefährlich werden könnte. Zwar konnte sie verstehen, warum andere von ihm eingeschüchtert waren, aber gleich drei Liter Schweiß auszuscheiden war schlichtweg übertrieben. Man musste schon an seinen eigenen Kompetenzen zweifeln, wenn man um seinen Job fürchtete. Seto Kaiba war sicher ein strenger Arbeitgeber, aber bisher hatte er auf sie nicht den Eindruck erweckt als würde er es darauf abzielen, jemanden in die Mangel zu nehmen. Zu ihr hatte er sich doch auch nicht so verhalten, obwohl sie weit unter den meisten seiner Angestellten in der Hierarchie stand. Rin legte den Kopf schief: "Außerdem fällt es sowieso keinen auf, wenn ich hier bin." Die blonde Frau räusperte sich und sah geradezu entschuldigend zu Rin hinauf: "Es stimmt, dass die Glastür von außen keine Sicht zulässt. Von innen ist sie jedoch eine vollkommen normale Glastür." Rin versteifte. Was hatte sie gerade gesagt?

"Sie meinen", flüsterte nun auch Rin, "dass man mich theoretisch sehen könnte?"

"Seto Kaibas Schreibtisch ist so ausgelegt, dass er in Richtung Tür zeigt." Und Rin stand genau im Blickpunkt. Diese Art von Aufmerksamkeit hatte sie nicht einkalkuliert. Ungewollt drehte sich ihr Gesicht zur Tür. Wie sie ihn einschätzte, hatte er sie längst bemerkt. Dass es ihn nicht interessierte war eine andere Sache, jedoch machte es nicht ungeschehen, wie sie für ihn ausgesehen haben musste.

Was zum Henker interessiert dich das. Mach`dir mal lieber darüber Gedanken, wie du aus dieser Nummer wieder rauskommst.

Das Klingeln des Telefons ließ sie aufschrecken. Die filigranen Hände der Sekretärin nahmen den Anruf entgegen. Am Blick konnte Rin erkennen, mit wem sie sprach. Sie schluckte schwer.

"In Ordnung, Sir." Statt aufzulegen, nahm sie den Hörer von ihrem Ohr herunter zu ihren Lippen.

"Ich soll Sie fragen, ob Sie etwas Bestimmtes hier verloren haben."

"Das soll er ruhig seinen führenden Duellstatistiker fragen." Die blonde Frau zögerte, bevor sie Rins Worte in den Hörer murmelte. Es folgte langes Schweigen, dass Rin das Ticken der Wanduhr auffiel und sie für einen Moment erstaunt war, so ein relativ altmodisches Modell einer Uhr hier vorzufinden.

"Er sagte", hauchte die Sekretärin, dass sich Rin etwas zu ihr vorbeugen musste, um alles zu verstehen, "er sagte, ich soll nach Ihrer Argumentation fragen. Und dass Sie nur einen Versuch haben." Rin fasste sich an die Unterlippe.

"Sagen Sie ihm: Paragraph zwei der Vertragsbedingungen, Absatz...lassen Sie mich kurz überlegen...es müsste Absatz 6.5. sein. Ich denke, das sollte ihm genügen."

Ich hoffe es

Übelkeit machte sich in der jungen Frau breit. Von außen zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Innerlich tobte ein Sturm, bei dem sie diejenige war, die in einem Floß im offenen Meer schwamm und deren Zukunft von der Gnade des Donnergottes abhing. Mit jedem Ticken schnürte sich ihre Kehle enger zusammen. Dass die Sekretärin aufgelegt hatte, beunruhigte sich noch mehr. Die Stille machte sie wahnsinnig. Sie hoffte, bald die Gewissheit zu haben. Selbst wenn sie gefeuert würde, hoffte, sie auf ein schnelles Ende. Dies war die pure Folter für sie. Ihr Herzschlag setzte aus, sie wagte es nicht sich zu regen. Die Tür des Chefbüros öffnete sich, jemand trat aus dem Raum. Mechanisch drehte sich ihr Kopf zu der Person.

"Frau Yamamori", krächzte Senjin und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Erwartungsvoll stellte sie sich vor ihm und blickte in seine blassen Augen.

"Ich werden Ihnen den neuen Vertrag morgen zum Unterschreiben zukommen lassen." Ohne eine Reaktion abzuwarten, wandte er sich von ihr ab und eilte zurück zum Fahrstuhl. Perplex sah sie dem Mann hinterher, der einen halben Kopf seiner Körpergröße eingebüßt hatte, seit er aus dem Büro getreten war. Am liebsten hätte sie ihr breitestes Siegerlächeln aufgesetzt, die Tür aus falschen Milchglas hinderte sie daran. Stattdessen verabschiedete sie sich von der Sekretärin, die sie mit aufgerissenen Augen betrachtete.
 

"Du bist bestimmt die erste in der Geschichte, die nach sechs Wochen eine Gehaltserhöhung bekommen hat", lachte Yamato auf und packte sich mit den Essstäbchen eine gedünstete Möhre. Rin schüttelte den Kopf und sah lächelnd auf die große Portion Reis mit Fleischbällchen.

"Wenn du mich nicht auf den Paragraphen hingewiesen hättest, wäre dieser Tag ganz anders ausgegangen." Sie wusste, dass sie kommentarlos gefeuert worden wäre. Ganz gleich, dass sie keine Probezeit besaß oder ihr Platz in den Top fünfzig gesichert war. Die Worte ihres Bosses waren eindeutig gewesen. Dieser eine Versuch sollte sie auf die Probe stellen. Ohne ein schlagfertiges Argument wäre sie als großmäuliges Gör abgestempelt worden. Nur weil Yamato neulich so aufmerksam ihren Vertrag durchgesehen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie einen entscheidenden Trumpf im Ärmel hatte. Senjin hatte einen Formfehler in den Vertrag eingebaut. Vermutlich aus bloßem Desinteresse. Er hatte wohl nicht erwartet, dass ein Niemand binnen vier Wochen vom Amateur zum Profi aufsteigen konnte. Denn der Vertrag belief sich ausschließlich auf die Konditionen eines Amateurs. Jeder Satz wurde nicht mit dem Wort >Spieler< oder >Duellant< aufgeführt, sondern ausschließlich durch den Begriff >Amateur< ersetzt worden. Damit verlor der Vertrag nach Einzug in die dritte Profiliga ihre Gültigkeit. Mit einem genussvollen Lächeln nahm Rin die Fleischbällchen in den Mund. Sie spürte Erleichterung und Selbstgefälligkeit.

"Das hab ich doch gerne gemacht", lächelte ihr Yamato zu und beobachtete belustigt ihren Essensberg, "bist du dir sicher, dass du das alles schaffst?"

"Sicher", entgegnete Rin und schluckte den letzten Brocken hinunter, "ich muss genügend Energie zu mir nehmen, wenn ich beim Training nicht umkippen will."

"Stimmt, du wolltest wieder Sport treiben."

"Es läuft besser als ich gedacht habe." Rin war erstaunt gewesen, wie viel der damaligen Kendo-Trainingseinheiten ihr im Gedächtnis geblieben waren. Die Aufwärmübungen waren eine Mischung aus Konditionstraining und Dehnung der Muskeln gewesen. In ihrer ersten Stunde hatte sie bereits nach einer viertel Stunde das Gefühl gehabt, ihre Beine nicht mehr spüren zu können. Ihr damaliger Trainer war streng und fordernd gewesen. Er hatte alles aus seinen Schülern herausholen wollen und gleichzeitig die Schwachen aussortiert, die bereits nach drei Wochen Schweißes-Training die weiße Fahne geschwenkt hatten. Aus dreißig Schülern waren am Ende achtzehn übrig geblieben. Lumina und sie waren standhaft geblieben, während sie sich in den ersten Monaten jeden Abend Zuhause darüber ausgeheult hatten, keinen Muskel ihres Körpers mehr anwenden zu können.

"Ist lange her, dass ich meinem Körper so viel abverlangt habe, aber bei diesem Job zahlt es sich definitiv aus." Sie spürte bereits wie ihre Muskeln das Training aufnahmen. Auch ohne Shinai, dass ihre Arme zu Standfestigkeit erzogen hatte, waren die meisten Übungen machbar. Nebenher gönnte sie sich eine Auszeit und ließ es ruhiger angehen, in dem sie die Schwimmhalle der Kaiba Corporation aufsuchte - ihrem zweiten Zufluchtsort neben dem Café, bei dem sie DuelMonsters für einen Moment vergessen, oder zumindest ohne Ernsthaftigkeit entgegenblicken konnte. Ihr Blick ging verträumt auf den halb leeren Teller, bevor sie vorsichtig ihren Kopf hinauf zu Yamato anhob, der es verstand, sowohl sie als auch sein Essen gleichzeitig zu betrachten.

"Danke, dass du vorbeigekommen bist", lächelte sie ihm scheu zu, dass er sie wegen des plötzlichen Themenwechsels fragend ansah. Dann begannen kleine Fältchen um seine Mundwinkel zu entstehen. Wenn er sie mit diesem Blick ansah, schien jede Art von Kummer verdrängt.

"Ich sagte doch, dass ich jede Chance nutzen würde", er grinste sie an, "an meinem freien Tag würde ich nichts lieber tun als mit dir in der Innenstadt etwas zu essen." Seine Worte ließen einen Kloß in ihrem Hals entstehen. Er hatte wieder jene Stimmfarbe, bei der sie glaubte, er würde sie jeden Augenblick küssen wollen. Bisher hatten sie sich nur fünfmal gesehen und Rin bekam mittlerweile den Eindruck, er wartete darauf, dass sie den ersten Schritt machte. Er konnte nicht wissen, dass die junge Frau nicht der Typ war, der als erstes Initiative zeigte. Scheinbar wollte er nicht derjenige sein, der überstürzt handelte, sie sogar damit abschrecken könnte. Und vermutlich hätte er sogar recht behalten. Momentan war Rin so hin und her gerissen von dem was war und wie es mit ihrer derzeitigen Wunschvorstellung übereinstimmte. Einerseits wünschte sie, er würde sie küssen, andererseits merkte sie, dass Anbandelungen zurzeit nur verwirrend wären. Lumina hatte Recht, Rin dachte noch zu viel an die Vergangenheit.

Ihr Blick ging zur Seite, zu den Passanten, die nur unweit ihres Platzes durch die Stadt schlenderten - nichts Ungewöhnliches für einen Freitagnachmittag. Viele Gesichter verrieten, dass sie aus Nachbarstätten gekommen waren, um das Ereignis des Jahres nicht zu verpassen. Einige trugen DuelDiscs um ihre Handgelenke. Rin war sich sicher, dass viele davon nur eine Zurschaustellung waren und keinen wirklichen Duellanten auszeichneten. Aus purem Reflex ging ihre rechte Hand zu ihrem gegenüberliegenden Handgelenk. Das silberne Metall glühte durch die direkte Sonneneinstrahlung, ohne ihre Haut zu verbrennen.

"Rin Yamamori?", die fremde Stimme ließ sowohl sie als auch Yamato neben sich blicken. Ein junger Mann mit minzgrünem Haar sah zur ihr hinunter. Sein Blick war fest auf die junge Frau gerichtet, die sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und die Mundwinkel nach unten verzog. Ihr Gegenüber schien sich nicht daran zu stören und fuhr fort: "Du bist doch die Duellantin, die Ghost Kotsuzuka in fünf Runden platt gemacht hat."

"Der Typ war so gruselig wie meine Oma, wenn sie um Mitternacht ihren Toilettengang verrichtet", Rin verschränkte die Arme und musterte den Kerl.

Seine Haare sind länger geworden und seine hundert Geschwister rennen ihm nicht mehr hinterher, aber er ist es ganz bestimmt. Esper Roba. Profiduellant der ersten Liga.

"Ein Typ aus der zweiten Profiliga" sagte er, "die meisten von ihnen nehmen ihren Mund ein wenig zu voll." Sein Blick wurde eindringlicher, "mich würde interessieren, ob du auch so jemand bist."

"Ist dir klar, dass du mich mitten beim Essen gestört hast?", ihre Augen verdunkelten sich, dass das Grün einer Mosslandschaft glich. Sie spürte den Blick Yamatos. Er hatte sich bisher aus dem Geschehen herausgehalten, sie wusste aber, dass er sofort eingreifen würde, sobald Rin etwas in diese Richtung andeutete.

"Ich denke", entgegnete Esper Roba und schwang sein Haar nach hinten, "wenn unser Duell vorbei ist, wird dein Essen noch warm genug sein."

"Kann schon sein", lächelte Rin zurück. Sie lenkte ihren Blick zurück zu dem Schwarzhaarigen.

"Es tut mir leid, ich kann die Herausforderung nicht ablehnen." Yamato winkte lediglich ab.

"Schon in Ordnung, so etwas habe ich eingeplant. Außerdem will ich dich nicht an deiner Arbeit hindern."

"Bleib´ruhig sitzen", ihr Lächeln wurde schief, "ich bin gleich wieder da."
 

"Meine spirituellen Führer sagen mir, dass ich diese Karte spielen soll - Gehirnkontrolle", zwei krallenartige Hände erschienen auf Esper Robas Spielseite. Er selbst fasste sich an die Schläfe als steuerte er mit seinen Gedanken die Zauberkarte. Rin verleierte die Augen.

"Bist du endlich fertig mit deiner Hokus Pokus Show?" Daraufhin lachte der Grünhaarige sie an.

Dabei sollte ich ihn auslachen

"Das war erst der Anfang. Mit dieser netten Karte, kann ich mir ein Monster auf deiner Spielfeldseite aussuchen. Eigentlich spielt es überhaupt keine Rolle, welches deiner Drachenkreaturen ich für mein großes Werk erwähle." Er zeigte mit dem Finger auf ihren Kaiser-Gleiter. Die Krallenhände packten ihren goldenen Drachen und zerrten ihn aus ihrer Spielfeldseite.

"Verabschiede dich von deinem Monster. Denn ich opfere deinen Kaiser-Gleiter und erwecke ihn! Jinzo." Aus dem Boden trat das Maschinenmonster aufs Feld. Mit verschränkten Armen und einer Größe von über drei Metern überagte er seinen Beschwörer, dass er fast gänzlich untertauchte. Lediglich sein siegessicheres Grinsen war für Rin noch überdeutlich zu erkennen. Sie biss sich auf die Lippen. Vor ihr zerplatzte ihre Fallenkarte und landete auf den Friedhof. Zwei weitere ihrer Fallenkarten, die sie in den Händen hielt, waren ebenfalls nutzlos geworden.

"Jetzt bekommt mein Jinzo noch ein hübsches Zubehör", Esper Roba streckte seinen Arm aus und präsentierte seine Zauberkarte Verstärker. Mit deren Hilfe würde er - trotz Jinzos Effekt - in der Lage sein, Fallenkarten zu spielen. Die Zauberkarte setzte Jinzo seinen Helm auf, dass dessen Spieler getrost fort fuhr: "Ich lege noch diese verdeckte Karte aufs Feld. So, und jetzt Jinzo greife ihr Kaiserseepferd an!" Eine schwarze Energiekugel entlud sich aus Jinzos Händen und landete auf ihr Seeungeheuer, das zu tausenden kleinen perlmuttfarbenen Kristallen zersprang und siebenhundert ihrer Lebenspunkte mit sich in den Abgrund riss. Rin biss die Zähne zusammen. Sie mochte das Maschinenmonster - eigentlich.

"Damit ist mein Zug beendet. Verabschiede dich schon mal von deinen restlichen Lebenspunkten."

"Ich ziehe", raunte die junge Frau und zog Ring der Zerstörung. Mit Ring der Verteidigung war es ein super Kombinationszug, aber mit Jinzo auf dem Feld hatte sie keine Chance, sie zu spielen. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

"Ich spiele Melodie des erwachenden Drachen. Wenn ich eine Karte abwerfe, kann ich ein Monster von meinem Deck auf die Hand nehmen." Damit landete Ring der Zerstörung auf dem Kartenfriedhof und ersetzte ihn durch ihren weißen Nachtdrachen. SIe musste schleunigst einen Weg finden, ihr Monster aufs Feld zu rufen.

Ich habe kein Monster, dass ich opfern könnte. Außerdem brauche ich für den Weißen zwei Monster als Tribut. Denk`nach. Jinzo hat eine Power von 2400 Punkten. Außerdem ist er mit Verstärker ausgerüstet, dass ich auf Esper Robas verdeckte Karte, was bestimmt eine Falle ist, aufpassen muss. Mal sehen

"Ich rufe meinen Blizzarddrachen aufs Feld. Seine besondere Fähigkeit erlaubt es mir, ein Monster meines Gegners zu bestimmen und dieses bis zum Ende seines Zuges nicht angreifen zu lassen."

"Du zögerst dein nahendes Ende nur hinaus", entgegnete der Grünhaarige und blickte zu dem Publikum, dass sich um den Marktplatz versammelt und einen Kreis um Rin und Esper Roba gebildet hatte.

"Damit ist mein Zug beendet."

"Das hätte ich mir denken können", feixte Esper Roba, "meine spirituellen Führer geben mir die Kraft, deinen lahmen Versuch zunichte zu machen." Er holte den Goblin Angriffstrupp aufs Feld. Eine Karte mit 2300 ATK und nur vier Sternen. Sein einziger Schwachpunkt: Der Goblin Angriffstrupp wechselte nach seinem Kampf in den Verteidigungsmodus.

"Wenn Jinzo dich nicht angreifen kann", lachte der Grünhaarige, "dann machen dich diese Kreaturen fertig." Mit Axt und Knüppeln bewaffnet griff der Trupp ihren Drachen an. Erneut gingen mit ihm sechshundert ihrer Lebenpunkte. Rins Punktestand lag bei tausend. Einen Angriff von Jinzo würde sie nicht überstehen. Er legte eine zweite Karte aufs Feld, bevor er die Runde an sie weitergab. Rin zog eine Karte.

Bingo

"Die Spielstunde ist vorbei", rief sie ihm zu, "jetzt wird ernst gemacht. Ich aktiviere diese Zauberkarte. Sie nennt sich antike Regeln. Mit ihrer Hilfe kann ich ein Monster der Stufe fünf oder höher aufs Feld rufen, ohne dafür ein Monster opfern zu müssen. Die Zeit ist gekommen. Erhebe dich weißer Nachtdrache!" Mit einem Kreischen formte sich aus diamantfarbenem Licht die gewaltige Kreatur. Es schwang seine Flügel und flog hinab zu seinem Gebieter, dass er nur knapp über ihrem Kopf schwebte.

"Dann decke ich meine verdeckte Karte auf", rief Esper Roba, dass die Fallenkarte Metallwandler zum Vorschein kam, "mit dieser Karte rüste ich meinen Jinzo aus. Er bekommt nicht nur zusätzliche dreihundert Lebenspunkte dazu. Nein, es kommt noch besser: Sobald du ihn angreifst, bekommt er noch die Hälfte der Lebenspunkte deines Nachtdrachen. Du siehst, er ist unbesiegbar."

"Wer sagt, dass ich es auf dein Metallhirn abgesehen habe?", Rins Augen begannen zu funkeln. Esper Roba kniff die Augen zusammen: "Was soll das heißen?"

"Hast du vergessen, dass du noch ein weiteres Monster auf dem Feld hast?"

"Na und", schüttelte er mit dem Kopf, "der Goblin-Angriffstrupp befindet sich im Verteidigungsmodus. Es wäre reine Zeitverschwendung ihn anzugreifen."

"Willst du darauf wetten?"

"Was zum Teufel hast du vor?"

Rin streckte ihre linke Hand aus. "Es wird Zeit meine verdeckte Karte ins Spiel zu bringen."

"Fallenkarten können nicht gespielt werden."

"Niemand sagt etwas von einer Fallenkarte", die Karte deckte sich auf, rotes flammenartiges Licht breitete sich aus, "mach`Bekanntschaft mit meinem Elfenmeteoreinschlag. Wie ich deinem Gesicht entnehmen kann, hast du keine Ahnung, was sie kann. Scheinbar kennst du dich mit der ersten DuelMonsters-Kartengeneration nicht so gut aus. Also verrat ich es dir: Elfenmeteoeinschlag erlaubt es mir, ein Monster in Verteidigungsposition anzugreifen und dem Gegner trotzdem die Differenz zwischen meinen Angriffs- und deinen Verteidigungspunkten abzuziehen."

"Nein", starrte er sie mit leeren Augen an.

"Mann muss nicht sonderlich viel rechnen, nicht wahr? Schließlich hat dein Goblin Angriffstrupp überhaupt keine Verteidigungspunkte." Rin wandte sich ihrem Drachen zu, der bereits ungeduldig seiner Attacke entgegen fieberte: "Weißer Nachtdrache, greif seine Trolle an - mit Diamantenblitzattacke!"

"Nicht so schnell", konterte Esper Roba, "du scheinst ebenfalls vergessen zu haben, dass ich noch eine zweite verdeckte Karte habe, "Angriff annulieren! Sie stoppt den Angriff deines weißen Nachtdrachen."

"Ach wirklich", grinste Rin und beobachtete den Weißen, wie er seine Lichtkugel freisetzte und auf den Angriffstrupp zielte.

"Jinzo ist nicht der einzige, der Fallenkarte unwirksam machen lässt", höhnte Rin und beobachtete wie die restlichen zweitausend Lebenspunkte von Esper Roba zerstört wurden. Dieser schien noch immer nicht zu fassen, dass seine Verteidigung nutzlos war. Mit aufgerissenen Augen blickte er von seinem Jinzo und ihrem Nachtdrachen hin und her bis beide das Spielfeld verließen. Das Duell war beendet. Rin blickte gelassen zu ihrem Gegner, während das Publikum um sie herum zu jubeln begann. Die meisten von ihnen kannten sie oder ihren Namen nicht. Für Rin spielte es keine Rolle, der Sieg war das einzige was zählte. Sie schwang ihren Pferdeschwanz nach hinten und entgegnete: "Deine Duellfähigkeiten entsprechen deinen hellseherischen Kräften. Sag´Bescheid, wenn du gelernt hast, die Zukunft vorauszusagen. Vielleicht hast du dann eine Chance gegen mich zu gewinnen." Damit wandte sie sich ab und stolzierte zurück zu ihrem Sitzplatz. Auf dem Weg riefen ihr ein paar der Leute Glückwünsche hinterher, einige fragten sogar nach einem Autogramm, womit die junge Frau konterte: "Erst wenn ich in den Top dreißig bin."

"Rin, das war-" suchte Yamato nach den richtigen Worten als sie sich auf ihrem Stuhl niederließ und sich dem Rest ihres Tellers widmete.

"Ja, ich weiß", versuchte Rin ein entschuldigendes Gesicht aufzusetzen, "das ist meine Art beim Duellieren. Ich hoffe, du findest mich jetzt nicht furchtbar."

"Ich wollte eher sagen, dass es ganz schön...scharf war." Rin wurde rot im Gesicht.

"Ich habe mich wie ein Großkotz benommen."

"Ein scharfer Großkotz." Daraufhin musste Rin lachen. Aus dieser Perspektive hatte sie es noch gar nicht betrachtet. Vielleicht sollte sie sich diese Mischung zunutze machen.

Als der Chef der Kaiba Corporation aus dem Fenster seiner Limousine sah, meldete sich bereits eine Gewitterfront an. Dunkle Wolken näherten sich der Innenstadt Domino-Citys, dass es nicht mehr lange dauern würde bis der Himmel gänzlich in Schwarz getunkt wurde. Mit einer ruckartigen Bewegung hielt der Wagen direkt vor dem Eingang seiner Firma, dass er nur aus dem Limousine steigen musste und in wenigen Schritten das Gebäude betrat. Neben ihm lief sein kleiner Bruder, der ihm mit jedem Tag weniger klein vorkam. Würde Mokuba seine Frisur nur mehr im Zaum halten, würde er weitaus reifer als seinem Alter entsprechend aussehen. Mit einem tiefen Seufzer schwang der Schwarzhaarige einen der Firmenkoffer über die Schulter.

"Ich hasse Montage."

"Das ist nicht zu übersehen", erwiderte der Ältere und deutete auf die große Digitaluhr, welche direkt über dem Empfangstresen im Erdgeschoss hing. Kaiba war bereits spät dran. Normalerweise konnte er es nicht leiden, so spät in der Firma zu sein. Er hatte eine Ausnahme gemacht, da Mokubas Argumentation nichts anderes zuließ. Sie hatten eine Abmachung: Mindestens vier gemeinsame Abendessen und zwei Fahrten in die Firma. Für Kaiba bedeutete dies, Zeit in seiner Firma einzubüßen. Manchmal steckte er so tief in Arbeit, dass er alles um sich herum vergaß - einschließlich Mokuba, wofür ihn sein kleiner Bruder böse sein könnte. Doch der Schwarzhaarige blieb ruhig, weshalb es ihm nicht schwer fiel, der Vereinbarung, die sie vor gut acht Jahren getroffen hatten, nachzukommen. Der Blick des Älteren verfinsterte sich. Die Halle des Firmengebäudes war gut gefüllt. Mitarbeiter wuselten herum als hätten sie nichts besseres zu tun als sich im Eingangsbereich aufzuhalten und Däumchen zu drehen. Sobald jemand sein Sichtfelt kreuzte, spürte der junge Firmenchef die Wirkung seines Auftritts. Dabei lief er relativ entspannt (wobei entspannt bei Seto Kaiba eine andere Bedeutung hatte als bei der restlichen Bevölkerung).

"Gibt es schon Neuigkeiten bezüglich Dartz`Handlangern?", fragte Kaiba, wobei er sich die Antwort schon denken konnte.

"Nicht wirklich", entgegnete sein Bruder und schüttelte seine wilde Mähne, "bisher gab es keine weiteren Vorkommnisse. Sie scheinen sich jetzt ganz auf die nächste Runde zu konzentrieren." Dabei sah er auf die Tabelle mit den Spitzenplatzierungen. Die Liste war auf die Top fünfzig erweitert worden, dass ein genauer Überblick der künftigen Endgegner sichtbar wurde. Weit vorne, unter den top zehn genauer gesagt, stand ein Name - Hii Yuta. Ein Neuling, der erst seit einem halben Jahr für Paradius Inc. arbeitete und scheinbar frisch von Dartz entdeckt und gefördert wurde. Soweit es Kaiba mitverfolgen konnte, holte sich der Firmeninhaber von Paradius seine Leute gerne aus den dunkelsten Ecken des Landes. Seine Spieler stammten meist aus erbärmlichen Verhältnissen - verwahrloste Waisen, Kinder aus den Gossen, Kriegsopfer oder schlimmeres. Die Liste an tragischen Vergangenheiten war lang und führte jedes Mal in den tiefsten Untergrund. Für Kaiba nichts Erstaunliches. Konnte er sich gut vorstellen, dass diese Kinder leichte Beute für Manipulationen und Gehirnwäsche waren. Sobald ihnen die Hand gereicht wurde, wären sie zu allem bereit. Normalerweise interessierte es den jungen Firmenchef wenig, was seine Konkurrenz trieb und wie sie ihre Firma führte. Paradius Inc. war aber keine gewöhnliche Firma. Es gab zu wenig Informationen, zu wenig Kontrolle von Außen, dass sie im Hintergrund zu einer Belastung werden könnte. Und wenn Kaiba eines hasste, dann nicht die Kontrolle über das gesamte Geschehen behalten zu können. Schon gar nicht, wenn jemand seine Firma in irgendwelche irrwitzige Weltvorstellungen mit hinein zog.

"Mokuba", Kaiba blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Dabei sah er auf die Anzeigetafel und fixierte den Namen des jungen Talents. "Kümmere dich darum, dass unsere Männer ein paar Informationen zu diesem Burschen beschaffen. Es ist sicher, dass er es in die Rooftop-Battles schafft. Wir sollten ihnen keinen Raum für böse Überraschungen bieten. Der Vorfall von neulich soll sich nicht wiederholen."

"Wird erledigt, Seto", lächelte Mokuba voller Entschlossenheit, "ich werde ihnen nachher die nötigen Anweisungen erteilen."

"Wenn nichts dazwischen kommt", Kaiba durchflog die Platzierungen und deren Punktestände, "wird Yoshihiko Taba uns in der nächsten Runde vertreten. Wir sollten Maßnahmen ergreifen, falls unsere Firma auf die von Dartz`trifft."

"Na schön", grummelte Mokuba, "aber ich kann den Kerl trotzdem nicht ausstehen."

"Sympathie spielt keine Rolle. Er hat genug Anhänger und er spielt passabel."

"Seine Fanbase hat er doch nur, weil er für uns arbeitest", murrte der Jüngere und nickte in Richtung Anzeigetafel, "seine Fans sind Fans unserer Firma. Wir könnten vermutlich jeden x-beliebigen aufstellen und sie würden ihm genauso zujubeln wie Yoshi." Kaiba wusste, dass sein Bruder recht hatte, aber das war irrelevant, solange seine Spieler ihren Job erfüllten, war es Kaiba egal, wen sie für die Firma hinstellten.

"Sobald sein Platz sicher ist", fuhr der Jüngere fort, "wird er bis zur nächsten Runde keinen Finger krümmen. Wirst du sehen. Da wünschte ich mir, dass es Rin noch in die top dreißig schaffst."

"Wohl eher unwahrscheinlich", erwiderte Kaiba stoisch.

"Sie ist auf Platz achtundvierzig, so unwahrscheinlich finde ich es nicht. Schließlich hätte auch niemand geglaubt, dass sie es überhaupt unter die besten hundert schafft. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie verbissen sie ihren Job nimmt. Das erinnerte mich an die guten alten Zeiten." Dabei huschte ein leichtes Grinsen über sein von Natur aus fröhliches Gesicht, dass Kaiba dem nichts hinzuzufügen hatte. Es stimmte, dass Yamamori ehrgeiziger als der Rest seines Teams war. Geradezu beiläufig hatte sie ihre beiden anderen Mitstreiter überholt und steuerte die Bestenliste im Dauermarthon an. Es hatte ihm keinen Zacken in der Krone gebrochen als er ihrer Gehaltsanpassung zugestimmt hatte. Nicht nur, dass Senjin ein arroganter Trottel war, der selbst den offensichtlichsten Formfehler nicht erkannte. Zudem war das Gehalt eines Duellanten der dritten Profiliga immer noch keine nennenswerte Summe, wofür es sich zu diskutieren lohnte. Es hatte ihn eher verärgert, dass Senjin seine Firma so dargestellt hatte, als unterschlage sie jeden Cent. Natürlich galt es, nicht verschwenderisch zu sein, aber nicht auf diese Weise. Es warf ein schlechtes Licht auf die Kaiba Corporation und während des Worldcups wollte er keinen vermeidbaren Aufruhr erzeugen.

"Bis zum Ende der Battle-City-Turniere bleibt noch knapp eine Woche", Kaiba wandte sich von der Anzeigetafel ab,"die Top dreißig stehen fest, ihre Platzierung wird sich noch etwas verschieben, aber die Namen werden dieselben bleiben. Sie muss schon die Regeln aus den Angeln reißen, um etwas bewirken zu können."

Eigentlich ein spannender Gedanke. Ich frage mich-

"Apropo", lächelte der Jüngere und hob seinen Arm zum Gruß. Aus dem Augenwinkel machte er die junge Frau aus, die gerade aus den Schließfachräumlichkeiten herausgetreten war. Ihre Augen sahen zu dem winkenden Arm Mokubas, woraufhin sie sich ihm näherte.

"Wartest du kurz, Seto? Ich muss nur schnell was abgeben", ohne eine Antwort abzuwarten, ging der Schwarzhaarige ein paar Schritte auf sie zu und begrüßte sie. Mokubas Handeln war so schnell, dass Kaiba keine Ausweichmöglichkeiten hatten und einfach hinter seinem Bruder stehen blieb.

"Gut, dass ich dich sehe", die Stimme des Schwarzhaarigen war fröhlich und unbeschwert. Kaiba wusste, dass sein Bruder das exakte Gegenteil von ihm war. Der Jüngere schloss schnell Freundschaften und war von Grund auf herzlich und gutmütig. Die Jahre als fester Bestandteil seiner Firma hatten ihn nur reifer werden lassen, dass er nicht mehr jedem blindlings traute. Seine naive, blauäugige Art hatte sich im Laufe des Teenageralters auch gelegt, dass Kaiba in der Hinsicht nichts mehr zu befürchten hatte, was in irgendeine Weise Mokuba negativ beeinflussen könnte. Auch wenn sein fröhliches Naturell nichts Ungewöhnliches war, sah er es doch selten in seiner Firma. Die junge Frau erwiderte seine fröhliche Stimmung mit einem sanften Lächeln, dass Mokuba den Koffer von der Schulter nahm und ihr vor die Nase hielt: "Ich weiß, das kommt etwas verspätet, aber wir hatten letzte Woche noch ein paar Updates und ein paar Aktualisierungen mussten vorgenommen werden, dass es Schwachsinn gewesen wäre, es dir vorher zu überreichen."

"Du meinst, den VR Helm für die Home-Cyberduelle?", sie legte den Kopf schief und musterte den Koffer. Dabei drang ganz schwach der Duft von Chlor zu ihm durch. Yamamori musste die Schwimmhallen der Kaiba Corporation genutzt haben. Das verriet auch der provisorisch zusammengeknotete Zopf, aus dem ein paar lose Strähne entschwanden und über ihre Wange liefen. Als hätte sie seine Gedanken gehört, zupfte sie an einer hellen Strähne und klemmte sie sich hinters Ohr: "Mokuba", Rin schüttelte den Kopf, "diese Helme sind nicht gerade für meinen Laptop mit 2x2.60 Gigahertz geeignet."

"Das ist kein Problem" entgegnete der Schwarzhaarige und klopfte auf die Außenseite des Koffers, "hier ist alles drin, was du brauchst - inklusive Rechner." Daraufhin sah sie ihn mit großen Augen an. Ihren Gesichtsausdruck zu urteilen, war sie mit dem zur Verfügung gestellten Equipment überfordert. Kaiba konnte sich ein halbherziges Lächeln nicht verkneifen: "Das sind nur Leihexemplare, die bekommt jeder Spieler. Sie brauchen also kein schlechtes Gewissen zu haben." Ihr Blick huschte hinauf zu ihm. Ihr Mund bewegte sich leicht, ohne dass ein Ton aus ihm entsprang. Scheinbar hatte sie sich in letzter Sekunde gegen einen Kommentar entschieden und nahm stattdessen den Koffer in Empfang, der sich für sie schwerer anfühlen musste als sie zuvor erwartet hatte. Es war eine Abwechslung, die junge Frau durcheinander zu bringen, wo sie es in den letzten Wochen gut hinbekommen hatte, ihre anfängliche Unsicherheit abzuschütteln. Der Wandel war selbst für den vielbeschäftigten Firmenchef nicht zu übersehen gewesen. Die paar Male, in denen er sie im KaibaCorp. Café zu Gesicht bekommen hatte, zeigten ihm die fortschreitenden Veränderung. Aus Mokubas Erzählung wusste er, dass Rin Yamamori unerschrocken gegenüber ihrer Gegner war. Die fortlaufende Siegerreihe hatten an ihrem Selbstbewusstsein abgefärbt, das sah man an ihrem standfesten Blick, an dem selbst Kaiba nicht vorbeikam. Als eine der wenigen, die nicht bei bloßem Augenkontakt mit ihm zusammenzuckte, unterschied sie sich von allen anderen, insbesondere den Frauen, mit denen er bisher zutun gehabt hatte. Er war es gewohnt, die volle Aufmerksamkeit zu erlangen, bereits bei der kleinsten Andeutung. Dass sie sich scheinbar bemühte, ihn bestmöglichst zu ignorieren, löste etwas Neues in dem jungen Firmenchef aus, dass er noch nicht so richtig zuzuordnen wusste. Einerseits gefiel ihm ihre zurückhaltende Art, mit der sie niemanden belästigen konnte. Andererseits störte es ihn, dass sie seine eisigen Blicke so gut es ging mied. Vielleicht deshalb kam er nicht umhin, das ein oder andere Mal das Schweigen zu brechen, das er von allen Konversationen am meisten bevorzugte.

"Danke", murmelte die junge Frau, noch immer hin und her gerissen, wohin die Augen blicken sollten.

"Vielleicht", grinste sie der Jüngere der Kaiba Brüder an, welcher nichts von Seto Kaibas fixen Blick mitbekommen hatte, "hilft es dir für den letzten Sprung in die top dreißig." Ihre Miene verfinsterte sich.

"Langsam wird es schwierig die richtigen Gegner zu finden."

"Es gibt bestimmt noch Duellanten, gegen die du noch nicht gespielt hast." Ihre Augen wanderten zu dem Koffer.

"Ja", sie zwang sich zu einem müden Lächeln, "Duellanten aus der ersten Profiliga und die Champions, die ich nicht herausfordern darf." Sie biss sich auf die Lippen. Verständlich, dass sie von den Regeln genervt war. Gegen einen Spieler aus einem der zwei besten Ligen wäre es vielleicht sogar möglich, unter die Top dreißig zu kommen.

"Dann", erhob Kaiba seine Stimme, dass selbst Mokuba sich zu ihm umdrehte, "lassen Sie sich etwas einfallen. Ich bin mir sicher, dass Sie clever genug sind, dagegen etwas zu unternehmen. Komm`Mokuba, es wird Zeit", darauf hin schritt er voran, während seine Augen beiläufig über ihren Körper wanderten und er feststellen musste, dass sie wirklich lange Beine hatte, die sie gut in den Fokus zu setzen wusste.

Wie konnte ein Mantel nur ohne jegliche Windzufuhr so nach hinten wehen? Rin konnte nicht anders als den beiden Kaiba Brüdern kurz hinterher zu sehen und dabei festzustellen, dass dem Jüngeren einen ganzen Kopf fehlte bis er an den Firnemchef heranreichte. Bevor sie sich ihrer eigenen intensiven Blicke bewusst wurde, lenkte sie ihren Kopf mitsamt Gedanken in andere Richtungen. Nicht, dass sie noch jemand dabei erwischte und die Situation falsch deutete. Mit letzter Macht konzentrierte sie sich darauf, nicht rot zu werden und stattdessen über das Gesagte nachzudenken. Mit gemächligen Schritten lief sie zum Ausgang und musste feststellen, dass ihr Boss wieder einmal recht hatte: Sie musste sich etwas einfallen lassen. Nur wie? Sie hatte etwas über eine Woche Zeit, in die Topliste aufzusteigen. Die Zeit raste, schneller als sonst. Schon in den letzten Tagen war es schwieriger geworden, würdige Gegner aufzutreiben. Hobbyduellanten hatte sie von ihrer Liste gestrichen, mit ihnen hatte sie sich genug duelliert, dass es für die letzten zehn Tage reine Zeitverschwendung wäre, sich mit ihnen zu befassen. Zudem hatten sie bereits genug Jugendliche und Universitätsstudenten herausgefordert, dass nicht mehr viele übrig geblieben waren. Die Amateurliga war auch nicht mehr zu gebrauchen. Nach zahlreichen niederschmetternden Siegen war die Gegnerzahl stark gesunken. Die meisten von ihnen mieden so gut es ging die junge Frau, die sich nach Hanabi und Kims Niederlage einen gewissen Ruf in der Untergrundszene geschaffen hatte. Bei dem Gedanken durchfuhr sie eine leichte Gänsehaut. Sie dachte an die Nacht zurück, die unheimlich dreinblickenden Gestalten, die sich von ihr beleidigt gefühlt hatten, obwohl sie nur ihren Job getan hatte. Nun wusste sie auch, wer sie damals hinters Licht geführt hatte: Hii Yuta

Dieser-

"Na." Kaum war sie aus dem Gebäude getreten begegnete ihr das selbstgefällige Grinsen Yoshihiko Tabas. Dieser lehnte an der Hauswand und rauchte genüsslich seine Zigarette, während der Rauch direkt in ihr Gesicht wehte, dass sie sich augenblicklich versteifte und genervt in seine Augen blickte, die hinter zwei tiefen dunklen Gläsern verborgen waren, dass der Profiduellant um einiges arroganter und selbstverliebter wirkte.

"Ich wusste gar nicht, dass du hier noch gebraucht wirst", sagte er schief grinsend und schmiss den Stummel auf den Boden. Rin verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete: "Noch ist das Turnier nicht vorbei. Und ich verspreche dir, dass wir uns noch oft genug sehen werden."

"Ha", Yoshi fuhr sich durch sein gestyltes Haar, das wild in alle Richtungen zeigte, "die Ergebnisse stehen längst fest. Was willst du schon in ein paar Tagen ausrichten? Ich meine, sicher, du könntest mal im Themenpark vorbeischauen und ein paar Duellanten herausfordern. Aber Moment mal, das geht ja gar nicht. Du bist ja nur ein Amateur."

"Meinst du", knirschte sie mit den Zähnen und ballte die freie Hand zur Faust. Zu gerne würde sie ihm zeigen, wer sie wirklich war und dass sie so jemanden wie ihn mit Leichtigkeit platt machen könnte. Yoshi legte den Kopf schief und schien dasselbe zu denken. Er deutete auf seine DuelDisc als wäre sie nicht das exakte Abbild ihrer eigenen.

"Zu schade, dass ich nicht gegen Anfänger spiele. Es wäre viel zu einfach und unter meiner Würde."

"Für deine mittelmäßige Spielerbilanz hast du eine ganz schön große Klappe", grinste sie ihn an, noch immer gewillt, ihre DuelDisc auszufahren.

"Wenn ich gegen Kleinkinder und Looser antreten würde, hätte ich vielleicht auch so eine Quote. Ich duellier´ mich aber gegen richtige Gegner." Damit winkte er ab und lief zu der Drehtür, dass Rin ein paar tiefe Atemzüge tätigen musste, bevor sie sich halbwegs beruhigt hatte. Ihr Herzschlag ging schnell, das Blut kochte. Schon allein wegen Kerlen wie ihm musste sie es in die Top dreißig schaffen. Ihre Gesichter zu sehen, wie ihnen sämtliche Gesichtsfärbe entwich. Danach sehnte sich die junge Frau, die nun zielstrebig das Café ansteuerte und einen großen Becher Kaffee mitsamt Vollkornsandwich für unterwegs bestellte. Makoto grinste sie schief an als sie das hochgerötete Gesicht erblickte: "Wem bist du denn über den Weg gelaufen."

"Nur einem Riesenidioten", zischte Rin und kramte aus ihrer Jackentasche das Kleingeld heraus.

"Wirklich?", sie stellte den Becher auf den Tresen und sah zu dem Koffer hinunter, den Rin wie einen Reisekoffer trug. Was hatte ihr Mokuba da eigentlich alles mitgegeben? Nach dem Gewicht zu urteilen musste sich dort ein Rechner aus dem letzten Jahrhundert befinden. Mit diesem Ding konnte sie unmöglich den ganzen Tag herumlaufen.

"Ärger`mit dem Boss?", grinste Makoto auf einmal, dass Rin kurz überlegen musste, bevor sie mit dem Kopf schüttelte.

"Achso! Nein, mit dem Koffer hat das nichts zu tun. Ich bin nur gerade meinem >Kollegen< über den Weg gelaufen und musste mich zusammenreißen, mich nicht wie ein Straßenkind aufzuführen."

"Du meinst Yoshi?", Makoto begann das Sandwich frisch zu belegen, "der Typ ist in den Top dreißig nicht wahr."

"Erinnere mich bitte nicht daran", Rin fasste sich an die Schläfe und versuchte das Pochen darin einzustellen.

"Aber bei dir sieht es doch auch nicht schlecht aus", meinte die Braunhaarige und zeigte auf die aufgestellte Anzeigetafel. Relativ weit unten fand sich die junge Frau. Trotz der wenigen Punkte, die sie von Platz dreißig trennte, fühlte sich die Spitzenplatzierung wie in weiter Ferne an.

Wer ist überhaupt auf den letzten Topplätzen?

Ihr Blick huschte zu drei Namen. Dinosaur Ryuzaki, Tobi Kirozu und Insector Haga.

Wenn ich einen von ihnen herausfordern könnte. Ryuzaki ist in der Championsliga, genau wie Haga. Tobi spielt, wenn mich nicht alles täuscht für Noa Kaiba und ist in der ersten Profiliga. Also alles Spieler, deren Siege mir bis zu zehn Punkte bringen könnten. Ich muss sie nur dazu bringen, sich mit mir zu duellieren.

"Rin?", stupste sie Makoto an, dass die junge Frau zusammenzuckte und sich zu ihr umdrehte, "dein Sandwich ist fertig." Ihre Gedanken sammelnd, nickte Rin und nahm ihre Bestellungen entgegen, während sie mit dem Koffer in ihrer Hand herumzuexperimentieren begann, wie sie alles tragen konnte, ohne eine Riesensauerei zu veranstalten. Mit akrobatischen Künsten, die weniger die Grazie eines Artisten aufwiesen, bekam sie es irgendwie hin, ihre Mahlzeiten sicher aus dem Café zu balancieren. Als nächstes galt es diesen Koffer aus dem Weg zu räumen. Nach Hause konnte sie nicht gehen, die Fahrt dorthin würde zu viel Zeit fressen. Sie musste noch ein paar Duelle bestreiten und pünktlich um siebzehn Uhr in der Innenstadt aufkreuzen. Gestern Abend hatte sie eine Mail erhalten, worin sie zu einem Fototermin eingeladen worden war. Sofern es Rin in die nächste Runde schaffen würde, hinge ihr Cover mitsamt ihrer Konkurrenten vor dem Kaiba-Land-Stadion; dort wo die finalen Spiele stattfanden. Sie hatte Gänsehaut bekommen als sie eine Einladung erhalten hatte, um gleich darauf wieder feststellen zu müssen, dass dies nur routinemäßig geschah und nicht wirklich bedeutete, dass jemand daran glaubte, dass sie es in die Top dreißig schaffte.

Was hat Seto Kaiba noch einmal gesagt

Er hielt sie für clever? Hatte er sie auf den Arm genommen oder meinte er es auch so? Sie konnte ihn nicht gut genug einschätzen, um aus seinen Sprechweisen Zynismus oder Ernsthaftigkeit unterscheiden zu können. Die wenigen Worte, die sie miteinander wechselten, brachten sie ohnehin schon aus der Fassung, dass sie nicht die Zeit hatte, auch noch darüber nachzudenken. Vorsichtig nahm sie einen Schluck Kaffee, während der Koffer zwischen Zeige- und Mittelfinger steckte und diese zu zerreißen drohte. Rin seufzte und stellte sich vor die Bushaltestelle. Die kürzeste Alternative wäre die Domino-City-Universität. Wenn sie sich richtig entsinnte, müsste Lumina heute zwei Vormittagsvorlesungen besuchen. Ihre Freundin war mit dem Moped unterwegs, das eine ziemlich nützliche Gepäckablage besaß. Rin musste grinsen. Lumina würde im Dreieck springen, wenn sie wüsste, was sich im Koffer befand. Die Schwarzhaarige wollte schon immer die grafischen Vorzüge eines VR-Helmes ausprobieren, bei dem nicht nur das Sehvermögen ausgetrickst wurde, sondern auch alle anderen Sinnesorgane. Als sie vor zwei Jahren in einer Spielhalle darauf gestoßen waren, hatte es sich für Rin wie ein Schlag ins Gesicht angefühlt als sie nach einer halben Stunde das Gerät von ihrem Kopf genommen hatte. Damals war ihr Körper nicht auf diese Vielzahl an vorgegaukelten Eindrücken gewöhnt. Jetzt kam es ihr beinahe lächerlich vor, wie begeistert sie gewesen war. Die Trainingseinheiten der Kaiba Corporation waren um ein Vielfaches anspruchsvoller und grafisch weit von dem entfernt, was zu dieser Zeit noch als fortschrittlich gegolten hatte. Die virtuellen Simulationen in der Trainingshalle verlangten viel mehr geistiges Denken und Konzentration ohne den Anwender all zu stark physisch zu belasten. Zwar fühlte sie sich nach dem Training etwas ausgelaugt und müde, doch nach einem starken Becher Kaffee war auch dieses Gefühl in den Griff zu bekommen.

Der Bus hielt direkt vor ihr und Rin schlüpfte in den überfüllten Wagen.

Na prima

Mit einem kräftigen Zug leere sie ihren Becher, bevor der Bus ins Rollen kam. Von den Seiten spürte sie Blicke, die sie interessiert musterten. Manche begutachteten ihr Armband, andere ihre DuelDisc. Einige tauschten sich flüsternd aus und meinten, die junge Frau schon einmal gesehen zu haben. In letzter Zeit passierte es öfter, dass sie auf der Straße angestarrt wurde. Anfangs hatte sie es für einen blöden Scherz gehalten, bis sie jemand direkt angesprochen und gefragt hatte, ob sie Rin Yamamori, die Duellantin der Kaiba Corporation, wäre. So etwas war völlig neu für sie. Dabei fühlte sich die junge Frau noch nicht wie jemand, der erkannt werden musste. Sie versuchte das Gemurmel und die Blicke zu ignorieren und konzentrierte sich darauf, sich die Schmerzen im Arm nicht anmerken zu lassen.

Ehrlich jetzt. Sind da Steine im Koffer?

Der Bus hielt direkt vor dem Universitätsgelände. Rin sprang aus der Tür und lief in zügigen Schritten zu den zwei schweren Eingangspforten, die zu dem Auditorium führten. Ihre Augen wanderten hinauf zu der großen Turmuhr. In fünf Minuten musste die Vorlesung beendet sein. Flüchtig erkundete sie das Geländer, welches sie vor vier Jahren das letzte Mal betreten hatte. Sie klopfte sich gedanklich auf die Schulter, dass sie bei ihrem Orientierungssinn überhaupt noch wusste, wo sich der Vorlesungssaal befand. Hin und wieder lief ein Student an ihr vorbei und ließ aus dem Augenwinkel erkennen, dass Rin hier völlig fehl am Platz war. Trotzdem riss sie sich zusammen, um nicht in ihr altes Muster der Zurückhaltung zu fallen und nutzte ihr auffälliges Auftreten, dass sie als das erkannt wurde, was sie war.

Das dröhnende Läuten, das sie stark an das ihrer Schule erinnerte, beendete die Vorlesung, dass Rin geradewegs auf die offene Tür zusteuerte, aus der die ersten Studenten hinaustraten. Wieder wurde sie angesehen, erneut fingen Leute von der Seite an zu tuscheln. Zum Glück erblickte sie ihre Freundin auf einem der hinteren Plätze. Sie hatte ein Buch aufgeschlagen, vermutlich ein Fantasy-Roman ihres Lieblingsautoren. Demonstrativ stellte sie sich vor Luminas Pult und knallte den Koffer vor ihre Nase. Wie aus einer Trance erwachend hob Lumina ihren Kopf. Eine Augenbraue schoss in die Höhe: "Oh bitte", ihre Augen starrten auf den silbernen Koffer mit den zwei großen Buchstaben, "nimm`meine seltenste Karte, aber verschone meine Seele!" Dabei warf sie ihren Studentenausweis in ihre Richtung, dass Rin nur mit dem Kopf schüttelte.

"Du würdest dich nicht mehr darüber lustig machen, wenn du wüsstest, was sich hier drin befindet."

"Seto Kaibas Kopf?"

"Nein", murrte Rin und klopfte auf das Metall, "Lust auf ein virtuelles Duell?"

"Du meinst", Lumina riss die Augen auf und klappte ihr Buch zu.

"Ganz genau. Gerade frisch eingetroffen. Und du hast die ehrenvolle Aufgabe, das Baby hier nach Hause zu bringen."

"Konnte ich mir doch denken, dass es einen Grund gibt, warum du dich hierher bewegst", grinste Lumina schief und beäugte den Koffer als könnten ihre Augen durch das Metall blicken, "bei dir wird es doch heute wieder spät werden oder? Dann hast du bestimmt nichts dagegen, wenn ich das nette Ding für dich anschließe."

"Tu' dir keinen Zwang an", murmelte Rin und spürte immer intensiver die Blicke der Studenten, "warum starren mich alle so an", fragte sie und beugte sich etwas näher zu Lumina herunter. Diese sah zur ihren Kommilitonen und entgegnete: "Sie erkennen dich wieder. Ich hab dir doch neulich erzählt, dass ich deine Duelle im Internet gefunden habe. Tja, damit scheine ich nicht die einzige zu sein. Letzte Woche lief auf der Leinwand ein Liveduell von dir und diesem Typen, der für Ryuji Otogi arbeitet."

"Und davon erzählst du mir erst jetzt?", Rin hatte nicht gewusst, dass ihre Duelle live angesehen werden konnten. Sie war bereits davon fasziniert gewesen, dass man sie als Duellantin im Internet finden konnte.

"War sehr...spannend anzusehen", schmunzelte Lumina, "wie du auf der Achterbahn dein Gleichgewicht gesucht hast-"

"Jaja", wollte Rin nicht mehr an das letzte Duell zurück denken, bei dem sie gedacht hatte, jeden Moment abzustürzen. Trotz der Sicherheitsseile um ihre Hüften war ihr der Ritt nicht geheuer gewesen.

"Hey, Lumi", hörte sie aus dem Ende des Saals eine männliche Stimme rufen, dass sich beide Frauen zu ihm umdrehten, "fragst du deine Freundin, ob sie mal mit mir ausgeht?" Jeder drehte sich zu der jungen Frau um, die sich aufrichtete und ein schiefes Lächeln aufsetzte, von dem nur Lumina wusste, dass es gespielt war: "Ich? Mit dir ausgehen? Ich wüsste kein Universum, in dem das im Bereich des Möglichen wäre." Daraufhin lachte eine Gruppe von angehenden Sprachwissenschaftlern, dass der junge Mann sein Gesicht verzog und sich zu seiner eigenen Gruppe umdrehte. Früher hätte sie nicht so reagiert, eher im Gegenteil: Ihren ersten festen Freund hatte sie auf eine ähnliche Weise kennengelernt als sie auf einem Kendoturnier unterwegs war und Lumina von einem aus der gegnerischen Mannschaftsklasse angesprochen worden war. Rin hatte ihren hochroten Kopf unter ihrem Helm verstecken können und ihrer Freundin die Erlaubnis gegeben, ihm ihre Nummer zu geben.

Wie sich Dinge ändern können

Sie musste schmunzeln. Diese Art passte so gar nicht zum Erwartungsbild, von dem sie im Laufe der Jahre geglaubt hatte, dass sie wirklich so war. Die Rolle der Profispielerin gefiel ihr da weitaus besser. Sie fuhr mit den Fingern über den wilden Zopf. "Ich denke, du musst mir bald einen Gefallen tun."

Lumina spielte mit den Fingern an der Zigarette, die sie sich frisch aus der Tasche ihres Sweatshirts geholt hatte.

"Wenn du so sprichst, kann es nur etwas total Verrücktes sein."

"Das werden wir noch sehen. Es kann nur passieren, dass einer deiner Träume bald wahr wird", ihr Lächeln ließ die Augen gefährlich aufblitzen, "was hasst du noch mehr als die Kaiba Corporation?"

"Insekten", Lumina schüttelte sich, bevor sie den Strohhalm mit Zeige- und Mittelfinger einklemmte und die schaumig süße Flüssigkeit zwischen ihren Lippen einfing. Die Milchshakes im Themenpark waren nicht so gut wie die in der Innenstadt, aber für die junge Duellantin und deren Begleitung umsonst, dass auch ihre beste Freundin nicht widerstehen konnte und ein Getränk nach dem nächsten bestellt wurde. Mit einem einzigen Zug war das hohe Glas um ein viertel geleert.

"Ich kann nicht glauben, dass du recht hattest. Haga ist einer der Letzten, deren Duelle ich mir reinziehen wollte." Erneut durchzuckte sie ein Schaudern zutiefster Anwiderung.

Seit gestern stand Platz dreißig der Topcharts fest - Insector Haga bildete das Schlusslicht der Spitzenplatzierung. Aber immerhin würde er dabei sein. Rin zerknüllte die Karte des Themenparks und blickte ungeduldig auf ihr Smartphone.

"Wenn ich mit ihm fertig bin", entgegnete Rin, "wirst du deine Angst vor Spinnen überwunden haben."

"Vorausgesetzt wir finden diese kleine Made", fügte Lumina hinzu und sprach Rins derzeitige Sorge aus. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah hinauf in den Himmel. Mit verschränkten Armen, dass nur leicht das Metallband um ihr Handgelenk zum Vorschein kam betrachtete sie die hochstehende Sonne. Heute war ein wundervoller Tag. Sonnenschein pur, keine Wolke am Himmel und angenehme fünfundzwanzig Grad. Rin war neben kleinen zierlichen Großmütterchen und einigen blassen Nerds die einzige, die noch eine Jacke trug. Ihren linken Arm zu verbergen gehörte mit zu ihrem Plan, den sie - so musste sie leider feststellen - nicht aus allen Blickwinkeln betrachtet hatte. Sie hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, wo er sich aufhielt. Rin war sich sicher gewesen, den kleinen grünhaarigen Wicht im Themenpark vorzufinden. Dort, wo ab sechzehn Uhr alle Duellanten, die in die nächste Runde kamen, auftauchen würden. Ab vier Uhr Nachmittag wäre es längst zu spät für die junge Frau, die noch vor Ablauf der Frist ihr Duell bestreiten musste. Nicht umsonst hatte sie die letzten anderthalb Wochen unentwegt darum gekämpft, dass sie nur noch wenige Punkte von der Nummer dreißig entfernt war. Um Haga zu überholen, brauchte Rin nur noch acht Punkte. Mit einem Sieg über ihn, der ihr zehn Punkte einbrachte, wäre sie bei den Rooftop-Battles dabei. Ihr Herz begann zu hüpfen, während gleichzeitig ihr Magen holperte, dass sie sich am liebsten in der nächstbesten Ecke übergeben hätte.

"Er muss hier sein", murmelte Rin und suchte mit ihren stechenden Augen die Umgebung ab. Neben Statuen des weißen Drachen und drei protzigen Arenen, die allein den Hochrangigen vorbestimmt war, gab es auch einige Attraktionen für Nichtduellanten. Aus der Ferne kam ihr der vertraute Anblick der roten Riesenachterbahn entgegen. Weiter westlich stand eine Eislaufbahn, die selbst in den Sommermonaten in Betrieb war und lediglich von einem Halbdach geschützt wurde, dass Rin sich fragte, wie viel Geld für entsprechende Klimaanlagen ausgegeben werden musste. Daneben befanden sich ein Souvenirladen und ein kleines Museum über die Geschichte von DuelMonsters. Nicht unweit ihres Platzes (sie saßen im Zentrum des Themenpark, umringt von Blumenbeeten und einem aufragenden weißen Drachen aus Marmor) waren blau-weiße Sonnenschirme drapiert, unter denen DuelMonsters-Duelle noch auf klassische Weise ausgetragen wurden - nämlich mit Papierspielmatte und einer Münze für Zufallsbestimmungen. Tatsächlich kam es langsam wieder in Mode, Duelle auf altmodische Weise zu bestreiten, fast als gehörte es zum Vintage-Stile. Rin hatte zu viele Simulationen in der Trainingshalle abgehalten, als dass sie jemals zum Original zurückkehren wollte. Der Nervenkitzel, die Verschmelzung von Technik und Spielgeschehen waren für sie unabdingbar geworden. Irgendwann, so hoffte sie, würde das, was während ihrer virtuellen Trainingsduelle stattfand, Wirklichkeit werden - virtuelle Wirklichkeit, welche die ganze Welt zu sehen bekäme.

Vielleicht sogar schon in der nächsten Runde

Rin beugte sich nach vorne, die Ellenbogen stützten ihr Kinn ab, während sie kurz davor stand Trübsal zu blasen.

"Wie lange haben wir noch", Lumina hatte ihr Glas geleert und machte sich nun daran, eine Zigarette zu entzünden.

"Es ist kurz vor drei. Also etwas über eine Stunde."

"Und wie sieht dein Plan aus? In den Duellarenen haben wir ihn nicht gefunden. Ich glaube auch nicht, dass noch einer von denen ein Duell bestreiten wird. Also was jetzt?" Sie nahm einen tiefen Zug, dass Rin die Rauchwolke beobachtete. Wie im Zeitraffer stieg sie hinauf, begleitet von einem dünnen Schwaden, der aus der glühenden Spitze herausquoll.

"Ich habe gehört", Rin drehte sich in Richtung der Arena, die schon bald mit den besten Spielern Dominos gefüllt wäre, "dass er sich gerne zur Schau stellt und sich von seinen Fans feiern lässt."

"Das sieht man ihm ja gar nicht an", verdrehte Lumina die Augen.

"Ich denke, er wird schon vor der großen Ankündigung hier sein. Die Frage ist nur, wo."

"Wir können nicht den ganzen Themenpark abklappern, Rin. Das Gelände ist fast so gewaltig wie Kaibaland. Wir haben schon Stunden damit verbracht, nur von einer Arena in die nächste zu kommen. Wir können nicht noch sämtliche Hallen und Schauplätze abklappern."

"Ich weiß", Rins Augen wurden kleiner, "darum habe ich ja dieses Café gewählt. Und nicht, damit wir die schöne Aussicht genießen können." Wobei die Springbrunnenanlage mit ihren diversen Feenstatuen etwas magisch Romantisches besaß. Dahinter verbarg sich ein Heckenlabyrinth, in dem eines ihrer Lieblingsduelle stattgefunden hatte - das Viererduell, in dem Yugi Mutou zusammen mit Katsuya Jonouchi gegen die Brüder Paradox gekämpft hatte. Es war eines der ersten Duelle, in denen holographische Projektionen mit der Realität verschmolzen worden waren. Rin hatte es so fasziniert, dass ihre Cyber-Kindheitsphantasien Wirklichkeit geworden waren, dass ihr fünfzehnjähriges Ich nach diesem Halbfinalspiel beschlossen hatte, Profiduellantin zu werden.

Das Vibrieren ihres Smartphones weckte Rin aus ihren Träumereien. Sie sah aufs Display und seufzte.

"Deine Mutter?", fragte Lumina und kannte die Antwort. Träge nickte Rin und steckte ihr Handy zurück in die Jackentasche.

"Seit unserem letzten Gespräch ruft sie mich fast täglich an. Es ist einfach nur noch nervenaufreibend."

"Du hättest wissen müssen, dass sie es irgendwie herausfindet." Natürlich hatte Rin gewusst, dass ihre Mutter früher oder später dahinter käme. Ihr Vater hatte es von einem seiner Arbeitskollegen erfahren. Dieser hatte Rin überdeutlich auf einer der platzierten Leinwände in der Innenstadt wiedererkannt. Früh am Morgen hatte ihre Mutter sie aus den Bett geklingelt, mit weinerlicher Stimme hatte sie ihr übers Telefon ihren Unmut mitgeteilt. Beide Frauen hatten sich nicht beherrschen können. Aus Diskussion würde Streit, der schließlich damit endete, dass Rin einfach aufgelegt hatte und über eine Stunde brauchte bis sie halbwegs wieder runtergefahren war. Seitdem versuchte ihre Mutter, sie ständig daran zu erinnern, dass sie ihre Intelligenz und das jahrelange Lernen nicht einfach über Bord werfen konnte. Ihre Mutter verstand bis heute nicht, dass ihre Bemühungen in der Schule nur dazu gedient hatten, ihre Eltern ruhig und zufrieden zu stellen.

"Wenn sich die Aufregung gelegt hat, werde ich sie zurückrufen. Irgendwann wird ihr einfallen, dass sie über mein Leben nicht mehr zu bestimmen hat. Zumindest hoffe ich das."

"Bist du deshalb so verbissen darauf, in die nächste Runde zu kommen?", Lumina schüttete die Asche in den vorgesehen Behälter, "ach Rin, das ist doch völlig übertrieben. Ich weiß, du willst es allen nur beweisen wollen, aber du setzt die Messlatte einfach zu hoch. Statt dich einfach mit dem zufrieden zu geben, was du hast, musst du unbedingt einen Schritt weitergehen. Du könntest dich auch erst in der Liga hocharbeiten und nächstes Jahr richtig durchstarten. Aber nein, Madame muss es natürlich wieder mal übertreiben."

"Und das wundert dich nach zehn Jahren immer noch?", grinste Rin schief, dass auch Lumina lächeln musste.

"Ich will damit nur sagen, du musst nicht gleich aufs Ganze gehen. Nicht mit aller Macht versuchen, sofort von Null auf hundert zu kommen. Du hast in letzter Zeit ein Tempo drauf, da komm`ich nicht einmal richtig mit. Und ich weiß nicht, wie lange du noch durchhältst."

"Du willst also damit sagen, dass ich jetzt aufgeben soll", Rin verschränkte die Arme vor der Brust, "jetzt, wo ich meinem Ziel so nahe bin, soll ich einfach resignieren und auf die Bremse treten?"

"Nein", erwiderte Lumina und sah sie ernst an, "ich mache mir nur Sorgen um dich. Dass du dem Druck nicht standhalten könntest oder am Ende bitter enttäuscht wirst. Die Branche ist hart, das weißt du jetzt besser als ich. Es soll dich nicht kaputtmachen." Schweigen. Es waren nicht die Worte, die Rin hören wollte. Stattdessen wünschte sie sich, sie hätte eine plötzliche Eingebung, die ihr weiterhelfen könnte, damit dieses Gespräch nicht weitergeführt werden musste. Für Rin gab es gerade kein Tempolimit, dass sie einfach nur den peitschenden Wind in ihrem Gesicht genießen wollte, die Freiheit, die mit der rasenden Geschwindigkeit einherging.

"Also schön", sagte Lumina und legte den Rest ihrer Zigarette in den Becher, "warum lässt du nicht einfach das Schicksal entscheiden." Ihr Grinsen wurde breit. "Wir machen uns jetzt los und suchen noch ein wenig, denn mehr können wir ja scheinbar nicht tun. Außer du möchtest für den Rest des Tages hier sitzen bleiben und darüber spekulieren, wo wir am besten suchen könnten."

Lumina hatte recht. Hier weiter rumzusitzen brachte nichts. Sie sah auf ihre DuelDisc. Ihr Punktestand flackerte auf, kurz bevor ein kleines weißes Lämpchen blinkte, dass ihr damit andeuten wollte, sie sollte sich in das System einloggen.

"Gut, gehen wir", damit erhob sich Rin und blinzelte in die Sonne hinein. Schützend hielt sie ihren rechten Arm über ihre Augen. Ein schwarzer Wuschelkopf weckte ihr Interesse. Ein Gefühl überkam sie; als ob ihr jemand einen Rettungsring zuwarf.

"Lumina", sie packte ihre Freundin, welche sich gerade erst aufgestellt hatte, am T-Shirt, "mein Schicksal hat sich soeben gemeldet."

"Was?", Lumina sah in die Richtung, in welche ihre Freundin zeigte. Die Schwarzhaarige riss die Augen auf: "Er ist wirklich größer als er im Fernsehen wirkt. Verdammt, wenn ich nicht einmal größer bin als Mokuba Kaiba", murmelte sie als eben dieser die zwei Frauen bemerkte und auf sie zuschritt.

"Was für ein Zufall", lachte der junge Kaiba auf und nickte Rin zur Begrüßung zu, bevor er sich an Lumina wandte und sie anlächelte. Ihre beste Freundin war noch weniger als sie bestrebt, mit Fremden ins Gespräch zu kommen, dass sie nur stumm mit ihren Augen kommunizierte und damit zum Ausdruck brachte, ihn registriert zu haben.

"Dasselbe habe ich auch gerade gedacht", lächelte Rin und war ehrlich erleichtert ihn zu sehen, "du könntest mir nämlich einen riesen Gefallen tun." Dabei spürte sie den Blick ihrer Freundin, von der sie ganz genau wusste, was sie dachte.

"Naja", Mokuba fasste sich an seinen Schopf, "ich hab zwar nicht viel Zeit", er deutete auf seinen Koffer, den er bei sich trug und noch gewaltiger wirkte als jener, den sie letzte Woche erhalten hatte, "aber schieß' ruhig los."

"Du hast doch sicherlich Zugang zu allen Lokalisierungspunkten - sprich: wann, wo welches Duell stattfindet."

"Natürlich", bestätigte Mokuba.

"Dann kannst du doch auch bestimmt jeden Spieler mithilfe der DuelDisc orten."

"Wenn sie sich derzeit in einem Duell befinden, ist es ein Kinderspiel. Sonst müsste ich ein wenig tricksen, aber es wäre machbar. Wieso?"

"Nun", Rins Stimme verschärfte sich, ihre Gedanken waren nur noch auf ein

Duelll konzentriert, "ich muss wissen, wo sich Insector Haga aufhält. Damit ich mich mit ihm duellieren kann."

"Haga?", blinzelte sie Mokuba an, "vergiss´nicht, er muss dich herausfordern. Der Kerl hat es gerade so in die Top dreißig geschafft, ich glaube nicht, dass er sich mit dir duellieren wird. Da wäre ziemlich riskant von ihm."

"Nur wenn er weiß, dass ich diejenige bin, die einen Platz hinter ihm steht", ihr Lächeln wurde spitz, "ich denke nicht, dass er mich erkennt. Nicht solange er das nicht sieht", sie zeigte auf ihr Armband.

"Ich weiß zwar noch nicht, wie du es hinkriegen willst, aber wenn du es probieren möchtest, werde ich dir selbstverständlich helfen." Damit ging er in die Hocke und stellte seinen Koffer ab. Mit einen Klick öffnete sich das Metall und Mokuba holte einen Laptop heraus. Mit wenigen Tastatureingaben hatte er ein Programm geöffnet, dass den Stadtplan von Domino-City zeigte, inklusive vieler gelb aufleuchtender Punkte.

"Die gelben Punkte zeigen die laufenden Duelle", erklärte Mokuba und tippte im oberen Eingabefeld den Namen des gesuchten Spielers ein, "momentan spielen nur nicht-registrierte Spieler, sprich Hobbyduellanten. Auf normalem Weg kann ich ihn nicht finden, aber wenn ich", er verstummte und widmete sich dem Rechner. Mokuba war flink mit den Fingern, geradezu geübt. Kein Wunder, der Jüngere gehörte bereits seit drei Jahren der Worldcup-Komission an und war darauf spezialisiert, sich um alle Funktionen hinter den Kulissen zu kümmern. So gehörte die Lösung verschiedenster technischer Probleme mit zu seinen Aufgabenfeldern. Und außerdem wäre es für Rin nicht verwunderlich, wenn der junge Bruder von Seto Kaiba zumindest einen Bruchteil seiner Intelligenz besaß.

"Da haben wir´s ja", entgegnete Mokuba nach einigen Minuten, in denen Rin bereits damit gerechnet hatte, dass Haga seine DuelDisc überhaupt nicht bei sich trug, "er ist ganz in der Nähe. Ein Gebäude von der Hauptarena entfernt. Vermutlich um Autogramme zu geben."

"Prima", klatschte Rin in die Hände und strahlte ihre Freundin an, "dann nichts wie hin."

Wie Mokuba es gesagt hatte - Haga befand sich nur unweit der Hauptarena, vor einem Nebengebäude, an dem sich knapp hundert Leute tümmelten. Auf dem Weg dorthin waren ihr fragende Blicke begegnet, die Rin erkannten, nur nicht richtig einzuordnen wussten. Die junge Frau löste daraufhin ihren straffen Pferdeschwanz und ließ das Haar bauschend über die Schultern fallen. Mit einem Schmunzeln begegneten ihr Luminas Seelenspiegel.

"Ich dachte, der Zopf gehört zu deinem neuen Image", feixte die Schwarzhaarige und beobachtete, wie Rin den Haargummi um ihr rechtes Handgelenk zog.

"Später", murmelte Rin und konzentrierte sich darauf, sich durch die Menschenmassen zu zwängen. Es waren vorwiegend junge Leute, viele Jungs aus der Unter- und Mittelstufe standen vor dem Eingang, vor dem ein Tisch provisorisch aufgestellt worden war. Sie musste nahe genug herantreten, um die Gestalt hinter dem Tisch zu erkennen. Grüne Haare, die im rechten Licht ins Hellblau übergingen, verdeckten zum Teil die gelbe runde Brille, die durch die Reflektion der Sonne grell aufblitzte. Ein ebenso blendendes Lächeln, das wohl an einen Schurken erinnern sollte, doch für Rin lediglich wie ein gescheiterter Versuch cool zu wirken rüberkam, zierte sein rundes, fast noch kindliches Gesicht. Selbst im Sitzen erkannte sie seine kleine Statur, die wohl kaum über einen Meter sechzig reichte, dass Lumina gute Chancen hatte, neben ihm groß auszusehen. Vor seinem Tisch hatte sich eine Schlange gebildet, einige trugen DuelMonsters Karten bei sich, scheinbar um sie mit seinem Namen unterzeichnen zu lassen. Rin hatte noch nie verstanden, wie jemand sein gesamtes Deck nur mit Insekten zusammenstellen konnte. Haga war nicht nur ein Spezialist für eben diese Kreaturen, er schien wie versessen auf die krabbelnden Lebewesen. Je widerwärtiger das Monster aussah umso hingebungsvoller schien er sich für sie zu interessieren. Aus Duellen der letzten fünf Jahre wusste Rin eine Menge über den mehrfachen regionalen Champion, der es im vorherigen Jahr geradeso auf die vordersten Plätze geschafft hatte. Wo er noch zu Beginn seiner Karriere weit vorne in den Spitzenrängen aufgestellt war, kämpfte er in seinen letzten Meisterschaften nur noch um sein Überleben. Der Profiduellent, der einst für Industrial Illusions angetreten war, finanzierte sich nur noch durch diverse Werbeträger und seiner verbliebenen Fanbase, die viele seiner Spiele sponsorte. In diesem Jahr hatte man besonders die sinkende Beliebtheit der einstigen Größe bemerkt - Haga war der einzige, der den Wandel nicht wahrzuhaben schien. Sein Blick verriet nichts von den Niederlagen und dem wachsenden Verlust seiner Macht. Rin verkniff sich ein breites Grinsen, als sie Lumina am Ärmel packte und sich mit ihr in die Reihe stellte.

"Das ist nicht dein ernst", murrte ihre Freundin.

"Ich brauche dich", flüsterte Rin, "es muss so aussehen als wären wir zwei harmlose junge Frauen."

"Aha", Lumina schüttelte den Kopf und deutete hinter sich. In einem deutlichen Abstand zu ihnen, stand Mokuba, der die beiden Frauen an die richtige Stelle geführt hatte. Rin hatte ihn darum gebeten, hinter ihnen zu bleiben. Sie wollte ihr Vorhaben auf ihre Weise umsetzen, Mokubas Einsatz wäre ihr letzter Ausweg.

"Und was soll ich machen?", Lumina sah zu ihrem Vordermann, einem Teenager mit rotgoldenem Lockenschopf, der mindestens einen Kopf kleiner war als sie.

"Bleib`einfach neben mir. Ich regel`das." Weiter kam die junge Frau nicht, denn sie standen nun direkt vor dem Insektenspieler, der sie mit einem breiten Grinsen begrüßte, dass Rin spürte wie sich Luminas Nackenhaare aufstellten.

"Kann ich etwas für euch zwei Hübschen tun?", seine Stimme nistetet sich in Rins Kopf ein. Direkt vor ihm stehend wirkte er noch um einige Zentimeter kleiner, auch sein Aussehen erinnerte sie mehr und mehr an einen Jungen und nicht an jemanden, der älter war als sie.

Okay. Du hast es Zuhause geübt. Halte dich einfach an den Plan

"Du bist doch der Insektenkönig, nicht wahr", Rin beugte sich etwas nach vorne, dass ihr Gesicht von braunen von dem Zopf gewellten Haaren bedeckt wurde. Das Grinsen ihres Gegenübers wurde breiter.

"Das hast du richtig gehört", bestätigte er und spielte mit dem Kugelschreiber in seiner rechten Hand.

"Nun", noch ein Stück tiefer beugte sich die junge Frau, dass sie ihren rechten Arm an der Tischkante abstützte und die DuelDisc auf der Platte ruhte, "ich habe auch gehört, dass du unter den Top dreißig sein sollst. Aber", ihre Stimme wurde abschätzend, sie tat als betrachtete sie ihn prüfend, "wenn ich dich so ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass du es überhaupt aus der Krabbelgruppe geschafft hast." Sein Blick wandelte sich. Er kniff die Augen zusammen. Seine Lippen formten noch immer ein breites Grinsen, aus dem sämtliche Heuchelei gewichen war. An dessen Stelle entstand ein gehässiger und zugleich herausfordernder Ausdruck.

"Für einen Niemand wie dich nimmst du dir ganz schön viel heraus", er deutete auf ihre DuelDisc, "weißt du denn überhaupt, wie man es anschaltet?" Wie Rin spürte auch er, dass alle um sie herum dem Gespräch lauschten.

"Ich hatte gehofft", Rin legte den Kopf schief, "du würdest es mir zeigen." Haga zeigte seine Zähne.

"Wie soll ich das verstehen? Willst du mich zu einem Duell herausfordern? Dazu hast du nicht das Recht. Ich bin ein Champion, Ich fordere, wenn überhaupt, heraus."

"Dazu hast du nicht den Mut", säuselte sie und ließ die Finger über das polierte Holz wandern.

"Du hast es selbst gesagt, ich bin unter den Top dreißig. Ich muss mich mit niemandem mehr duellieren."

"Also ich denke", Rins Augen begannen wie ein Smaragd im Licht zu glühen, "es war nichts mehr als reiner Zufall, dass du es soweit geschafft hast. Wir kennen wohl beide die Gerüchte darum, wie du die meisten deiner Duelle gewinnst. Und vor allem, wie du an deine Sammlung herangekommen bist." Ihr Lächeln wurde teuflisch. Fast jeder kannte die Gerüchte um Haga und seinen trickreichen Methoden, andere Spieler auszubeuten und an ihre Karten heranzukommen. Um sie herum begannen die Leute einander anzusehen und flüsternde Worte auszutauschen. Haga wurde ungeduldig.

"Warum sollte ich gegen dich antreten? Ein Sieg gegen dich bringt mir nichts, die ein zwei Punkte habe ich nicht nötig. Oder willst du einfach nur gegen einen richtigen Profi spielen?"

Rin richtete sich auf.

"Wenn du dich nicht mit mir duellierst, wird jeder denken, dass du gekniffen hast. Deine Fans werden von dir enttäuscht sein, und ich bin mir nicht sicher, ob sie noch eine weitere Enttäuschung verkraften können." Ihre Blicke drehten sich zu den Teenagern, die sich ganz auf ihr Idol konzentrierten. Dieser zog die Augenbrauen zusammen.

"Ich mache dir einen Vorschlag", Rins Stimme war für jeden in ihrem Umkreis zu verstehen, "wenn du gewinnen solltest, kannst du mit mir machen, was du willst." Sie spürte wie neben ihr Lumina zurückwich. Einige tuschelten in angehobener Lautstärke. Nur Rin fixierte den Grünhaarigen, der sich nun erhoben hatte und sein Siegergesicht aufgesetzt hatte.

"Einverstanden", gluckste er. Sein Blick wanderte zu der Arena, "ich fordere dich zum Duell heraus." Es war ausgesprochen. Die Fans jubelten, begeistert dass sie noch einem weiteren Duell beiwohnen konnten. Vermutlich dem letzten Duell in dieser Vorrunde. Rin nickte, ihr Blick verdunkelte sich.

"Weißt du, was du da gerade gesagt hast?", Lumina war dicht an ihr Ohr getreten, sichtlich bemüht sie nicht anzuschreien.

"Keine Sorge, ich hab schließlich vor zu gewinnen."

"Und wenn nicht?", Lumina starrte sie an, "jeder hat gehört, was du gesagt hast."

"Das war auch der Plan", damit schritt sie zum Duellplatz, dass Lumina ihr hinterhereilte.

"Du bist wahnsinnig, weißt du das?" Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf, "alles nur für ein Duell."

"Nicht irgendein Duell", pflichtete ihr Rin bei, "das ist der krönende Abschluss, den ich in vollen Zügen genießen werde." Sie nahm ihre Haare und band sie gekonnt zu ihrem üblichen Zopf als sie bereits im Inneren der Arena standen. Das übertrieben große Gebäude besaß ein einfahrendes Dach, sowie eine einlandende Bühne, die sich problemlos um mehrere Meter hochfahren ließ. Rin stellte sich an die Seite, während Haga ihr gegenüber in Position ging. Auf ein Zeichen fuhren sie hinauf zu Bühne, es fühlte sich so an als würde sie von einem Gabelstapler hinaufbefördert werden. Oben angekommen bemerkte Rin zum ersten Mal wie weit sie vom tatsächlichen Boden entfernt waren. Noch nie hatte sie hier gestanden, immer nur dort unten, als Zuschauer, der immer davon geträumt hatte, eines Tages dort zu stehen. Im Moment konnte sie die Freude darüber nicht vollends ausschöpfen. Sie war auf das kommende Duell konzentriert - ihrem Freifahrtschein.

"Es gibt kein Zurück mehr", lachte Haga auf und fuhr seine DuelDisc aus, "es war ein Fehler, sich mit mir angelegt zu haben."

"Dasselbe wollte ich auch gerade sagen", entgegnete sie mit einem schiefen Lächeln und entledigte sich ihres Trechncoats, den sie in Richtung ihrer Freundin warf. Luminas Blick war eindeutig, trotzdem nahm sie das Kleidungsstück und wickelte es sich um ihre Hüften. Rin verschränke die Arme, das silberne Metall leuchtete im Scheinwerferlicht wie eine Erleichtung auf. Aus dem Augenwinkel sah sie die Bildschirme. Eine der Kameras hatte ihr Bild eingefangen, die ersten begannen die junge Frau zu erkennen - oder zumindest ihr Armband.

"Sie spielt für die Kaiba Corporation", rief einer.

"Sie hat Esper Roba besiegt."

"Ja, Rin Yamamori."

Ihren Namen von einem ihr völlig Fremden zu hören, war ungewohnt und zugleich spürte sie wie sämtliche Nervenbahnen ihres Körpers angesprochen wurden. Es heizte ihren Duellmodus umso mehr an.

"Warte", hörte sie Haga von Weitem rufen, "du bist die Amateurduellantin, die für Kaiba arbeitet?"

"Du hast also von mir gehört", säuselte Rin und fuhr sich durch ihren Pferdeschwanz, dass das Armband seine Initialen offenlegte und im Mittelpunkt der Kameraeinstellung stand. Haga begann zu knurren, bevor er sich seiner Position bewusst wurde und scheinbar sich zu bestätigen versuchte, der einzige Gewinner dieses Duells sein zu können.

"Was für eine überraschende Wendung!" Ertönte aus den Lautsprechern die bekannte Durchsage des Kommentators. Rin hatte sie bei vielen wichtigen Duellen gehört. Bei dessen Stimme hatte sie immer einen jungen Kerl vor Augen - ein Kerl mit großer Redegewandtheit. Sie fragte sich, ob er in der Duellarena war oder doch an einem ganz anderen Ort und lediglich zugeschalten wurde. Beides ein interessanter Gedanke für die junge Frau.

"Ein letzter spannender Kampf kündigt sich an. Der amtierende regionale Champion Inesector Haga tritt gegen Rin Yamamori, aus der dritten Profiliga, an. Für alle, die nicht auf dem laufenden sind: Derzeit befindet sich die Duellantin aus dem Kaiba Corp. Team auf Platz einunddreißig und liegt nur sieben Punkte hinter dem Champion. An Hagas Gesicht konnte die junge Frau erkennen, dass er sich nicht mit seinen Konkurrenten auseinandergesetzt hatte. Es spielte Rin nur ungemein in die Karten.

"Mal sehen, was dieser Tag noch für uns bereit hält. So viel steht fest: Es wird ein packendes Duell. Denn ein Sieg allein reicht für Yamamori nicht aus. Sie muss es außerdem vor Ende der Battle-City-Turniere schaffen, die Punkte ihres Gegners auf Null zu bringen. Die letzten vierzig Minuten laufen. Wir wünschen den Spielern viel Erfolg!"

"Duell", riefen Rin und ihr Gegenüber im Chor, dass beide DuelDisc's zu leuchten begannen und die Bühne für Sekunden in weiß-gelbes Licht getaucht wurde - das virtuelle System war bereit. Das Publikum erwartete einen klaren Sieg Seitens Haga. Man hörte es aus ihren Jubelrufen heraus. Hinter den beiden Duellanten fuhren Anzeigetafeln aus, welche die Lebenspunkte der Spieler für alle sichtbar werden ließen. Mittig ragte aus der Decke ein weiterer Kasten heraus, der per Zufallsgenerator entschied, wer das Duell startete. Das Gerät wählte Haga. Die Wahl schien für beide zufriedenstellend, zumindest war es der jungen Frau ganz recht, erst als zweites an der Reihe zu sein. Sie zog die ersten sechs Karten. Rin betrachtete ihr ausgewogene Sammlung, die vielversprechend schien.

"Schauen wir mal, was eine Anfängerin gegen einen richtigen Profi zu bieten hat", er warf die erste Zauberkarte aufs Feld. Eine Wiesenlandschaft erschien, um sie herum verdichteten sich Laubbäume.

"Meine Feldzauberkarte Wald schenkt meinen Insekten zweihundert zusätzliche Punkte für Angriff und Verteidigung und als Eröffnung spielen ich diesen Prachtkerl, den Kniffhüpfer."

Ein Grashüpfer ähnliches Geschöpf erschien auf der gegnerischen Spielfeldseite und surrte vor sich hin, während seine überproportionalen Flügel laut flirrten als stimmten sie in seinen Gesang mit ein. Das Monster war nicht sonderlich stark. Tausend Grund-ATK plus die zweihundert zusätzlichen Punkte machten ihn zu keiner großen Gefahr.

"Ich beende meinen Zug", grinste Haga, dass Rin die nächste Karte zog.

Gar nicht so übel

"Die Lebensspanne von Insekten ist sehr sehr kurz", Rin legte ihr eigenes Monster aufs Feld, "mein Löwotaurus macht deinen Grashüpfer mit der linken Pfote fertig. Oh, und obendrein bedankt er sich für die netten zweihundert Punkte, die deine Feldzauberkarte ihm soeben geschenkt hat." Wald erlaubte es nicht nur Insekten, stärker zu werden - Ungeheuer und Ungeheuer-Krieger profitierten ebenso von der Zauberkarte, die den Boden unter ihnen zu einem weichen gestutzten Grasbett verwandelt hatte, auf dem der kriegerische Löwe sich zur vollen Größe aufrichtete und sein Schwert vor seine Schnauze aufstellte.

"Mein Monster hat noch einen hübschen Effekt. Sobald er gegen ein nicht-normales Monster kämpft, erhält Löwotaurus während des Kampfes funfhündert zusätzliche Angrifsspunkte." Damit besaß ihr Monster über 2200 ATK - das war mehr als genug.

Löwotaurus", rief Rin und zeigte auf ihr Monster, "greif` seinen Kniffhüpfer an", mit Leichtigkeit zerschnitt das Schwert den Körper des Kniffhüpfers, der daraufhin vom Spielfeld verschwand. Tausend Punkte verlor der Grünhaarige, der unberührt des großen Verlusts blieb.

"Ich setzte noch eine verdeckte Karte und beende meinen Zug."

"Als du mein Monster zerstört hast, hast du seine besondere Fähigkeit aktiviert. Sobald Kniffhüpfer auf den Friedhof ist, kann ich einen Kokon der Evolutiuon aufs Spielfeld rufen.", säuselte er, dass eine roafarbene Hülle auf dem Spielfeld erschien. Spinnenfäden hielten die Larve aufrecht in der Luft schwebend, während es pulsähnliche Bewegungen machte. Haga war am Zug und betrachtete seine neue Karte, "ich spiel zwei Karten verdeckt und beschwöre dann diesen kleinen Liebling. Mottenlarve." Ein noch schwächeres Monster erschien auf der Bildfläche. Es schrie geradezu danach, von ihrem starken Monster angegriffen zu werden.

Ich weiß, was du damit bezweckst.

Sie war wieder am Zug. Es war eine Falle, das war mehr als eindeutig, aber Rin hatte keine andere Wahl als anzugreifen. Sie konnte ebenso wenig zulassen, dass er ein Monster nach dem nächsten beschwor. Wenn sie ihm zuvorkommen wollte, musste sie dieses Duell schnell gewinnen. Es war die einzige Option, seiner eigentlichen Intention zu entkommen. Rin hatte von Anfang an gewusst, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, erfolgreich aus diesem Duell zu kommen: Sie musste ihn entweder in weniger als vier Zügen besiegen oder aber das Duell in eine so spannungsreiche und ausweglose Lage bringen, dass ihr Sieg umso bedeutsamer wäre.

Dann versuchen wir mal den einfachen Weg

"Ich spiele diese Zauberkarte - Doppelbeschwörung. Wie ihr Name schon sagt, kann ich in diesem Zug zwei Normalbeschwörungen durchführen. Nummer eins: Ich spiele Klingenritter im Angriffsmodus. Nummer zwei: Indem ich noch diese nette Karte ausspiele, kann ich ein Monster der Stufe fünf oder höher beschwören, ohne vorher eines zu opfern." Antike Regeln ließ ein Buch auf ihrer Seite entstehen, dass von selbst die Seiten wechselte, bis es auf die entsprechende Formel stieß und Kräfte entsandte, die ihre erwählte Kreatur zum Leben erweckte.

"Mach`Bekanntschaft mit meinem weißen Nachtdrachen."

"Du hast soeben meine Falle aktiviert", rief Haga und deckte eine seiner Karten auf, "Klebefallgrube. Sie halbiert die Punkte deines beschworenen Monsters um die Hälfte." Normalerweise interessierte ihren Nachtdrachen die Effekte von Zauber -Fallen- oder Effekte eines Monsters nicht sonderlich. Diese Karte bildete eine Ausnahme. Sie erwählte nur indirekt ihr Monster, dass es sich seiner Macht nicht entziehen konnte und die Hälfte seiner Punkte abgeben musste. Mit 1500 Atk sah ihr Nachtdrache klein und verletzlich aus. Trotzdem war er noch stark genug, die Monster und seine Lebenspunkte anzugreifen und damit das Duell für sich zu entscheiden. Einen Versuch war es Wert.

"Als erstes greift mein Nachtdrache deinen Kokon an." Außer dass sein Monster zerstört und Haga 1300 Lebenspunkte verlor geschah nichts. Als nächstes war ihr Löwotaurus dran, mit seiner ganzen Power griff er die Motte an. Sie zersprang und riss weitere 1500 Lebenspunkte mit sich. Haga besaß noch 200 von insgesamt 4000 Lebenspunkten. Man brauchte nicht viel rechnen, um sein nahendes Ende zu prophezeien.

"Klingenritter", Rin beugte sich nach vorne, "greif seine Lebenspunkte direkt an und beendet das Spiel." Das Monster stürmte auf Haga zu, dessen Lächeln einen tiefen Schatten in seinen Augen erzeugte.

"Dein erster Fehler war es, mich zu einem Duell herauszufordern", er streckte seine rechte Hand aus, die verdeckte Karte klappte auf, "diese Karte nennt sich Spinnenei", tausend winzige Spinnen krabbelten auf den Boden und teilten sich in drei Gruppen auf, woraus sie zu drei Eier förmigen Massen verschmolzen.

"Meine Falle stoppt deinen Angriff. Im Gegenzug beschwört sie diese drei Süßen. Sieh`sie die genau an, denn sie werden deinen Untergang bedeuten."

Süß war definitiv etwas anderes. Flüchtig sah sie zu ihrer besten Freundin hinunter. Im Stillen war sie ihr dankbar dafür, dass sie nicht bereits reiß aus genommen hatte. Neben ihr stand Mokuba. Scheinbar hatte sich der junge Kaiba während des Duells zu ihr gesellt. Auch wenn Lumina nicht gerne Fremde um sich hatte, war sie bestimmt erleichtert, nicht alleine dastehen zu müssen, während ihr schlimmster Albtraum so nah vor ihr stand.

"Hast du noch etwas zu bieten?", fragte Haga, ohne eine wirkliche Gegenreaktion zu erwarten. Rin blieb nichts anderes übrig als die Runde zu beenden.

"Zunächst", wedelte Haga mit einer Karte in seiner Hand herum, "frische ich meine Lebenspunkte etwas auf." Mit Dian Keto, Meisterheiler bekam er zusätzliche 1000 Lebenspunkte.

"Oh Yamamori, in all deiner Naivität bist du direkt in meine Falle gegangen. Aber ich mache dir keinen Vorwurf. Schließlich hast du noch nie einer Größe wie mir gegenübergestanden. Da kann man schon mal die Nerven verlieren."

"Mach`endlich deinen Zug", entgegnete die junge Frau trocken.

"Mit dem größten Vergnügen. Ha. Ich opfere zwei meiner Eier um meine Insektenkönigin zu holen." Noch nie hatte Rin das Monster von Nahem betrachten können. Die übergroße Spinne, deren Oberkörper um ein hundertfaches so groß wie ihr Kopf war, stieß einen fluchenden Schrei aus. Ihr Körper virbrierte mit jedem Atemzug, aus der Mitte quoll ein milchiges Sekret heraus.

"Knie nieder vor ihrer unaussprechliche Macht", lachte Haga und schien den Anblick seines legendären Monsters sichtlich zu genießen.

"Für jedes Insekt auf dem Spielfeld erhält Insektenkönigin weitere zweihundert Angriffspunkte. Ich brauche ihr nur noch ein Opfer darlegen, dass sie in den Angriff übergeht." Damit verschwand das dritte Ei, die Königin machte sich bereit. Sie spritzte ihre Säfte auf den weißen Nachtdrachen, der ihrer Macht von 2400 ATK nichts entgegenzusetzen hatte. Tausend Diamanten erschienen auf dem Feld als der Drache vernichtet wurde. Rins Lebenspunkteanzeige sank um neunhundert. Noch dazu entstand auf der Spielfeldseite ihres Gegners eine Larve, welche die Königin bei jedem erfolgreichen Angriff beschwören konnte.

"Als Abschluss", Haga setzte eine Karte, "spiele ich noch eine Karte verdeckt. Solltest du dem Druck nicht standhalten, rate ich dir, aufzugeben. Dann wird die Schmach deiner Niederlage nicht all zu groß werden."

"Du kennst mich wirklich nicht", entgegnete Rin und betrachtete ihre Karten, "ich bin keiner dieser Frauen, die schreiend davon rennt, nur weil sie eine Spinne sieht. Da musst du schon härtere Geschütze ausfahren...und etwas mehr Grips in deine Duelle stecken. Deine Insektenkönigin mag ja stärker sein aber das trifft nicht auf deine Larve zu." Ihr Löwotaurus griff das schwache Monster an. Haga spielte die verdeckte Karte aus.

Verdammt

Es war Entkräftungsschild. Damit hatte die junge Frau nicht gerechnet. Statt eines Angriffs wurden Haga 2200 Lebenspunkte geschenkt. Rin biss sich auf die Lippen.

"Ich setzte meinen Klingenritter in den Verteidigungsmodus und lege noch eine Karte verdeckt." Mehr konnte sie im Augenblick nicht tun.

"Spürst du wie sich die Fäden meiner Königin immer schneller um deine Kehle schlingen?"

"Ich merke nur, dass du zu viel Zeit mit reden vergeudest."

"Nur die Ruhe", säuselte er und zog eine Karte, "wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, dass es DuelMonsters nie gegeben hätte. Ich hoffe, du denkst an deine Abmachung." Seine Augen funkelten durch die Brille hindurch, dass sie ihren Klingenritter nur zu gern einen Befehl gegeben hätte. Stattdessen schwieg sie.

"Also gut, die Dame will Tempo machen. Wie wäre es damit: Ich opfere eine meiner Larven, damit Insektenkönigin angreifen darf. Außerdem", mit Genugtuung legte er ein weiteres Monster aufs Feld: Neo Bug. Mit dem Feldzauber Berg hatte der Käfer über zweitausend Angriffspunkte.

"Insektenkönigin! Greif`ihren Klingenritter an", Gift spritzte aus der Riesenspinne, umwickelte den Ritter. Dieser stöhnte und erlag der Verätzung.

"Und nun", Haga deutete auf die junge Frau, deren Monster allesamt in den Friedhof geschickt wurden, "greift mein Neo Bug deine Lebenspunkte direkt an." Seine Augen weiteren sich, ein Lächeln huschte über seine Lippen.

"Nicht so schnell", rief Rin und hob ebenfalls ihren Arm, "ich decke meine verdeckten Karten auf: Ring der Zerstörung vernichtet dein Monster und fügt beiden Spielern Schaden in Höhe seiner Grund-ATK zu." Eine zweite Karte öffnete sich: "Ring der Verteidigung rettet mich vor dem Schaden." Haga knirschte mit den Zähnen als nur er 1800 seiner Lebenspunkte verlor.

"So einfach kommst du mir nicht davon."

"Das wollen wir doch sehen", schmunzelte Rin und zog eine Karte. In ihrer Hand war nichts, dass den Spieß umdrehen konnte. Sicher, sie hatte die Möglichkeit, das Duell hinauszuzögern, aber wie lange käme sie damit durch?

"Ich spiele zwei verdeckte Karten. Außerdem ein Monster in verdeckter Verteidigungsposition. Damit beende ich meinen Zug."

"Wie ich es mir dachte", lächelte Haga, dem sie am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte. Sein Blick fasste sämtliche Selbstverherrlichung, Arroganz und Abscheu ihrer bisherigen Gegner hervorragend zusammen. Während er seine neu gezogene Karte begutachtete, wandte sie sich der Uhr zu. Sie hing am Eingang, direkt über der Tür. Zwanzig Minuten blieben ihr noch.

"Die Zeit ist gekommen", seine Augen ergötzten sich an den Anblick seiner Kartensammlung. Eine von ihnen nahm er zwischen die Finger und drehte sie, dass selbst Rin aus dieser Entfernung den Zauber erkennen konnte. Sie schluckte schwer.

"Wie mir scheint, kennst du meine Zauberkarte Kokon der Ultraevolution."

Ich weiß zumindest, was du vorhast

"Ich opfere meine Insektenkönigin", dies tat er, in dem er beide Arme hinauf streckte als suchte er dort oben nach Erlösung, "und rufe ihre mächtigere Schwester", der Ton seiner Stimme wurde rauer, "die umgewandelte Insektenkönigin." Eine noch größere Spinne mit Dornenähnlichen Spitzen an ihrem Körper erschien. Statt eines Schreis flatterten ihre Schmetterlings ähnlichen Flügel aufgeregt und ließen den Eindruck entstehen als wären hunderte Insekten auf dem Feld. War die Insektenkönigin schon schwer zu schlagen, setzte diese neue Version noch eins oben drauf. Das Monster mit aufgeboosterten 3000 Punkten besaß Spezialeffekte, die ihr einen Schlag ins Gesicht verpassten: "Umgewandelte Insektenkönigin schützt sämtliche meiner Monster durch Karteneffekte. Sie kann auch noch einmal angreifen, wenn ich dafür eines meiner Monster opfere, und", er hob seinen linken Zeigefinger, "wie ihre Vorgängerin erschafft sie pro Spielzug eine neue Larve."

Damit kann er bei jedem Spielzug eine Larve opfern und einen Doppelangriff starten.

"Eigentlich könnte ich an dieser Stelle schon aufhören", Haga betrachtete seine neue Königin wie eine zu huldigende Götterstatue, "aber wenn du schon einmal gegen einen richtigen Champion spielen darfst, sollst du auch das volle Programm bekommen: Und zwar hiermit: Vergessenes Insekt."

Nicht diese Karte

Rin bemühte sich die Fassung zu bewahren. Indem er die Permanentzauberkarte vergessenes Insekt aktivierte wurde Hagas Kombination aus Monster- und Zauberkarten so gut wie unberührbar.

"Falls du es nicht weißt", feixte der Grünhaarige, "Vergessenes Insekt lässt mich deine Angriffe annullieren, solltest du es wagen, dich meiner armen hilflosen Larven zu nähern. Dafür muss ich nur ein Insekt von meinem Friedhof aus dem Spiel entfernen."

Wie war das noch mit arm und hilflos?

"Gar nicht mal so übel für einen Schmierbeutel wie dich", entgegnete Rin und versuchte ihre Nervosität nicht nach außen dringen zu lassen.

"Wir sprechen uns noch nach dem Duell", erwiderte er und ließ seine umgewandelte Insektenkönigin ihr verdecktes Monster angreifen.

"Du hast die unglückliche Jungfrau angegriffen", erklärte Rin, "damit ist die Battle-Phase für diese Runde beendet."

"Fürs erste", Haga fuhr sich durchs Haar, "ich wende noch den Effekt meiner Zauberkarte Kokon der Ultraevolution an: Indem ich sie vom Friedhof verbanne, kann ich meine Insektenkönigin zurück in mein Deck legen. Sie soll schließlich dabei sein, wenn ich meinen rechtmäßigen Sieg erringe."

"Das Duell ist noch lange nicht vorbei", Rins Stimme verriet nichts von der Unruhe in ihrem Inneren. Im Gegenteil, die junge Frau wirkte geradezu gelassen. In ihrem Blick war nicht die Gewissheit zu sehen, einem hoffnungslosen Kampf gegenüberzustehen. Ihre Augen waren standhaft, fest entschlossen und voller Selbstbewusstsein, diesen Sieg nach Hause zu bringen. Rin wünschte, ihr Ausdruck würde sich bis in ihren Geist vorarbeiten. Ihr Kopf war am Arbeiten, sie wägte ihre tatsächlichen Chancen ab und betrachtete ihre Karten.

15:45 Uhr

Mit zügigen Schritten, die seiner üblichen Gangart zu verschulden war und weniger damit zusammenhing, dass er es eilig hatte, schritt der junge Firmenchef durch den Hintereingang des Themenparks. Weit außerhalb des steten Trubels der Menschenmassen, die sich seit Beginn der Battle-City-Turniere wie Obstfliegen auf seinem Gelände breit gemacht hatten und kaum mehr los zu bekommen waren. An sich konnte er es nur gut heißen, dass der Worldcup einen so immensen Anstieg seiner Besucherzahlen förderte, aber an Tagen wie diesen, in denen er bereits einmal durch die gesamte Stadt gefahren war und Meetings, Pressekonferenzen und Interviews zu tätigen hatte, störte ihn schon eine Gruppe Jugendlicher, die seinen Weg kreuzte und mit ihrem übertrieben lauten Gerede seine Ohren schändeten. Er versuchte so weit es ging, dem Gelächter zu entgehen, bog in einem Trampelpfad ab, der meist nur von Mitarbeitern genutzt wurde und gelangte nach einer weiteren Abkürzung zum Zentralgebäude des Themenparks. Sein Blick fiel auf die Digitaluhr über dem Haus. Sein Bruder verspätete sich. Sehr untypisch für den Jüngeren, der ganz genau wusste, dass Seto Kaiba jede Minute seines Tagesablaufes geplant hatte. Sonst achtete sein kleiner Bruder geradezu penibel darauf, den Tagesplan einzuhalten, oder zumindest seinen Bruder rechtzeitig zu informieren, sollte er es nicht zur angegebenen Zeit schaffen. Der junge Firmenchef zückte sein Smartphone heraus und tippte die Nummer des Headsets an, welches Mokuba während des Worldcups ständig zu tragen hatte. Es brauchte nicht einmal zu läuten, da hörte er lautes Stimmengewirr aus der anderen Leitung, gefolgt von einer angehobenen Stimme, die eindeutig von seinem Bruder kam.

"Seto?", schrie der junge Kaiba geradezu.

"Wo bist du?", entgegnete der Ältere trocken, "die Vorbereitungen für die nächste Runde stehen an."

"Ich bin in Arena eins", antwortete Mokuba. Kaiba zog die Stirn kraus. Was hatte der Schwarzhaarige dort zu suchen? Dort fand lediglich das Treffen der Top dreißig statt - sein Kommentator würde die Spieler der Rooftop-Battles vorstellen. Fans und Schaulustige wären zugegen und würden den Besten zujubeln und ihrem sowieso schon aufgeputschten Ego auf die Sprünge helfen.

"Seto, du muss her kommen", fuhr sein Bruder fort, "ich glaube, dass du das auch sehen willst." In Mokubas Stimme hörte der Ältere das schelmische Grinsen heraus, dass der junge Firmenchef mit einem Seufzen auflegte und die paar Schritte zur Hauptarena in wenigen Minuten beschritten hatte. Er brauchte den Koffer seinen Bruders. Dort befanden sich die Programme, die er in sein System einarbeiten musste. Der Chip war notwendig für die nächste Runde, in denen die Anforderungen um einiges angeschraubt wurden und seine Technologie dabei helfen sollte, den Druck etwas zu erhöhen. Zu seinem Ärger war der Eingang vor der Arena bereits besetzt worden. Hunderte von Menschen tummelten sich davor, unterhielten sich aufgeregt und starrten auf den großen Bildschirm, der direkt über dem Gebäude angebracht wurde. Kaiba interessierte nicht die Aufregung des Publikums, dass er keinen Blick darauf verschwendete. Stattdessen zwängte er sich durch die Massen, die ihm Platz machten, nachdem sie in erkannt hatten. Als er die Arena betrat, verstand er, warum die Leute sich davor sammelten. Die Duellarena war gut gefüllt. Dort, wo Platz für knapp fünftausend Zuschauer war, doch wegen der Umbauten lediglich ein zehntel davon wirklich hineinpassten, befanden sich Zuschauer, Fans, Amateure und Profispieler. Genauso wie es Kaiba erwartet hatte. Weit vorne, nur unweit der Bühne, standen bereits über die Hälfte der Spieler, die es in die nächste Runde geschafft hatten. Aus der Menge trat ein blonder Schopf hervor, dessen Stimme Kaiba auch aus hundert Kilometer Entfernung vernommen hätte. Neben ihm, weitaus kleiner, dafür umso auffallender in seiner Haarpracht, stand sein Freund - der ehemalige König der Spiele.

Werden die jemals erwachsen und hören mit dieser Kindergarten-Fangruppe auf?

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, machte er den jungen Kaiba aus. Sein Bruder stand einige Meter von den Profiduellanten entfernt. An seiner Seite war eine kleine junge Frau mit schwarzem Haar, die etwas blass um die Nase schien. Kaiba setzte an, auf seinen Bruder zuzugehen, als eine krächzende Stimme durch den Raum schallte: "Du stehst einer unüberwindbaren Mauer gegenüber. Meine Königinnen sind unbesiegbar und werden dich und deine Lebenspunkte ein für allemal zerquetschen." Kaiba sah hinauf. Er kannte die Stimme, sie gehörte Insector Haga, einem abgehalfterten Spieler der Championsliga. Er hatte es geradeso in die nächste Runde geschafft. Kaibas Augen weiteten sich als er die Anzeigetafel entdeckte.

Der Insektenfreak duelliert sich?!

Er verschränkte die Arme vor der Brust und vergewisserte sich, dass es noch nicht sechzehn Uhr war. Hagas Stimme lachte gehässig durch die Arena, dass Kaiba bereits das Interesse verlor.

"Insektenkönigin! Greife ihr verdecktes Monster an."

Ihr?

Noch bevor Kaiba etwas oder jemanden erkennen konnte, spritzte das Gift der Insktenkönigin wie eine Gaswolke auf die verdeckte Karte und das gesamte gegnerische Feld. Bis auf das Sieg verheißende Lachen Hagas war es still in der Arena geworden.

"Deine letzte Verteidigung ist vernichtet. Deinen Lebenspunkten wird es genauso ergehen...was...?! Wie?", Haga riss die Augen auf. Die Dunstwolke löste sich allmählich auf. Aus dem Nebel trat eine Kriegerin hervor. Hinter ihr stand die Duellantin, in gelassener Position und betrachtete ihr Monster.

Yamamori

Jubel ertönte, als sowohl sie als auch ihr Monster unbeschadet der Attacke blieben. Kaibas Blick fiel auf die Punkteanzeige. Yamamori hatte noch 900 Lebenspunkte, ihr Gegner 2700. Ihr gegenüber standen die zwei mächtigsten Insektenkarten, die Haga in seinem Deck vorzuweisen hatte. Noch dazu war er mit zwei Zauberkarten ausgestattet, die seine Monster stärker und so gut wie unangreifbar machten. Eine klassische Kombination Seitens Haga, der mit nichts anderem umzugehen wusste als mit Insekten. Die junge Frau hingegen hatte nur ihr Monster auf dem Feld.

"Warum wurde dein schwaches Monster nicht zerstört", knurrte Haga und kniff die Augen zusammen als vergewisserte er sich, dass es kein Versehen war. Seine Gegnerin zuckte lediglich mit den Schultern.

"Das ist Reese, die Eisherrin. Sie kann nicht durch Monster zerstört werden, deren Stufe vier oder höher ist."

"Dein schwaches Monster wird dir auch nicht lange nützen", entgegnete der Grünhaarige und beendete seinen Zug. Yamamori zog eine Karte. Ruhig war ihr Blick darauf gerichtet.

"Mann", hörte er eine vertraut nervige Stimme vor sich, "das sieht gar nicht gut für sie aus."

"Warten wir es ab, Katsyua", entgegnete der junge Mann neben ihm, "so wie sie aussieht, ist sie noch lange nicht am Ende." Da hatte Yugi recht. Rin Yamamoris Ausdruck war konzentriert, aber keinesfalls verzweifelt. Kaiba konnte nicht richtig bestimmen, ob sie nur bluffte oder tatsächlich einen Plan hatte aus dieser Misere herauszukommen. Die Erscheinung der jungen Frau hinderte ihn daran, ihre Niederlage bereits als Unausweichlichkeit zu betrachten. Sie strahlte trotz ihres Rückstandes Überlegenheit und Selbstvertrauen aus, dass es Kaiba bis hierhin wahrnehmen konnte. Dass ihre Kleidung ihr gesamtes Statement unterstützte, ließ ihn innerlich schmunzeln. Yamamori trug die weiße Bluse, von der Kaiba meinte, sie aus dem ersten Probeduell wiedererkannt zu haben. Der Stoff schmiegte sich um ihren Oberkörper und zeigte jede Kurve, dass ihre schlanke Statur umso stärker zur Geltung kam. Als Zugabe wurden ihre Beine von einer verboten scharfen Lederhose unterstützt, die ihre Beine ins Unermessliche steigen ließ und wie eine zweite Haut an ihr klebte. Mit ihren Stiefeletten war sie gut einen Kopf größer als ihr Gegner, was sie in ihrer Haltung bewusst einsetzte.

"Egal, was du in deiner Hand hast", lächelte Haga schmierig, "du kannst mich nicht besiegen. Ich schlage vor, du beschäftigst dich schon mal mit deiner Abmachung. Meine Insekten und ich haben noch einiges vor."

Eine Abmachung also. Yamamori wird ihn irgendwie dazu bekommen haben, dass er sie zu einem Duell herausfordert. Es war klar, dass er dieses Spiel nicht umsonst bestreitet. Es hatte mich schon gewundert, dass sich Haga noch auf ein Duell eingelassen hat. Sonst riskiert er doch nie etwas. Schon gar nicht einen Platz in der nächsten Runde. Ich frage mich, was für eine Abmachung das ist, die ihn letztendlich umgestimmt hat.

Yamamori schien seinen Kommentar zu ignorieren und befasste sich lieber mit den Karten in ihrer Hand: "Es wird Zeit", begann sie und sah eine Karte ganz genau an, "den Insekten ihren wahren Platz zuzuweisen." Stechend grüne Augen traten zum Vorschein und versprühten ihr Gift auf ihren Gegenüber: "Ich spiele Kosten verringern", zwei Kurzschwerter erschienen und durchtrennten eine imaginäre Monsterkarte, "damit verringere ich die Stufe aller Monster auf meiner Hand um zwei."

"Egal, was du in deiner Hand hast, es wird nicht ausreichen meine umgewandelte Königin zu besiegen. Dein stärkstes Monster habe ich bereits besiegt und mit deinen anderen Kreaturen werde ich genau dasselbe tun."

"Ich habe nicht nur einen mächtigen Drachen in meinem Deck", sie riss die Augen auf und nahm eine Karte in die linke Hand, "verabschiede dich schon mal von deinen Lebenspunkten, denn ich opfere meine Eisherrin um eine neue Bestie aufs Feld zu holen." Ein greller weißer Kreis erschien auf ihrer Spielfeldseite. Ein Kreischen ertönte, Flügel formten sich. Der eine engelsgleich, während der andere Flügel von einem Vampir entsprungen schien. Weiß traf auf schwarz, verband sich zu Yin und Yang während Licht und Schatten einander in die Hände klatschten.

"Was ist das für ein Drache?", fragte Jonouchi seinen besten Freund.

"Das ist der Drache des Lichts und der Finsternis. Eine ziemlich mächtige Karte, wenn sie richtig gespielt wird."

"Wenn du mich fragst, hat sie auf seine Punkte nicht richtig geachtet. Das Monster hat nur 2800 Angriffspunkte. Klar, kein schlechtes Monster, ohne Frage, aber die umgewandelte Insektenkönigin hat über 3000 ATK. Und vergiss`nicht, das er noch die Zauberkarte vergessenes Insekt auf dem Spielfeld hat. Der Drache könnte nicht einmal seinem Kokon etwas anhaben. Außerdem wirkt noch der Effekt seiner umgewandelten Königin. Zauber- und Fallenkarte und auch noch Monstereffekte sind nutzlos."

"Warten wir es ab", erwiderte der Kleinere, "diese Karte birgt einige Überraschungen mit sich."

Böse Überraschungen

Rin betrachtete ihren Drachen, dessen Schwanzspitze bis zu ihr gelangte, dass sie bloß die Hand ausstrecken musste, um die Schuppen auf ihrer Haut zu spüren. Ihre Augen begannen zu blitzen als die Kreatur seinen Kopf in ihre Richtung drehte, dass Kaiba unweigerlich das virtuelle Duell vor Augen hatte, dass er sich vor einigen Wochen von ihr angesehen hatte.

"Mein Drache hat eine ganz besondere Fähigkeit", ihre Stimme ertönte durch den Raum als wollte sie ihn damit einnehmen, "sobald er beschworen wurde, kann er einen beliebigen Effekt meines Gegners auflösen. Und ich wähle", sie zeigte auf die umgewandelte Insektenkönigin, "damit kann deine Königin weder andere Insekten vor Effekten schützen, noch zweimal angreifen. Wobei zweites keine Rolle mehr spielt." Im Gegenzug sank der Angriffswert ihres Drachen um fünfhundert. Ein hoher Preis für eine Annullierung. Hagas verärgertes Gesicht wich einem Grinsen als er Yamamoris geschwächtes Monster erblickte.

"So viel Aufwand für nichts", Haga war wieder bester Laune, "dein Monster hat nur noch 2300 ATK und meine Zauberkarte ist immer noch aktiv. Sobald du es also wagst, meinen Kokon anzugreifen, bist du erledigt."

"Ich habe auch nicht vor, deinen Kokon anzugreifen", lächelte sie zurück, "Drache des Lichts und der Finsternis", richtete Yamamori ihren Befehl an ihr letztes Monster, "greif seine umgewandelte Königin an." Entsetzt sahen alle dabei zu, wie die junge Frau ihren Drachen opferte und siebenhundert ihrer Lebenspunkte auslöschte. Lediglich Yugi und Kaiba blieben entspannt als der Drache auf den Friedhof geschickt wurde.

"So etwas Dummes habe ich noch nie gesehen", feixte Haga und blickte finster drein als das Lächeln seines Gegners noch immer nicht versiegt war.

"Kommen wir zu dem zweiten Effekt von Drache des Lichts und der Finsternis", sprach sie ganz ruhig, dass alle Augen auf ihr ruhten, "sobald der Drache besiegt und auf den Friedhof geschickt wurde, werden alle meine Karten auf dem Spielfeld zerstört", sie selbst wusste, dass sie keine Karte hatte, darum blieb sie davon unberührt, "danach kann ich ein Monster von meinem Friedhof zurück aufs Feld holen." Ihre Augen weiteten sich, ihr linker Arm schnellte in die Höhe und zeigte auf den Diamantenregen, der die Rückkehr des weißen Nachtdrachen ankündigte. Zeitgleich blitzte ihr Armband mitsamt seiner beiden Buchstabe auf und wurde für Sekunden Mittelpunkt der Kameraeinstellung. Ein Raunen ging durch den Saal, der mächtige Drache war beeindruckend.

"Dachtest du, du würdest mein mächtiges Monster so schnell los werden?, entgegnete sie und deutete auf diesen, dass er sich in Angriffsposition brachte.

"Na und", knurrte Haga, "du scheinst vergessen zu haben, dass ich in diesem Spielzug den Effekt meiner Zauberkarte noch nicht eingesetzt habe. Sobald ich ein Monster von meinem Friedhof verbannt habe, wird die Attacke deines Drachen nutzlos sein."

"Lassen wir es darauf anlegen", konterte sie und befahl dem weißen Nachtdrachen seinen Kokon anzugreifen.

"Ich aktiviere den Effekt von vergessenes Insekt. Ich wähle deinen Drachen und annulliere seinen Angriff."

"Irrtum", rief sie, während der Drache seine Dimanantenblitzattacke aufbaute, "weißer Nachtdrache bleibt von Effekten, die ihn direkt als Ziel wählen, unberührt." Damit sandte der Drache eine diamantene Lichtkugel aus dem Maul. Allein das grelle Licht zerstörte den schutzlosen Kokon, dessen Angriffspunkte bei dreihundert standen. Die Differenz brachte Haga zum taumeln, in letzter Sekunde fand er sein Gleichgewicht und stützte sich an den Sicherheitstangen neben sich ab. Er keuchte, riss die Augen auf. Sein Anblick war reines Entsetzen. Die Anzeige krachte auf Null. Stille. Niemand schien zu glauben, dass das Duell beendet war als plötzlich die Stimme des Kommentators erschien: "Rin Yamamori schlägt Insector Haga fünf Minuten vor Ende der Battle-City-Turniere. So etwas gab es noch nie!" Auf ein Zeichen setzten Applaus und Jubelrufe ein, die Menge tobte. Einstige Fans des Insektenkönigs gratulierten der jungen Frau, dass die Stimme des Laudators beinahe unterging und das Eigentliche beinahe in den Hintergrund rücken ließ: "Somit gehen zehn Punkte auf das Konto von Rin Yamamori, damit überholt sie Insector Haga und schnappt sich den letzten Platz für die nächste Runde. Zwei Spieler vertreten nun die Kaiba Corporation in den Rooftop-Battles."

"Wahnsinn", vor ihm drehte sich Jonouchi zu seinem Kumpel aus Schultagen um, "das war Rettung in letzter Sekunde. Wenn sie nicht die richtige Karte gezogen hätte, wär´es für sie gelaufen."

"Da bin ich mir nicht so sicher", entgegnete der Kleinere ernst, dass der Blonde ihn fragend anblinzelte, "der letzte Zug hatte nichts mit Glück zu tun."

Hatte es auch nicht. Kaiba wusste, worauf Yugi anspielte. Die junge Frau hatte zwei Karten ausgespielt, die beide bereits in ihrem Besitz gewesen waren.

"Du solltest sie nicht unterschätzen, Katsuya. Sie duelliert sich mit eiskalter Berechnung. Vielleicht hat sie sogar bewusst das Spiel hinausgezögert, nur um Haga in Sicherheit zu wiegen. Sie könnte ein harter Gegner werden." Kaiba sah zu seiner Spielerin herüber. Beinahe ausdruckslos war ihre Mimik, obwohl ihr der größte Jubel ihrer bisherigen Laufbahn zuteil wurde.

Faszinierend. Wie oft sie wohl diesen Blick vor dem Spiegel geübt hat?

"Meine wundervollen Geschöpfe!", jammerte der Verlierer und starrte in die Leere des Spielfeldes.

"Ein Insekt", setzte die junge Frau an und verschränkte die Arme vor der Brust, "gehört nur an einen Ort - zerquetscht unter dem Keil meiner Absätze "

Unbeeindruckt von ihrer Umgebung ließ sie sich von dem Podest herunterfahren.

"Mokuba", der Ältere war an den Schwarzhaarigen herangetreten, dass die junge Frau neben ihm kurz zusammenzuckte, bevor sie sich wortlos zurückzog.

"Oh Seto", lachte sein junger Bruder ihn an, dass kleine Grübchen entstanden, "hast du das gesehen?" Ohne darauf zu antworten, deutete der junge Firmenchef auf den Koffer, den Mokuba die ganze Zeit fest umklammert hatte. Auf ein Nicken hielt er ihm sein Equipment hin, dass Kaiba lediglich danach greifen musste.

"Kümmere dich darum, dass Frau Yamamori alle notwendigen Termine erhält. Wir brauchen noch einen Datenscan ihrer Kartensammlung, eine gründliche Imageprüfung und schau', dass ein weiteres Fotoshooting angesetzt wird. Die ersten Bilder waren amateurhaft."

"Verstehe, großer Bruder", nickte Mokuba eifrig, "und was ist-"

"Selbstverständlich. Bis zur Liveshow am Sonntag muss alles perfekt sitzen. Wir können keine Rücksicht auf diese kurzfristige Wendung nehmen."

"Du kannst dich auf mich verlassen. Bis zum Wochenende kitzeln wir aus ihr den Champion heraus."

Ein leises Surren weckte sie aus ihrem Schlaf. Langsam flackerten die Augen, nur mühselig raffte sie sich auf, nahm die Hand aus der Decke und suchte nach ihrem Smartphone, das sie irgendwo neben ihrem Bett platziert haben musste.

Ihr dröhnte der Kopf. Es fühlte sich an, als hätte sie die Nacht durchgemacht und Unmengen an Alkohol getrunken. Dabei war sie früh ins Bett gegangen, sogar noch vor Mitternacht. Nach dem glorreichen Duell gegen Haga schien es als prasselten die letzten acht Wochen auf die junge Frau nieder. Der verpasste Schlaf, die Überstunden und neu aufgenommenen Trainingseinheiten zur Körperfitness hatten stärker ihre Spuren hinterlassen als es Rin für möglich gehalten hätte. Kaum war sie mit Lumina in ihrer Wohnung angekommen, hatte sie sich auf der Couch niedergelassen. Die letzten vierundzwanzig Stunden drehten sich in ihrem Kopf - der Jubel, die erwartungsvollen Gesichter, Seto Kaibas Blick. Sie konnte nicht sagen, ob es ihn interessierte, dass sie es in die nächste Runde geschafft hatte. Sein Ausdruck war kontrolliert und ausdruckslos. Lediglich seine Augen hatten sie angefunkelt, hatten ihren Siegerblick eingefangen, dem sie sich nicht entziehen konnte. Zu sehr hatte sich dieser Moment danach angefühlt, dass sie es verdient hatte hier zu stehen. Dass der Applaus ihr gebührte. Genauso die Gesichter ihrer Konkurrenz. Alles hochrangige Spitzenduellanten, die zugesehen hatten, wie ein Neuling einen ehemaligen Champion platt gemacht hatte. Ihr Herz hatte bei all den Größen gerast. Selbst der ehemalige König der Spiele hatte ihrem Duell beigewohnt, wenn er auch bestimmt nur da gewesen war, um seinem Kumpel zur Seite zu stehen.
 

Endlich fand sie den Störenfried unter ihrer Tagesdecke, die achtlos zu Boden geworfen worden war, nachdem sie sich von Luminas Couch hatte hochrappeln können. Schnell waren ihre Augen träge geworden als sie das warme Kissen ihrer besten Freundin am Rücken gespürt hatte. Kurz nach dem Abendessen, noch bevor sie richtig anstoßen konnten, war Rin eingeschlafen. Lumina musste sie erst einige Stunden später geweckt haben, denn da war es bereits dunkel geworden und nach einem schwachen Protest Seitens Rin, hatte sie ihrer fürsorglichen Freundin klein beigegeben und war in ihr Bett gekrochen.
 

Mit einem Klick hatte sie die Weckfunktion ausgeschaltet. Ihre müden Augen, die sich kaum aufhalten konnten, sahen auf den Bildschirm.

Scheiße

Müdigkeit wich aus ihrem Inneren. Mit aufgerissenen Augen sah sie auf die Uhr. Ihr Wecker musste bereits seit einer viertel Stunde geklingelt haben. Sie hatte ihn so gestellt, dass sie sich in Ruhe zurechtmachen konnte, bevor sie mit dem Bus in die Kaiba Corporation fahren würde. Mokuba war nach dem Duell zu ihr gekommen und hatte sie bereits über die nächsten Schritte unterrichtet. Sie musste ihre Karten durchscannen lassen, bevor das Meeting für sie und Yoshi startete.

Hektisch riss sie die Decke von ihrem Körper und sprang aus dem Bett. Dabei rutschte sie fast über ihre Lederhose aus, die es ebenfalls nicht geschafft hatte, von ihr zusammengelegt zu werden. Rin riss die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf und rannte ins Bad. Provisorisch wusch sie sich die Reste ihres Makeups vom Gesicht, bevor sie ihre Haare bürstete und gleichzeitig versuchte, sich die Zähne zu putzen.

"Rin", rief Lumina aus dem Wohnzimmer, welches gleichzeitig als ihr eigenes Zimmer fungierte.

"Kann nisch reden", rief sie zurück, "keine Scheit." Sie spuckte den Schaum aus ihrem Mund und gurgelte mit dem fließenden Wasser aus dem Hahn.

"Verschlafen?", Lumina war an die Badtür getreten und lächelte hämisch.

"Wenn ich jetzt nicht losgehe", Rin sprintete zurück in ihr Zimmer, "dann komme ich zu spät."

"Na und", zuckte die Schwarzhaarige mit den Schultern, "du bist in den Top dreißig. Es sollte niemanden scheren, wenn du dich ein paar Minuten verspätest." Vielleicht hätte sie es auch weniger gestört, wenn nicht die Tatsache gewesen wäre, dass ihr Boss persönlich erscheinen würde und die Ansprache an seine beiden Spieler hielte. Etwas mühselig quetschte sie sich in ihre Hose von gestern und suchte nach einem passenden Oberteil, dass nicht zu sehr nach Provokation aussah. Ihre Lederhose sagte schon genug aus. Lumina beobachtete sie amüsiert dabei und grinste umso breiter, je mehr sich Rin abmühte, das Anziehen zu beschleunigen.

"Lass`mich raten. Herr Großkotz persönlich wird sich die Ehre erweisen. Meinst du nicht, dass dein Outfit...naja, sagen wir, dass es weniger nach Finalistin schreit, sondern eher nach >hey, lass uns mal ein Spiel zusammen spielen<...hey!" Ein Hausschuh landete in ihrem Gesicht. Mit herausgestreckter Zunge sah Rin zu ihrer Freundin, die sich lachend aufs Bett fallen gelassen hatte.

"Es macht einfach so Spaß, dich zu ärgern", sie ahmte einen Luftkuss nach, den Rin jedoch ignorierte und stattdessen nach dem silbernen Koffer suchte, den sie neulich von Mokuba bekommen hatte. Sie fand ihn neben ihrer Vitrine, dass sie deren Glastür öffnete und sämtliche Portfolios darin verstaute, die sie im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Abschließend legte sie zwei Blech-, sowie zwei Deckboxen hinzu, in denen lediglich die ausrangierten Karten hausten, mit denen Rin nichts anzufangen wusste. Aber Mokuba hatte gesagt, dass er all ihre Karten brauchte.

Mit einem Klick schloss sie den Koffer, der sich so schwer anfühlte, wie an dem Tag als sie ihr VR-Equipment mit sich rumgeschleppt hatte.

"Du siehst gut aus", feixte Lumina und betrachtete den Koffer, den Rin mit ihrer linken Hand festhielt, dass ihr Armband, das sie gestern vergessen hatte abzulegen, umso deutlicher zum Vorschein kam. Es harmonisierte geradezu perfekt mit dem glänzenden Silber des Koffers.

"Wie ein Handlanger", neckte sie Lumina weiter, "wenn du nicht aufpasst, verwandelst du dich gleich in eines dieser Security-Männer mit dunkler Sonnenbrille und dieser eigenartigen Stachelfrisur."

"Ich fange höchstens wieder an, mir den Pony in eine Tolle zu verwandeln", entgegnete Rin und zog sich die Schuhe an.

"Keine schlechte Idee. Aber nur ich würde den Wink verstehen."

Kurz sah Rin aus dem Fenster. Nur kleine Wolken bedeckten den Himmel. Sie entschied sich gegen eine Jacke und eilte aus dem Zimmer.

"Warte", rief ihr Lumina hinterher. Diese war in die Küche gelaufen und warf ihrer Freundin einen Reisball zu. Mit einem letzten Lächeln verschwand Rin aus der Tür und beeilte sich aus dem Haus zu kommen. Sie fühlte sich an den Tag erinnert, an dem sie zu Fuß zur Kaiba Corporation gesprintet war. Glücklicherweise war ihr das Wetter heute hold und auch der Bus wartete gnädigerweise noch auf sie, dass sie schnell den Reisball verputzte und pünktlich im Geschäftsviertel Domino-Citys einfuhr. Durch die Drehtür hindurch, fing sie die Blicke der Angestellten ein, die sie neugierig zu mustern schienen. Rin vergewisserte sich, dass sämtliche Knöpfe ihrer Bluse ordentlich verschlossen waren. Sie hatte sich für eines der Oberteile entschieden, das sie während der Zulassungsprüfungen für die Universitäten getragen hatte. Ihre Mutter hatte ihr die Blusen gekauft und Rin hatte sie für spätere Bewerbungsgespräche genutzt, die sie bieder und sittsam erscheinen ließen. Rin wollte zumindest von oben einen braven Eindruck erwecken. Warum, wusste sie selbst nicht so genau, aber sie verspürte eine undefinierbare Unruhe, wenn sie daran dachte, dass die Sittsamkeit an ihrer Hüfte aufhörte und dort dunkles Leder an ihren Schenkeln klebte, die einer Domina wohl alle Ehre gemacht hätten. Das gestrige Duell mit diesem Kleidungsstück zu bestreiten, war ihr an diesem Tag ein Bedürfnis gewesen. Sie war eine Art Glücksbringer für sie geworden, seit sie die Juniorenmeisterschaften in DuelMonsters gewonnen hatte. Sie hatte sie extra für dieses Turnier gekauft. Seit sie entdeckt hatte, dass ihr Wesen sich wandelte, wenn sie sich duellierte, hatte sie das Gefühl ihr Äußeres mit involvieren zu müssen. Darum versuchte sie auch ihren Gesichtsausdruck dementsprechend anzupassen, dass Rin mit einer Mischung aus Selbstvertrauen und Gelassenheit an die Anzug- und Kostümträger vorbeimarschierte und mit dem Fahrstuhl die fünfundvierzigste Etage hochfuhr. Eine frisch blondierte Sekretärin begrüße Rin, schien sie wieder zu erkennen, dass Rin zurücklächelte.

"Guten Morgen, Frau Yamamori. Das Meeting findet heute in Zimmer 450 statt. Wenn sie mir folgen würden." Beim Vorbeilaufen huschte Rins Blick zu der milchigen Glastür.

Ob er wieder drin ist und mich beobachtet? Ach Quatsch, das hat er beim letzten Mal bestimmt auch nicht

Die Chefsekretärin führte Rin in einen großen Konferenzraum, aus dem sämtliche Stühle und Tische entfernt worden waren. Lediglich ein Podium war seitlich aufgestellt worden, auf dem Ablageplatz für Blätter oder ähnliches waren. An einem der Fenster, das die Morgensonne einfing, lehnte Yoshihiko Taba. Die Arme verschränkt, dass seine DuelDisc an seine Brust drückte, warf er dem Neuankömmling einen mürrischen Blick zu. Rin kam nicht umhin ein selbstgefälliges Lächeln aufzusetzen. Als sich die Sekretärin verabschiedet hatte, kam sie ein paar Schritte auf ihn zu.

"Ich habe dir doch gesagt, dass wir uns wiedersehen werden", ihr Lächeln wurde breiter, sie stellte sich vor das Podium und sah zu Yoshi herüber, dessen Schneidezähne aufblitzten.

"Bild`dir bloß nichts darauf ein. Das war pures Glück. Du wirst sehen, du wirst schneller aus der Vorrunde ausscheiden, als du >Zeit für ein Duell< ausrufen kannst."

"Abwarten", säuselte Rin, die ihre Stimme senkte, als sie näherkommende Schritte vernahm. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie wagte es nicht zur Tür zu blicken.

Du machst dich lächerlich

Seto Kaiba und sein Bruder betraten den Raum. Während der eine nichtssagend auf das Podium zuschritt, begrüße sie der Jüngere mit einem strahlenden Lächeln.

"Tag Leute", er sah zu Rins Koffer, den sie kein einziges Mal aus ihrer Hand genommen hatte, "sind da deine Karten drin?", fragte der junge Kaiba rhetorisch. Rin hielt ihm den Koffer hin, dass sich Mokuba sofort daran machte, ihn entgegenzunehmen. Er steuerte auf seinen Bruder zu, der neben dem Pult auf einer Erhöhung stehen geblieben war und mit eisiger Miene auf seine Angestellten hinabsah.

"Verschwenden wir nicht länger Zeit", waren seine ersten Worte, dass Rin sich bemühte, ihren Blick auf ihn zu richten, ohne Verlegenheit zu verspüren. Anders als im Café weckte der mächtige CEO in seinen Geschäftsräumen eine unheimliche Überlegenheit aus, die Rin klein und unbedeutend erscheinen ließ. Zudem musste sie sich zusammenreißen, seine Gesichtszüge nicht all zu genau zu betrachten. In dieser Position war es zu leicht, seine gesamte Statur einzufangen. Die Überlegenheit, die er ausstrahlte, machte sich in seiner gesamten Haltung bemerkbar. Er wirkte so unerschrocken und selbstsicher, dass sie wünschte, nur ein zehntel seiner Eigenschaften zu besitzen, um nicht all zu aufgeregt zu sein. Ihre jadegrünen Augen trafen auf das tobende Meer seiner Seelenspiegel, dass sie nicht umhin kam, das Blau seiner Augen kühl aber irgendwie auch schön zu finden.

"Die Battle-Citiy-Turniere sind beendet", sprach der junge Firmenchef, dass sich Rin aus ihren Gedanken fortriss, "das heißt, die Schon-Phase ist beendet. Die nächsten Runden werden anders als ihr sie aus den letzten Jahren kennt. Es wird euch einiges abverlangt werden. Von euren Duellfähigkeiten, wie euren Nerven. Wer meint, dem Druck nicht stand zuhalten, hat hier nichts verloren." Seine Worte klangen endgültig, als räumte er seinen Spieler eine letzte Möglichkeit ein, einen Rückzieher zu machen, bevor ernst gemacht wurde. Im Hintergrund blieb sein jüngerer Bruder, der den silbernen Koffer auf das Pult gestellt hatte und mit einem Gerät, das einem Tablet nahe kam, scannte. Derweil sprach der Ältere weiter: "Für die nächste Runde werden alle Duellanten mit einem verbesserten holographischen System arbeiten. Der ein oder andere hat vielleicht bemerkt, dass die Simulationen der Trainingseinheiten einige zusätzliche Features beinhalten, die mit dem neuen System zusammenarbeiten."

Wusste ich's doch

"Diese Technologie wird ein wichtiger Bestandteil der nächsten Runden. Mokuba", ohne seinen kleinen Bruder anzusehen, sah dieser von seinem Gerät auf und nickte eifrig. Der Schwarzhaarige hatte einen eigenen Koffer mitgebracht, aus dem er zwei USB-Sticks holte und sie den Spielern überreichte.

"Diesen Stick", erwiderte Kaiba, "erhalten alle Duellanten, die es bis zu den Rooftop-Battles geschafft haben. Darauf befindet sich Material, das euch ganz genau sagt, was ihr zu tun habt. Es ist eine Choreographie, die euch darin unterstützt und euch die holographischen Neuerungen nicht wie vertrotteltes Anfänger dastehen lässt. Prägt sie euch gut ein, am Montag finden Dreharbeiten statt, die für die kommenden Werbeausstrahlungen genutzt werden." Rin betrachtete den kleinen Stick in ihrer Hand. Sie verstand allmählich die Funktion des VR-Helms, mit dem sie nur ein paar Simulationsduelle bestritten hatte. Bisher hatten sich die Trainingsgelände der Kaiba Corporation als viel nützlicher erwiesen. Wenn sie daran dachte, was für einen Fortschritt sie im Bereich der Benutzung der neuen Technologie erreicht hatte, war sie gespannt auf die neuen Aufgaben, die sich daraus ergaben. Sie hoffte, dass sie die Hologramme mit ihren geistigen Vorstellungen verbinden konnte, so wie sie es bereits beim Training tat.

"Noch Fragen?", fragte Kaiba knapp, obwohl er nicht so klang als wollte er auf kommende Fragen antworten. Als niemand etwas sagte, wandte er sich ab und marschierte aus dem Raum. Nur kurze Zeit später streifte sie Yoshi. Sein Blick war provokant: "Vielleicht treffen wir in der nächsten Runde aufeinander."

"Ich freu mich schon drauf", flüsterte sie zurück, dass es wie das Zischen einer Schlange klang. Ohne weiter darauf einzugehen, verschwand auch er aus dem Konferenzraum. Nur noch sie und Mokuba waren im Zimmer.

"Hübsche Karten, die du da hast", grinste der Schwarzhaarige, während er mit dem Finger über das Tablet strich, "mein Gerät zeigt mir eine Anzahl von fünfhundert Karten an. Das ist eine beeindruckende Zahl."

"Naja", winkte sie ab, "ein paar davon habe ich doppelt und dreifach. Viele von ihnen sind auch nicht so viel wert. Ich kann mich nur nicht dazu durchringen, sie weg zu geben."

"Ein paar von den Karten müssten zur Analyse weitergegeben werden. Nicht, dass ich dir nicht traue, aber bei einigen von ihnen, wird die Kommission darauf bestehen, dass sie vorher auf ihre Echtheit geprüft werden. Ganz besonders diese eine Karte."

"Ich weiß schon, welche du meinst. Mach`ruhig."

"Mein Bruder wird Augen machen, wenn ich ihm zeige, dass du eine der seltensten Drachen in deiner Sammlung besitzt. Noch dazu in der Goldrare-Edition."

"Sag`ihm gleich, dass sie nicht zum Verkauf steht", grinste Rin zurück, wenn auch etwas scheu, denn sie wollte nicht, dass jemand ihre seltenste und wertvollste Karte in Besitz nahm.

"Keine Sorge", Mokuba nahm eines der Portfolios und blätterte zu der Seite, in der sich das Schmuckstück befand, "ich werde ihm auf die Finger schauen, dass er keine Dummheiten macht." Auch wenn er es nur aus Spaß sagte, wurde Rin etwas unruhig. Sie beobachtete genau, wie Mokuba die Karte herausnahm, die zusätzlich in eine Folienhülle gelegt worden war. Dann ging er mit dem Tablet über die einzelne Karte. Es gab ein leises Piepen, dann legte der Jüngere die Karte zurück in das Portfolio. Dies machte er noch mit drei weiteren Karten, nachdem Rin ihm bei der Suche nach den richtigen geholfen hatte. Das Tablet hatte wohl ihre gesamte Kartensammlung mit einem Klick eingefangen, ohne jede einzelne dafür abzuscannen. Nur die seltensten wurden einem gründlicheren Check unterzogen, dass Rin neugierig auf den Bildschirm linste, auf dem sämtliche Daten der jeweiligen Karten aufgelistet waren - angefangen vom Erscheinungsjahr bis zum Wert der jeweiligen Ausgabe.

"Fertig", Mokuba schaltete sein Tablet aus und legte die Portfolios wieder sorgfältig in den Koffer. Rin war froh, die Sammlung wieder in ihren Besitz zu wissen. Es fühlte sich so an als schleppte sie hunderttausend Dollar mit sich rum.

"Ich hab noch was für dich", Mokuba nahm erneut seinen eigenen Koffer zur Hand und holte eine DuelDisc heraus. Rin betrachtete das identische Abbild ihrer erst kürzlich erhaltenen Gerätschaft. Mokubas Augen sahen auf das Gerät.

"Uns ist aufgefallen, dass du Linkshänder bist und deine DuelDisc immer an dem rechten Handgelenk trägst. Mit dieser hier musst du nicht mehr spiegelverkehrt spielen und kannst dich ganz auf das Duell konzentrieren."

Rin sah ihn überrascht an.

"Ich wusste nicht, dass es auch DuelDiscs für Linkshänder gibt."

"Gibt es auch nicht", er hielt ihr die Disc hin, dass Rin noch verwirrter dreinblickte. Sie konnte nicht glauben, dass man ihr eigens eine DuelDisc angefertigt hatte.

"Nimm es als Anerkennung deiner erfolgreichen Vorrunde an."

Das tat sie.

Stolz legte sie sich ihre neue DuelDisc um ihr Handgelenk. Ihre alte verstaute sie mitsamt des Koffers in ihrem Schließfach, den sie am Abend wieder abholen würde. Ihr heutiger Tag war angestaut mit diversen Besprechungen, Fototerminen und einer - wie hatte es Mokuba gesagt - Imagefindung. Unter Letzteres konnte sich die junge Frau nur wenig vorstellen. Sie befürchtete, dass aus ihr eines jener Projekte gemacht wurde, mit dem bereits unzählige, beliebige und gesichterlose Popsternchen geboren worden waren. Darauf hatte sie wenig Lust, wenn sie sich auch letztendlich den Anweisungen ihrer Vorgesetzten zu beugen hatte, würde sie darum kämpfen, ihren Willen durchzusetzen. Mit Mokuba an ihrer Seite, der sie bei dieser Besprechung unterstützten sollte, würde sie vielleicht eine Chance haben, dagegen anzukommen. Mit einem Quietschen schloss sie ihr Fach und verließ die Kaiba Corporation, nur um eine kurze Pause in ihrem Lieblingscafé einzuschlagen. Auf dem Weg durchflog sie ihr Mailpostfach, das mit zehn verschiedenen Nachrichten der Kaiba Corporation gefüllt war. Darunter eine Terminänderung, bezüglich der Imagepflege, die von vierzehn auf sechzehn Uhr verschoben worden war. Rin war es nur recht, hatte sie nach dem Fotoshooting genug Zeit, zurück in die Firma zu kommen, ohne durch die Stadt hetzen zu müssen. Sie steckte ihr Telefon zurück in die Hosentasche und öffnete die Tür zum Café.

"Da kommt ja unsere Finalistin", Makotos Stimme hallte durch das fast leere Café. Lediglich ein paar Angestellte hatten sich in eine Schlange eingeordnet und bestellten ihre übliche Pausenmahlzeit. Ihre Köpfe drehten sich zum Eingang, erneut spürte sie die stechenden Blicke von viel zu beschäftigten Businessmännern und -frauen. Rin war es gewohnt, in der Kaiba Corporation wie ein Fremdkörper behandelt zu werden, doch diese Gesichtsausdrücke waren anders als die vorherigen. Schon wie am Morgen in der Kaiba Corporation wurde sie mit einem neugierigen und wissenden Blick angesehen, der sie nervös und gleichzeitig selbstsicher machte.

Geht sowas überhaupt?

"Morgen, Makoto", lächelte Rin und lehnte sich an den Tresen, als die Angestellten mit ihren Sandwiches und Kaffees verschwunden waren, "du hast es wohl auch schon gehört."

"Machst du Witze", Makoto machte sich daran, die Kaffeetasse zu füllen, "alle sprechen davon. Du hast mehr Aufmerksamkeit bekommen als dieser andere Typ...Yoshi." Sie stellte die Tasse auf den Tresen und belegte zwei Baguettes, während Kaito, ihr Verlobter, aus dem Hinterzimmer trat und Rin ebenfalls breit grinsend gratulierte. Nur selten zeigte sich der Chefkonditor seiner Kundschaft und meist auch nur, wenn er aushilfsweise Makoto unter die Arme greifen musste. Er war ein freundlicher Mann der ruhigeren Sorte. Mit seinen blonden, leicht gelockten Haaren und den tiefenblauen Augen musste er in Schulzeiten der heimliche Schwarm von vielen Mädchen gewesen sein. Zu seinem Auftreten fehlte nur noch eine Akkustikgitarre um den Hals und jeder wäre reihenweise schmachtend zu Boden gefallen. Sein Lächeln war zaghaft, jedoch ehrlich, dass Rin zurück lächelte und anfing breit zu grinsen als sie den spendierten Apfelkuchen entgegennahm. Er war noch warm und roch nach frischem Obst und einer milden Vanillecreme, dass Rin mehrmals zu einem >danke< ansetzte.

"Wir haben das Duell auf dem Flatscreen vor der Kaiba Corp. mitverfolgt", sagte der Blonde, bevor er sich hinter Makoto stellte und dieser sanft über den Rücken strich.

"Tatsächlich", Rin nahm die Gabel zur Hand und konnte nicht widerstehen, von dem noch dampfenden Kuchen zu probieren.

"Das war absolute Spitzenklasse", entgegnete Makoto und klatschte in die Hände, "ich verstehe zwar nichts von DuelMonsters, aber selbst ich habe gesehen, dass du es echt drauf hast."

"Genug der Komplimente", bemühte sich Rin, nicht rot zu werden. Der Gedanke, dass vor der Kaiba Corporation ihr Duell für jeden sichtbar gewesen war, versetzte ihr einen Schauder. Allmählich begriff sie, warum jeder ihre Blicke kreuzte.

"Aber Rin", Makoto nahm einen Löffel zur Hand, "übertreib´es nur nicht mit dieser >alles oder nichts Nummer<"

"Du klingst schon wie Lumina", winkte Rin ab und nahm noch einen weiteren Bissen. Sie liebte frisch gebackene Kuchen, wenn er erst vor wenigen Minuten aus dem Ofen genommen wurde.

"Nicht, dass du noch wie diese anderen überheblichen Spinner wirst."

"Ach das", Rin sah aus dem Fenster, "das ist nur meine Art mich zu duellieren. Das mach ich schon seit ich mit DuelMonsters begonnen habe."

"Scheint an dem Spiel zu liegen, dass alle das Bedürfnis haben, ihre besten Sprüche raus zu hauen." Daraufhin musste Rin lachen. Makoto hatte recht. Irgendwie stachelte das Spiel regelrecht dazu an, sich von seiner unangenehmsten Seite zu präsentieren. Für Rin war es eine willkommene Ablenkung zu ihrem streng erzogenen Charakter.
 

Sie blieb nicht lange im Café, nur ein kurzer Plausch mit Makoto, bevor sie auch schon weiter musste. Schnell nahm sie den letzten Schluck Kaffee und machte sich auf dem Weg zum Fotostudio - wieder einmal. Wie Rin bereits vermutet hatte, musste sich der Fotograf nicht all zu viel Mühe gegeben haben, dass ein weiterer Termin nötig gewesen war. Diesmal war der Fotograf weniger abweisend, er begrüßte Rin geradezu überschwenglich als wäre sie das Model auf das er so ewig gewartet hatte. Anders als beim letzten Mal dauerten die Aufnahmen länger als eine Stunde, der Fotograf wollte sie aus sämtlichen Blickwinkeln. Zwischendurch überkam Rin das Gefühl, dass etwas fehlte, also bat sie um ein provisorisches Gummiband, womit sie ihre Haare festbinden konnte.

Besser

Die langen offenen Haare ließen die junge Frau mädchenhaft und unschuldig aussehen. Nicht gerade das Bild eines Champions. Je länger die Kamera auf sie gerichtet war, umso wohler fühlte sie sich. Die letzten Bilder waren im Handumdrehen geknipst, dass es keiner weiteren Anweisungen bedurfte. Auf dem Bildschirm des Rechners sah sie schließlich die Ergebnisse. Die Entscheidung, welches dieser Bilder für das Cover genommen wurde, oblag nicht ihr. Insgeheim hoffte sie, man würde sich für das Letzte entscheiden. Es spiegelte den gestrigen Sieg so gut wider. Zufrieden ließ sie sich auf den hintersten Platz des Busses nieder und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie konnte noch nicht so richtig realisieren, was es bedeutete, in die nächste Runde zu kommen. Bisher waren die täglichen Herausforderungen der Battle-City-Turniere reines Abarbeiten gewesen. Sie hatte sich von früh bis spät duelliert, war ausgelaugt nach Hause gekommen und musste die paar Stunden Schlaf, die sie hatte, irgendwie hinnehmen. Nun war diese schnelle und intensive Phase vorbei. Auch wenn keine Ruhe einkehren sollte, denn sie hatte nun mit der geschäftlichen Seite des Business`zu tun. Es standen noch Meetings und Besprechungen an. Eine Analyse ihrer Duellfähigkeiten würde unternommen werden und sollte sie auf die nächsten Spiele vorbereiten.

"Bist du Rin Yamamori", riss sie ein Teenager aus ihren Gedanken. Er trug die Uniform ihrer ehemaligen Schule. Flüchtig nickte sie, bevor der junge Kerl seine Mitschüler ran holte und höflich nach einem Autogramm fragte, dass Rin nicht anders konnte als seinem Wunsch nachzukommen. Das Metallarmband um ihr Handgelenk erinnerte sie daran, dass mit ihrem Verhalten auch Verantwortung einherging und jedes Handeln auch auf die Firma abfärbte.

So richtig kann ich mich nicht daran gewöhnen, dass mich alle anstarren und scheinbar wissen, wer ich bin.

Es war geradezu angenehm zurück in die Kaiba Corporation zu kommen. Im Eingangsbereich verabschiedeten sich bereits die ersten in den Feierabend, andere liefen ungeduldig von links nach rechts um ihre abschließenden Aufgaben schnell hinter sich zu bringen. Für Rin schien es als hätte der Tag erst begonnen. Zunächst wurde sie von Senshin und seinem Assistenten in ihre Statistiken eingewiesen, in welche sie Rin irgendwo eingeschoben hatten. Für die junge Frau war es nicht greifbar, wie ihre Fähigkeiten anhand von Daten und Analysen gemessen werden konnten. Auf dem Bildschirm wirkte es als wäre sie lediglich eine Nummer, die man einzugliedern hatte. Diese Einordnung erinnerte sie schwer an die Abschlussprüfungen, die sie auch in ein Schubfach gesteckt hatten, ohne danach zu fragen, was sie wollte. Statt eines bissigen Kommentars bezüglich der streng nach den Algorithmen vorgehenden Ergebnissen, nickte Rin lediglich, dass sie diesen Teil schnell hinter sich bringen konnte. Seit ihrem letzten Gespräch, in dem Rin ein neuer Vertrag zugesprochen wurde, hatte sie ihren Vorgesetzten nur selten zu Gesicht bekommen. Es schien als mied er sie absichtlich.

Vielleicht hat er Angst, dass ich noch eine Gehaltserhöhung will

Der Gedanke ließ sie schmunzeln, dass der Assistent ein fragendes Gesicht aufsetzte, als stammte sie vom Mond ab. Nur zu gern hätte sie einen lauten Seufzer von sich gegeben als sie das Büro verlassen durfte. Nur waren die Flure bereits so leer, dass ihr Seufzen durch die gesamte Etage geschallt hätte. Ihr Blick huschte über ihr Smarthone. Sie hatte noch eine Stunde. Also genug Zeit, schnell das Trainingsgelände zu besuchen und ein paar Übungen durchzunehmen. Je mehr sie sich mit der neuen Technologie auseinandersetzte, umso selbstverständlicher wurde es für sie. Das System schien sie regelrecht mit offenen Armen zu empfangen, sobald sie es einschaltete und die holographische Technik start bereit war. Wenn sie sich genug konzentrierte, konnte sie ihre eigenen Arme und Beine verändern. Konnte sie in Klauen verwandeln oder Blitze aus ihren Fingerspitzen entsenden. Für die junge Frau war es kein Problem mehr Wind zu erzeugen, den kalten Schauer eines Somergewitters auf ihrer Haut zu spüren und mit Flammen den gesamten Raum zum Schmelzen zu bringen - zumindest in der virtuellen Realität. Sie musste sich zusammenreißen, nicht die Zeit dabei zu verlieren. Glücklicherweise hatte sie die leitende KI darum bitten können, sie rechtzeitig an ihren Termin zu erinnern.

Ich bin gespannt, was der kleine Stick bereit hält

Während sie das in der Mail angesprochene Zimmer ansteuerte, gingen ihre Finger über die rechte Hosentasche, in der sie das kleine Gerät verstaut hatte. Sie hoffte, daraus ein paar Informationen sammeln zu können, wo und wie die nächsten Duelle stattfinden sollten. Sie hatte immer geglaubt, dass lediglich das Publikum im Unwissenden gelassen wurde und die Duellanten nur vorspielen sollten als wären sie über die neuen Regeln und Örtlichkeiten überrascht.

Nachdem sie angeklopft hatte, betrat sie das Zimmer. In einem kleinen Büro saß ein schlacksiger und hochnäsig aussehender Mann mit übergroßer Brille, die irgendwie jeder Brillenträger zurzeit trug. Er hob nur flüchtig seinen Kopf als er Rin eintreten sah und wirkte etwas enttäuscht, dass sie es war.

"Lassen Sie ruhig die Tür auf und setzen Sie sich auf den linken Stuhl, Frau Yamamori", seine Stimme war rau und klang etwas gelangweilt. Während Rin Platz nahm, beschäftigte er sich mit seinem Laptop, auf dem er die Finger über die Buchstabentasten hämmerte als wäre er in einem Tipp-Marathon. Sie war froh, dass Mokuba bald eintreffen würde, so würde diesem Raum etwas mehr Leben eingehaucht werden.

Sie zuckte leicht zusammen als die Tür geschlossen wurde. An der Art wie der Mann vor ihr aufsah und sich erhob, ließ sie zweifeln, ob der Neuankömmling wirklich Mokuba war.

Natürlich nicht

Sie versuchte, ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen als der Firmenchef persönlich neben ihr Platz nahm, die Beine übereinander verschränkte und den Eindruck erweckte als wäre er es, der bereits eine Weile auf sie wartete.

Scheinbar gelang es ihr nicht, ihren Blick unbeeindruckt wirken zu lassen, denn ihr Boss wandte sich ihr zu und sagte: "Mein jüngerer Bruder musste zu einer kurzfristigen Besprechung und kann daher nicht hier sein. Und ich überlasse Dinge, die meine Firma unmittelbar betreffen und beeinflussen könnten, nur ungern einem Außenstehenden. Ich hoffe, Sie haben kein Problem mit dieser Maßnahme." Seine Worte klangen wie eine Herausforderung, etwas an seinem Tonfall hatte sich leicht gewandelt als wollte er sie mit der Frage aus der Reserve locken.

"Ihr Bruder hat mir bereits gesagt, dass dieses Gespräch testen soll, wie gut ich meine Nerven behalten kann. Ich denke unter diesen Voraussetzungen ergibt sich die perfekte Gelegenheit das herauszufinden." Daraufhin musste er lächeln. Etwas zynisch, aber Rin konnte sich genauso gut vorstellen, dass diese Art auf seine Weise natürlich und echt war.

"Fangen wir also an", entgegnete der junge Firmenchef und drehte sich zu dem Mann hinter den Rechner. Dieser räusperte sich kurz und sah schließlich zu Rin.

"Da Sie bisher noch keinen Kontakt mit dem öffentlichen Leben hatten, müssen wir sämtliche Aspekte Ihres Privatlebens beleuchten. Um letztendlich Ihre Person ins richtige Licht zu rücken, bedarf es zunächst genauerer Informationen Ihres bisherigen Werdegangs. Daher bitte ich Sie, offen und ehrlich zu sein, damit wir auf mögliche Skandale vorbereitet sind.

Was für Skandale

Ihr Gesichtsausdruck musste Bände gesprochen haben, dass ihr Gesprächspartner sein Vorhaben näher erläuterte: "Jeder noch so kleine Makel aus ihrer Vergangenheit, kann in den falschen Händen zu einem enormen schlechten Image führen. Im Sinne der Kaiba Corporation erwarten wir, dass Sie uns alle Informationen wahrheitsgetreu und detailiert schildern." Er schob ihr ein Blatt Papier hin, dass sie scheinbar unterzeichnen sollte. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte und fragte auch nicht genauer. Stattdessen ließ sie den Kugelschreiber, den er daneben platziert hatte über die Erklärung wandern.

"Fangen wir also an", er sah zurück auf den Bildschirm, "sind Ihre Angaben im Lebenslauf korrekt?"

"Natürlich."

"Sie sind also in der Lage, sich fließend in Englisch, Italienisch und...Arabisch zu unterhalten?"

"Letzteres nein. Wie in meinem Lebenslauf steht, kann ich mich nur auf niedrigem Niveau in dieser Sprache verständigen."

"Und Ihre Noten?", er durchflog scheinbar ihren Lebenslauf, "sie sind nicht gefälscht oder manipuliert?"

"Nein."

"Hier steht", er schien ihren bissigen Ton zu ignorieren, "Sie hätten an der Vorprüfung für das Medizinstudium teilgenommen und bestanden. Warum haben Sie nicht studiert?"

"Aus demselben Grund, warum ich ein Studium in Jura und Wirtschaftslehre abgelehnt habe: Ich wollte nicht auf die Universität gehen."

"Warum haben Sie dann an den Vorprüfungen teilgenommen?"

"Weil ich darum gebeten wurde."

"Von wem?"

"Von meinen Eltern."

"Ihre Eltern also", er ging mit der Maus über einen Teil des Bildschirms, "Ihre Eltern sind gegen Ihre Berufswahl?"

Rin zögerte. "Spielt das eine Rolle?"

"Ich muss einschätzen können, in welcher Beziehung Sie zu Ihren Eltern stehen. Für gemeinhin wird ein harmonisches Familienbild von den meisten bevorzugt. Sollte es Streit innerhalb der Familie geben, müssen wir versuchen, Sie aus der Rolle des schwarzen Schafes herauszubekommen."

"Meine Beziehung zu meinen Eltern ist normal", entgegnete Rin und versuchte zu ignorieren, dass sie ihre Mutter noch zurückrufen musste - wieder einmal. "Ich bin in einer harmonischen und glücklichen Familie aufgewachsen. Das Verhältnis zu meinen Eltern ist vollkommen normal. Dass sie meinen gewählten Lebensweg nicht verstehen, liegt nur an ihrer Fürsorge." Zumindest glaubte sie fest daran, dass ihre Mutter ihren Traum nicht absichtlich umgangen hatte.

"Sonst irgendwelche Skandale oder Vorfälle in Ihrer Familie?", ihr Gesprächspartner, der sich noch nicht einmal vorgestellt hatte, schien es völlig gleich, was Rin antwortete.

"Nein."

"Irgendwelche Krankheiten, Scheidungen oder Ehebrüche."

"Nein", Rin sah auf ihren Schoß, sie konnte nicht glauben, dass sie darauf antwortete, "wenn es irgendwie von Belang ist, denn ich glaube, dass es ans Licht kommen könnte und falsch dargestellt werden würde...mein Vater ist nicht mein leiblicher Vater." Ihr Gegenüber machte sich grob Notizen.

"Und ihr biologischer Vater."

"Tot", entgegnete die junge Frau trocken, "er starb als ich noch nicht auf die Welt gekommen bin. Meine Mutter heiratete wieder. Mein Adoptivvater ist mein richtiger Vater. Ich möchte aber nicht, dass das publik gemacht wird. Ich sage das nur, damit mögliche Informationen nicht missdeutet werden." Sie spürte den Blick Kaibas, der auf ihr ruhte und keinen Spielraum für Interpretationen ließ. Nur ein eisiges Blau ruhte auf der jungen Frau, vor dem sie nicht ausweichen konnte.

"Machen wir mit Ihrem privaten Leben weiter", ihr Gegenüber ging über die Tasten, "ich kann Sie auf keiner Social Media Seite finden - verwenden Sie einen Nicknamen?"

"Ich bin auf gar keiner Socialmedia Plattform", entgegnete Rin und heimste sich einen entrüsteten Blick ein.

"Das werden wir umgehend ändern. Wir werden einen Account für Sie anlegen. Sie brauchen nichts tun, man wird sich um die Pflege Ihrer Seite kümmern."

Was für ein beruhigender Gedanke: Irgendwelche Wildfremden posten in meinem Namen und geben ihren Senf zu allem möglichen Schrott.

"Wie sieht es außerhalb ihrer Arbeit aus?", der Mann machte sich derweil Notizen, dass Rin mit den Schultern zuckte.

"Besitzen Sie abnormale Vorlieben, einen Fetisch oder üben Sie von der Gesellschaft verrufene Aktivitäten aus?"

"Nein "

"Gehören Sie einer Religion oder Sekte an?"

"Nein."

"Haben Sie bereits die Ehe vollzogen, Abtreibungen getätigt oder haben Sie ein uneheliches Kind gezeugt."

Stand sie hier vor einem priesterlichen Gericht?

"Nein."

"Sind Sie noch Jungfrau?"

Rin starrte ihn mit großen Augen an: "Was?! Nein!", immer deutlicher spürte sie die Blicke von Nebenan, dass sie liebendgern in dem Stuhl versunken wäre. Dass ihr Gesprächspartner so distanziert und abgeklärt war, machte es zu einem grausamen Spiel für sie.

"Wie viele Beziehungen hatten Sie bisher?"

Rin überlegte.

"Drei."

Er hat Beziehungen gesagt, also habe ich nicht gelogen.

"Ich brauche Name und eine mögliche Anschrift."

"Grenzt das nicht an Datenschutz?"

"Wie sehen Sie das, wenn einer ihrer Ex-Freunde Geheimnisse und Intimitäten über sie verbreitet? Die Presse schert sich einen Dreck um Datenschutz." Sie notierte die Namen der Männer, von denen sie eine Ewigkeit nichts mehr gehört hatte. Von ihrem ersten Freund wusste sie, dass er sich voll und ganz auf seine Kendo-Karriere konzentrierte. Ihre Beziehung war nicht im Schlechten auseinander gegangen, sondern als natürliches Resultat entsprungen, dass beide einvernehmlich miteinander Schluss gemacht hatten. Von ihn, wie auch den anderen beiden Männern, mit denen sie relativ kurz zusammen gewesen war, ginge wohl keine Gefahr hinsichtlich ihres Images aus.

Es folgte noch eine Reihe von Fragen, die alle zu demselben Ergebnis führten: "Ihr Lebenslauf ist tadellos - klassisch, ohne besondere Ereignisse. Ich denke, damit werden wir wenig Schwierigkeiten haben", er sah zu seinem Vorgesetzten, der nichts darauf erwiderte - ja, nicht einmal mit dem Kopf nickte. Er war noch immer Rin zugewandt, deren Leben wie eine Kurzfassung ihrer Biographie erschien, während sie überhaupt nichts von ihm wusste - bis auf die allgemeinen Informationen, über die jeder informiert war.

"Und was bedeutet das jetzt für mich?", stellte Rin seit über eine Stunde ihre erste Frage.

"Nun, Frau Yamamori", ihr Gegenüber klappte den Laptop zu und sah sie zum ersten Mal richtig an, "im Grunde ist ihr Image lupenrein: Gute Noten, angemessene Interessen und gepflegtes Privatleben. Keine Skandale, innerhalb und außerhalb der Familie. Das heißt, wir werden uns auf das Profil der Amateurspielerin konzentrieren."

Wie sie diesen Begriff hasste.

"Auf Grund Ihres mangelnden Interesses an Öffentlichkeitsarbeit, wissen Sie vielleicht gar nicht, dass Sie bereits einen kleinen, aber nicht unbedeutenden Fankreis um sich gebildet haben. Schüler der Mittel- und Oberstufe bewundern Sie. Sie vermitteln Ihnen das Gefühl, dass jedes x-beliebige Kind es schaffen kann, DuelMonsters-Champion zu werden. Sie geben den Kindern Hoffnung."

Kinder

"Und soll ich mich jetzt dementsprechend geben? Mich wieder wie ein Teenager anziehen?"

"Nein", sprach Seto Kaiba und verhackte die Hände ineinander, "mit denen brauchen Sie sich nicht länger beschäftigen. Wenn man ihnen einmal den Knochen hingeworfen hat, sind sie für eine sehr lange Zeit zufriedengestellt. Konzentrieren wir uns also auf die richtigen DuelMonsters-Fans. Die geben sich nicht mit ein bisschen Händeschütteln und Lächeln ab. Meist wollen sie nur ein extremes Duell mit extremen Spielern sehen. Ein paar von denen konnten Sie gestern sicherlich überzeugen, aber das reicht bei Weitem noch nicht, um von ihnen akzeptiert zu werden."

"Sagen Sie mir, was ich tun soll."

Ein Lächeln huschte über seine harten Züge, dass Schatten unter seinen Augen entstanden: "Das, was Sie immer tun - sich etwas einfallen lassen."

"Hmmmmm", die Hände in die Hüften gestemmt, wurde sie ganz genau von ihrem persönlichen Stylisten betrachtet. Er lief einmal um die junge Frau herum, welcher ein Gesundheitscheck beim Hausarzt jetzt lieber gewesen wäre. Die Art wie er sie musterte, gefiel Rin überhaupt nicht. Nicht, weil er sie aus jedem Winkel im Augenschein nahm. Viel mehr war es das umstrittene Gefühl, für ungenügend befunden zu werden. Nach einer Reihe von Meetings, Besprechungen, und anderweitigen Ansprachen, in denen Rin das Gefühl hatte, sich für die letzten einundzwanzig Jahre entschuldigen zu müssen, war sie letztendlich hier gelandet. In einem Backsteinhaus, am Rande der Innenstadt, dort wo eine unsichtbare Grenze zwischen Neu- und Altbau gezogen wurde, zwischen Arbeiter- und Nobelviertel. Dieses vierstöckige Gebäude, das mit anmutenden Fresken versehen war und durch seinen neoklassizistischen Stil überhaupt nicht in Domino-Citys postmoderne Bauten passte, hatte die junge Frau schnell gefunden. Vom Sehen kannte sie das Gebäude, das erst vor zehn Jahren restauriert worden war und vermutlich zu einen der wenigen denkmalgeschützten Bauten zählte. Bis auf den Hafen und einem kleinen, unscheinbaren Tempel, gab es in dieser Stadt nichts, das über hundert Jahre alt war. Kaum hatte sie das Gebäude betreten, war sämtlicher nostalgischer Flair verschwunden. Das Innere war steril und in kühlen Tönen gehalten. In dem ersten Stockwerk war ein Friseurstudio, die anderen Etagen waren nur mit diversen Kleiderstangen versehen. Weiße Tücher hingen an den Decken und Wänden. An den Seiten standen Spiegel und Frisiertische, sowie ein paar einfache Stühle im schlichten Holzton. Begrüßt wurde sie von einem Mann, den Rin um die dreißig schätzte. Er war Stilist, Coiffeur, Fashion-Spezialist und dafür bekannt, Gesichtern einen Namen zu geben. Schon nach einem ersten schlaffen Händedruck scannte er ihre Maßen, beäugte kritisch die Haare und sah zu ihren Beinen hinunter. Anschließend hatte er sie in die Mitte eines großen Raumes gestellt, über der eine Neonröhre sämtliches Licht auf sie fallen ließ und wohl jede ihrer Poren offenlegte. Hin und wieder deutete er mit dem Finger, dass sie sich drehen sollte und nur widerwillig kam sie der Bitte nach. Ihr waren zwar die Umgangsformen dieser Menschen nicht fremd. Als sie für kurze Zeit in einer Modelagentur als Kaffee- und Druckertante angestellt gewesen war, hatte sie oft erlebt, wie junge hübsche Frauen streng gemustert wurden als wären sie ein fauliger Apfel.

"Haare auf", orderte Maki - so hatte sich der Mann mit den langen dunkelgrünen Haaren vorgestellt. Auch wenn sie nicht glaubte, dass dies wirklich sein Name war. Rin zog den Gummi aus ihrer Mähne, dass ihr Haar über die Schultern fiel.

"Oh Gott", er fasste eine Strähne von ihr an und nahm sie zwischen seine Fingern, "aus welchem Jahrhundert ist denn die Frisur?." Rin biss sich auf die Lippen als er forsch durch ihre Haare fuhr, "nein, nein", er schüttelte den Kopf, "sind die Haare ausgedünnt worden?"

"Das ist schon eine Ewigkeit her", entgegnete Rin. Als Teenager hatte sie ganz ihrem Serienvorbild ähneln wollen - die Haare hatten ihr nur knapp über die Schultern gehangen, der Pony war auffallend frisiert worden. Es hatte damals über eine Stunde gedauert bist sie mit ihrem Look zufrieden gewesen war. Sie wusste, dass der Trend seit zwanzig Jahren überholt war, doch das hatte ihren jüngeren Ich nicht interessiert. Sie liebte die achtziger - die leicht punkigen Frisuren und engen Lederklamotten.

"Da müssen wir dringend ran", Maki schüttelte erneut den Kopf, "vielleicht ein paar Extensions. Wie müssen Volumen in die Sache kriegen." Seit wann waren ihre Haare zur Sache geworden?

"Ähm", räusperte sich Rin und bemühte sich, eine ruhige Stimme zu wahren, "ich glaube nicht, dass es nötig ist. Ich würde meine Haare gerne zu einem hohen Zopf tragen. Da fällt es doch gar nicht auf, wenn-"

"Nein, nein, nein", fiel er ihr ins Wort, "ich habe strikte Anweisungen erhalten, wie ich dich kreieren soll. Und dieser...Look passt überhaupt nicht dazu."

"Was für Anweisungen?", Rin hatte nicht gewusst, dass man bereits ein genaues Bild von ihr vor Augen hatte.

"Ich habe die Auswertung deines Persönlichkeitsprofils erhalten. Darin steht, worauf ich mein Augenmerk legen soll. Vertrau´mir einfach, ich weiß, was ich tue. Nicht umsonst hat mich die Kaiba Corporation dafür beauftragt. Ich mache aus jedem unbedeutenden Wesen eine Ikone. Erinnere dich nur, wie Vivian Wong vor ihrer Verwandlung ausgesehen hatte." Der ehemalige chinesische Champion hatte tatsächlich einen starken Imagewandel erfahren. Bevor sie ihre Modelkarriere aufgegeben hatte, war sie für viele Young-Fashion-Labels Laufsteg gelaufen. Danach war sie vom schlichten Mädchen zur auffallend klassischen Schönheit geworden, die sich in enge traditionelle Kleidung steckte und ihre Haare zu zwei puscheligen Knoten band. Vor zwei Jahren hatte sie ihrem Heimatland den Rücken gekehrt und ließ sich als japanischer Staatsbürger eintragen. Da sie als Duellantin für Industrial Illusions arbeitete, war die Einbürgerung kein Problem gewesen. Nun gehörte sie zu den Top dreißig der diesjährigen Worldcup-Vorrunde.

"Und was hast du mit mir vor?", fragte Rin skeptisch.

"Eine Amateurspielerin", begann er.

Wenn ich dieses Wort noch einmal hören muss-

"Sie ist der Liebling aller Träumer. Jeder blickt neidvoll und zugleich voller Bewunderung auf diejenige, die den Traum von tausenden wahr werden ließ. So jemand braucht dringend etwas Farbe. Ich schlage also vor, wir bringen etwas Fülle in deinen Verschnitt und peppen das Ganze mit ein paar Highlights auf. Wir müssen etwas mehr Licht in dein Erscheinungsbild bringen. Blond wäre perfekt."

"Kein Blond!", Rin ging einen Schritt zurück, "mein Haare werden nicht blond gefärbt."

"Blond steht für Offenheit und einen naiven, unschuldigen und süßen Charakter."

"Ich bin nicht süß", knirschte sie mit den Zähnen und fühlte sich stark in ihren Abschlussball zurückversetzt. Nach vielen Diskussion hatte sie sich dem Willen ihrer Mutter gebeugt und sich in ein rosafarbenes und aufgebauschtes Kleid gezwängt. Eine Prinzessin durch und durch. Ihr hätten auch die hellen Haare gefallen.

"Und ich bin auf keinen Fall blond!", beharrte sie weiter.

"Hör zu, Schätzchen. Frauen, die solche braunen Haare tragen, spielen meist nur eine Nebenrolle. Braun ist so...normal, unauffällig und passiv. Damit wirst du nicht auffallen."

"Mein Vorschlag: Wir färben meine Haare dunkelbraun."

"Du hörst mir nicht zu", seufzte Maki und hielt sich den Kamm vor die Stirn, "ich habe nicht viel Zeit, dich ordentlich hinzubiegen. Normalerweise brauche ich Wochen bis ich einen Charakter erstellt habe. Bis morgen muss dein Look sitzen. Wir haben noch nicht einmal ein Outfit."

Sie schon. In ihrem Schrank wartete ein Kleidungsstück, von dem sie schon sehr lange träumte, dass sie es bei der richtigen Gelegenheit anziehen könnte. Vor zwei Jahren hatte sie es zusammen mit Lumina in ihrem letzten Urlaub entdeckt. In einem kleinen Geschäft, das mit vielen auffallenden Kleidern, Mänteln und Accessoires ausgestattet war. Lumina hatte sich damals einen Gehrock mit verschiedenen Schnörkeleien angeschafft und Rin hatte sich in ihr Teil regelrecht verliebt. Als eine der top dreißig würde sich endlich die Gelegenheit ergeben, das Kleidungsstück aus dem Schrank zu holen.

"Ich werde mich nicht verkleiden", Rins Entschluss stand fest. Sie musste nur noch ihren Stilisten überzeugen. Maki legte den Kopf schief und fing erneut an, sie zu inspizieren: "In DuelMonsters gibt es nur zwei Klassen von weiblichen Duellanten. Die einen sind die scharfen und selbstbewussten Frauen. Mai Kujaku ist eine davon - sie hat den perfekten Körper, und weiß diesen entsprechend zur Schau zu stellen und mit ihrem Sexappeal zu provozieren." Eine der führenden Duellanten der Championsliga war in diesem Jahr unter den Top fünf platziert. Wie Rin erst kürzlich erfahren hatte, würde sie in diesem Jahr für Paradius Inc. arbeiten. Bei der Vorstellung verzog sich ihr der Magen. Kujaku war auch so schon eine gefährliche Gegnerin. Mit Orichalcos an ihrer Seite würde sie zu einem fast unschlagbaren Gegner werden.

"Eine Mai Kujaku reicht", entgegnete Rin und wusste, dass ihr Körper für solche Reize nicht geschaffen war.

"Die andere Sorte von Duellantinnen sind diejenigen, die sich in ihrer Kleidung zurücknehmen und sich auf die weiblichen und vornehmen Attribute konzentrieren."

"Wong."

"Genau. Du siehst, es bleibt nicht viel Spielraum für dich. Wenn wir einen erfolgreichen Spieler aus dir machen wollen, müssen wir uns auf diesen schmalen Grad bewegen."

"Und wenn ich aus dieser Rolle rausfallen will?"

"Wie stellst du dir das vor", er blieb direkt vor ihr stehen und sah ihr streng in die Augen.

"Ich dachte da an einen selbstsicheren Look. Auffallend, provokativ, aber trotzdem noch auf das Wesentliche fokussiert - nämlich DuelMonsters. Ich will nicht billig aussehen...und schon gar nicht blond. Ich will kein nächstes Magiermädchen werden."

Maki seufzte.

"Dafür werde ich einen Kopf kürzer geschnitten."

"Sag`, dass es meine Idee war", grinste Rin. Sie hatte den Stilisten soweit, dass er keine Lust mehr hatte, weiter mit ihr zu diskutieren. Er würde auch nicht zu ihr durchkommen. Rins Standpunkt war in Granit gemeißelt, sie wollte nicht das aufgeben, wofür sie die letzten Wochen gekämpft hatte. Viel zu lange musste sie sich brav und wohlerzogen der Gesellschaft geben. Sie hatte ein ganz genaues Bild von sich, das sie morgen in der ersten Live-Show präsentieren wollte. Es war an der Zeit, ihrer lang versteckten Seite einen Platz einzuräumen.

"Also schön", Maki wies Rin mit einem Fingerzeig an, auf einem der Stühle Platz zu nehmen, "auf deine Verantwortung. Wenn du dich schon meinen Anweisungen widersetzt, wollen wir trotzdem das volle Programm ausfahren." Er begann die dunkle Farbe in einem Schälchen zu mischen. Dann drehte er die junge Frau etwas in ihrem Stuhl und fuhr mit den Finger über ihren Pony.

"Bei einer Sache wirst du keine Widerrede geben", sagte er und klang dabei so sicher wie Rin. Aus dem Schubfach des Frisiertisches holte er einen Schminkkoffer hervor, "wenn du auffallend sein willst, müssen wir alles aus deinen Augen herausholen." Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Sie wusste, dass ihre Augen schon auf viele anziehend gewirkt hatten, wenn sie diese ins rechte Licht rückte. Lumina hatte einmal zu ihr gesagt, dass die grünen Seelenspiegel ihren Farbton je nach ihres derzeitigen Gemütszustandes ändern konnten. Dass sie bei Wut, Aufregung und Vorfreude dunkelgrün schimmerten und bei Trauer, Unsicherheit und Träumerei heller wirkten.

"Setz ruhig alles auf meine Augen", grinste Rin, dass auch ihr Stilist schief lächelte und die Schutzkappe des Kajals abhob.

Die Arme vor der Brust verschränkt beobachtete der Chef der Kaiba Corporation wie Techniker die letzten Scheinwerfer einstellten, Produzenten ihre Assistenten durch die Gegend scheuchten und Kameramänner Einstellungen vornahmen, dass jeder angewiesene Blickwinkel auf den Millimeter genau passte. Das Studio, das vom örtlichen Sender geleitet wurde und in dem Seto Kaiba selbst seine Finger im Spiel hatte (so wie er in fast allem in dieser Stadt involviert war) wurde zweckmäßig auf die heutige Liveshow vorbereitet. Der Schauplatz wurde relativ klein gehalten und hatte das Erscheinungsbild einer Talkshow. Öffentliches Publikum gab es gar keines, nur hundert Sitzplätze, die von ausgewählten Personen besetzt und dafür bezahlt wurden, sich in der ganzen Zeit so zu verhalten, wie es ihnen angeordnet wurde. Es sollte verhindert werden, dass die Waage der Fangemeinden ins Ungleichgewicht fiel. In den ersten Jahren wurden die Shows auf dem Marktplatz abgehalten. Eine Bühne wie an Silvester wurde damals aufgebaut, auf dem die besten Spieler der ersten Vorrunde vorgestellt und bejubelt werden konnten. Tausende hatten sich in die Innenstadt begeben, es gab einen regelrechten Massenhype für bestimmte Duellanten, dass es von einigen Firmen Beschwerden gab und man sich schließlich darauf einigte, die erste Liveshow neutral zu halten. Hier ging es schließlich nur darum, die Gegner per Zufallsgenerator zu bestimmen. Jubel gäbe es bei den Duellen zu Genüge.

"Alles noch mal auf Anfang", hörte er einen der Produzenten rufen, dass eine kleine Gruppe von Mitarbeitern in Position ging, Mikrophone checkte, die Lichteinwirkungen testete und den Boden auf letzte Unreinheiten durchsuchte. Ein schlacksiger Kerl mit ausgewaschenen Jeans war Richtung Backstagebereich gelaufen und kehrte nach einigen Minuten wieder zurück. Kaiba hatte auf dem Bildschirm zu seiner Rechten gesehen, wie der Praktikant einmal durch den tunnelähnlichen Durchgang gelaufen war, welchen die Duellanten der Reihe nach durchschreiten sollten. Sein Blick war nach unten gerichtet, scheinbar waren dort ein paar Pfeile angeklebt worden, wodurch die Stellen der richtigen Kameraeinstellung markiert wurden. Ungeduldig tippte sich der junge Firmenchef auf den Oberarm. In wenigen Minuten würde es beginnen. Es musste alles sitzen, bis aufs kleinste Detail. Alles andere wäre inakzeptabel.

"Da ist ja unser Sonnenschein", eine leicht nasale Stimme näherte sich ungemein seinem Ohr, dass Kaiba lediglich den Blick zur Seite richtete.

"Was willst du, Pegasus", entgegnete Kaiba und wandte sich den Sitzplätzen zu, die nach und nach gefüllt wurden.

"Wieder einmal so gut gelaunt, wie eh und je", ließ sich der Erfinder von DuelMonsters nicht von Kaibas abweisender Art stören, "ich wollte dir nur für deine gelungene Vorrunde gratulieren. Wer hätte gedacht, dass du in diesem Jahr so stark vertreten bist - abgesehen von deiner eindrucksvollen Technologie."

"Seit wann teilst du Komplimente aus?", Kaiba setzte ein schiefes Lächeln auf.

"Wenn ich eine gute Partie sehe, kann ich sie nicht einfach ignorieren. Und deine neue Errungenschaft hat mich doch sehr neugierig gemacht. Zumal es überhaupt nicht zu deinem Stil passt."

"Ich habe nur das getan, wozu der Rest von euch nicht im Stande gewesen war. Nämlich die Gelegenheit beim Schopfe zu packen."

"Ach ja", seufzte der Inhaber von Industrial Illusions und fuhr sich durchs Haar, "ich habe leider feststellen müssen, dass mein Team von Duellantenspezialisten diese Chance an sich vorbeiziehen ließ. Aber wer konnte schon ahnen, dass die Unbekannten in diesem Jahr so massiv durchstarten." Damit hatte Pegasus gar nicht mal so unrecht. Der diesjährige Worldcup war stark vertreten von Duellanten, über die nicht viel bekannt war. Nicht nur Paradius Inc. setzte in diesem Jahr auf unverbrauchte Spieler.

"Ich glaube", setzte Pegasus an, "dass wir uns auf ein paar Überraschungen gefasst machen müssen." Dabei schweifte sein Blick durch das Studio. Dort, wo die Kamera sie nicht einfinge, hatten sich die mächtigen Firmenchefs versammelt, die in diesem Worldcup vertreten waren. Darunter waren auch Sponsoren und reiche Männer, die sonst nichts mit ihrem Geld anzufangen wussten.

"Das müssen wir jedes Jahr", entgegnete Kaiba trocken.

"Und wie immer ist der Werte Herr des Chaos nicht zugegen. Dafür sind seine Duellanten umso stärker vertreten. Ich weiß überhaupt nicht, wie es dieser Dartz geschafft hat, Mai Kujaku aus ihrer Unabhängigkeit zu bekommen." Die führende Duellantin Domino-Citys war seit Jahren auf keine größere Firma angewiesen gewesen. Stattdessen hatte sie Unterstützung durch größzügige Sponsoren erhalten, dass sie ihr Leben in vollen Zügen genießen konnte, ohne jemals Sorgen haben zu müssen. Dass sie auf die Seite von Paradius Inc. gewechselt hatte, hatte Kaiba nicht vorhergesehen. Es musste schon ein sehr mächtiges Angebot locken, dass die blonde Duellantin nicht abschlagen konnte.

"Der Kerl verschweigt so einiges", murmelte Pegasus, dessen Duellanten ebenfalls von Dartz´Gehilfen belästigt worden waren. Bereits in der Vergangenheit wurde Kaiba von diversen Konkurrenzfirmen auf das Thema angesprochen. Die meisten schlugen eine Zusammenkunft vor, um gegen den einen geheimnisvollen Riesen vorzugehen. Kaiba hatte jedes Mal abgewunken. Es war nicht sein Stil, sich mit anderen abzugeben - Teamarbeit war noch nie eine Stärke von ihm gewesen. Zumal er nicht daran glaubte, dass der Feind eines Feindes automatisch sein Freund wäre.

"Er wird damit nicht durchkommen", dessen war sich Kaiba sicher, "er versucht schon seit Jahren, den Worldcup zu sabotieren und ist jedes Mal daran gescheitert. Entweder ist er von Natur aus dumm oder seine Hokus-Pokus-Gemeinde hat ihm den letzten Rest an Gehirnzellen genommen. Wie auch immer, er hat nicht die Fähigkeiten die Turniere zu manipulieren." Dafür sorgte sein streng überwachtes Sicherheitssystem. Man musste schon mehrere Barrieren durchtrennen, um dagegen anzukommen. Zudem besaß es mehrere Sicherheitscodes und -schlüssel, zu denen nur Kaiba Zugang hatte. Selbst der beste Hacker der Welt würde sich hierbei die Zähne ausbeißen. Seine Augen blitzten auf: "Ich an deiner Stelle würde mir mehr Sorgen um meine Spieler machen. Wer weiß, wie lange sie dieses Mal durchhalten."

"Findest du?", nahm Pegasus seinen neckischen Unterton wieder an, "du weißt doch, dass mein Repertoire an Spielern nie ausgeschöpft sein wird, denn ich bin immer auf der Suche nach neuem, willigen Material. Ich bin schon gespannt, was deine Spieler dieses Jahr zu bieten haben. Einen eindrucksvollen Vorgeschmack hast du uns ja schon geben können." Pegasus warf sein silbernes Haar zurück" Wer hätte gedacht, dass die Duellanten der Kaiba Corporation so gute Vermarkter sind und dann auch noch wirklich spielen können." Er schüttelte lächelnd den Kopf. "Eines musst du mir verraten, kleiner Kaiba. Ist es eiskaltes Kalkül, dass du ausgerechnet einen Spieler ausgewählt hast, dessen Deck mit Drachen ausgelegt ist? Es ist doch sehr gewagt, so jemanden in sein Team zu stecken, wenn man bedenkt, dass die Kaiba Corporation den alleinigen Machtanspruch für den weißen Drachen mit eiskaltem Blick fordert."

"Wie ich meine Spieler auswähle, geht dich nichts an", sagte Kaiba.

"Ich freue mich schon auf die Rooftop-Battles. Es wird sich zeigen, wie sehr ihr Können an deines heranreicht. Mit den richtigen Gegnern würde es ein famoses Duell geben. Vielleicht sogar eines, worauf die Gemeinde seit Verabschiedung des Königs der Spiele vom DuellMonsters-Geschäft gewartet hat. Die Fans sehnen sich wieder nach solchen Duellen, wie du sie gegen Yugi Mutou geführt hast. Denk nur an den Duellwahnsinn - knappe Entscheide, Schicksalsduelle. Jeder hatte das Gefühl, es ging in den Duellen um mehr als nur um einen Sieg. Die Leute wollen das Gefühl haben, als hinge das Schicksal der Welt von Sieg und Niederlage ab, als würde man um seine Seele kämpfen und nicht um eine Millionen Dollar Preisgeld", dabei begannen seine Augen zu strahlen, "erinnere dich doch nur an das Herz der Karten! Was für Zeiten."

"Du wirst sentimental", raunte Kaiba, der längst mit der Vergangenheit abgeschlossen hatte. Er lebte lieber im Hier und Jetzt, statt sich an Altes zu Klammern, das längst verloren war. Außerdem wäre Pegasus der letzte, mit dem er über Vergangenes sinnieren würde.

"Einfach kein Sinn für Romantik", grinste Pegasus und winkte ab, "wir sehen uns spätestens in der nächsten Runde." Damit schritt der Gründer des beliebtesten Kartenspiels aller Zeiten zurück in seinen für ihn vorgesehen Bereich, gleich neben den Sitzplätzen. Kaiba hingegen blieb dort stehen. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf das gesamte Geschehen. Licht schaltete sich aus. Er merkte nur noch wie sein jüngerer Bruder an seine Seite trat. Mit einem Klemmbrett unterm Arm sah er lächelnd zu dem Älteren hinauf.

"Es läuft alles nach Plan", bestätigte der Jüngere und hob seinen rechten Daumen. Sein Grinsen wurde breiter.

"Ich find`s echt cool, dass wir dieses Jahr so stark vertreten sind. Irgendwie hab´ich das Gefühl, dass wir es diesmal bis nach Ägypten schaffen." Da der letzte Worldcup Champion Marik Ishtar war, würde dementsprechend das Finale im besagten Land stattfinden. Die Jahre vorher war hauptsächlich Domino-City zum Austragungsort erkoren worden. Doch nachdem Yugi ausgestiegen war und Kaiba sich nur noch auf seine Firma konzentrieren wollte, war zum ersten Mal ein anderes Land für die Austragung verantwortlich.

"Warten wir es ab", erwiderte der ältere Bruder und beobachtete wie das Studio in helles Licht getaucht und Musik eingespielt wurde. Eine Gruppe von Tänzerinnen bewegte sich in ihrer Choreographie - perfekte Bewegungen zur rhythmisch nichts aussagenden Popmusik. Kaiba wusste schon, warum er nicht gerne das Radio im Wagen laufen ließ. Während im Hintergrund auf einer Empore der Sänger erschien, wechselten die Scheinwerfer zu blau, gelb, grün, orange und wieder blau. Wenn der Sänger nicht Japans angesagtester Musiker wäre, hätte er längst das quietschende Gedudel ausgestellt. Mit einem dramatischen Abgang der Tänzer, in dem Bengalos in die Lüfte geschossen wurden, endete das Lied. Der Sänger verschwand unter den Rauchschwaden. Es erschien der Moderator des heutigen Abends. Mit seinem perfekten Lächeln begrüßte er unter einstudiertem Applaus das Publikum.

"Bis zum Finale wird es noch einige Duelle geben", während Kaiba mit seinem kleinen Bruder sprach, achtete der mächtige CEO auf jedes Detail, das sich vor seinen Augen abspielte. Er wollte keine Fehler sehen, und bisher schien jeder seinen Job richtig gemacht zu haben.

Warten wir es ab

Nach einer kurzen Rückblende der letzten acht Wochen und einem trägen Witz, den niemand gebraucht hätte, kam der Sprecher auch schon auf das Wesentliche.

"In diesem Jahr werden einige neue Regeln auf unsere Spieler zukommen." Anders als im letzten Jahr würde die nächste Runde eiskalt jeden Verlierer ausradieren. In den nächsten fünf Tagen wären von den Top dreißig nur noch fünfzehn übrig - ein schneller Prozess war dieses Jahr angesagt, der die Rooftop-Battles nicht allzu sehr in die Länge ziehen sollte. Die Kommission hatte sich darauf geeinigt und beugte sich damit dem Willen des Publikums, das schnelle und harte Duelle mit klaren Entscheidungen und Nervenkitzel an der Spitze bevorzugte.

"Doch nicht nur im Vorrundenprinzip wurden Neuerungen gemacht", erklärte der Sprecher und sah direkt in die Kamera vor ihm, "in den Roof-Top-Battles können wir uns auf einige Überraschungen gefasst machen", er hielt die DuelDisc direkt vor die Kamera, "unsere Spieler werden mit der neusten DuelMonsters-Technologie kämpfen, die es ganz schön in sich hat." Kaiba hatte darauf bestanden, auf die kommende DuelDisc hinzuweisen, welche sich auf dem ersten Blick kaum von der jetzigen unterschied, jedoch mehr grafische Power in sich hatte und als erster Anreiz seines neusten Projektes diente. Schon zu Beginn hatte er klar gemacht, die verbesserten Hologramme in den Rooftop-Battles sehen zu wollen.

"Wie in jedem Jahr werden die Duellschauplätze erst einen Tag vor dem Spiel bekannt gegeben. Nicht einmal unsere Duellanten wissen, wo sie gegeneinander antreten werden."

"Ich hoffe, keiner von denen hat Höhenangst", flüsterte Mokuba. Kaiba war es gleich. Wenn ein Spieler nicht dem kleinsten Druck standhielt, konnte er sich gleich verabschieden.

Er versuchte weiterhin der Rede zuzuhören, was ihm immer schwerer fiel. Ungeduld machte sich breit, sobald er das Interesse verlor. Der junge Firmenchef hatte so viel im Kopf, dass er sich regelrecht dazu zwingen musste, bei der Sache zu bleiben. Besonders wenn die DuelMonsters-Regeln Jahr für Jahr von Neuem erläutert werden mussten. Wie konnte man in der heutigen Zeit nicht einmal die einfachsten Spielprinzipien verstehen?

"Wie die Jahre zuvor wird es einige Sonderregelungen geben, die sogenannten Joker. Jeder Joker darf einmal pro Duell von den Spielern genutzt werden. Aber Vorsicht! Auch hier gilt es wieder einen klaren Kopf zu bewahren." Das Prinzip hatte sich bewährt, bisher erwiesen sich die Sonderregelungen als aufregende Herausforderung. Auch wenn sie den Spieler unterstützten, war nicht jeder Joker einfach anzuwenden. Wenn man nicht die richtigen Karten im Deck besaß oder voreilig reagierte, war der Joker nutzlos.

"Sind die Duellanten auf ihren Plätzen?", sprach Kaiba direkt zu Mokuba, der lediglich nickte. Wie jedes Jahr würden die Duellanten ihren Platzierungen entsprechend auf der Bühne erscheinen. Am Ende würden sie in einer Reihe stehen - Duel Monsters Spitzenelite, die begabtesten und herausragendsten Spieler, die ihr Land zu bieten hatte.

Und Jonouchi

"Ach übrigens", Mokuba kratzte sich an den Kopf, während das Geplänkel des Moderators an ihnen vorbeizog, "ich soll von Maki ausrichten lassen, dass er für Rins...Ergebnis nicht verantwortlich ist." Kaiba drehte den Kopf zu seinen Bruder.

"Was soll das heißen?"

"So wie ich das verstanden habe, gab es wohl Schwierigkeiten in der Umsetzung des Profils, das er von Josuke erhalten hat. Am Ende haben sie Rins Idee umgesetzt." Kaiba beobachtete, wie die ersten Duellanten aufgerufen wurden. Weit vorne mit dessen Kollegin Hii Yuta . Er trug eine lilafarbene Lederjacke mit Nieten an den Ärmeln, die seinen schmalen Körper noch zerbrechlicher erscheinen ließen. Seine tiefendunklen Augen zeigten die Spuren einer verlorenen Kindheit. Laut Kaibas Informationen gehörte Dartz Handlanger zu dem Stereotypen-Waisenkind. Mutter gestorben, der Vater ein Säufer, war er in einem schäbigen Viertel weit außerhalb Dominos aufgewachsen. Niemand hatte sich um den Jungen gekümmert, zeitweise hatte er auf der Straße gewohnt und durch kleinkriminelle Handlungen seinen Lebensunterhalt bestritten. An seinem Tiefpunkt musste er dem Geschäftsführer von Paradius Inc. begegnet sein. An dem ausdruckslosen Gesicht konnte Kaiba erahnen, wie egal ihm der Worldcup war. Umso mehr interessierte es ihn, was den jungen Burschen anspornte, der von Mimik und Erscheinungsbild sehr einem früheren Duellanten von Dartz ähnelte - Amelda. Sofort vertrieb Seto Kaiba die Bilder der Vergangenheit.

"Yamamori", setzte er stattdessen an als Ryota Kajiki angekündigt wurde, - der Spezialist für Meeresungeheuer gehörte zu jenen Duellanten, die von Werbeträgern und ähnlichen gesponsert wurden. So war Kajiki das Werbegesicht eines beliebten Fischstäbchenherstellers; wobei Kaiba nicht ganz klar war, ob er tatsächlich wusste, wofür er eigentlich posierte.

"Yamamoris Profil lässt uns großen Spielraum. Im Grunde können wir sie in jede Klischeekiste packen, die uns gerade von Nutzen ist. Solange ihr Handeln nicht gegen die Kaiba Corporation spielt, kann sie aussehen wie sie will." Natürlich wusste Mokuba, dass das nicht stimmte. Sein großer Bruder war vieles, aber nicht tolerant. Ganz besonders nicht, wenn es um ein Missachten seiner Anweisungen ging. Tatsächlich war der junge Firmenchef nicht unbedingt erfreut, dass ungeplante Änderungen stattfanden, doch war es nicht Kaiba direkt, dessen Pläne umgangen worden waren. Josuke hatte Maki mit der Aufgabe betreut, aus Rin einen angehenden Massenliebling zu machen. Wie er das anstellte, blieb dem Chef der Social Media Abteilung überlassen.

"Seto", schüttelte Mokuba den Kopf, "ich glaube, sie hatten eine völlig falsche Vorstellung. Maki wollte sie blond machen."

"Ich kann mir vorstellen, dass sie damit ihre Schwierigkeiten hatte", Kaiba musste leicht schmunzeln, dass es lediglich Mokubas enger Beziehung zu verdanken war, dass er es überhaupt bemerkte und sich darüber hinaus für den kurzen Ausbruch an Emotionen wunderte.

"Außerdem", fuhr Kaiba fort und war so stoisch wie eh, "hast du sie doch erst vor ein paar Minuten gesehen. Ich vertraue auf dein Urteil, dass sie uns nicht blamiert."

"Passt schon", grinste der Schwarzhaarige zurück und nickte in Richtung Bildschirm.

"Auf Platz dreißig", zum letzten Mal schwenkte der Moderator seinen Arm in Richtung Backstagebereich, "wohl für viele schon jetzt das Debüt des Jahres - Rin Yamamori." Die Kamera wechselte in den Gang, aus dem ein hoher Pferdeschwanz hervorlugte. Der linke Arm ging nach oben, entlang des Zopfes, der mit einem Schwung nach hinten geworfen wurde und dabei den Arm so exakt drehte, dass die Initialen der Kaiba Corporation deutlich zum Vorschein kamen. Kurz entglitt seinen Gesichtszügen sämtliche Selbstbeherrschung als die junge Frau das Studio betrat, dabei ihren Blick in seine Richtung lenkte, dass zwei stechende Augen zu ihm sahen - voller Herausforderung und Selbstbewusstsein. Er wusste nicht, ob ihre Blicke ihm galten, dafür war der Augenblick zu kurz gewesen und die Tatsache wahrscheinlicher, dass sie ganz in ihrer eigenen Performance gefangen war. Dafür waren die Bewegung zu perfekt, zu berechnend, dass sie nicht stundenlang vor dem Spiegel erprobt worden wären.

Die Haare sind dunkler

Sonst hatte sie nichts an sich verändert, und doch war alles anders. Die junge Frau blickte auf ihre Konkurrenz herab, als sie an dieser vorbeilief. Es war nicht zu erkennen, wann die hohen schwarzen Wildlederstiefel in den engen Stoff um ihre Schenkeln übergingen. So eng wie beides um ihre Beine lag, war es schwer festzustellen, ob es sich überhaupt um eine Hose handelte oder doch nur die Haut angemalt worden war. Als Hauptaugenmerk hatte sie sich in ein auffallend rotes Mantelkleid gehüllt, das ab den Hüften offen stand und nach hinten einen wehenden Überwurf hatte, dass er sich bei jedem Schritt bewegte.

"Maki hatte recht", entgegnete Mokuba und blickte ebenfalls interessiert zu der jungen Frau, die sich nach ganz außen gestellt hatte, während der Moderator auf sie zukam, "man weiß wirklich nicht, ob man sie für heiß oder gefährlich einstufen soll." Kaibas Bild wurde dafür umso klarer. Sein eisiges Blau fixierte die junge Frau, die mit einer Mischung aus Beherrschung und Selbstverständlich dem Moderator in die Augen blickte als wäre es nur noch eine reine Formsache bis der Titel des neuen Champions ihr zustünde.

"Ich glaube", erklärte der Moderator und ließ die gebleichten Beißerchen aufblitzen, "wir brauchen nicht mehr zu erwähnen, dass Sie für die Kaiba Corporation als zweite Teilnehmerin an den Start gehen."

"Und doch haben Sie es getan", ihre Stimme war herausfordernd, geradezu bissig ohne dass sie etwas an ihrem üblichen Ton verändert hatte. Es war amüsant zuzusehen, wie ihr Gegenüber sein breites Lächeln wahren wollte, während sie mit einem ebenso falschem Lächeln auftrumpfte. Oder war es echt? Kaiba hatte sie Lächeln gesehen, einige Male, wenn sie mit der Kassiererin in seinem Cafè geredet hatte. Sie hatte eine Art zu lächeln, die ihre wahre Natur offenbarte, die noch voller Unschuld und Ehrlichkeit war, dass er nicht einen Moment an ihren gewöhnlichen und friedlichen Leben zweifelte, das zweifellos ohne jeglichen Kummer ausgekommen war. Dieses Lächeln jedoch war bissig, kalt und mit einem Hauch Narzissmus versehen. Im Gegensatz zu Kaibas gestelltem Lächeln, erreichte dieses ihre Augen, dass sie in einem noch dunkleren Ton zu blitzen begannen.

"Frau Yamamori", begann er, wie bereits bei den anderen, seine zwei Sätze vorzutragen, "Sie haben in diesem Jahr über zweihundertfünfzig Duelle bestritten. Das ist ein neuer Rekord bei den Battle-City-Turnieren." Kurze Pause, Kaiba fiel auf, wie der ein oder andere Duellant hellhörig wurde. Derweil sprach der Moderator weiter: "Noch dazu haben Sie kein einziges Duell verloren - ist das richtig?"

"Nicht ganz", entgegnete Yamamori trocken und drehte ihren Kopf zur Seite, "aber diesen Fehler werde ich bald korrigiert haben", Jadegrün traf auf Rubinrot. Hiis Gesichtszüge regten sich interessiert, er blickte sie von der Seite an und setzte ein breites Grinsen auf. Der Moderator, welcher nichts zu verstehen schien, räusperte sich kurz und kehrte zum Wesentlichen zurück: "Da nun all unsere Spieler zusammen sind, wird es an der Zeit für die Bestimmung der Zweierduelle!" Aus der Decke erschien eine durchsichtige Plastekugel, die von dem Maul eines weißen Drachen getragen wurde. Schon vor einigen Jahren hatte die Lostrommel die Gegner für die jeweiligen Duelle bestimmt. Zwischenzeitlich hatte ein elektronisches System das klassische Modell ersetzt, wurde jedoch vom Publikum nicht sonderlich gut aufgenommen, da nicht so recht daran geglaubt wurde, dass nicht doch Manipulationen möglich waren. Die Bälle in der Kugel waren für jedermann sichtbar, willkürlich schoss aus dem Maul des Drachen eine Zahl von eins bis dreißig heraus - jeder Spieler besaß die jeweilige Nummer seiner Platzierung, so kam es zu keinerlei Missverständnis und Komplikationen. Sobald der Kommentator an die Maschine ging und den Hebel unterhalb der Kugel zog, drehten sich die Bälle. Nach einem Countdown von drei Sekunden kamen nacheinander zwei Bälle heraus.

"Sieben und fünfzehn" rief der Kommentator, dass zwei Gesichter in die Kamera gelenkt wurden, "Ryota Kajiki gegen Vivian Wong", Applaus folgte, bevor die Bälle erneut umher zirkulierten.

"Zwei und neunundzwanzig - unser allseitsbeliebter Außenseiter Katsuya Jonouchi gegen Yuma Sichiro."

"KAIBA!!!", knurrte der Blondhaarige und biss sich auf die Unterlippe.

"Musste das sein, Seto", seufzte sein kleiner Bruder.

"So steht er nun einmal auf der Liste", entgegnete der Firmenchef schmunzelnd und wandte sich von Jonouchis glühendem Gesicht ab, das bei dem kleinsten Argument explodieren würde. In den Versuchen sich nicht in diese Rolle zu zwängen, machte er die Situation nur noch amüsanter.

"Was beschwert er sich denn. Sein Image bringt ihm, warum auch immer, genug Sympathiepunkte ein."

"Stimmt schon", murmelte Mokuba, der dabei zusah, wie der Moderator den Blonden zu beruhigen versuchte, "ich glaube nur, dass er endlich mal ernst genommen werden will...also von allen." Die nächsten Bälle fielen in die Hände des Moderators. Den Blick auf seinen Bruder gewandt zuckte Kaiba mit den Schultern: "Wenn er aufhört sich wie ein Zehnjähriger zu benehmen, würde man ihm zumindest nicht mehr für völlig verblödet halten." Wieder drehte sich die Lostrommel und spuckte zwei neue Zahlen heraus: "dreißig und zwölf - Rin Yamamori gegen Wotan Arizu." Im Gesicht konnte Kaiba ablesen, dass sie ihren Gegner ganz genau einzuordnen wusste. Wotan Arizu - ein Duellant, der schon seit vielen Jahren für Schroeder Corp. arbeitete.

Zigfried

Der auffallend gekleidete Mann mit dem rosafarbenen Haar hatte sein Gesicht Kaiba zugewandt. Seine türkisfarbenen Augen blickten angriffslustig auf den mächtigen CEO, der nicht verstehen konnte dass von Schroeder so erpicht darauf war, einem erneuten Wettstreit mit ihm gegenüberzutreten. Bisher waren seine Erfolge, mit seiner eigenen Firma an die Spitze der Spieletechnologie zu gelangen, gescheitert - so wie viele seiner Projekte. Scheinbar sah er im Vorrundenduell eine Chance, endlich an einen Sieg heranzukommen. Kaiba lenkte seinen Blick auf seine Duellantin. Auch wenn Zigfried keine Gefahr darstellte, sollte Yamamori im nächsten Duell nicht versagen. Schließlich ging es um den Ruf seiner Firma. Ihre Augen verrieten, dass sie nichts dagegen einzuwenden hatte, gegen das Konkurrenzunternehmen anzutreten. Der Druck war groß, eine Niederlage konnte mehr als nur eine Ausscheidung aus dem Worldcup bedeuten.

Rin hatte gerade eine zweite Kanne ihres Spezialkaffees angesetzt, den sogar Morgenmuffel wie Lumina aus dem Bett trieben, als es an der Tür klingelte. Beide Frauen blickten gleichzeitig in den Flur, während im Hintergrund das schlurfende Geräusch der Kaffeemaschine ertönte.

"Ich gehe", meinte die junge Frau, die auf den kleinen Wecker am Fensterbrett starrte, nur um sich zu vergewissern, nicht spät dran zu sein. Die Dreharbeiten für die Werbeaufnahmen standen heute an, Mokuba hatte sie daran erinnert, um elf Uhr ausgehbereit zu sein - man würde sie abholen. Sie öffnete die Wohnungstür, an der innen ein Foto von ihr und Lumina zu sehen war. Es war ein Portrait, das vor etwa fünf Jahren in ihrer Schule geschossen wurde. Sie trugen die klassische Schuluniform der westlichen Domino-City-Oberstufe - hellblauer Faltenrock, dazu der passende Blazer, mit grauer Bluse und lilafarbener Krawatte. Leicht verlegen lächelten beide in die Kamera, Rin konnte sich nicht erinnern, was an diesem Tag passiert war, dass beide Mädchen so geschafft aussahen. Sowohl sie als auch Lumina wussten nicht, warum ausgerechnet dieses Foto zum Aushängen ausgewählt worden war - es gab so viele ungezwungene und witzige Bilder der beiden, dass dieses verkrampfte Foto in eine der Boxen hätte verschlossen werden können.

Kaum verschwand das Bild der beiden als Rin die Tür weit genug aufgerissen hatte, da starrte sie in zwei dunkle Brillengläser.

"Isono", blinzelte Rin den unerwarteten Gast an. Dieser blickte ernst zu ihr herunter (wenn er sie denn wirklich ansah) und begrüßte sie mit einem stummen Nicken.

"Wurde der Termin nach vorne geschoben?", fragte sie stattdessen und wusste nicht, wie sehr sie diese Tatsache begeistern sollte. Der große Mann mit den dunkelgrünen Haaren schüttelte den Kopf und fing zu Rins Erleichterung an sich zu erklären: "Entschuldigen Sie mein frühzeitiges Erscheinen, Frau Yamamori. Ich komme noch in einer weiteren Angelegenheit zu Ihnen." Damit zückte er aus seinem Jackett einen Stick hervor.

"Bevor ich Sie in die Hauptarena nach Kaiba-Land fahre, wurde ich beauftragt, die Auswertungen Ihrer VR-Ergebnisse zu kopieren."

"Oh...okay", damit trat Rin ein Stück beiseite, "dann kommen Sie doch herein."

"Vielen Dank", er tat eine tiefe Verbeugung, bevor er Rin in die Wohnung folgte.

"Ich bringe den Laptop nach vorne. Wollen Sie solange einen Kaffee?" Trotz Sonnenbrille erkannte sie, dass er stutzte und die Situation abwägte, woraufhin sie lächeln musste: "Es ist genug für alle da."

"Dann nehme ich dankend an", er verbeugte sich erneut, dass Verlegenheit in ihr aufkam. Vor der Kaffeemaschine zog Lumina eine Augenbraue in die Höhe, bevor sie drei Tassen aus dem daneben stehenden Schrank nahm und allen einschenkte.

"Geht schon in Ordnung", flüsterte sie ihrer Freundin beim Vorbeigehen zu, "das ist Isono, er war bisher immer nett." Ein breites Grinsen entfuhr der Schwarzhaarigen: "Du wirst von Kaibas rechter Hand chauffiert?" Rin ignorierte den säuselnden Unterton und machte sich daran, den Rechner aus dem silbernen Koffer hervorzuholen. Sie stellte ihn auf den Tisch, vor Isono, der nach einem kräftigen Schluck die Tasse vor sich abgestellt hatte und sich erneut bei der jungen Frau bedankte. Normalerweise mochte sie keine übetriebene Höflichkeit, aber dieser Mann schien noch von der alten Schule zu sein - zumindest wirkte seine Art nicht aufgesetzt.

"Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht", Rin setzte sich zwischen den Unternehmensberater und ihrer besten Freundin, die ihre Tasse direkt vor ihr Gesicht platzierte. Ihre lilafarbenen Augen sahen über den Rand der Tasse, aus dem dampfender Rauch herausschoss.

"Wofür brauchen Sie die Auswertung?"

Isono verband den Stick mit dem Rechner und entgegnete: "Ich habe lediglich die Anweisung erhalten, Ihre Daten aufzunehmen. Über die Intension bin ich nicht unterrichtet worden."

"Verstehe", murmelte Rin, die es nur zu gern interessiert hätte, ob die Übungen mit dem VR-Helm mehr bezwecken sollten als dem üblichen Training. In den letzten paar Tagen hatte sie die freien Minuten dazu genutzt, sich näher mit dem Gerät auseinanderzusetzen, von dem Kaiba darauf bestanden hatte, es zusammen mit ihrem eigenen erhaltenen Stick anzuwenden. Schnell hatte Rin die Choreographie verstanden. Eine Reihe von Drachen, gekrönt von ihrem weißen Nachtdrachen, erschienen auf einer virtuellen Bühne, traten an ihre Seite, wenn sie dem angewiesenen Pfad folgte, bewegten sich rhythmisch zu ihren Schritten, schlugen mit den Flügeln und reckten ihre Hälse, sobald ihr Blick zu den erhabenen Kreaturen hinaufging. Nachdem sie sich die Schrittfolge eingeprägt hatte, war sie mutiger geworden und hatte ein paar Änderungen vorgenommen. Es machte ihr Spaß zuzusehen, wie die virtuelle Realität mit ihren Handlungen harmonierte, sobald sie sich darauf eingestellt hatte. Rin fragte sich, ob ihr Boss noch weitere Experimente mit ihnen durchnahm. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die neue DuelDisc, die bald auf dem Markt erscheinen sollte, wirklich schon alles ausgeschöpft hatte, woran der junge Firmenchef arbeitete. So viel stand jedoch fest: Isono würde ihr keine Informationen liefern, ob er nun darin im Bilde war oder nicht. Stattdessen beobachtete sie, wie er geschickt am Rechner hantierte. Er öffnete den Link zu dem Programm, das direkt in die Zugangsdaten des virtuellen Systems zugriff, nur ohne den Helm vollkommen sinnlos war. Mit zwei weiteren Klicks und einer Tastenkombination, der Rin nicht folgen konnte, öffnete sich ein schwarzes Fenster mit tausenden von Zahlen, Strichen und Punkten in den unterschiedlichsten Reihenfolgen.

Codes

Manchmal bereute sie es, nicht die nötigen Fähigkeiten in Informatik zu besitzen. Sie hatte zwar gute Noten in Mathe und dem schulischen Informatik-Unterricht gehabt, jedoch hätten sie nie für ein derartiges Studium ausgereicht. Dafür verschwammen zu schnell die Zahlen vor ihrem Auge, dass sie das Gefühl hatte, einen Hypnosekreis anzustarren. Stumm nippte sie an ihrem Kaffee, während sie ihren Blick zwischen Rechner und der DuelDisc um ihren Arm hin und her wandern ließ. Immer mehr hatte sie sich mit dem Linkshändermodell angefreundet. Selbst Lumina empfand es als nette Geste, auch wenn sie sich dagegen sträubte zu glauben, dass sich Seto Kaiba dazu herabgelassen hätte

Vermutlich hat ihm sein Bruder gut zugeredet. Mir kann es nur recht sein

"Fertig", Isono klappte den Rechner zu. Rin war erstaunt, wie schnell schnell der Stick die Daten heruntergeladen hatte.

Was auch immer das für Daten gewesen sind

Dass der treueste Mitarbeiter von Kaiba Corp. so zügig seine Tasse leerte, zwang sich auch Rin dazu, sich zu beeilen. Glücklicherweise war sie heute früh auf den Beinen gewesen. Ihren Wecker hatte sie zwei Stunden früher gestellt, falls ihr derselbe Fehler wie beim letzten Mal unterlaufen sollte und sie ihn einfach ignorierte. Danach hatte sie sich fertig gemacht, war unter die Dusche gesprungen, hatte ihre DuelDisc poliert und das Armband mit einem speziellen Tuch gereinigt, dass man sich darin betrachten konnte. Ihre Haare waren schnell auf die richtige Höhe gelegt worden, dass sie nur noch ihre Augen etwas betonen musste und schon fertig für den Rest des Tages war.

"Wenn Sie soweit wären, Frau Yamamori", damit erhob sich Isono von seinem Stuhl, bedankte sich bei Lumina für den Kaffee und sah schließlich zu Rin, die ihm zunickte.

"Viel Glück", umarmte sie ihre beste Freundin, "bei all den verrückten Intriganten wirst du das sicherlich brauchen", sie zwinkerte ihr zu, dass Rin lächeln musste, obwohl ihr Magen vor Aufregung anfing zu rumoren.

"Und du denkst, ich kann so hingehen", sie sah auf ihr Outfit herunter, dass sie auch am Vortag in der Liveshow getragen hatte.

"Ich hab´es dir gestern schon gesagt", seufzte Lumina, "du siehst Spitze aus. Du weißt, ich liebe diesen Mantel und du hast damals selbst gesagt, dass du ihn zu deinem ersten großen Turnier tragen wirst. Lass`dir nichts von diesen kitschigen Modestilisten einreden, die hätten dich nur zu einem billigen Püppchen verwandelt, das du nicht bist."

"Du hast recht", Rin war froh, Lumina an ihrer Seite zu haben. Sie war eine der wenigen, die knallhart ehrlich waren, ohne Rücksicht zu nehmen. Wenn sie ihr versicherte, dass ihr Outfit passte, dann stimmte es auch.

"Bevor ich es vergesse", Lumina schwenkte ihr Telefon, dass ihr Display mit ihrem Lieblingsmusiker aufblitzte, "soll ich uns nun morgen einen Tisch im Mahados bestellen?" Rin lief bereits Richtung Tür als sie die Hand zur Bestätigung hochhob.

"Zwanzig Uhr sollte passen", entgegnete sie.

"Yamato und sein Kollege kommen auch mit?", Lumina setzte ihren speziellen Unterton ein, dass Rin versuchte ihn zu ignorieren.

"Ja. Und keine Sorge, es ist kein Verkuppelungsversuch."

"Das will ich dir auch raten", rief sie ihr hinterher, bevor die Tür ins Schloss fiel und Rin diejenige war, welche Isono folgte. Kaum waren sie draußen steuerte dieser einen himmelblauen Cadillac an, den selbst Rin als 79er Jahrgang identifizieren konnte, obwohl sie überhaupt kein Interesse für Autos hatte. Dieser jedoch war selbst für die junge Frau aufregend. Er war auf seine altmodische Art ziemlich protzig, geradezu dekadent. Sie stellte sich vor wie ein junger Elvisverschnitt aus dem Wagen stieg und vor ihr mit den Hüften wackelte. Diese Art von Kerlen gefiel ihr zwar nicht, doch sie hätte sich gerne ein buntes Tuch um den Kopf gebunden und sich von dem kalten Wind der Fahrt umwehen lassen. Als Roland ihr die Beifahrertür aufhielt, wäre sie gerne wieder Teenager gewesen, bei dem es nicht schlimm war, wenn er plötzlich anfing zu Quietschen. Sie hätte sich nicht träumen lassen, jemals in so einem Wagen chauffiert zu werden - noch dazu von der rechten Hand des mächtigsten Firmenchefs Domino-Citys. Wenn nicht sogar des gesamten Kontinents. Ihr Herz flatterte als der Motor startete, wie eine wilde Katze schnurrte das Gefährt, dass sie nicht umhin kam, es geil zu finden. Es fehlte nur noch der passende Fahrer und sie würde vollends die Fassung verlieren. Zügig lenkte Isono durch die Seitenstraße und fuhr eine Weile die Hauptstraße entlang, vorbei am Hafen Domino-Citys, bis sie den Tunnel erreichten, durch den sie nach Kaiba-Land gelangten.

Über das verlassene Gelände zu fahren, hatte etwas von einem billigen Horrorstreifen - nichts regte sich in Kaibaland, keine Attraktion bewegte sich, kein Kinderlachen hallte durch die Parks, nicht einmal die Security war an den einzelnen Abschnitten an ihren Posten. Sie wusste zwar, dass Zwecks der heutigen Dreharbeiten Kaibaland geschlossen hatte, aber gleich alles lahm zu legen, fand Rin etwas übertrieben. Als die Arena erschien und sich die Frage nach der fehlenden Security erübrigt hatte, hielt Isono direkt vor dem Haupteingang an.

"Bitte", erneut hatte er ihr die Tür aufgehalten und verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung von ihr, dass sie nicht anders konnte als ebenfalls ihr Haupt zu neigen. Dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr los - wohin, wusste Rin nicht, es wirkte nicht so als würde er am Hintereingang nach einem Parkplatz suchen. Noch immer von der Tatsache verblüfft, von Isono persönlich mit einem Oldtimer chauffiert worden zu sein, lief sie die paar Schritte Richtung Eingang, wurde dort von zwei Security-Männern angehalten, die eine gründliche Taschenkontrolle vornahmen.

"Mantel anheben", meinte schließlich der eine, dass Rin ihm giftige Blicke zuwarf.

"Ich habe keine Taschen an meine Hose", knurrte sie und hob ihr Mantelkleid soweit an, dass der Bund ihrer Hose sichtbar wurde. Der andere Kerl nickte und winkte Rin weiter in die Arena, die heute mit einem Dach ausgestattet war. Sie staunte nicht schlecht als sie das Gebäude völlig verändert vorfand. Zunächst lief sie durch eine Art Flur, der sich in zwei Richtungen spaltete. In jeweils eine Richtung wartete eine Security.

"Die Damen nach links", murrte ein kahlköpfiger Riese. Rin folgte der Anweisung und lief bis zu einer Schiebetür, welche in eine Umkleidekabine führte. Plätscherndes Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die dazugehörigen Badeanstalten, die Rin stark an die ihrer alten Schule erinnerten. Vor einem der Waschbecken stand eine Frau mit blonder Prachtmähne und wusch sich die Hände. Aus dem Augenwinkel sahen sie zwei herausfordernde Augenpaare an.

"Na sieh mal einer an." Rin hatte den zweiten Gast nicht gesehen, und drehte sich abrupt zur der bissigen Stimme um. Mit einem selbstgefälligen Lächeln fasste sich die Schwarzhaarige durch einen ihrer Dutts.

"Die Neue", Vivian Wongs Stimme war genau wie im Fernsehen - schrill und nervtötend. Rin hatte schon damals die Sorte Frau nicht leiden können, deren Mundwerk nicht zugehen wollte, obwohl sich die Stimme wie eine Bohrmaschine ins Hirn fraß. Zwei Schritte kam die Duellantin auf die junge Frau zu, die sich nicht anmerken ließ, dass sie nicht gerne von der Seite angesprochen wurde.

"Ich weiß", süffelte Wong und legte einen Finger auf ihr Kinn, "dass dein letztes Duell viel Aufmerksamkeit erregt hat. Aber bild' dir nicht so viel darauf ein - hörst du. Gegen Haga zu gewinnen, macht noch keinen richtigen Duellanten aus dir, und solltest du doch so viel Glück haben und in der nächsten Runde gegen mich spielen, wirst du schon sehen, wo dein wahrer Platz hingehört."

"Bist du fertig?", Rin verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu der Schwarzhaarigen hinab, welche dank Rins Absätzen einen Kopf kleiner war als sie, "ich habe nicht die Nerven, mich mit deinem Geschnatter auseinanderzusetzen." Bissige Blicke, wie sie nur eine Frau auf eine andere Frau richten konnte, richtete die gebürtige Chinesin auf ihren Gegenüber, bevor sie sich abwandte und eine zweite Tür ansteuert, die wohl in die Arena führte.

"Du brauchst die Puppe nicht so ernst nehmen", Mai Kujaku war aus dem Bad getreten und lehnte lässig an der Wand. Zum ersten Mal fiel Rin auf, dass sie ihr Outfit geändert hatte. Sonst war ihre engsitzends Coursage der Blickfang ihres Auftritts. Diesmal hatte sie diese unter einer dunklen Bikerjacke verborgen, die sie stark an ehemalige Duellanten und Finalisten der vergangenen Worldcups erinnerte.

Dann müssen sie auch zu Paradius Inc's Team gehört haben

Bei dem Gedanken überkam ihr ein Schauder.

"In der Regel", entgegnete Rin und sah zur Tür aus der Wong getreten war, "nehme ich Frauen nicht ernst, die mit zwei Kissen auf dem Kopf durch die Gegend spazieren."

Die Blondine grinste.

"Ganz schön bissig. Aber wenn man zum Team Kaiba gehört, muss man wohl so einen Humor haben."

"Sagen wir Humor"

Kujaku kam näher auf die junge Frau zu, dass sie direkt an ihrem Ohr war: "Glaub' nur nicht, dass wir uns verstehen. Ich bin nur hier, um zu gewinnen. Ich will keine neuen Freunde finden."

"Alles andere hätte deinem Namen nicht alle Ehre gemacht," erwiderte Rin bissig und setzte ebenfalls ein fieses Lächeln auf, bevor sie zusammen mit ihrem Gegenüber nach draußen ging. Wie sie es dachte, führte sie die Tür direkt in das Herzstück der Arena, wo sie gar nicht so verändert wirkte, wie sie es erwartet hatte. Statt einem Publikum von knapp fünfzigtausend war der Bereich vor der Bühne relativ leer. Bis auf die Kameramänner und den Bühnentechnikern, Wachpersonal, das um die hundert Männer führte, sowie den übrig gebliebenen Duellanten des diesjährigen Vorrundenausscheids, wurde die Arena einzig von der Bühnenpräsenz dominiert: Hologramme erschienen auf der Bühne, änderten das Aussehen von einem Duellschauplatz zu individuellen Ortschaften. Rin beobachtete wie Ryota Kajiki sich auf die Bühne stellte. Er schaltete seine DuelDisc an, die türkisfarben aufleuchtete und die Bühne in eine finstere Untersee verwandelte. Seine Bewegungen waren fließend, als die Meeresungeheuer unter seinen Füßen zu schwimmen begannen - sein Blick entspannt und lässig als ein riesiger Hai über seinen Kopf sprang, sich formierte und zu dem Legendären Fischer wurde, als Kajiki direkt vor einem großen X stehen blieb und in die Kamera lächelte.

Dieselbe Choreo wie ich

Rin stemmte die Hände in die Hüften und beobachtete die Lichtershow, die sich einstellte als ein weiterer Duellant auf die Bühne trat. Ein weiterer Spieler von Industrial Illusions, der seit zwei Jahren im Rampenlicht stand und dessen Spezialgebiet Ungeheuer-Krieger waren. Das Wasser verschwand, als Kajiki sich von der Bühne entfernte und die DuelDisc ausschaltete. An dessen Stelle wurde die Bühne zu einem dicht belaubten Wald, dass Rin das Rascheln der Blätter hören konnte. Gänsehaut befiel die junge Frau - die realistischen Effekte der Hologramme waren einmalig.

Ihre Blicke wanderten hinüber zu den Monstern, den aufblitzenden Schwertern, deren Hiebe bis zu ihrem Ohr vordrangen. Sie konnte es kaum erwarten, selbst an der Reihe zu sein. Einer der Security-Männern hatte ihr ihre heutige Startnummer mitgeteilt. Sie war die Nummer zwanzig, kurz nach Katsuya Jonouchi, der einige Meter von ihr entfernt stand und ebenfalls begeistert auf die Bühne starrte. Auch wenn sie kein sonderlich großer Fan seiner Spielstrategie war, die sich hauptsächlich auf Zufalls- und Glückskarten spezialisierte, war sie doch froh gewesen, ihn nicht als ihren ersten Gegner vor sich zu haben. Seine Karten machten ihn unberechenbar, zudem unterschätzte sie seine langjährige Erfahrung als Spitzenduellant nicht, egal wie tollpatschig und verpeilt er sich gab.

Nun war Mai Kujaku an der Reihe, ihre ChaosduelDisc war ein völlig anderes Modell als das der anderen - sogar das Licht, das bei dessen Aktivierung heraustrat, erinnerte stark an die Beschwörung von Orichalcos. Sobald der Countdown runtergezählt wurde und Start auf einem der Bildschirme aufleuchten ließ, die normalerweise für die Punkteanzeige verantwortlich waren, lief Mai los. Ihr Auftreten war ihres Images würdig. Ihre blonde Mähne warf sie nach hinten, den Blick von oben nach unten gerichtet blickte sie in die Kamera, während um sie herum Harpyien vom Himmel stiegen, kreischen und sich um die Blondine versammelten als sei sie deren Königin. Dabei überschritt sie, wie bereits ihre Vorgänger, die jeweiligen Pfeile und Kreuze am Boden, wodurch sie perfekt mit ihren Monstern im Einklang war. So eindrucksvoll die Technologie war, irgendetwas war anders als bei den bisherigen Duellanten. Eine zweite Aufnahme wurde gemacht, diesmal musste Kujaku ihren Kopf noch etwas weiter nach links drehen, damit es den Anschein erweckte als erteilte sie Harpyie Nummer eins einen Befehl. Derweil drehte Rin ihren Kopf zur Seite und bewunderte das Ausmaß der Arena, ohne von lästigen Zuschauern behindert zu werden. Ohne das Publikum wirkte die Arena noch viel gewaltiger - wie musste es da auf der Bühne für sie aussehen. Ein Kribbeln drang aus ihrem Bauch, das perfekt zu dem Summen passte, das wie ein Propeller im Landeanflug klang und sie kurzerhand nach vorne schauen ließ. Ein Raketenkrieger wirbelte in Richtung der jungen Frau, nur knapp konnte sich Rin rechtzeitig ducken, dass er ihr nicht direkt ins Gesicht flog. Denn auch wenn es bloß ein Hologramm war, konnte ein direkter Angriff schon schmerzhaft sein. Ungläubig rappelte sich Rin auf und beobachtete wie Jonouchi die Kontrolle über seine Monster verlor.

"Das kann dauern", entgegnete eine vertraut stoische Stimme, dass Rin langsam ihren Kopf nach rechts drehte und Seto Kaiba direkt vor sich stehen hatte. Rin hatte sich schon gewundert, ihren Boss nicht vorher zu Gesicht bekommen zu haben, wo er doch führender Leiter der heutigen Drehs war. Sie hätte sich nicht vorstellen können, dass er jemand anderen die Kontrolle über die Überwachung seiner Systeme überließ.

"Es ist wirklich erstaunlich", sagte Rin kopfschüttelnd und wandte sich erneut dem Blonden zu, der noch immer nicht so recht wusste, wie er verhindern konnte, dass seine eigenen Monster auf ihn los gingen.

"Ich dachte immer, dass seine Art nur Image ist."

"Nein", Kaiba kam noch einen Schritt auf sie zu, dass sie nur noch eine Handbreite voneinander trennte und Rin seinen Duft zum erstens Mal bewusst wahrnahm, "er ist wirklich so ein Trottel. Daran hat sich in den letzten fünf Jahren nichts geändert."

Stimmt, Kaiba und Jonouchi gingen auf dieselbe Schule

"Kein Wunder, dass er so gut ankommt." Doch Kaiba sah sie an als wüsste er es nicht.

"Naja, ich schätze die Leute merken, dass er authentisch ist; kein geschaffenes Produkt." Tatsächlich stand Katsuya Jonouchi sehr weit oben auf der Beliebtheitsliste. Nicht umsonst gehörte er zu den wenigen Champions, die allein von Sponsoren und Gönnern leben konnten. So wurde der Blonde von der städtischen Pizzakette unterstützt und gefördert, worauf er im Gegenzug die Marke präsentierte und seinen Namen hinhielt. Nicht gerade die schlechteste Art sein Geld zu verdienen, zumal er sein Leben lang umsonst Pizza essen konnte.

"Wie auch immer", der junge Firmenchef ließ den Blick über die Bühne schweifen als der Rotäugige über das Parkett schwebte; das einzig wirklich erhabener Monster, das nicht sofort reißaus nahm. Seto Kaibas Augen durchbohrten den Blonden, der mit einem der Kameramänner zu streiten begann. Kurz hielt er inne und drehte seinen Kopf in Richtung der beiden. Seine Augen blitzten wütend auf, während die des mächtigen CEOs angriffslustig in dessen Richtung blickten: "Probleme mit der Technik?" seine Stimme war provokativ und sarkastisch, und Jonouchi sprang voll darauf an.

"Wie soll ich denn auch in zwei Minuten diesen Mist lernen?!"

"Jeder hat die Holo-Anweisungen nach den Battle-City-Turnieren erhalten."

Jonouchis Gesichtsfarbe wurde kirschrot.

"Was für Holo-Anweisungen? Ich hab überhaupt nichts erhalten."

"Ach wirklich nicht?", winkte Kaiba ab, "ich habe meinen Mitarbeitern angewiesen, jedem Profispieler die Anweisungen zukommen zu lassen."

"Na warte, Kaiba", schrie der Blonde aus sicherer Entfernung und brachte sich erneut in Position. Rin hatte aufgehört mitzuzählen, wie viele Versuche es bereits gegeben hatte. Irgendwie hatte die junge Frau Mitleid mit dem tollpatschigen Kerl, während sie gleichzeitig ihren Drang zu lachen unterdrückten musste.

"Yamamori", Kaibas Stimme änderte seinen Ton als er aus dem Augenwinkel zu ihr herunter sah. Weniger Sakrkasmus umso mehr Ernsthaftigkeit legte er in seine Stimme. Noch immer staunte sie über seine Körpergröße.

"Zeigen Sie diesem Anfänger wie man es richtig macht." Rin blinzelte ihn mit ihren Jade-Augen an: "In Ordnung", sie machte sich daran, auf die Bühne zuzusteuern.

"Jonouchi", rief Kaiba als sie bereits die Stufen hinaufstieg, "lass' es dir von einem Profi zeigen."

"Jaja", murmelte der Blonde als er Rin Platz machte, "als ob einer deiner Duellanten nicht schon tausend Jahre Vorsprung hat." Damit hatte er nicht einmal so unrecht. Seit sie an den Battle-City-Turnieren teilnahm, hatte Rin jede Gelegenheit genutzt um ihre Fähigkeiten mit der neuen Technik zu verbessern. Obwohl Rin ihren Kollegen Yoshi weniger eindrucksvoll fand. Er hatte weniger Selbstsicherheit mit der Technologie als sie erwartet hatte. Der Kerl brauchte ein paar Anläufe und dabei wirkten seine Versuche ziemlich steif und abgehakt. Rin dagegen war einfach nur gespannt auf ihre Umsetzung der Virtuellen PC-Variante. Ein rothaariger Security-Mann, von dem sie überzeugt war, ihn schon einmal bei Kaiba Corp. gesehen zu haben, überreichte ihr ein dünnes Plättchen, dass sie unter ihre DuelDisc zu schieben hatte. Überraschenderweise passte es perfekt in den Bereich direkt unter der Friedhofszone, dass sie mit einem Klick dort einrastete. Wenn sie es richtig verstanden hatte, würde sie nun fortan mit diesem Feature arbeiten. "Auf Position", rief ihr ein Kerl, der neben einem der Kameramänner stand, zu und winkte mit der linken Hand. Rin stellte sich auf das gelbe große Kreuz, dabei ging ihr Blick weiter zu den Pfeilen, die letztendlich zu dem letzten großen Kreuz führten. Darauf wollte sich die junge Frau einzig konzentrieren, die Pfeile waren ihr relativ egal, sie hatte ihre eigene Vorstellung von einem gelungenen Auftritt. "DuelDisc einschalten", wurde sie aufgefordert. Sie schaltete das System ein, ihr Arm begann zu kribbeln - dieses vertraute Gefühl, dass sie die Umgebung um sie herum vergessen ließ. Vergessen war der Countdown sowie das Startsymbol. Ihr Körper wurde mit Licht durchflutet, Wärme strahlte über ihre Haut, ging durch sämtliche Nervenzentren. Ihr Blick wandelte sich, ihr Geist manifestierte zu einem festen Willen. Sie lief los, ihre Schritte waren fest, waren sicher. Aus dem Boden drangen Wirbelstürme, die sich zu Schattenzaubern transformieren, Ketten streiften ihre Beine entlang und bahnten sich ihren Weg nach oben, von wo sie auf gleißendes Licht trafen. Reflektionen in den verschiedensten Farbspektren erhoben sich, eine Frau trat aus den bunten Diamanten - die Seelenerlöserin streckte ihren Arm aus als Rin den ihren zu ihr ausstreckte, dabei immer weiter marschierte, auch als die Seelenerlöserin zu Glitzerstaub zerfiel und dabei den gesamten Himmel in ein Lichtermeer verwandelte, dass sämtliche Dunkelheit von ihr wich. Ein Schrei ertönte, willig seine gesamte Kraft zu entfalten. Der Wind wurde stärker, aufbrausend und unnachgiebig bis ihr eigener Körper von der Mitte ausgehend ein weißes all umfassendes Leuchten entsandte und der weiße Nachtdrache sich aus ihr erhob, wild mit den Flügeln schlug und über ihren Kopf zum Stehen kam. Ein weiter Schrei ertönte, der Ruf der Bestie schallte durch die Halle bis Rin ihren Blick anhob, ihre grünen stechenden Augen zu einem stummen Befehl auf die erhabene Kreatur richtete, die ergeben ihren Kopf senkte und dabei auf Augenhöhe mit seiner Schafferin kam. Rins Lider senkten sich ganz leicht, bevor Selbstsicherheit, Überlegenheit und starker Stille zu einem bahnbrechenden Gesichtsausdruck verschmolzen. Erst jetzt sah sie die Kamera, die direkt vor ihr stand. Der Drache mitsamt der Spezialeffekte löste sich augenblicklich auf. Auf einmal hatte Rin das Gefühl, als wäre es ganz still in der Arena geworden. Sie spürte einen eindringlichen Blick auf sich. Es war Kaiba, der Rin von weitem betrachtete, dass ihr Herzschlag sich verdoppelte.

"Scheiße, war das krass", schüttelte nur ein Stück weit von ihr Jonouchi mit dem Kopf, "wie hast du das gemacht? Du bist gar nicht über die Markierung gelaufen."

"Das ist doch nur Hilfestellung - oder?", flüchtig sah sie zu ihrem Boss herüber, der sie noch immer mit einer Intensität betrachtete, dass Rin alle Mühe hatte, seinen Blicken zu begegnen. Kaiba war nicht der einzige, der sie ansah. Um sie herum hatten sich die Spitzenduellanten des diesjährigen Worldcups versammelt. Einige pflichteten Jonouchi bei, während andere nur mit den Schultern zuckten.

"Hab ich was falsch gemacht?", langsam wurde sie unsicher. Vielleicht war die Choreo nur in ihrem Kopf gelungen.

"Nein", entgegnete ihr Boss trocken ohne dabei seine Aufmerksamkeit von ihr abzuwenden.

"Pah", aus einer entgegengesetzten Ecke der Arena trat Hii aus dem Schatten hervor. Seine Augen drangen direkt durch die junge Frau hindurch, "das passiert, wenn man die Kontrolle über seinen eigenen Geist verliert." Er kam zu ihr auf die Bühne, genau ans andere Ende und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Noch mag es vielleicht amüsant aussehen. Aber was passiert, wenn dein Geist sich gegen dich stellt?"

"Was für ein Unsinn", Rin schwang ihren Pferdeschwanz nach hinten, "würde ich einfach nur den Richtlinien folgen, hätte ich das Prinzip des Fortschritts nicht verstanden."

"Ach ja?", Hii zeigte seine Zähne. Er hatte denselben Ausdruck im Gesicht wie an dem Tag als er sie herausgefordert hatte. Er breitete seinen linken Arm aus, dass seine ChaosduelDisc ausfuhr und sich im Orichalcos-Licht badete: "Dieser Fortschritt, von dem du da sprichst", das grüne Licht erlosch, an dessen Stelle trat eine türkisfarbene Feuerkugel die sich direkt vor seinem Gesicht ausbreitete, "er wird von gierigen Menschen geschaffen, dessen Egoismus und Wahn in dessen Maschinen reingesteckt wird. Es folgt Chaos und Zerstörung, die niemand mehr aufzuhalten vermag." Die Feuerkugel bewegte sich mit einem rasenden Tempo auf die junge Frau zu, die sich nicht von der Stelle bewegte. Ihre Augen fixierten den Feuerball. Direkt vor ihrem Gesicht explodierte er in abermillionen kleine Diamanten - so wie sie es sich in ihrem Kopf ausgemalt hatte.

"Ich denke", Rin sah hinauf an die Decke, dort wo rote und grüne Prismen hinabstrahlten, "Fortschritt ist nur etwas für Menschen, die über Technik herrschen können und nicht davor Angst haben sie zu nutzen. Niemand kann Macht ausüben, der sich davor fürchtet, sie entgegen zu nehmen." Damit hüllte sie ein Nebel ein, der sich in ihrer linken Hand sammelte. Aus Rauchschwaden wurden Blitze, die zu einer einzigen Kugel verschmolzen. Ihre Augen spiegelten die Aufregung der gelben Stacheln wider, ihre Mundwinkel zuckten - das virtuelle System war bereit auszubrechen.

"Die Rooftop-Battles haben noch nicht einmal angefangen, und schon duellierst du dich", Lumina schüttelte den Kopf, während der Whisky in ihrer Hand im sanften Rhythmus rotierte.

"Nein, habe ich nicht", widersprach die junge Frau, die lediglich an einem Eistee nippte, während sie von Lumina und ihren Gegenübern die volle Aufmerksamkeit erhielt, obwohl das an diesem Abend gar nicht ihr Ziel gewesen war. Dabei hatte sich Rin fest vorgenommen, DuelMonsters für diesen Abend beiseite zu stellen, hauptsächlich ihrem schwarzhaarigen Wuschelkopf zuliebe, dem sie seit neun Wochen mit nichts anderem mehr den Kopf stopfte. Der heutige Abend war die Gelegenheit, den morgigen Tag vergessen zu lassen, der ihr bei dem Gedanken doch etwas Angst bereitete. Sie nahm das Duell gegen Wotan Arizu nicht auf die leichte Schulter, zumal ihr Mokuba mehr als eindeutig zu verstehen gegeben hatte, dass sein älterer Bruder eine Niederlage gegen von Schroeder Corp. nicht duldete. Auch wenn der junge Kaiba dabei gelächelt hatte, war Rin nicht zum lachen zumute gewesen. Sie konnte sich schon vorstellen, dass Seto Kaiba gegen einen Konkurrenten wie Zigfried nicht dumm dastehen wollte. Nur zu gut erinnerte sie sich an den Grand Championship von vor vier Jahren, als der Mann mit den rosafarbenen Haaren eine vernichtende Niederlage gegen Seto Kaiba erlitten hatte, die ihn seit je her als ewigen Verlierer gebrandmarkt hatte. Seitdem hatte die von Schroeder Corp. sich kaum mehr erholen können. Zwar machte sie außerhalb des Kontinents nennenswerte Zahlen, jedoch kam sie auch dort nicht gegen die geballte Macht der Kaiba Corporation an. Sollte Rin tatsächlich gegen Wotan verlieren, wäre sie unten durch.

Denk' nicht dran. Du hast dich vorbereitet, jetzt vergiss es und konzentriere dich auf deine Freunde. Du hast es versprochen.

"Zu einem Duell ist es gar nicht erst gekommen. Und nein, bevor ihr fragt, wir haben auch nicht das Gebäude zum Einsturz gebracht." Seto Kaiba hatte einer möglichen Eskalation entgegengewirkt. Seine Stimme hatte durch den Raum gehämmert, dass Rin den Arm sinken ließ und die Gewittershow beendete. Sie hatte nicht vorgehabt, sich von Hii provozieren zu lassen. Der Adrenalin, welcher sich bei jeder virtuellen Simulation einstellte, ließ sie gerne einmal über die Strenge schlagen. Die eindringlichen und gespannten Blicke um sie herum, sowie Seto Kaibas eigenen eiskalten Seelenspiegel, die sie kaum mehr aus den Augen ließen, hatten des Rest getan, dass sie vollends in ihr Element aufgeblüht war. Und wie hätte sie Hiis indirekter Herausforderung auch widerstehen können, schließlich hatten beide noch eine Rechnung offen, für die allein es sich schon lohnte, die nächste Runde zu erreichen. Rin hatte sich über all ihre Konkurrenten kundig gemacht, und Hii gehörte zu der Sorte Duellanten, die einen besonders ausgefeilten Sinn für Unterweltler-Monster besaßen - eine Tatsache, die sie in ihrem gefakten Duell nicht zu Gesicht bekommen hatte. Dafür hatte sie im Internet alte Aufzeichnungen gefunden, die Hii nicht als naiven Spieler darstellten, sondern als einer der gerissensten Duellanten, die sie je kennengelernt hatte. Bei jedem Duell pflegte er eine neue Strategie, jeder Gegner wurde sorgsam ausradiert als gehörte dies zum Sinn seines Lebens. Hatte Rin gelernt, ihre Gegner nicht nur zu besiegen, ging Hii eine Stufe weiter. Sein Duell schien einem persönlichen Feldzug gleich, jedes Spiel war eine Schlacht und am Ende würde sich zeigen, in welchem Krieg er sich befand.

"Deine Blitzkugel hätte ich mir gestern auch gewünscht", lachte schräg von ihr Lee, Yamatos Kollege und riss Rin aus ihren Tagträumereien, "letzte Nacht: Totalausfall. Mir ist fast das Herz stehen geblieben." Seine Stimme war rauh, als hätte er bereits eine halbe Zigarettenpackung ausgeraucht. Ungläubig über seine eigene Aussage schüttelte er den Kopf, dabei bewegte sich seine dunkelbraune Mähne im Zopf hin und her. Rin bemerkte sofort, dass ihre beste Freundin den Blick auf eben diese lenkte. Schon immer hatte Lumina eine Vorliebe für lange glatte Haare, durch die sie ihre Finger gleiten lassen konnte. Nur zu gut kannte die junge Frau die Gedanken ihrer besten Freundin, die am Ende des Abends niemals gestehen würde, dass Lee genau ihrem Typ entsprach - älter, langhaarig und noch dazu ein Hobbymusiker. Yamato hatte nicht zu viel versprochen, dass sein Kollege nicht dem typischen Bild eines Analytikers entsprach. Seit sie den Schwarzhaarigen kennengelernt hatte, wusste sie, dass nicht jeder dem klassischen Muster entsprach, wie Rin sie oft in ihrer eigenen Firma zu Gesicht bekommen hatte. Lee war geradezu tiefenentspannt, wie er mit seinen Zigarette zwischen den Lippen lässig von seiner letzten Jam Session erzählte und Lumina dabei feststellen musste, dass sie ihn bereits bei einem seiner Auftritte gesehen hatte. Wie die beiden miteinander kommunizierten entspannte Rin zutiefst, dass sie es ab und an schaffte, ihre Gedanken von ihrer eigenen Arbeit los zu bekommen.

"Ein Stromausfall?", Lumina nahm nun ebenfalls eine Zigarette zur Hand und entzündete eine Miniflamme, die sodann in ein seichtes Glimmen überging, nachdem sie einen kräftigen Zug genommen hatte, "hab ich gar nicht mitbekommen."

"Unser Notstromgenerator setzt unmittelbar nach Ausfall ein - solange der Ausfall nicht länger als zwei Stunden geht, bekommt man gar nichts mit", auch er nahm einen weiteren Zug, dass die beiden einem stummen Takt nachgingen, "und zum Glück dauerte es nur zehn Sekunden. Danach war alles wieder beim Alten."

"Und was war der Fehler?", schaltete sich nun Rin in das Gespräch ein, die es weitestgehend zu verhindern versuchte, den Rauchschwaden abzubekommen, wodurch sie ein Stück näher an Yamato heranrückte und den Blick zu seinem Gesicht wandte, dass es den Anschein erweckte als spräche sie Yamato und nicht seinen Sitznachbarn an.

"Die Fehlernummer war eine bisher unbekannte", antwortete Lee und ließ den Finger über seinen Bourbon wandern, "es ist möglich, dass der Fehler von außen kam. Quasi von einer fremden Quelle verursacht."

"Jemand hat auf das Stromversorgungssystem zugegriffen?"

"Theoretisch ist es unmöglich", sagte Lee ernst.

"Praktisch", ergänzte Yamato, "hat jemand versucht die Stromversorgung lahmzulegen."

"Warum sollte das jemand tun?", Lumina rauchte ihre Zigarette aus. Lee zuckte mit den Schultern.

"In den letzten zehn Jahren, wo ich dort beschäftigt bin, habe ich sowas noch nie erlebt. In der Regel ist die Fehlermeldung eindeutig. Ein zehn Sekunden Ausfall ist sehr untypisch, und erst recht wenn sich das Problem von selbst behebt. Es ist kein Geheimnis, dass unsere Notversorgung sofort greift. Ein Stromausfall hat daher nur Auswirkungen auf die umliegenden Gebäude, und auch nur so minimal, dass keiner etwas bemerkt haben sollte."

"Das heißt", Lumina spielte mit dem Feuerzeug in ihrer rechten Hand, "es muss schon ein ziemlich schwachsinniger Hacker sein, der auf die Idee käme, das Licht für zehn Sekunden auszuknipsen."

"Kommt darauf an", erwiderte Yamato und rückte ebenfalls ein Stück näher zu Rin, "je nachdem wie sensibel Computer und Gerätschaften der betroffenen Anlagen sind. Bei einem Totalausfall können Millisekunden eine unsichere Lücke schaffen."

"Das klingt", Rin sah ihm in die Augen, dass ihr stechendes Grün in sein samtiges Braun erstrahlte, "als sprechen wir hier von einem Hackversuch der obersten Liga. Aber unmöglich scheint es mir nicht."

"Nun", kaum hatte Lee die Zigarette ausgeraucht und einen Schluck seines braunen Goldes auf seiner Zunge zergehen lassen, hatte er auch schon eine weitere Zigarette aus der Schachtel genommen, "es ist so gut wie unmöglich. Wir reden hier von einem kranken Genie, das diesen winzigen Augenblick genutzt haben muss, um einen Nutzen daraus zu ziehen, der höher ist als der Aufwand. Denn wir reden hier von einem so hohen Risiko - nicht nur auf strafrechtlicher Ebene. Wenn jemand etwas derartiges vorhat, muss er auch eine Menge Glück besitzen."

Glück

Ein Kellner platzte inmitten der Verschwörungstheorien, in die sich die vier hineinnanövriert hatten, bis sie kaum mehr aus dem Lachen herauskamen, und fragte nach einer neuen Runde. Ein wenig kam sich Rin blöd vor, dass sie gänzlich auf Alkohol verzichtete. Aber sie hatte sich fest vorgenommen nüchtern zu bleiben, der morgige Tag würde auch ohne Kater zu einem nervenaufreibenden Erlebnis werden. Sie hatte auch die dummen Sprüche in Kauf genommen als sie einen großen Eistee bestellt hatte - der Kellner hatte erst geglaubt, sie meinte einen Long Island Icetea. Auch er schien einen bissigen Kommentar auf den Lippen zu haben, doch nachdem er Rin erkannt hatte, änderte er seine Meinung und schien einfach nur hocherfreut, einen angehenden Finalisten des Worldcups bedienen zu dürfen. Und er war nicht der einzige - jedes Mal, wenn ein neuer Gast das Lokal betrat, wanderte sein Blick zu der jungen Frau herüber, welche die Blicke schon gar nicht mehr erwiderte. Der ein oder andere war sogar zu ihnen an den Tisch getreten, wobei sich Rin zusammenreißen musste, sich höflich zu verhalten. Das widerum führte dazu, dass sich binnen einer Stunde der Raum mit tuschelnden Gästen füllte, die Rin zwar nicht mehr bis an den Tisch gefolgt waren, jedoch umso neugieriger beobachteten, was sie tat.

"Darf ich euch noch was Gutes tun", setzte der Kellner an, der kaum die Volljährigkeit hinter sich hatte und lächelte breit.

"Nochmal dasselbe", orderte Rin an, bevor jemand etwas auf ihren Eistee erwidern konnte, "die Runde geht auf mich." Ein anerkennendes Raunen ging durch den Tisch.

"Daran könnte ich mich gewöhnen" säuselte Lumina, "versau' es morgen ja nicht", fuchtelte sie mit dem Finger vor Rin.

"Wo findet das Duell eigentlich statt?", Yamato hatte noch immer das Ticket, dass er bei ihrer Begrüßung von ihr erhalten hatte, vor sich liegen. Mit der einen Hand umfasste er das Papier als würde er der Innentasche seiner Lederjacke nicht trauen.

"In der Hauptarena vom Kaiba Themenpark" antwortete Rin, die den Aufenthaltsort erst heute morgen erfahren hatte.

"Ich dachte", nippte Lumina an ihrem Jack Daniel's, "dass wir uns auf ein >windiges< Duell gefasst machen sollten?"

"Ich sag' nur, wie es mir übermittelt wurde", zuckte Rin mit den Schultern. Auch sie hatte sich gewundert, dass die nächste Runde in der Arena stattfand, in der sie ihr letztes Spiel bestritten hatte. Die heutigen drei Duelle fanden da an ganz anderen Orten statt - so duellierte sich Mai Kujaku auf einem Hoteldach, das eine Entfernung von fünfhundert Metern zum eigentlichen Boden hatte. Ein anderes Duell fand auf dem Dach der südlichen Domino-City-Oberschule statt, und wieder ein anderes spielte sich auf der Dachterrasse einer reichen Familie ab, die keine Mühen und Kosten gescheut hatte, sich ins Duellgeschehen einzuschleusen. Warum ausgerechnet Rin für den Schauplatz ausgewählt worden war, der am wenigsten mit dem Thema gemein hatte, aber umso mehr wie eine Provokation wirkte, wusste sie nicht so genau. Ihre einzige Vermutung war es, dass Kaiba ein Ass im Ärmel hatte, das er erst morgen offenbaren sollte. Anders ließ es sich nicht erklären. Es war geradezu abstrus, dass ihr Duell so unspektakulär ausgelegt werden sollte. Weshalb gehörte sie denn sonst der Kaiba Corporation an, wenn sie nicht auf eine unvorhergesehenes Wendung hoffen durfte.

"Lass' dich einfach überraschen", sagte Rin mit einem Grinsen, bevor sie ihre Lippen an ihren Strohalm führte. Die kühle Flüssigkeit tat ihr gut, sie musste schnellstmöglich ein anderes Thema finden, bevor sie an nichts anderes mehr als den Kampf denken konnte. Ihr Blick huschte zu Yamato herüber, der scheinbar ihre Gedanken lesen konnte und Lumina in eine Diskussion über gute und schlechte Whisky-Sorten lockte, worauf die Schwarzhaarige sofort ansprang und in hitzigen Wortgefechten ihren geliebten Aberlour verteidigte. Ein Lächeln huschte über Rins Lippen. Ihre beste Freundin war sonst nie so ausgelassen, wenn sie in Gegenwart Fremder waren - oder besser gesagt mit Leuten, die sonst nicht ihrer Szene angehörten. Dass sie sich auf Anhieb mit Yamato verstand war keine Selbstverständlichkeit. Mit den Männern, mit denen Rin bisher zu schaffen gehabt hatte, war Lumina nie wirklich warm geworden. Mit ihrem ersten festen Freund hatte sie sich mehr oder weniger abgefunden. Es hatte nicht geschadet, dass die drei eine Gemeinsamkeit in ihrer Leidenschaft für Kendo gefunden hatten, womit wenigstens ein Gesprächsthema gefunden war. Die beiden anderen Beziehung waren so kurz verlaufen, dass sie Lumina nur von ihrer unangenehmsten Seite kennengelernt hatte. Wenn sie mit Yamato zusammenkäme würde er die heilige Zustimmung ihrer Freundin erhalten - damals hatten sie scherzhaft darüber gesprochen, dass eine Beziehung nur mit dem Segen der anderen wirklich legitim war. Ihre Wangen begannen zu glühen, dass sie aus dem Augenwinkel Yamatos Blick ausmachen konnte und sie sich schleunigst einen anderen Fixpunkt suchte, der sie von dem Gedanken ablenken konnte. Das Vibrieren in ihrer Tasche war eine willkommene Ablenkung. Sie beugte sich hinunter und kramte ihr Smartphone hervor. Die Meldung, eine neue Mail im Postfach zu haben, blinkte auf. Sobald sie ihr E-Mail-Postfach geöffnet hatte, leuchtete eine neue Nachricht auf. Sie spürte wie sie der Name des Absenders innerlich zucken ließ.

Seto Kaiba

Ihr Boss hatte sie noch nie persönlich angeschrieben und sie musste zweimal drauf schauen, um sich ganz sicher zu sein. Rin öffnete die Nachricht und fand lediglich zwei knappe Sätze vor:
 

Kannst du heute noch in die Firma kommen? Ich möchte dir etwas zeigen.
 

"Alles in Ordnung?", neben ihr versuchte Lumina in die Nachricht zu linsen. Vor Schreck drehte sie ihr Smartphone um und legte es auf ihren Schoß.

"Ich muss nochmal los", murmelte Rin.

"Wie", starrte sie ihre beste Freundin perplex an, "sag' jetzt nicht, dass du von deiner Arbeit angesimst wurdest."

Rin blickte entschuldigend drein, während ihre Finger unruhig nach dem Telefon griffen.

"Wenn ich nochmal in die Firma kommen soll, muss ich es tun."

"Du bist kein Hündchen", knurrte Lumina, dass sich Yamato einschaltete.

"Bis zur Kaiba Corp. sind es fünfzehn Minuten mit der U-Bahn. Vielleicht dauert es nicht lange, dann meldest du dich und ich hole dich ab." Sein Lächeln war ehrlich und sie war dankbar für seine Worte, dass sie ihm eifrig zunickte. Damit tippte sie hastig eine Nachricht ab:
 

In dreißig Minuten könnte ich da sein
 

Es dauerte keine Minute als eine neue Mail erschien:
 

Ich warte
 

Sie steckte das Smartphone zurück in die Tasche und erhob sich. Erneut war ihr Blick zu Lumina gewandt, die ihren Unmut weiterhin zur Schau stellte. Mit einem Seufzer stellte sie das Glas ab und verabschiedete sich vorerst von Rin.

"Was auch immer es ist, ich beeile mich." Daraufhin wandte sie sich zum Gehen als Yamato ihr hinterher eilte und sie bis nach draußen begleitete. Kühle Abendluft blies ihr ins Gesicht.

"Tut mir leid", wie sie Yamato mit seinen ehrlichen Augen ansah, erwachte nun vollends ihr schlechtes Gewissen.

"Entschuldige dich nicht für deinen Traum", entgegnete Yamato und setzte daraufhin ein schelmisches Lächeln auf, "und außerdem hab ich mir vorgenommen, mir die Zeit zurückzuholen. Mach' dich schon mal auf ein paar lange Abende gefasst."

"Danke", sie lächelte und hielt sich an den Schnallen ihrer Handtasche fest, "ich freu' mich schon drauf."

"Soll ich dich nicht vielleicht zur Firma bringen?"

"Was? Nein", sie winkte dankend ab, "der Weg dorthin ist nicht gefährlich, wie du sagtest, in einer Viertelstunde bin ich dort. Ich glaube, dass es besser ist, wenn du bei Lumina bleibst und sie etwas besänftigst."

"Okay." Rin konnte nicht genau sagen, ob er von ihrer Antwort enttäuscht war. Vor wenigen Jahren hätte sie sich darum gerissen, von einem Mann sicher nach Hause geleitet zu werden. Die Battle-City-Turniere hatte ihr die Angst vor der Nacht genommen. Sie hatte bereits so viele dunkle Gestalten und Gassen kennengelernt, dass die Fahrt zur Kaiba Corporation eine Spazierfahrt war.

"Wir sehen uns dann spätestens morgen", sie versuchte einen verlegenen Ausdruck hinzubekommen, aber sie hatte eher das Gefühl als würde sie ihn wieder ins Lokal zurückschicken wollen. Hoffentlich interpretierte er ihre Unruhe nicht falsch. Im Moment überwog die Aufregung, die sich von ihrem Inneren nach ganz oben in ihren Kopf manifestiert. Sie wusste nicht, was ihr Boss von ihr wollen könnte. Zumal er sie geduzt hatte und seine Worte recht knapp formuliert, dass sie doch neugierig geworden war. Seto Kaiba würde sie wohl nie grundlos ins Büro bestellen, wenn es nicht wirklich etwas sehenswertes für sie gäbe.

Sie war pünktlich. Fast auf die Minute, wie Seto Kaiba feststellen musste. Er hatte sich einige Minuten früher zum Eingang der Kaiba der Corporation begeben und lässig an der Wand gelehnt als zwischen zwei matt schimmernden Laternen die Silhouette der jungen Frau erkennbar wurde. Ein überraschter Ausdruck huschte über die Züge des strengen Firmenchefs; Rin Yamamoris Auftreten hatte sich seit gestern um hundert achtzig Grad gewandelt: Die langen braunen Haare wehten über ihre Schultern, ein paar Strähnen streiften scheu ihre Wangen und ließen sich in unebenmäßigen Zügen hinab zu ihrem Hals und ihrem Oberkörper fallen. Ein Lufthauch ließ ihren Glockenrock hin und her wiegen, dass sie noch nie so zart erschienen war wie in diesem Moment als sie leicht schwebend die Straße überquerte, dabei die Hände auf Gesichtshöhe hatte, die zwei kleine Pappbecher festhielten. Schon von Weitem konnte der junge Firmenchef erkennen, dass ihre Augen die harte Strenge der letzten Tage eingebüßt hatten. Stattdessen wirkte sie wie jene Frauen, die in Gegenwart eines Mannes niemals das Wort ergreifen würden. Umso amüsanter, dass sie es tun würde, sobald die Seite in ihr erwacht wurde, die sie letztendlich hierher geführt hatte.

Kaiba entriegelte mit seiner speziellen Zugangskarte das Firmengebäude, welches nur noch von seiner Wenigkeit und dem Sicherheitspersonal betreten werden durfte. Es war bereits nach zehn Uhr abends, die Spätschicht hatte sich mit dem Nachtdienst abgeklatscht, niemand befand sich mehr in den einzelnen Etagen. So würde es bis sechs Uhr bleiben, wenn die ersten Schichten begannen und der Reinigungsdienst seinen täglichen Rundgang erledigte. In dieser absoluten Stille ließ es sich einfach am besten Arbeiten. Besonders mit sensiblen und streng geheimen Daten, dass er nicht ständig am Telefon genervt werden wollte oder von seiner Sekretärin unnötige Fragen beantworten musste. Als er nach seiner Regelarbeitszeit endlich dazu gekommen war, die Daten durchzugehen, welche ihm Isono zugeschickt hatte, war er vollends in seinem Element. Gründlich hatte er die Daten seiner Spieler durchgearbeitet und analysiert. Wie er es erwartet hatte, hatte sich ein Blick auf die Datensätze gelohnt. Wieder einmal waren es Yamamoris Auswertungen, die mehr als ein Rätsel offen ließen. Ihre Ergebnisse hoben sich nicht nur von denen ihrer Kollegen ab. Sie stellte sämtliche erworbene Kenntnisse über die Nutzung holographischer Technologien in den Schatten. Nicht nur, dass sie das neue System besser als ihre Konkurrenten annahm, sie konnte sogar mit höher frequentierten Modulen arbeiten, die er in ihrem VR-Helm und den Trainingsprogrammen eingearbeitet hatte. Ihr Geist hatte keine Probleme, die Daten zu verarbeiten und dementsprechend umzusetzen. Sie ging dabei sogar einen Schritt weiter und ließ die Technik für sich arbeiten. Nachdem er die Ergebnisse so klar vor Augen hatte, konnte er nicht mehr leugnen, dass sie etwas mit der Verbesserung seines Systems zu tun hatte. Wie seine KI ihm bereits zu verstehen gegeben hatte, bediente sich das System verschiedenster Impulse, die Yamamori ihrerseits - ob bewusst oder unbewusst - dazu nutzte, das System nach ihren eigenen Vorstellungen umzuschreiben. So etwas hatte es vorher noch nie gegeben. Auch wenn die Technologie, die er gerade im Stande war zu entwickeln, neu und zu Teilen noch nicht vollständig ausgereift war, gab es bisher nie vergleichbare Resultate wie in seinem Fall. Zwar nutzte sein System seine eigenen Gehirnmessungen, jedoch war nie vorgesehen, dass es sich anderer Strömungen bediente. So war sein unvollständiges Werk, das er nur zu Teilen in die neue DuelDisc gepackt hatte, überhaupt noch nicht für Eigenprojekte vorgesehen. Niemand außer er sollte in der Lage sein, die Technologie so für sich zu Nutzen, dass er zum eigenen Schaffer wurde. Yamamori hätte gar nicht Änderungen an den Choreographien vornehmen, geschweige denn die Kontrolle darüber übernehmen können, da nur Seto Kaiba die Zugangsschlüssel kannte. Noch immer hatte er nicht alle Puzzleteile beisammen, irgendwie musste es ihr gelungen sein, mit dem System zu verschmelzen und die Befehle abzuändern. Aber wie? Warum konnte eine junge Frau wie sie - ohne nennenswerte Kenntnisse der Informatik - einen so starken Einfluss ausüben? Es hatte etwas mit ihrer ausgeprägten rechten Gehirnhälte zu tun - so weit war er schon vor einigen Wochen. Die Auswertung seines Systems in Bezug auf Yamamoris Ergebnisse beruhte ausschließlich auf Analysen ihrer Spielerfähigkeiten und der Anwendung der neuen Technologie - daraus hatte die KI ihre Hirnaktivitäten ermittelt. Um den genauen Grund zu erfahren, müsste er in die Tiefe gehen, vielleicht sogar die Hirnströme direkt prüfen. Er musste einfach mehr darüber erfahren, musste die Quelle ergründen. Sollte es einen bestimmten Grund für Yamamoris Fähigkeiten geben, konnte er sie vielleicht zu seinem Vorteil nutzen. Wenn sich sein System bereits von alleine ihrer rechten Gehirnhälfte bediente, was würde passieren, wenn er bewusst ihre Strömungen anzapfte? Mit diesem Gedanken traf er eine Entscheidung. Er missachtete seine eigenen Regeln und bräche das Schweigen - zumindest so weit, wie es nötig wäre. Kaiba würde ihr von seinem Projekt erzählen, sie musste ja nur so viel zu Gesicht bekommen, dass er mit ihr arbeiten konnte. Einen flüchtigen Blick hatte er auf seine Uhr gerichtet bevor er sein Mailpostfach geöffnet und die Nachricht verschickt hatte. Er hatte nichts anderes erwartet als ihre Zustimmung zu erhalten. Dass sie so schnell hier sein würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er wusste, dass sie einen weiten Weg von ihrer Zweizimmerwohnung bis zum Geschäftsviertel Domino-Citys hinlegen musste. Sie besaß kein Auto - die Fahrt wäre nur mit Bus oder U-Bahn möglich, dass es in einer halben Stunde nicht zu schaffen gewesen wäre. Ihrem Outfit zu urteilen und dem blassen Duft von erkaltetem Rauch (wobei letzteres öfter an ihr haftete, weshalb Kaiba vermutete, dass ihre Mitbewohnerin Raucherin war) schien Yamamori aus gewesen zu sein. Vermutlich ganz in der Nähe. Wenn er gewollt hätte, bekäme er schnell ihren letzten Standpunkt heraus, aber dazu hatte er nicht die Muse und soweit lag sein Vertrauen in ihr, dass er sich sicher sein konnte, dass sie einen Tag vor dem ersten großen Duell nichts Unüberlegtes tun würde.
 

Der grüne Streifen über dem Eingang leuchtete auf, es öffnete sich der Notausgang neben der Drehtür. Ihre Augen waren auf den jungen Firmenchef gerichtet, der schmunzelnd auf die Becher hinab sah.

"Du scheinst ein ernsthaftes Koffeinproblem zu haben."

Ihre Augen wanderten zu ihren Händen: "Ich trinke auch Tee, aber da ihn nun mal keiner so gut zubereitet wie ich, entscheide ich mich immer für die zweite Variante." Er kam nicht umhin, sich Yamamori in Kimono, Hochsteckfrisur und rot bemalten Lippen vorzustellen. Bei ihrer strengen Erziehung musste sie in allem gut unterrichtet worden sein.

Sicher nicht der schlechteste Anblick

"Außerdem", sie begann einen Becher in seine Richtung zu lenken, "empfand ich es als unhöflich nur einen Kaffee für mich mitzubringen." Obwohl untypisch, nahm Kaiba den Becher entgegen und bedeutete die junge Frau ihm zu folgen. Yamamori nahm einen Schluck als ihre Beine sich in Bewegung setzten und jeder Schritt ihren Rock wippen ließ, dass Kaiba nicht anders konnte als aus dem Augenwinkel ihre aufblitzenden Oberschenkel zu betrachten. Er fragte sich, ob ihre Bewegungen genauso bewusst waren wie an dem Tag der ersten Liveshow. Das Bild hatte einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen - noch nie hatte eine Duellantin bei DuelMonsters den Saal so dominieren können, ohne dabei bewusst auf ihren Sexappeal zu setzen. Yamamoris Fähigkeit lag in ihrem Blick, der dem eines Siegers in Nichts nachstand. Der junge Firmenchef musste anerkennend gestehen, dass ihr Auftreten markt-tauglich war und sicher eine Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Seiner konnte sie sich in diesem Moment sicher sein - aus zweierlei Gründen.

"Ich komme gleich auf den Punkt und zeige dir, warum ich dich heute Abend noch herbestellt habe", er führte sie bis zu den Fahrstühlen und betätigte den Knopf, "wie du vielleicht schon festgestellt hast, kann die neue Technologie etwas mehr als nur Standard-Hologramme heraufbeschwören." Der Aufzug öffnete seine Türen, Kaiba und Yamamori stiegen in den Fahrstuhl. Die junge Frau stellte sich etwas seitlich vor den jungen Firmenchef, dass dieser auf ihre hellblaue Sommerbluse blicken konnte, die im richtigen Winkel leicht durchsichtig schimmerte. Nicht weiter darauf achtend zückte Kaiba aus seiner Hosentasche die schwarze Karte hervor.

"Die neue DuelDisc, die ab September auf dem Markt erscheinen soll, ist nur ein Lückenfüller für die Winterpause", nachdem die Karte durchgezogen wurde, setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, "mein eigentliches Projekt ist ein völlig anderes Kaliber." Vor ihm begann die junge Frau zu lächeln: "Es hätte mich etwas enttäuscht, wenn das schon alles gewesen wäre "

"Ach ja?", seine Stimme wurde herausfordernd, dass sie ihren Blick zu ihm hochwandern ließ und darauf erwiderte: "So viele unterschwellige Testversuche nur für ein paar verbesserte Hologramme wäre doch nur verschwendete Zeit gewesen." Natürlich hatte sie recht, aber das musste er ihr nicht unter die Nase binden.

"Dir ist sicher aufgefallen", der Fahrstuhl kam im dritten Untergeschoss zum Stehen, "dass nicht jeder mit der Bedienung etwas anzufangen weiß. Jeder Anwender hat ein anderes Level, was die Benutzerfreundlichkeit des Programmes anbelangt."

"Das Team von Paradius schien keine Schwierigkeiten zu haben." Bei dem Namen gingen Kaibas Mundwinkel nach unten.

"Dartz´Team", sagte er und trat aus dem Fahrstuhl, "nutzt ihr eigenes holographisches System. Zwar stammt es - wie bei allen Nachmachern - aus meinem virtuellen Basisprogramm, wurde aber so abgeändert, dass es vom System der Kaiba Corporation abgekoppelt ist."

"Daher dieses grüne Licht", murmelte Yamamori und beeilte sich mit Kaiba Schritt zu halten, "warum dann dieses Gerede von >Technik übernimmt die Kontrolle über den Menschen<, wenn sie es selbst nutzen?"

"Niemand weiß, was Dartz eigentlich bezweckt. Es stimmt, sie arbeiten mit moderner Technologie, behaupten aber sich gegen den Fortschritt zu stellen. Das Hologramm, das du gestern bei Hii Yuta gesehen hast, wird anders hergestellt als die virtuellen Gebilde, die du gestern erzeugt hast." Vor dem Trainingsraum blieb er stehen und drehte sich zu ihr um. Ihre Augen sahen erwartungsvoll zu ihm hinauf, dass ihre Wangen leicht zu glühen begannen. Warum musste er auch jetzt auf so viele Details achten? Sie machte es ihm gerade nicht leicht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

"Deine Abwehr - als die Kugel auf dich losgegangen ist", sagte er und sah sie dabei eindringlich an, "du wärst theoretisch nicht im Stande dazu gewesen, da die Systeme nicht miteinander gekoppelt sind." Die junge Frau blinzelte ihn an.

"Ich denke nicht, dass ich seine Attacke gestoppt habe. Hii muss es selbst beendet haben."

"Nein, hat er nicht", erwiderte er trocken, "sein System ist dazu gar nicht im Stande. Glaub mir, er könnte nicht einmal ohne fremde Hilfe die holographische Technik von Paradius Inc. nutzen. Ihre Technologie basiert auf die Lenkung eines einzigen Nutzers, aber das zu erklären würde den Rahmen sprengen."

"Woher weißt du, dass ich es war?"

Ein Lächeln huschte über Kaibas harte Gesichtszüge.

"Ich kenne den Grund nicht. Aber ich weiß zu hundert Prozent, dass du es warst. Zahlen lügen nicht." In ihren Augen konnte er ablesen, dass sie die Teile in ihrem Kopf zusammensetzte.

"Der Grund, warum ich hier hin", das stechende Grün drang durch seine Seelenspiegel als wollten sie mit diesen kommunizieren, "hat etwas damit zu tun, warum ich nicht wie die anderen auf die Markierung achten musste - nicht wahr?"

"So in der Art. Nur weitaus komplexer," Er schob die Tür auf, dass sogleich der Raum in ein mattes Licht gehüllt wurde, "das Projekt, an dem ich arbeite, durchläuft zurzeit ein paar Testphasen. Darunter auch die Kompatibilität zu den einzelnen Anwendern, damit ich sehen kann, wie das System von Außenstehenden angenommen wird. Bisher waren deine Ergebnisse die einzig Interessanten, weshalb ich dich hergeholt habe."

"Klingt spannend", säuselte sie und nahm noch einen Schluck, "ich habe mich schon gefragt, warum Isono meine Datensätze kopieren wollte." Auch Kaiba nahm einen Schluck des ihm spendierten Kaffees, bevor er den Raum mit sämtlichen Gerätschaften und Pulten betrat.

"Was ich dir zeigen werde", er stellte den Becher auf einen Bereich, der weit von Knöpfen und anderen empfindlichen Teilen war und stellte die Monitore ein, "es unterliegt absoluter Geheimhaltung, die nicht nach außen dringen darf - außer du möchtest gleich deine Karriere auf Lebzeiten an den Nagel hängen." Sie schüttelte den Kopf und stellte ihren Becher neben seinen.

"Virtuelles System starten", orderte er an, dass die KI inmitten der Trainingshalle erschien und in Richtung der beiden blickte.

"Daten werden berechnet...System bereit. Bitte beachten Sie, dass nicht autorisierter Zugang vorerst genehmigt werden muss.

"Zugang ist genehmigt", bestätigte Kaiba, dass der verschwommene Kopf zu nicken begann.

"Ich wusste nicht", Yamamoris Stimme war nur ein Hauchen, "dass... Sie so aussieht. Beziehungsweise überhaupt ein Gesicht hat."

" Sie hat sogar einen Namen", er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ das Programm starten, "darüber reden wir aber ein anderes Mal. Dir sollte klar sein, dass ich dir nicht alles zeigen werden, woran ich arbeite. Ich will dir nur erläutern, wie deine...Talente mir von Nutzen sein könnten."

"Auf was bezogen? Meine DuelMonsters Fähigkeiten?"

"Nein", er deutete vor sich auf den Raum, aus dem der Kopf der KI gewichen war. Stattdessen war die Halle eine einzige leere Hülle mit vier Wänden, in dem das Licht so stark hinein schien, dass man sämtlichen Staub erkannt hätte, wenn es denn welchen gäbe.

"Das System, das ich dir und deinen Konkurrenten gegeben habe, kann nicht mit dem Anwender verschmelzen. Dieses hier schon. Gerade ist es direkt mit meinem Gehirn verbunden und kann Dinge in Sekunden schaffen, wofür Gott eine Woche brauchte...wenn er je existiert hätte." Sie sah ihn mit großen Augen an. So wie sie ihn musterte, schien sie nach einer Verbindung zu suchen, mit der Kaiba an sein System angeschlossen war. Der Gedanke entlockte ihm ein grinsen: "Keine Sorge, ich bin keine Maschine. Wie ich es anstelle, geht dich einfach nur nichts an." Er beugte sich leicht nach vorne und bediente einige Tasten des Pultes. Dann bedeutete er die junge Frau Platz zu nehmen. Sie setzte sich langsam auf den einzigen Bürosessel, wobei er diese Entscheidung sofort bereute. Irgendwie erweckte Yamamori den Eindruck als provozierte sie ihn. Wie sie die Hände in den Schoß gelegt hatte, rückte ihr Rock noch ein Stück nach oben und aus igendeinem Grund sprang er heute ganz besonders darauf an. Sonst hatte die junge Frau immer genug Stoff an sich, der zwar preisgab, das ihr Äußeres sich sehen lassen konnte, aber nicht zu viel, um sich unweigerlich den Körper darunter vorzustellen. Ihr Blick, wie er erwartungsvoll auf den Raum fokussiert war, verschärfte die Situation, dass er versucht war, herauszufinden, ob sie in ihrer Naivität so viel von sich preisgab oder gekonnt mit ihren Reizen spielte.

"Ich will", er merkte selbst wie seine Stimme rauer wurde, "dass du einen Einblick bekommst, was ich von dir erwarte. Bisher hast du nur einen Bruchteil der virtuellen Simulationen zu Gesicht bekommen. Beim nächsten Mal werde ich die Trainingseinheiten deinem Fortschritt anpassen. Ich denke, dass dein Potenzial noch nicht ausgeschöpft ist, oder das, was sich in deinem Kopf befindet."

Sie sah ihn und den leeren Raum abwechselnd an. Sein eiskalter Blick wurde dunkler als er ihren Seelenspiegeln gegenüberstand: "Du hast dich gestern gegen das vorgeschriebene Programm widersetzt. Normalerweise dulde ich keine Änderungen, die nicht vorher mit mir abgesprochen worden sind. Aber es hat Eindruck auf deine Konkurrenten gemacht. Sie werden denken, dass du Kenntnisse besitzt, die ihnen verborgen sind. Was auch in gewisser Weise stimmt. Ich denke, wir sollten das in den nächsten Duellen zu unserem Vorteil nutzen. Vorausgesetzt, du vermasselst es morgen nicht." Nun waren es ihre Augen, die gefährlich aufblitzten.

"Bei einem so verlockenden Angebot kann ich gar nicht verlieren. Also los", ihr Blick wurde geradezu gierig, "zeig' es mir."

Wie du willst.

"Das virtuelle System ist bereit." Damit trafen grelle Lichter aufeinander, die Halle war so hell, dass keine Schemen erkennbar waren. Für wenige Sekunden existierten nur ihre beiden Gesichter.

Bis Kaiba dem Raum Leben einhauchte.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Mit jedem Schritt, mit dem sie sich weiter von der Firma entfernte, dröhnten die Schläge ihres Herzens immer stärker an ihre Brust. Sie stolperte in eine Pfütze, die letzte halbe Stunde hatte es einen plötzlichen Regenschauer gegeben, von dem lediglich vereinzelte Sprühtropfen übrig geblieben waren, die kaum in der Lage waren ihren Körper zu kühlen. Den Blick auf den Boden gerichtet, der sie von dem ablenken sollte, was sie getan hatte, kam sie an die Haltestelle, schlüpfte in den Bus und ließ sich in den hintersten Plätzen nieder. Die Beine übereinander geschlagen, dabei die Schenkel fest zusammengepresst, spürte Rin noch immer das Nachbeben ihres Innersten, dass sie kaum im Stande war, sich von den Erinnerungen loszureißen, die mit jeder Sekunde klarer und verhängnisvoller wurden.

Wie konnte das passieren? Wie konnte ich-

Fest umklammerte sie ihre Tasche, dass sich ihre Fingernägel in den Stoff krallten. In ihrem Kopf schien ein Hammer seine Freude daran zu haben, sie mit gleichmäßigen Schlagen zu drangsalieren. Als Höhepunkt schien ihr gesamter Oberkörper von einer Hitze durchflutet zu sein, dass selbst der kühle Lufthauch, der aus dem angekippten Busfenster hindurchwehte, nichts daran ändern konnte. Lange war es her, dass ihr Körper so starke Reaktionen zeigte. Ihr erstes Mal hatte etwas ähnliches in ihr ausgelöst. Damals hatte sich Aufregung mit Verlangen vermischt und lange danach in ihr weitergebrodelt, dass sie noch Stunden später das Gefühl des Ausgefülltseins in sich spürte. Doch da hatte sie mit ihrem ersten festen Freund geschlafen, ihrer Jugendliebe, mit der sie gemeinsam gewachsen war, und nicht mit ihrem Boss, mit dem sie kaum etwas zu schaffen, geschweige denn eine Beziehung zu ihm aufgebaut hatte.

Nein, Rin, das bist nicht du

Ihr Mund wurde trocken, sie starrte aus dem Fenster und versuchte die Brise auf ihrer Haut zu spüren. Nur brennende Hitze übermannte sie, dass ihr sogar die Augen schmerzten.

Du hast es dir geschworen. Du hast dich immer an deine Prinzipien gehalten.

Der Bus erreichte ihre Haltestelle, dass Rin aus dem Wagen sprang und weiter die verlassene Hauptstraße entlang schlurfte. Ihre Beine wurden weich, sie hatte das Gefühl zu schwanken, dass sie sich mehrmals im Geiste ermahnte und sich zu besänftigen versuchte.

Du übertreibst. Du siehst das alles viel zu ernst.

Sie schluckte und suchte mit zitternden Händen nach ihrem Schlüssel. Rin fühlte sich wie der letzte Vollidiot auf Erden. Nicht nur, dass sie ihre eigenen Regeln hintergangen und sich auf eine schnelle Nummer eingelassen hatte. Sie hatte dabei auch völlig verdrängt, mit wem sie es eigentlich zu tun hatte. Dass sie wegen einer Laune ihre Karriere aufs Spiel setzte und ihre Würde gleich mit als Geschenk anbot. Mit zusammengebissenen Zähnen steckte sie den Schlüssel ins Schloss und betrat den Hausflur. Ein kleiner schwarzer Fleck kroch durch ihre Beine. Rin sah zu der Nachbarskatze hinunter, die sie wohlwollend anschnurrte. Seufzend strich sie über das weiche Fell, dass sich die Katze zufrieden von ihr entfernte und mit einer schnellen grazilen Bewegung durch den kleinen Spalt der sich langsam schließenden Tür hindurch huschte. Es kostete Rin Mühe, die Treppenstufen hinauf zu gehen. Sie wusste nicht, ob Lumina schon zuhause war oder noch mit den anderen unterwegs. Bei dem Gedanken wurde ihr flau im Magen. Sie hatte völlig verdrängt, dass man auf sie gewartet hatte, vielleicht noch wegen ihr im Klub saß und auf ein Zeichen der jungen Frau hoffte. Rin hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wie spät es überhaupt war. Zeit hatte an Bedeutung verloren, es hatte sich wie eine flüchtige Ewigkeit angefühlt, die viel zu schnell an ihr vorbeigezogen war. Umso langsamer erschienen ihr die Sekunden, in denen sie Stufe um Stufe erklimmte, dabei den Kopf voller Gedanken, die keinen richtigen Abschluss fanden.

Lass`das. Vergiss`es so schnell wie möglich wieder. So etwas wird nie wieder vorkommen. Damit hat sich die Sache.

Sie öffnete die Tür ihrer Wohnung. Dumpfes Licht schien aus dem Wohnzimmer. Die kleine Nachttischlampe neben der Couch war angeschaltet. Lumina war also doch schon Zuhause. Langsam ließ Rin ihre Tasche zu Boden gleiten, schlüpfte aus ihren Schuhen und wischte sich die Regentropfen von ihrem Gesicht.

"Du hast eine Menge Spaß verpasst", rief Lumina aus dem Wohnzimmer und hatte ihren gespielt beleidigten Unterton in der Stimme, "aber keine Sorge, wir haben uns auf deine Kosten herrlich amü-". Ihre Gesichter trafen sich. Der schwarzhaarige Wuschelkopf hockte auf der ausgezogenen Couch und sah zu ihrer besten Freundin hinauf, deren Gesichtsausdruck sie verstummen ließ. Luminas Blick wurde ernst, sie musterte die junge Frau, welche direkt vor der Couch stehen geblieben war und wie versteinert hinunter sah.

"Was ist los?", Lumina setzte sich ans Kopfende und ließ die Hände auf den Schoß fallen.

"Versprich mir", entgegnete Rin und hatte dabei einen rauen Unterton, "dass du mich nicht verurteilst."

"Mann Rin", Lumina riss die Augen auf, "spuck´schon endlich aus, was passiert ist." Rin schloss die Augen, noch nie war es ihr so schwer gefallen, offen zu ihrer besten Freundin zu sprechen, mit der sie bereits jedes dunkle Geheimnis geteilt hatte.

"Ich war in der Firma", begann sie und ließ sich ebenfalls auf der Couch nieder. Dabei lenkte sie den Blick auf die seidige Decke, die im Licht matt aufschimmerte.

"Und?", bohrte Lumina nach als Rins Pause sich in die Länge zu ziehen schien, "was wollte man von dir?"

"Seto...Kaiba", es fühlte sich seltsam an, seinen Namen zu sagen, "hat mir sein neues Projekt gezeigt, worin er mich gebrauchen könnte."

"Der Kotzbrocken hat dich persönlich gesprochen?"

"Wir haben nicht viel geredet", druckste Rin und fing an, ihre Nägel in ihre Oberschenkel zu krallen.

"Was?", Lumina sprang vom Bett, stolperte dabei fast auf eines ihrer Alben, "Nein", sie schüttelte den Kopf, "Nein, Rin, nein!" Sag`mir, dass es nicht das ist, wofür ich es halte."

"Kann ich nicht."

"Verdammt, Rin!", Lumina stellte sich vor ihre Freunde und packte sie bei den Schultern, dass Rin gezwungen war, in ihre lilafarbenen Augen zu blicken. Es passierte innerhalb von Millisekunden, dass sich Luminas geschocktes Gesicht beruhigte und einen ernsthaft dunklen Ton annahm.

"Wolltest du es auch?"

"Was?", perplex schüttelte Rin den Kopf, "um Gottes Willen, ich wurde nicht gezwungen, wenn du das jetzt denkst!", ihre Stimme verlor an Volumen, "es ist einfach passiert."

"Du weißt, dass ich dich das fragen muss", Lumina stemmte die Hände in die Hüften und sah sie wieder streng an, "schließlich ist es nicht dein Stil, mit fremden Männern zu vögeln."

"So fremd sind wir uns nicht", murmelte Rin, obwohl sie nicht gerade überzeugend wirkte.

"Ach komm schon, Rin. Seid wann bist du so eine, die sich von ihrem Boss flachlegen lässt?"

Wütend sah Rin zu ihrer Freundin hinauf, worauf diese mit den Händen abwehrte.

"Okay, schon gut. Keine weiteren Vorwürfe, versprochen. Und wie geht es jetzt weiter?"

"Gar nicht", Rins Stimme war nur noch ein einziges Flüstern. Am liebsten hätte sie sich selbst nicht mehr hören wollen.

"Was heißt das? Der große Seto Kaiba hat doch immer einen Plan", Luminas Augen blitzten gefährlich auf. Es war jener Blick, der Rin verriet, dass Lumina dem nächstbesten an die Gurgel gehen wollte.

"Ich glaube nicht, dass er das geplant hat", entgegnete Rin.

"Natürlich nicht", knurrte die Schwarzhaarige, "deswegen hat er dich auch um zehn zu sich in die Firma bestellt. Weil er dir >nur mal was zeigen< wollte." Rin war sich jedoch ziemlich sicher, dass es Kaiba nicht darauf abgezielt hatte. Es passte nicht zu dem, was sie bisher kennengelernt hatte. Andererseits hätte sie auch nie gedacht, dass er zu solch impulsiven Ausbrüchen fähig wäre. Zumal er auf sie nicht mehr wie der kontrollierte und beherrschte Seto Kaiba gewirkt hatte. Er schien geradezu entspannt und unberechenbar, gar nicht mehr so steif und mechanisch. Allein der Gedanke, vermischt mit den letzten Funken verbliebener Lust, machte sie ganz wuschig im Kopf, dass sie an ihrem Rockzipfel herum fummelte und dabei versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren,

"Egal, ob geplant oder nicht. Es war bedeutungslos und damit hat sich die Sache."

"Das glaubst du doch selber nicht", Lumina zog eine Augenbraue in die Höhe. Dann seufzte sie und setzte sich neben ihre Freundin, an welcher noch der Rest seines Aftershaves haftete, "wir wissen beide, dass du das nicht kannst. Du bist das nicht und du solltest erst gar nicht versuchen, so jemand zu werden." Lumina ließ sich nach hinten fallen, dass ihr Rücken an der verputzten Wand lehnte und starrte an die Decke.

"Dieser Saftsack", murrte die Schwarzhaarige, dass ihre Wangen aufglühten, "ausgerechnet einen Tag vor dem Duell. Männer denken einfach immer zuerst mit ihrem Schwanz. Selbst Kerle wie Seto Kaiba", sie spuckte seinen Namen förmlich aus ihrem Mund. Rin konnte nicht einmal ihrer Freundin widersprechen, noch wusste die junge Frau nicht, wie sie in weniger als vierundzwanzig Stunden fit für das Spiel sein sollte. Müdigkeit wurde von Aufregung, Angst und einem schlechten Gewissen verdrängt. Sie hasste es, dass sie so fühlte. Wieso konnte sie nicht wie der Typ Frau sein, die ihr Erlebtes einfach genießen und danach für sich abhacken konnten. Nein, sie musste sich unbedingt schlecht fühlen. Mit dem ganzen Programm, dass sie die Nacht kein Auge zu bekäme. Stattdessen würde sie an nichts anderes als an die abgeklärten letzten Worte denken, die er zu ihr gesagt hatte. Worte, mit denen sie hätte rechnen müssen, doch ausgesprochen wie ein Schlag ins Gesicht waren. Er konnte nicht wissen, dass Rin eine lange Zeit dafür gekämpft hatte, dass sie nicht den Ruf eines dieser leichten Mädchen bekam. Dieses Image hatte ihr kurz vor den Abschlussarbeiten so viel Kummer und Ärger eingehandelt, dass sie umso fester entschlossen geworden war, so jemand nicht werden zu wollen - niemals. Sie wusste, dass sie damit nicht umgehen konnte, dass sie nicht mit jedem beliebigen Kerl schlafen konnte, ohne dabei Gefühle zu entwickeln. Innerhalb weniger Stunden hatte sie ihre hart erarbeitete Standfestigkeit in den Sand gesetzt. Für diesen einen Moment des Fallenlassens, seine Lippen auf ihren zu spüren, seine Zunge zu schmecken, den Duft seines Körpers aufzunehmen...

"Ich komme schon irgendwie damit klar", Rin erhob sich von der Couch und rang sich zu einem müden Lächeln ab, "was ich nur nicht weiß ist, wie ich mich morgen verhalten soll Ich weiß nicht, ob ich einfach so tun kann als wäre nichts. Nicht, dass mein Gesicht wie eine reife Tomate im Schweinwerferlicht glüht. Wie sähe das denn aus!"

"Ich", schüttelte Lumina den Kopf, "mache mir eher Gedanken darüber, wie du einen klaren Kopf bei deinem Duell behalten willst. Du bist schon völlig neben der Spur, wenn dich ein süßer Kerl küssen will." Daraufhin knuffte sie Rin in die Seite, dass Lumina nach rechts fiel.

"Hey!", maulte die Schwarzhaarige und verkniff sich ein Lachen, "du weißt, wie ich das meine. Apropo süße Kerle, die dich küssen wollen: was ist mit Yamato? Ich dachte, du magst ihn."

"Ich mag ihn auch", Rin ließ die Schulter hängen, "keine Ahnung, was mich da geritten hat."

"Wenn du notgeil bist, hättest du dir nicht unbedingt deinen Chef suchen müssen", Lumina grinste breit.

"Du kannst es einfach nicht lassen, oder?"

"Du hättest wissen müssen, dass solche Kommentare kommen. Hättest du lieber mal dran gedacht, bevor man dir das Höschen ausgezogen hat." Rin ballte die Hände zur Faust.

"Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst", sie schloss dabei die Augen, "dann verrate ich dir jedes Detail und jede Sexstellung."

"Du hast gewonnen", fuchtelte Lumina mit den Händen, "mein Magen ist voll von Chips und Whisky. Ich will nicht, dass das alles noch einmal durch meine Speiseröhre geht."

"Bist du also brav?"

"Ja, ich schwöre", Lumina faltete die Hände und beugte ihren Oberkörper nach vorne. Im Geiste musste Rin lächeln. Die Spitzen ihrer Freundin hatten sie zumindest vor der Ernsthaftigkeit ablenken können, die langsam wieder an die Oberfläche kroch.

"Dann versuch' ich jetzt noch ein wenig Schlaf zu bekommen...Wie spät ist es eigentlich?" Aus dem Augenwinkel sah Rin, wie ihre Freundin gegen ihren Drang bissig zu kommentieren ankämpfte.

"Kurz vor eins. Wir haben bis zwölf auf dich gewartet, Lee hatte sich kurz vorher auf den Weg gemacht; er und Yamato haben morgen Frühschicht. Dabei fällt mir ein", Lumina kuschelte sich zurück in ihre Decke, "du solltest Yamato schreiben, dass du gut Zuhause angekommen bist. Er hat ziemlich besorgt ausgesehen, dass du so spät alleine noch durch die Kante läufst." Ihr Blick wurde ernst, dass Rin sich noch mieser fühlte. Sie ging ins Schlafzimmer und warf sich quer aufs Bett. Immer wieder erinnerte sie ihr klopfender Herzschlag daran, dass sie sich etwas vormachte, wenn sie glaubte, einfach so vergessen zu können. Sie sprang vom Bett, huschte zurück in den Flur und kramte ihr Handy hervor. Knapp schrieb sie Yamato eine Nachricht. Ihr Magen grummelte und als Yamato nur wenig später zurückschrieb, erleichtert von ihr zu hören und Rin eine gute Nacht wünschte, fühlte es sich für die junge Frau wie Verrat an. Ihn schien sie hinzuhalten, wo er so fürsorglich und umsichtig war, während ein Wink Seitens Kaiba zu genügen schien, dass sie ihm um den Hals gefallen war.

Vielleicht hat Lumina recht und ich bin wirklich schon so notgeil

Es war schließlich schon eine Weile her, dass sie einem Mann so nahe gekommen war, geschweige denn ihn so nah an sich ran gelassen hatte. Ihre letzte feste Beziehung lag gut zwei Jahre zurück und mit ihrem letzten Freund war sie nicht einmal intim geworden - dafür hatte sie noch zu sehr mit den letzten Ereignissen zu kämpfen gehabt, dass sie damals sehr zurückhaltend gewesen war, weshalb die Beziehung auch letztendlich zerbrach.

Allmählich schälte sich Rin aus ihren Kleidern und schlüpfte in ein paar bequeme Shorts und einem Top. Obwohl alles andere als müde, gab sie der Nacht eine Chance, schaltete das Licht aus und schloss die Augen, während tausende Bilder in ihrem Geiste vorbeirauschten und sie ihre Aufregung wie einen wilden Hengst zu zähmen versuchte. Sie fokussierte sich darauf, die Ereignisse zu verdrängen, dass es völlig bedeutungslos wäre und sie schon weitaus härtere Herausforderungen zu meistern gehabt hätte. Sie kam nicht auf die Idee sich einzugestehen, dass es für sie weitaus weniger bedeutungslos war als sie es sich jede erdenkliche Minute einredete. So war es eindeutig besser für sie. Rin hatte einmal gelesen, dass eine Frau spätestens nach dem dritten Sex mit demselben Mann die unausweichlichen Gefühle entwickelte. Also hatte sie quasi noch zwei Freifahrtscheine, bevor es für sie zu spät wäre.

Oh Mann, Rin. Reiß' dich jetzt zusammen.

Ihre Wangen begannen erneut zu glühen, sie drehte sich auf die Seite und versuchte das Bild des jungen Firmenchefs aus ihren Gedanken zu bekommen, dessen Augen genauso dunkel und lüstern auf sie geblickt hatten wie Rin in ihrem Innersten empfunden hatte. Sie kniff die Augen zusammen. Mit aller Macht kämpfte sie dagegen an sich vorzustellen, dass er sie ebenso sehr gewollt hatte - waren doch die letzten Tage eindeutig gewesen. Rin waren seine Blicke nicht entgangen, die Aufmerksamkeit, die er ihr bei den Auftritten gewidmet hatte, hatte auch die junge Frau bemerkt. Es wurde immer schwerer, die Teile nicht zusammenzufügen, die ihr weismachen wollten, dass sie ihm gefallen könnte.

Was denkst du da schon wieder. Du weißt, dass das Quatsch ist. Er hat es vorhin eindeutig gemacht, dass er nichts von dir will. Also denk' nicht wieder zu viel. Alles was zählt ist der Worldcup. Nur das Duell hat morgen eine Bedeutung.

Es hatten noch dutzende von Bildern in ihrem Kopf herumgespuckt, bevor sie in eine Reihe von abstrakten und sinnlosen Träumen gefallen war. Lange hatte sie jedoch nicht geschlafen, stattdessen lagen am frühen Morgen ein Stapel Zauber- und Fallenkarten herum, die wie ein wackeliger Turm auf ihrem Bettrand drapiert waren. Als schließlich die Morgendämmerung vorbeigezogen war und grelle Strahlen durch ihr Fenster schienen, hatte sie sich aufgerappelt und war als erste in der Küche.

"Na, schon ausgeschlafen?", murmelte Lumina in ihre Decke und versteckte sich halb unter der Seide, während nur ein dichter Haarschopf hervorlugte sowie ein breites Grinsen.

"Ich bin auf jeden Fall nicht müde", entgegnete Rin und holte aus den improvisierten Küchenschränken, die viel mehr wie selbst gezimmerte Wohnzimmermöbel aussahen, eine Schüssel hervor. Dann holte sie aus dem Minikühlschrank Eier und Milch heraus.

"Juhu, Pancakes", grinste Lumina und hatte sich aus ihrer Decke geschält. Im Schneidersitz beobachtete sie ihre Freundin, wie diese die nötigen Zutaten in die Schüssel tat und kräftig umrührte.

"Gut, dass du morgens wieder öfter Zuhause bist", sagte Lumina und kramte zwischen Kissen und Smartphone eine Schachtel Zigaretten hervor, "ohne deine Koch- und Backkünste bin ich im Eimer." Tatsächlich war Rin die einzige, die es es halbwegs zustande brachte, aus ihrem mickrigen Essensvorrat etwas Nahrhaftes zu zaubern. Als sie noch bei ihren Eltern gewohnt hatte, war sie oft ihrer Mutter zur Hand gegangen, die ein Talent für gute Speisen hatte. Allein bei dem Gedanken an das letzte Neujahrsessen konnte ihr noch heute das Wasser im Mund zusammenlaufen.

"Ohne mich würdest du vermutlich verhungern", entgegnete Rin und holte die Pfanne aus dem Backofen, "oder fett werden." Aus dem Wohnzimmer hörte Rin, wie es Klack machte und kurz darauf Lumina tief Luft holte.

"Könntest du dir das vorstellen? Ich und fett?" Daraufhin fing Rin an zu prusten. Zu Beginn der Oberstufe hatte Lumina noch einen Hauch von Babyspeck an sich gehabt, dass die Schwarzhaarige neben der damals schmächtigen Rin doppelt so breit gewirkt hatte wie ihre beste Freundin, die von Natur aus zu einem eher jungenhaften Körper neigte. Jetzt waren beide Frauen über jedes Kilo froh, dass sie nicht wegen ihrer unregelmäßigen Mahlzeiten verloren. Lediglich Rin war anzusehen, dass sie ihr Training wieder aufgenommen hatte und fleißig Kohlenhydrate verschlang .Schon früher hatte sie dadurch weiblicher gewirkt. Eine Veränderung die erst auf dem zweiten Blick auffiel.

Langsam begann das Öl zusammen mit der Butter in der Pfanne zu brutzeln, dass Rin eine Kelle der leicht schaumigen Masse einfließen ließ. Sobald sich ein schöner ebenmäßiger Kreis gebildet hatte, machte sich die junge Frau daran, Wasser aufzusetzen. Sie fühlte sich bereits zu aufgeputscht als dass sie sich zusätzlich mit Koffein vollpumpen wollte. Ihr Lieblingsgrüntee mit der milchigen Note war jetzt genau das richtige für einen Morgen wie diesen. Er würde sie nicht müde werden lassen, aber auch nicht den Puls zu sehr in die Höhe treiben, den sie, wenn sie sich konzentrierte, schon von allein hören konnte. Ein leichter Rauchgeruch umwehte sie, als sich ihre Freundin neben sie gestellt hatte und die Nase neben Rins Schulter hervorlugen ließ. Mit einem wohlwollenden Grinsen betrachtete Lumina die fertigen Pancakes, bevor sie ein Glas Heidelbeeren aus dem Schrank holte und zwei kleine Teller mit ins Wohnzimmer nahm.

"Wann holt uns Yamato noch mal ab?", rief die Schwarzhaarige, während der letzte Pancake in der Pfanne zischte.

"Achtzehn Uhr", entgegnete Rin und schwenkte den Pfannenwender.

"Was? So früh? Ich dachte das Duell beginnt erst um acht?"

"Neunzehn Uhr ist Einlass", Rin stellte den Herd aus und schob die Pfanne von der Kochstelle, "außerdem sollen die Spieler schon eine halbe Stunde früher da sein."

"Während wir draußen dastehen wie bestellt und nicht abgeholt."

"Du kannst auch gerne mit dem Bus nachkommen", Rin hatte sich zu ihrer Freundin auf die zusammengeschobene Couch gesellt. Ihr Blick fiel auf das Frühstück, das trotz seines deftigen Geruchs Appetitlosigkeit entstehen ließ. Nur zaghaft nahm sie einen Bissen. Der Magen knurrte, und doch war jedes Stück, dass durch ihre Speiseröhre ging, zuviel für ihren Bauch.

"Iss", mampfte Lumina und sah ihre Freundin eindringlich an, "nachher wirst du überhaupt nicht mehr im Stande sein, etwas runter zu bekommen. Und ich will nicht, dass du umkippst."

"Ja, Mama", erwiderte Rin und versuchte sich zusammenzureißen. Es fühlte sich wie damals bei den mündlichen Abschlussprüfungen an. Wenn Rin nervös wurde, begann ihr Magen aufs schlimmste zu rebellieren. Es ging sogar schon so weit, dass sie sich kurz vor einem wichtigen Kendo-Turnier übergeben musste. Bei ihrem ersten regionalen Schülerausscheid in DuelMonsters war sie genauso nervös gewesen, hatte lediglich an ihrem Fingernagel gekaut und tausend Gebete gesprochen, nicht auf dem Weg zur Tribüne das Gleichgewicht zu verlieren. Die Nervosität, die sich in den kommenden Stunden aufstaute, stellte alles Vorherige in den Schatten. Nicht nur, dass sie sich vor knapp fünftausend Live-Zuschauern duellieren würde; noch dazu konnten ihr weltweit ein Millionenpublikum zusehen - zumindest theoretisch. Sie wusste, dass von Schröder Corp. eine mittelmäßige Fanbase aufwies, was man von der Kaiba Corporation jedoch nicht behaupten konnte. Es war gut möglich, dass zumindest genug Leute zusammenkamen, die dem heutigen Duell beiwohnen wollten - allein schon, weil zwei verfeindete Firmen gegeneinander antraten. Rin wusste, was von ihr verlangt wurde, dass sie mehr als nur ein gutes Duell abliefern musste. Sie musste gewinnen. Vorsichtig nippte sie an ihrer dritten Tasse Tee. Der Geruch lenkte sie ab, zumindest für ein paar Minuten, bis erneut Angst in ihr hoch kroch und sich mit den Erinnerungen der letzten Nacht vereinten. Heiß wurde ihr im Gesicht, dass sie es dem Becher in der Hand verschuldete, obwohl sie ganz genau wusste, dass es Quatsch war.

"Hallo, Erde an Rin", wedelte Lumina vor ihrer Freundin, die sich nur langsam aus ihren Tagträumen losreißen konnte. Mit einem Seufzer erhob sich Lumina, die bereits alle Pancakes verschlungen hatte, und trat an ihren persönlichen Nachtschrank. Dort kramte sie aus dem obersten Fach ihre Deckbox hervor und ließ sie auf den Tisch fallen. Der Laut, der durch den Aufprall entstand, ließ Rin hochfahren. Mit aufgerissenen Augen betrachtete sie die lilafarbene Box.

"Was hast du vor?", fragte die junge Frau und beobachtete, wie Lumina sich im Schneidersitz vor den Couchtisch setzte, die Teller beiseite räumte und ihre Karten auspackte.

"Wonach sieht es denn aus?"

"Willst du dich mit mir duellieren? Jetzt?"

Lumina sah zu ihrer Freundin hinauf.

"Aber sicher. Was lenkt dich besser ab als eine Runde DuelMonsters mit meinen Lieblingskarten." Ihre Augen begannen herausfordernd zu funkeln.

"Du meinst, wenn wir uns duellieren, wird mich das von meinem Duell ablenken?" Rin schüttelte den Kopf.

"Komm schon", Lumina wedelte mit einer Holo-Karte vor ihrer Nase, "ich werde auch nicht ganz so fies sein." Das war das Stichwort. Rins Blick änderte sich. Sie ließ sich auf die Provokation ihrer Freundin ein, die breitgrinsend ihr Deck zu mischen begann, während Rin schnell in ihrem Zimmer verschwand und ihr aktuelles Deck hervorholte.

"Na schön", Rin begann ebenfalls zu mischen, "wenn du es wirklich darauf anlegst."
 

"Ich hab doch gesagt, ich schaff´es dich abzulenken", lächelte Lumina und packte ihr Deck zurück in die Box. Rin sammelte ebenfalls ihre Karten zusammen, dabei huschte ihr Blick auf den weißen Nachtdrachen, der zu ihrem neuen Weggefährten geworden war und seine Sache dabei gar nicht so schlecht machte, wie Rin es anfangs befürchtet hatte. Seit sie ihre weißen Drachen aus dem Deck verbannt hatte, fühlte es sich zunächst befremdlich an, ohne ihre geliebten Monster zu spielen. Sie hatte so hart dafür gekämpft, die Weißen in die Finger zu bekommen, dass es sie geschmerzt hatte, die Drachen in die Nostalgie-Box zu verdammen.

"Soll ich mein Deck auch mitnehmen?", riss sie die Schwarzhaarige aus ihren Gedanken.

"Soweit ich verstanden habe, sollen die Leute ihre DuelDisc´s und Decks mitbringen."

"Na dann bin ich mal gespannt", Lumina begann ihre Kleider für den Abend zusammen zu suchen, während Rins Outfit bereits seit zwei Tagen auf dem Stuhl neben dem Fenstersims lag. Mühselig quetschte sich die junge Frau in ihre Lederleggings, die sich mit jedem Mal schwerer anziehen ließ und zog den Reißverschluss des Mantels hoch, der lediglich bis zum Schlüsselbein reichte und dort zu einer offenen Bluse mit hohem Kragen überging. Sobald sie in die Schuhe geschlüpft war, dachte sie an die letzten Meisterschaften zurück, bei denen sie beinahe mit ihren Stiefeln umgekippt wäre. Sie wusste, dass die Bühne nicht ebenmäßig war und einige Stolperfallen bereithielt. Rin schluckte schwer.

"Es wird alles gut", klopfte ihr die Schwarzhaarige auf die Schulter, "egal, wie es ausgeht. Du bist bis hierher gekommen. Darauf kannst du dir ruhig was einbilden." Rin zuckte mit den Schultern.

"Das Turnier ist nicht das einzige, was mir Sorgen bereitet."

"Ich weiß. Meinst du, du schaffst es trotzdem...cool zu bleiben."

"Ich weiß nicht, wieso ich mich deswegen so fertig mache", Rin fasste sich durchs Haar und formte einen hohen Zopf, den sie mit dem passenden Gummi ums Handgelenk festband.

"Weil das eben typisch du bist. Du machst dir mehr Gedanken darüber, was dieser Großkotz denkt als dass du dich mit dir selbst auseinandersetzt. So warst du schon immer." Es stimmte, dass ihre Gedanken bei Kaiba waren. Sie wusste nicht, wie sie sich ihm jetzt gegenüber zu verhalten hatte und was er erwartete, wie sie jetzt mit ihm umgehen sollte. Auch wenn sie so tun müsste als wäre gestern nie passiert, wussten beide, dass es eine Lüge war. Wenn es schlecht lief, könnte ihr Boss jederzeit einen Cut machen und Rin bei der nächsten Gelegenheit aus der Firma werfen. Er musste bereits auch eingesehen haben, dass ihr gemeinsames Handeln nicht klug gewesen war und auch für ihn einige Unannehmlichkeiten mit sich bringen könnte, sollte die gestrige Nacht irgendwie publik werden. Er musste immer damit rechnen, dass sie die Situation für sich nutzen könnte - schließlich kannte er sie nicht gut genug.

"Ich darf einfach nicht so viel darüber nachdenken", meinte sie schließlich und sagte es mehr zu sich als zu ihrer Freundin, die neben ihr nur die Augenbrauen hochzog. Bevor Lumina noch etwas hinzufügen wollte, klingelte es bereits an der Tür, dass Rin zusammenzuckte. Obwohl sie wusste, dass es Yamato war, fühlte es sich an als wäre das Klingeln ihr persönlicher Startschuss. Als Yamato in lässiger Jeansjacke, dunkler Sonnenbrille und einem schiefen Lächeln vor der Tür erschien, wirkte der Schwarzhaarige wie einer dieser ruhelosen und draufgängerischen Protagonisten eines fünfziger Jahre Streifens. Rin war froh, ihm nicht direkt in die Augen sehen zu müssen. Sein Blick würde nur die Aufregung in ihrem Innersten steigern. Bisher war sie sich nicht sicher gewesen, wie nahe sie Yamato in ihr Leben lassen wollte; der gestrige Abend hatte sie noch verwirrter zurück gelassen, dass sie gar nicht mehr wusste, wie sie zu ihm stand.

"Gut seht ihr aus", erwiderte Yamato und schob die Sonnebrille auf seinen Kopf, dass Rin ihren Blick senkte. Lumina machte einen gespielten Knicks, bevor sie Rin anstupste und ankündigte, dass sie beide fertig wären. Daraufhin fackelten sie nicht lange rum und machten sich daran, aus dem Haus zu kommen. Yamato besaß einen schlichten dunkelblauen Wagen, in den sich Lumina nach hinten zwängte, während Rin sich neben Yamato auf dem Beifahrersitz niederließ.

"Und?", Yamato startete den Motor und schaltete einen der Radiosender ein, aus dem nicht nur der gesammelte Merch der heutigen Generation zu hören war, "warst du gestern noch lange unterwegs?" Rin umklammerte das silberne Armband und richtete den Blick steif aus dem Fenster. Sie spürte wie Lumina den Kopf zwischen die Sitze schob und antwortete: "Eigentlich ist sie ziemlich schnell gekommen."

Lumina, ich bringe dich um.

"Ich hatte gehofft, du würdest dich noch melden", er lächelte, "Ich bin es nicht gewohnt, Frauen allein im Dunkeln zurück zu lassen."

"Ist ja alles gut gegangen", winkte Rin ab und betrachtete die vorüberziehenden Wolken. Schneller als erwartet hatten sie die Hauptstraße befahren. Der Themenpark mit seinem überragenden weißen Drachen war bereits von Weitem zu erkennen. Rin schluckte schwer. Als sich die Autos stauten und sie nur noch stockend vorwärts kamen, wurde ihr klar, dass sie alle dasselbe Ziel hatten.

"Sag' mal", schaltete sich Lumina ein und sah auf die vielen Autos, die sie noch vor sich hatten, "sagtest du nicht, dass in der Arena Platz für fünftausend Zuschauer sei?"

"Ja. Du hast die Arena doch selbst gesehen. Selbst wenn sie etwas umbauen, können nicht sonderlich mehr rein."

"Tja, die hinter uns scheinen das noch nicht zu wissen. Ich fühle mich wie auf der Autobahn, am ersten Tag der Schulferien." Dasselbe hatte Rin auch gedacht. Sie war froh, dass Yamato sie so früh abgeholt hatte. Bei dem Tempo würden sie es geradeso pünktlich schaffen. Bisher wussten sie nicht, dass ihr eigentliches Problem erst vor ihnen lag. Sie hatten es zwar aus dem Stau geschafft, mussten aber nun einen Parkplatz finden. Der Themenpark war zwar auf knapp zehntausend Besucher eingestellt, jedoch nicht auf hunderte unfähige Autofahrer, die sich nicht so recht einzufinden wussten. Nach einer halben Stunde resignierte Yamato, der bereits die Augenbrauen zusammengezogen und Mühe hatte seine Geduld weiter zu strapazieren.

"Am besten", brummte er, nachdem er zusammen mit Lumina über das vor ihnen liegende Auto geschimpft hatte, "du gehst schon mal vor, Rin. Wir packen das hier schon irgendwie. Hauptsache du bist rechtzeitig in der Halle." Er wandte sich ihr zu und war auf einmal weniger gestresst. Ihr Magen zog sich zusammen. Dann nickte sie, warf Lumina einem vielsagenden Blick zu und erläuterte ihnen, wo sie sich einzufinden hatten.

"Einer von der Kaiba Corporation wird euch zu euren Plätzen führen, mit den Tickets solltet ihr euch problemlos an der Schlange vorbeimogeln können." Damit stieg sie aus dem Wagen. Das Vorbeirauschen der Autos, sowie unruhiges Stimmengewirr von allen Seiten ließen ihren Puls in die Höhe schnellen. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob es so eine gute Idee war, das sichere Innere des Wagens verlassen zu haben. Schnell machte sie sich daran den Parkplatz zu verlassen. Sie spürte die Blicke vor und hinter sich. Beim Vorbeilaufen hörte sie, wie sie der ein oder andere erkannte. Sie war froh, dass sie keiner ansprach, was wohl auch an ihrem energischen Tempo lag, mit dem sie über den Asphalt marschierte, ohne jemandem direkt in die Augen zu blicken. Für Außenstehende sah es wohl so aus als spielte sie die Unnahbare, dabei war sie so nervös, dass sie stark gegen das Bedürfnis, einfach davon zu rennen, ankämpfte. Ihre Unruhe legte sich etwas, als sie sich den Zuschauern immer weiter entfernte und den Hinterausgang des Themenparks erreichte. Zwei Security-Männer standen vor dem Eisentor, nickten der jungen Frau zu, bevor sie ihr kommentarlos den Weg frei machten. Ein weiterer Mann mit Spitzbart und weißem Anzug wies sie in eines der hinteren Gebäude, das eher einem Turm als einem Haus ähnelte. Rin erinnerte der Bau an die Fallenkarte Drachenburg, es fehlte nur noch der Drachenschwanz der aus einem der Fenster hinaus durch die Mauern herum schlängelte. Vor der Tür angekommen gab er einen Code in das Sicherheitssystem ein. Ein leises Piepen ertönte, die Tür ging auf und offenbarte sich als Einstieg eines Fahrstuhl. Im Inneren wartete Isono als wäre es völlig selbstverständlich, dass er sie abholte. Er begrüßte Rin mit einer kurzen Verbeugung und bedeutete sie einzusteigen. Sobald die junge Frau den Lift bestieg drückte Isono einen der Knöpfe, die Tür schloss sich und mit einem Ruck setzte sich das Gefährt in Bewegung. Es ging ein Stück nach unten, bevor der Lift kurz inne hielt, nur um mit einem weiteren Ruck seitwärts weiterzufahren. Rin konnte nicht einschätzen wie tief oder weit sie fuhren, ihr Innerstes sagte ihr, dass sie schnell unterwegs waren. Keine Minute verging, dass der Lift anhielt und aufging.

"Nach Ihnen", wies Isono nach draußen, dass sich Rin unmittelbar am Seiteneingang der Arena wiederfand. Sie staunte nicht schlecht, als sie einen Blick nach hinten erhaschte, wo bereits tausende Menschen vor den Toren standen und auf den Einlass warteten.

"Hier entlang", riss sie der Berater der Kaiba Corporation von dem Anblick, von dem sie nicht genau wusste, ob er sie faszinierte oder eher schockierte. Sie folgte Isono in einen Seitenbereich, den sie noch nie zuvor betreten hatte. Dieser war wie ein Konferenzsaal aufgebaut - ein großer langer Tisch mit ledernen Drehstühlen. In der Mitte standen zehn Männer, einschließlich Mokuba Kaiba, der als einziger einen fröhlichen Ausdruck auf dem Gesicht hatte. Seine Anwesenheit beruhigte Rin ein wenig, es war schön ein vertrautes Gesicht zu sehen. Kurz und knapp wurde sie von den Herrschaften begrüßt und vorgestellt. Es handelte sich um die Spiele-Kommission des Worldcups, die für die Duelle in Domino City verantwortlich waren - für Rin wirkten sie, bis auf Mokuba, wie Aktionäre, die auf ihre Ergebnisse an der Börse warteten. In bürokratischen Worten wurde sie über die heutigen Verhaltensregeln aufgeklärt. Anschließend musste sie ihr Deck vorlegen, dass mit den Daten, die sie am Tag zuvor vorgelegt hatte, abgeglichen wurde.

"In Ordnung, Frau Yamamori", sprach ein graubärtiger Mann mit starkem Akzent aus dem Süden, "bevor wir Sie entlassen, müssen Sie unterzeichnen, dass Sie die Regeln zur Kenntnis genommen und akzeptiert haben." Ein anderer überreichte ihr ein Dokument, das sie mehrfach unterzeichnen musste. Danach durfte sie ihr Deck nehmen und gehen. Wie mechanisch drehte sie sich zur Tür und schritt hinaus. Isono wartete bereits direkt daneben und führte sie weiter in einen weitaus abgeschiedeneren Bereich. Dort nahm sie auf einer Bank, die sie schwer an Turnbänke erinnerte, Platz. Isono verabschiedete sich von ihr, nun war sie allein. In einem Raum, der das Publikum wie ein Echo in sich aufnahm, dass die Geräusche sie zu erdrücken drohten. Sie fasste sich an den Kopf, versuchte auszublenden, dass sie am liebsten in Panik ausbrechen würde.

Nein. Diesen Triumph gönnst du ihnen nicht.

Sie dachte an ihre Mutter, die seit Tagen ihre Mailbox blockierte, dass Rin noch weniger Lust hatte, sie zurück zu rufen. An ihrer Stimme hörte die junge Frau noch immer die Enttäuschung heraus, womit Rin nun ihren Lebensunterhalt verdiente. Wenn sie ihre Mutter doch überzeugen könnte, sich einmal anzusehen, was sie da überhaupt tat. Doch * Yamamori wollte sich nicht damit auseinandersetzen, stattdessen redete sie auf dem Anrufbeantworter ununterbrochen davon, wie Rin ihre glorreiche Zukunft verbaute. Normalerweise konnte sie gut die Worte ihrer Mutter abprallen lassen. Heute nicht. Der Raum begann sich zu drehen, sie spürte wie alles auf sie einprasselte - ihre Mutter, das Duell, Seto Kaiba.

Du hast so lange dafür gekämpft. Du lässt dir das von niemandem kaputt machen. Dieses Spiel wird erst der Anfang sein

Wie ein Mantra wiederholte sie die Worte, bis das Stimmenfewirr um sie herum verschwand, nur noch sie und ihre innere Stimme existierte, dass Außenstehendes an Bedeutung verlor.

Nach und nach füllte sich die Arena, die Zwecks holographischer Neuerungen umgestaltet worden war: Die Tribüne wurde verkleinert, die technischen Instrumente, die damals für die erste DuelMonsters Holo-Generation genutzt wurde, war endgültig abgebaut worden. Stattdessen lag der Fokus auf einer mittelgroßen Fläche, die von sämtlichen Winkeln beleuchtet und anvisiert wurde. Spezielle Kabel wurden montiert, welche die Bühnentechniker so untergebracht hatten, dass sie für das Publikum nicht sichtbar waren und die virtuellen Simulationen auf ein höheres Level bringen sollten. Direkt vor der Tribüne begann bereits der Zuschauerbereich, den Seto Kaiba auf die vorgesehene Anzahl von fünftausend nicht weiter gestreckt haben wollte. So konnte die erste Reihe von ihm und seinem Team besetzt werden, dass er alles im Blick behalten konnte, ohne sofort aus allen Richtungen von Schaulisten gestört zu werden. Lediglich zwei weitere Personen musste der junge Firmenchef wohl oder übel in seiner Nähe ertragen: Zigfried von Schroeder, sowie einen seiner Leibwächter, die er seit einigen Jahren um sich scharrte- Gott allein und Zigfried wussten wieso. Mit einem ruhigen Lächeln betrat er als einer der ersten die Arena, blickte sich gespielt interessiert von allen Seiten um, bevor er sich Seto Kaiba zuwandte, dem es lieber gewesen wäre, von einem Frettchen angegriffen zu werden als ein Gespräch mit diesem aufgeblasenen Schnösel zu führen:

"Was für ein herrlicher Tag", entgegnete Zigfried und tat so als nähme er eine ganz besondere Note im Raum wahr, "das perfekte Wetter für das Erblühen einer neuen Rose." Aus dem Augenwinkel beobachtete der Chef der Kaiba Corporation wie Zigfried seinen Blick hinauf zur Decke richtete. Kaiba hatte mit eingerechnet, dass er früher oder später wieder auf ihn treffen würde. In den letzten zwei Jahren hatte sich der Chef von Schroeder Corp. ein stabiles Team aus mittelklassischen Spielern angeschafft, von dem der ein oder andere zu mehr fähig gewesen wäre, wenn er zu Beginn seiner Karriere eine andere Wahl bezüglich seines Vorgesetzten getroffen hätte. So war auch Wotan Arizu nicht der schlechteste seiner Spieler. Solide Eröffnung mit einigen Kniffs, die sich bereits beim Battle-City-Turnier herumgesprochen hatten. Durchaus war der junge Spieler mit den langen weißen Haaren in der Lage, sich passabel zu duellieren - vorausgesetzt Zigfried hatte ihm nicht in die Karten reingeredet. Zuzutrauen war es dem selbstverliebten Firmenchef allemal, der sogar das Selbstbewusstsein Seto Kaibas um Längen überstieg, dass dieser neben ihm beinahe schon bescheiden wirkte. Wie er seinen selbstgefälligen Blick von der Decke hinab zu Kaiba richtete, wusste der junge CEO, dass dieser zweitklassige Versager nur auf diese Art des Wiedersehens gewartet hatte. Wieso sich Zigfried derart auf ihn versteift hatte, wusste Kaiba bis heute nicht so genau. Scheinbar hatte von Schröder eine leicht masochistische Neigung, die ihn immer wieder dazu anstachelte, eine Fehde mit dem Chef der Kaiba Corporation einzugehen. Kaiba verzog nicht die Miene als ihn Zigfried herausforderndend anfunkelte.

"Kein niederschmetternder Konter?", fragte er und lächelte noch breiter, "oder hast du etwa schon resigniert? Es wäre nicht verwunderlich, wenn selbst jemand wie du einsehen würde, dass er heute Abend keine Chance hat." Langsam drehte Kaiba seinen Kopf zu dem Mann mit den langen rosafarbenen Haaren, der ihn von der Seite süffisant musterte. Der junge Firmenchef verschränkte die Arme vor der Brust.

"Ach Kaiba", Zigfried ließ seine Haarpracht über die Schulter fallen, "auch du solltest wissen, dass die Dornen einer Rose nie zu unterschätzen sind. Mein junges Talent ist seit einigen Jahren im DuelMonsters-Geschäft, er hat bereits internationalen Ruhm vorzuweisen, während deines...naja, ich muss wohl nichts weiter dazu sagen."

"Wenigstens etwas Sinnvolles, dass du heute tun wirst", entgegnete Kaiba, dessen Augen dunkel und gefährlich wurden. Auch wenn Zigfried Kaibas eiskalter Blick gleichgültig war, so verfehlte er bei den restlichen Mitarbeitern, die sich um die beiden versammelt hatten, seine Wirkung nicht. Hektisch verstreuten sie sich, erledigten die letzten kleinen Aufgaben, bevor sie in die Außenbereiche abtauchten. Mit einer schwerfälligen Handbewegung entfernte sich Zigfried von dem jungen Firmenchef, wünschte ihm Glück, wobei er das Wort künstlich in die Länge zog und ließ sich einige Meter weiter auf einem ihm zugewiesenen Platz nieder. Daneben stellte sich seine Security und blickte finster durch die Runde, dass Kaiba versucht war die Augen zu verleiern. In aller Seelenruhe schlug von Schroeder die Beine übereinander, schloss die Augen und schien sich seiner Worte gewiss. Ein amüsanter und zugleich trauriger Anblick, dass er zu solch maßlosen Übertreibungen neigte, dass eine Niederlage umso zerschmetternder wurde. Kaiba hätte am liebsten mit den Zähnen geknirscht. Obwohl er nur ungern Provokationen kommentarlos über sich ergehen ließ, musste er in diesem Fall Ruhe bewahren. Heute war nicht der Tag mit überkantitelten Sprüchen um die Ecke zu kommen. Es lag immer noch ein Restrisiko, dass er dieses Duell verlieren würde. Ja, es war auch sein Duell, auch wenn er nicht Hauptcharakter der Szenerie war. Bei dem Gedanken zog sich jeder Muskel in ihm zusammen. Ihm war nicht wohl bei der Sache, jemand anderen seine Angelegenheiten klären zu lassen. Die Rivalität zwischen ihm und Zigfreid, die allein von Schroeders Inkompetenz und Selbstüberschätzung zu verschulden war, ging nur ihn etwas an. Auch wenn er darauf vorbereitet gewesen war, gefiel es ihm ganz und gar nicht, die Kontrolle über den heutigen Entscheid abgeben zu müssen. Er wandte sich ab und blickte auf die Tribüne, welche bereits in den verschiedensten Lichtern erstrahlte und als Publikums-Aufheizer diente. Bald würde der Einspieler folgen - Musik dröhnte aus den Lautsprechern, Bässe ließen den Boden erbeben und die Zuschauer exstatisch dazu bewegen. Das DuelMonsters-Thema war seit Anbeginn der Spiele Auftakt großer Duelle gewesen. Seit dem letzten Worldcup hatte es einige Änderungen gegeben, wie das Powerup der Effekte und Lichtsequenzen. Viedeoclips und virtuelle Simulationen waren groß im Trend, nur die Musik hatte die Zeiten überlebt. Sobald die ersten bekannten Takte ertönten, waren die Zuschauer vollends im Duell-Fieber. Sie begannen zu jubeln, obwohl noch nichts Nennenwertes passiert war und die Einspieler erst folgen sollten. Ungeheuer-Krieger erhoben sich schließlich zwischen den Plätzen, schwangen ihre Äxte und grölten mit den Fans um die Wette. Aus einer anderen Richtung plätscherten Wasserstrahlen aus dem Boden. Seeschlangen erhoben sich, spritzten noch mehr der virtuellen Flüssigkeit. Der ein oder andere wischte sich trotzdem die Tropfen vom Gesicht, während direkt gegenüber dunkle Magier ihre Stäbe zu einem gemeinsamen Zauber erhoben. Lichtkugeln breiteten sich aus, wie Seifenblasen flogen sie über den Köpfen der staunenden Zuschauer, die ihre Blicke nun von den Hologrammen weg und hin zu der Tribüne lenkten. Rückblenden wurden eingespielt, Szenen der letzten fünf Jahre, die so manche große Schlacht hervorgebracht hatten. Siege und Niederlagen wurden gezeigt, einige Szenen der letzten Battle-City-Turniere waren ebenfalls zu sehen. Zwei stechend grüne Augen blickten siegessicher in die Kamera. Unruhe machte sich in dem jungen Firmenchef breit. Die Gegenwart seines kleinen Bruders, der sich zu ihm gesellt hatte, beruhigte ihn diesmal nur mäßig.

"Ist alles vorbereitet?", Kaibas Stimme war eisig wie eh, obwohl ein glühender Sturm in seinem Innersten tobte. Dieses Duell machte ihm mehr zu schaffen als er es je für möglich gehalten hätte.

"Das virtuelle System ist Start klar", grinste Mokuba und blickte ebenfalls auf die Tribüne, "außerdem haben wir alle Tickets verkauft. Vor der Arena stehen noch mindestens genauso viele Leute und sehen sich das Spiel auf der Leinwand an. Gut, dass wir uns doch dafür entschieden haben, draußen etwas vorzubereiten." Es lag wohl weniger an die Spieler als an der Tatsache, dass seit Langem wieder die Kaiba Corporation gegen von Schroeder Corp. antrat. Zwar hatten die Duellanten gewechselt, jedoch änderte es nichts daran, dass der Sieg des einen, die Niederlage und Schmach des anderen automatisch für dessen Team bedeutete. Das wollten viele nicht verpassen. Kaiba musste zugeben, dass er den Andrang anfangs unterschätzt hatte. Als die Vergabe der Schauplätze ausgehandelt wurde, war es ihm recht gewesen, seinen Neuling nicht die größte Bühne zur Verfügung zu stellen. Nicht, dass sie am Ende auf hunderten von Sitzplätzen hängen blieben. Ein Irrtum, den sie beim nächsten Mal korrigieren würden.

Wenn es ein nächstes Mal gibt

"Ist Yamamori bereit", ihren Namen auszusprechen löste etwas Befremdliches in ihm aus. Er hatte ihren Blick vor Augen, der ihn enttäuscht, leer und beschämt angesehen hatte. Sie hatte ihn mit einem Gefühl der Unsicherheit zurückgelassen, die Kaiba so nicht von sich kannte.

"Soweit alles klar", Mokubas Blick wurde ernst, "sie sah aber ziemlich blass aus. Hätte nicht gedacht, dass sie doch so nervös werden könnte, so wie sie die letzten Male rüber gekommen war. Ich hab vorsichtshalber noch jemanden von der Maske zu ihr geschickt." Der jüngere Kaiba schien ernsthaft mitfühlend; eine Eigenschaft, mit der Seto Kaiba nur wenig anzufangen wusste.

"Gut", sagte er lediglich und fühlte wie ihn die Gedanken in falsche Bahnen lenkten. Er wollte nicht über die gestrigen Ereignisse nachdenken, kam jedoch nicht drum herum sich einzugestehen, dass er einen großen Fehler begangen hatte, der vielleicht schon bald seine Auswirkungen offenlegen sollte. Kaiba konnte selbst nicht verstehen, wie er so unvernünftig gewesen sein konnte. Er hatte sich nicht nur auf eine seiner Angestellten eingelassen, es war auch noch zum unpassendsten Zeitpunkt passiert. Bis jetzt hatte er nicht begreifen können, wie ihm derart die Kontrolle entglitten sein konnte. Als er seinen Fehler bemerkt hatte, war es bereits zu spät gewesen. Er konnte auch nichts mehr daran ändern. Nur noch abwarten, wie sich die Dinge entwickelten und im Stillen hoffen, dass die Ereignisse keine Auswirkungen auf Yamamoris Spielfähigkeiten aufwiesen. Kaiba wurde zunehmends ungeduldiger. Gut möglich, dass die junge Frau dem heutigen Druck nicht standhielt. Auch wenn sie sich in ihren Duellen selbstsicher und taff zeigte, schätzte sie Kaiba im Innersten für weniger abgeklärt und skrupellos ein. Das hatte er eindeutig zu spüren bekommen als sie an ihm vorbeigerauscht war, ohne sich einmal umzusehen. In dem Moment wusste er, dass sie es nicht darauf angelegt hatte, egal wie heftig ihre Reaktion gewesen war. Sofort verdrängte er jenen Gedanken an ihre süßen Lippen, denen er noch süßere Laute entlocken konnte.

"Mokuba", sagte Kaiba und ließ seine Stimme zu einem leisen Knurren werden, "es wird langsam Zeit."

"In Ordnung", nickte der Jüngere, "ich hol' schnell Rins Begleitung ab, danach sag' ich Isono Bescheid, dass er sich bereit halten soll." Damit huschte er zwischen eine Gasse, die sich notgedrungen inmitten der Zuschauermeute gebildet hatte. Sein schwarzer Schopf hüpfte bei jedem Schritt, während er in die Menge der Feierlaunigen abtauchte. Langsam brachte sich auch Kaiba in Position - er stieg die Stufen zur Arena hinauf, wies einen Techniker an, sich hinter die Kulissen zu begeben und stellte sich selbst etwas abseits des Mittelpunktes. Sein Kopf dröhnte, die laute Musik tat ihm keinen Gefallen, während die letzten Bilder auf der Bühne vorbeirauschten. Lichter schalteten sich ein, die Scheinwerfer strahlten direkt auf die Mitte der Tribüne. Kaiba wusste, dass es nur noch Minuten dauerte bis es losging. Das Publikum wurde unruhiger, der Countdown begann. Jetzt tauchte Mokuba wieder aus der Menge hervor, zusammen mit zwei weiteren Personen. Eine ausgesprochen kleine Frau mit schwarzen Haaren, die Kaiba schon während des Duells gegen Haga gesehen hatte, erschien neben seinem kleinem Bruder, der sie nur unweit der ersten Reihe platzierte. Auch sie trug eine DuelDisc, wenn auch eines der einfacheren Modelle. Kaiba wusste, dass sie Yamamoris Mitbewohnerin und Freundin aus Schultagen war - Lumina Phoenix. Die schwarzhaarige Frau drehte ihren Kopf zu ihrem anderen Gegenüber; einem schwarzhaarigen großgewachsenen Mann, den Kaiba für kaum älter als er selbst einschätzte. Seine leicht gelockte Mähne zusammen mit seiner lässig wilden Kleidung ließen ihn wie einen klassischen Frauenschwarm aussehen.

"Wer ist das?", wandte er sich an Isono, der kurz zuvor an seine Seite getreten war und für weitere technische Belange angeordert wurde.

"Yamato Shiba, Herr Kaiba. Er arbeitet als Abteilungsleiter im Bereich Finanzplanung für die Domino-City-Stadtwerke. Ursprünglich stammt er aus Tokyo, sein Vater leitet dort ein mittelständiges aber erfolgreiches Unternehmen, das er vermutlich eines Tages übernehmen wird. Er ist erst kürzlich in die Stadt gezogen. Scheinbar ist er ein Freund von Yamamori, es fehlen die nötigen Informationen, um ihn eindeutig in eine Kategorie einzuordnen." Flüchtig kreuzten sich die Blicke der beiden Männer. Der eine hatte offene klare Augen, während der andere eiskalt konterte. Kurz darauf setzte auch er sich, dass der letzte seinen Platz zugewiesen bekommen hatte. Es war soweit. Ein einziger Lichtstrahl fiel von der Decke, dass die bekannte Stimme des Kommentators ertönte, ohne dessen dazugehöriges Gesicht zu offenbaren. Heiji war weit abgelegen, in einem abgeschotteten Bereich der Arena, dass seine Stimme in bester Qualität erschallte und jeder gewillt war, seiner Stimme zu lauschen. Obwohl zwei weitere Duelle zur selben Zeit stattfanden, hatte Kaiba Heiji für sich gewinnen können. Zum einen konnte Kaiba überzeugende Argumente vorbringen, denen niemand widersprechen würde und zum anderen war dieses Spiel das wohl Interessanteste der drei Laufenden. In seiner typisch aufgeheizten Stimme, die jedes noch so schlecht hörende Ohr erreichte, eröffnete er den zweiten Tag der Rooftop-Battles.

"Seid ihr gut drauf?", rief er als bedarf es einer Bestätigung dessen, was sich vor Kaibas Augen abspielte. Die Menge jubelte, angetrieben von der Frage, als müssten sie ihre Existenz erst belegen.

"Das nenne ich ein geiles Publikum", rief Heiji, "dann hoffe ich, ihr hebt euch noch was für unsere heutigen Spieler auf." Das Publikum antwortete, indem ihr Jubeln sich mit stakatischem Applaus vermischte.

"Heute treten zwei Teams gegeneinander an, die seit dem großen Championship nicht mehr aufeinander getroffen sind. Wir werden sehen, ob die Kaiba Corporation wieder einen Sieg davontragen kann oder doch von Schroeder Corp. seine Position in diesem Turnier behaupten wird."

Die Kamera lenkte den Fokus auf Zigfried, dessen Blick Antwort genug schien. Mit einem schwachen Lächeln winkte er knapp in die Kamera.

"Aber fackeln wir nicht lange rum. Holen wir unsere Duellanten zu uns." Zustimmendes Gejole folgte, dass die Scheinwerfer sich von der Mitte weg bewegten. Zunächst kündigte Heiji einen der führenden Regionalchampions an. Arizu erschien, postierte sich in der Mitte, wo er eine Verbeugung tat, die Kaiba aus sicherer Entfernung als feinste Heuchelei erkannte. Der Blick des jungen Burschen glich dem seines Vorgesetzten auf unangenehmste Weise. Der Weißhaarige hatte sich in bester Zigfried-Manier eingekleidet, es fehlte nur noch die theatralische rote Rose. Jeder Muskel in Kaibas Inneren zog sich zusammen.

Dieser Bastard darf unter keinen Umständen gewinnen[/]

"Für die Kaiba Corporation tritt heute an", Heijis Stimme ließ Kaiba in die linke Ecke der Tribüne blicken. Er tat einen Schritt nach vorne, dass ihn jeder sehen konnte und Kaiba wiederum den Eingang vor Augen hatte, aus dem seine Duellantin erschien. Rin Yamamori betrat die Tribüne - sichere Schritte gefolgt von einem eisernen Blick, der an die zulaufende Kamera vorbeisah, ließen sie zur Mitte, direkt auf Seto Kaiba zulaufen. In ihren Augen war die Unsicherheit wie ausgebrannt, stechend wandten sich die Seelenspiegel zu dem jungen Firmenchef, der über Yamamoris Professionalität erstaunt war. Die Maskenbildner schienen ihren Job auch gut gemacht zu haben. Ihr Gesicht war frisch, keine dunklen Augenränder, stattdessen wirkte ihre Haut beinahe makellos, nicht einmal die Wangen glühten in einem zarten Rosèton. Als sie direkt neben ihm stehen blieb und zu dem mächtigen CEO hinaufsah, konnte er sich seiner Vermutung gewiss sein.

"Du weißt, worum es heute geht", er sah ebenfalls zu ihr hinunter, dass für einen Moment ihre Augen zu funkeln begannen, "eine Niederlage wird dich einiges kosten."

"Kaiba", ihre Stimme war fest, kein Zögern lag in ihr, "dieses Duell zu verlieren ist keine Option." Damit schaltete sie ihre DuelDisc ein, hellblaue Strahlen schossen empor, umwickelten die junge Frau, deren Augen an die des weißen Drachen mit eiskalten Blick erinnerten. Die Menge jubelte, die virtuelle Verschmelzung umfing Yamamoris gesamten Körper, dass selbst Kaiba ein Schmunzeln entfuhr. Es war doch erstaunlich, wie einfach sie sich mit dem virtuellen System verbinden konnte. Sicheren Schrittes ging sie in ihre Ecke der Tribüne und positionierte sich, dass Kaiba sich nach vorne, an den Rand stellte.

"Virtuelle Simulation starten", er schnippte mit dem Finger und sprang von der Tribüne. Tausende Strahlen in den unterschiedlichsten grau und blau Tönen sprossen vom Boden, bis die gesamte Arena in einen Schleier ähnlichen Zustand gehüllt wurde. Ein leises Rauschen ertönte, wurde mit jedem Augenblick lauter, bis die Geräusche zu einem Getöse wurden. Wind blies ihnen ins Gesicht, kühle Luft umnebelte jeden im Publikum. Dann riss die Decke auf, gefolgt von den Wänden, die wie tausend Puzzelteile durch die Luft flogen. Anschließend rissen Teile des Bodens auf, veränderten seine Form, wurde weicher, beweglicher. Die Zuschauer waren zunächst erstaunt, dann fingen die ersten an unruhig zu ihren Füßen zu blicken. Mit einem weiteren Laut begann sich der Boden zu bewegen, riss die Menge mitsamt Tribüne in die Luft. Erst vorsichtig, bevor sie in die Lüfte geschossen wurden, hunderte von Metern vom Boden entfernt.

"Ein Flugzeug! Wir stehen auf dem Dach eines Flugzeuges", hörte Kaiba von Weitem jemanden rufen.

Nein, du Schlaumeier. Ein Zeppelin.

Kaibas virtuelle Simulation hatte sie tatsächlich auf einen Zeppelin befördert. Eisige, dünne Luft ließ Rins Mantel wild umherflattern, während ihr Zopf von links nach rechts und wieder zurück klatschte. In ihren Ohren pfiff der Wind wie eine alte Dampflok. Es fühlte sich verdammt echt für die junge Frau an, dass ihr gesamter Körper von einem wohligen Schauer erfasst wurde. Wie sie doch die virtuelle Technologie liebte! Es ließ sie fast vergessen, wie ihr das Herz stehen geblieben war, als sie ihren Chef und den tausenden von Zuschauern gegenübergetreten war - aber auch nur fast.

"Wir befinden uns in einer Höhe von 2500 Metern. Die Flugscheschwindigkeit beträgt 120 km/h - wundert euch also nicht über das kleine Lüftchen."

Kleines Lüftchen? Da unten vielleicht.

Aus dem Augenwinkel erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf das, was sich außerhalb des Zeppelins befand - der Ausblick aus einem Flugzeug war nichts dagegen. Es gab nur kleine Flecken, die sich weit unterhalb des Geschehens Häuser nannten. Grüne, symmetrische, Farbkleckse zeichneten die Reisfelder außerhalb Domino-Citys ab. Und irgendwo unterhalb der dunstigen Wolkendecke befand sich ihr Ursprungsort. Für eine Simulation war das Gefühl von Höhenangst verdammt real.

"Irgendwelche Probleme damit?", die Frage des jungen Firmenchefs glich eher einer Drohung, dass Rin nichts darauf zu erwidern hatte. Ihr Gegenüber lächelte nur verschmitzt.

"Es wird mir eine Freude sein, dich auszumerzen - kleines Kaiba-Mädchen.

Wie hat mich dieser Elfenverschnitt gerade genannt?!

"Bevor du mir die Ohren voll quatscht", sagte Rin, während ihre Stimme gegen den Wind ankämpfte, "solltest du lieber deine Karten sprechen lassen " Wotan grinste breit, während er seine DuelDisc auf Brusthöhe positionierte.

"Das werde ich, nur Geduld. Ich wusste nicht, dass du so scharf auf deine Niederlage bist." Rins Nervenbahnen begannen zu zucken - wie sie doch all diese Großmäuler verabscheute. Sie war geradezu erleichtert als die Stimme des Kommentators über ihren Köpfen hallte. Kurz erklärte er dem letzten Unwissenden die Grundlagen des DuellMonsters-Spiels, dass Rin ein paar Sekunden blieben, indem sie ihre Gedanken sammeln konnte. Aus dem Augenwinkel konnte sie ihren Boss sowie Mokuba ausmachen, die weit vorne Platz genommen hatten, dass sie nur einen Sprung tätigen musste, um ihnen direkt in die Arme zu fallen. Direkt daneben saß die Konkurrenz - Zigfried von Schroeder in seiner üblichen Aufmachung und sah sie durchdringend an. Ganz anders Seto Kaiba, der die Ruhe selbst schien. Die Beine übereinander geschlagenen, mit einem leicht nachdenklichen Gesichtsausdruck schenkte er der jungen Frau kaum Beachtung. Stattdessen verschränkte er die Arme und schien sich allein auf den Kommentator zu konzentrieren. Aus einem ihr unerfindlichen Grund stört sich Rin daran.

"Bevor das Duell beginnt", rief die schrille Stimme und ließ Rin wieder auf ihren Gegner blicken, "bestimmen wir den heutigen Joker." Über den Spielern erschienen zwei holographische Anzeigetafeln und begannen Begriffe in sekundenschnelle durch zu rattern.

"Hilfe aus einer anderen Dimension!", rief der Kommentator, dass die Menge jubelte, "für all diejenigen, die es nicht wissen: Hilfe aus einer anderen Dimension erlaubt es dem Spieler, Karten außerhalb des Duells anzuwenden, vorausgesetzt jemand in dieser Arena besitzt eine dieser Karten. Aber: Jedem Spieler ist es pro Duell nur einmal in einem Zug erlaubt, den Joker anzuwenden. Also Leute, schaltet eure DuelDisc's ein und die Show kann beginnen!" Vereinzelt begannen kleine blaue Lichter aus dem Publikum auszutreten. Rin musste feststellen, wie viele doch ihre DuelDisc bei sich hatten.

Vielleicht wird mir noch Luminas Deck hilfreich sein - auch wenn sie mir wohl den Kopf abreißen würde, wenn ich auch nur einen ihrer geliebten Magier für meine Zwecke missbrauche.

Rin musste schmunzeln. Ihre schwarzhaarige Freundin saß nur unweit hinter Kaiba - eine unumgängliche Zumutbarkeit, die Rin noch lange von Lumina vorgeworfen bekommen würde.

"Nun denn", sobald der Kommentator fortfuhr wurden zwei grelle Scheinwerfer auf die beiden Duellanten gerichtet, "sind unsere Spieler bereit?" Rins Augen wurden zu Schlitzen.

"Duell", riefen sie und Wotan Arizu im Chor, dass die Zuschauer in den Ruf ein stimmten, bevor die gesamte Aufmerksamkeit auf den beiden Spielern lag. Der Zufallsgenerator erwählte den Weißhaarigen, dass er eine überspitzte Verbeugung tat und das Duell startete: "Die Götter sind mir hold", rief er überdreht als steckte er in der Rolle eines mittelalterlichen Helden, "Zunächst spiele ich Zauberabsorbation - für jede Zauberkarte, die in diesem Duell gespielt wird, erhalte ich zusätzliche 500 Lebenspunkte."

"Danke für die Nachhilfestunde", entgegnete Rin, die Zuhause selbst ein -zwei Exemplare davon besaß.

"Als nächstes", rief Wotan, während der Wind an Geschwindigkeit zunahm und seine lange glatte Mähne wie Millionen von feinen Bändern durch die Lüfte wirbelte, "rufe ich den Glänzenden Elfen in den Angriffsmodus." Zwei gigantische goldene Flügel breiteten sich auf dem Spielfeld aus, der Glänzende Elf erschien schwebend vor seinem Gegner.

1400 Angriffspunkte sich ja nicht so toll

"Und bevor ich meinen Zug beende", er hob seine rechte Hand "lege ich noch diese drei Karten verdeckt. Der nächste Akt gehört ganz dir, Kaiba-Mädchen."

Ich zeig´dir gleich, wer hier das Mädchen ist.

"Ich ziehe", rief Rin und betrachtete ihre neue Karte, "ich spiele Denko Sekka - im Angriffsmodus." Eine Frau in lilafarbener Rüstung erschien auf dem Feld. Sie stieß einen Kampfschrei aus, bevor sie ihr leuchtendes Schwert schwenkte und dessen Energie auf Wotans Kartenzone richtete. Seine Zauberkarte Zauberabsorbation begann rot zu blinken - ebenso die restlichen verdeckten Karten.

"Solange sie auf dem Spielfeld ist", erklärte Rin, "sind sämtliche Zauber und Fallen nutzlos. Und da mein Monster mit 1700 Atk stärker ist als dein Elf im Nachthemd wird nicht mehr viel von ihm übrig bleiben." Denko Sekka stürmte auf den Gänzenden Elf zu. Dieser wehrte sich nicht einmal als ihn das Schwert durchbohrte und in tausend Teile zerlegte. Zweihundert Punkte zog es von Wotans Lebensanzeige hinunter. Wotan lächelte und streckte die Hände in die Höhe.

"Der Effekt meines Glänzenden Elfen erlaubt es mir ein Monster mit 1500 oder weniger Angriffspunkten aufs Feld zu rufen, sobald er auf den Friedhof gelegt wurde." Ein mechanischer Elf erschien auf dem Spielfeld - Layard der Erlöser. Er besaß 1400 Angriffspunkte und musste in Angriffsposition gelegt werden.

"Damit beende ich meinen Zug", Rin musste sich zusammenreißen nicht zu schreien. Der Wind wurde zunehmend aggressiver.

"Ich bin am Zug", rief Wotan, "und ich rüste meinen Erlöser mit dieser netten Karte aus - Streitwagen der Walküren."

Hab ich es mir doch gedacht

"Damit bekommt mein Monster zustätzlich 500 Angriffspunkte und kann deine Kriegerin vom Feld pusten." Nachdem Wotan den Angriff erteilte, schoss eine goldene Lichtkugel aus den sechs Händen des Layards hinaus in Richtung ihres Monsters. Gleißendes Licht umfing Denko Sekka, bevor sie explosionsartig vom Spielfeld verschwand - ebenso zweihundert Lebenspunkte.

"Damit wären meine Karten wieder frei - netter Versuch", er grinste über beide Ohren als die Kartenzone wieder aktiv wurde. Rin störte sich nicht daran. Ihr Monster zu verlieren, bedeutete noch nicht das Ende. Sie hatte sich noch nicht einmal richtig warm gemacht. Gelassen zog sie eine Karte.

"Dann legen wir mal einen Zahn zu", Rin zückte eine ihrer Karten, "als erstes spiele ich eine Karte verdeckt. Dann", der Boden unter ihnen begann leicht zu vibrieren, "beschwöre ich Vorhut der Drachen." Ein Drache mit Schild und Speer erschien auf dem Spielfeld und wackelte unruhig mit dem Schwanz. In Rins Hand begann eine weitere Karte aufzuleuchten.

"Da mein Monster ein Drache von Typ Erde ist", erklärte die junge Frau und legte eine weitere Karte in die Monsterzone, "kann ich ihn hier Spezial beschwören - mythischer Wasserdrache." Aus einer riesigen Wasserkugel entsprang die Kreatur - halb Drache halb Wasserstrudel.

"Und ich setze ihn in den Verteidigungsmodus."

"Das ist ja alles ganz nett", Wotan schenkte ihr ein müdes Lächeln, "aber deine Monster sind nicht stark genug für meinen Erlöser. Dein Drache hat gerade einmal 1700 Atk. Was will er schon gegen mein mächtiges Monster ausrichten." Rin schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln.

"Nun, du scheinst seine besondere Fähigkeit nicht zu kennen. Vorhut der Drachen bekommt für jedes Drache-Monster, das ich auf den Friedhof lege, 300 Angriffspunkte. Und wie der Zufall so will, habe ich zwei in meiner Hand." Sie legte zwei Karten auf den Friedhof, dass Vorhut der Drachen 2300 Angriffspunkte aufwies.

"Vorhut der Drachen!", sie zeigte auf ihr Monster, das er seinen Speer in die Höhe streckte, "greif seinen Layard an!" Damit warf er den Speer auf das Feen-Monster. Kurz bevor es dessen Kehle traf, sprang der Streitwagen der Walküren davor, opferte sich selbst und ließ den Erlöser unbeschadet.

"Da mein Monster mit dem Streitwagen ausgerüstet war, hast du diese Karte zerstört. Während mein Monster unbeschadet davon gekommen ist." Wotan lachte auf. "Noch dazu bleibt der Effekt meines Streitwagens weiterhin bestehen. Du siehst, der Angriff hat dir gar nichts gebracht."

"Gar nichts würde ich jetzt nicht behaupten", entgegnete Rin und deutete auf den Punktestand, von dem vierhundert weitere Punkte von Wotans Konto abgingen.

"Das", winkte er ab und wischte sich eine wilde Strähne aus dem Gesicht, "ist nichts im Vergleich zu dem, was dich erwarten wird."

"Und was soll das sein!"

"Das hier", er streckte seine Hand aus und deckte eine seiner Karten auf, "Schadenskondensator. Da du mich angegriffen hast, kann ich ein Monster von meinem Deck beschwören. Und ich erwähle Leitendes Licht." Ein Monster, das die Ähnlichkeit eines Sargs besaß, streckte seine Arme aus und stellte sich neben den Erlöser.

"Willst du mir mit diesem Ding etwa Angst einjagen", Rin betrachtete amüsiert das Monster, das weder Angriffs- noch Verteidigungspunkte hatte, "da ist ja Kuriboh eine größere Herausforderung." Kopfschüttelnd beendete Rin ihren Zug. Sobald Wotan eine Karte gezogen hatte, schien er vollends aufzublühen. Sein Lächeln wurde diabolischer und allmählich fragte sich Rin, was sich unter seinen verbliebenen verdeckten Karten befand. Irgendetwas sagte ihr, dass Wotan bluffte.

"Die Zeit ist gekommen", seine Augen weiteten sich, "ich spiele Wellenbewegungskanone." Blitze erschien am Himmel, eine Kanone machte sich bereit und zeigte auf die junge Frau.

"Zunächst erhalte ich 500 Lebenspunkte, dann", die Kanone entsandte eine Blitzkugel, welche direkt auf Rin zielte, dass der Stoß sie einige Zentimeter nach hinten drückte. Sie spürte einen unangenehmen Druck auf der Brust, bevor das Gefühl langsam abebbte. Wotan legte die Zauberkarte gemächlich auf den Friedhof.

"Sobald Wellenbewegungskanone auf dem Friedhof liegt, geht der Spaß erst richtig los: In jeder meiner Runden, wirst du 1000 Lebenspunkte verlieren." Rin biss sich auf die Lippen, jegliche Kommentare unterdrückend. Damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht mit einer derart mächtigen Zauberkarte, die noch dazu auf dem Friedhof weiterhin wirksam war. Sie sah auf ihre Karten, dann wieder auf Wotan, der noch lange nicht mit seinem Zug am Ende war.

"Auch wenn du diesen Schock erst einmal verkraften musst", höhnte Wotan, "erlaube mir, meinen Zug fortzusetzen", er tat eine tiefe Verbeugung, dass Rin ihm ihren Stiefel in den Bauch gerammt hätte, "ich spiele noch eine weitere Zauberkarte: Karten vom Himmel," damit erhielt er weitere 500 Lebenspunkte, "wenn ich ein Licht-Fee-Monster von meiner Hand verbanne, kann ich zwei Karten ziehen." Damit zog er seine Karten und lächelte zufrieden in sich hinein, "nun opfere ich mein leitendes Licht, um sie aufs Feld zu rufen - meine Göttin des Lichts, Tethys." Mit 2400 Atk war seine Göttin nur knapp stärker als ihr Drache. Rin ballte die Hände zur Faust.

"Los, meine Göttin, greife ihren Vorhut der Drachen an", damit stürmte Tethys auf ihre Kreatur zu.

"Nicht so schnell", rief Rin, "ich decke meine Falle auf: Fähigkeitserbe. Damit bekommt mein Drache 400 zusätzliche Punkte." Der Drache drückte mit dem Schild gegen die Kraft der Göttin und schleuderte sie von sich. Im nächsten Moment holte er mit dem Speer aus und beendete Tethys` kurzen theatralischen Auftritt.

"Ich setze Layard den Erlöser in den Verteidigungsmodus und beende meinen Zug."

"War´s das etwa schon", Rin schüttelte den Kopf und betrachtete ihre gezogene Karte, "es besitzt halt nicht jeder die Fähigkeiten, seine Züge clever zu nutzen. Dein Pech, denn ich opfere meine beiden Drachen, um meinen weißen Nachtdrachen aufs Feld zu holen." Weißes Licht, das zu einem Diamantenschauer wuchs, formte die Gestalt des Weißen Nachtdrachen, der über Rins Kopf majestätisch seine Flügel ausbreitete und dem Wind um sie herum Konkurrenz machte. Der Reaktion des Publikums zu urteilen, schienen einige ihr Monster wiederzuerkennen. Jubel kämpfte gegen die Sturmböen, während ihr Nachtdrache in den Angriffsmodus überging. Es war das erste Mal, dass sie das Publikum bewusst warnahm. Sie wusste nicht, was sie dabei empfinden sollte. Es war nicht die richtige Zeit, die Aufmerksamkeit zu genießen, den Wirbel der Massen, die gegen den Sturm ankämpfte und tatsächlich eine reelle Chance zu haben schien.

"Weißer Nachtdrache", rief Rin und strecke ihre Hand aus, sie musste sich auf ihr Duell konzentrieren. Die Menge war nebensächlich, genauso der überhebliche Blick ihres Gegners -"greif`seinen Layard an - Diamantenblitzattacke!"

"Du hast soeben meine Falle aktiviert", erwiderte Wotan und deckte seine Karte auf, "Wundersame Ankunft. Damit darf ich ein Monster, das ich verbannt habe, direkt aufs Spielfeld holen und den Angriff umleiten." Ein weiteres geflügeltes Wesen erschien auf dem Spielfeld - in goldener Rüstung präsentierte sich die Famose Venus, ein Monster, das zu Wotans Standard-Repertoire gehörte.

"Sobald meine Venus auf dem Feld ist", verkündete Wotan, "verliert jedes Monster, das nicht zum Typ Fee gehört, 500 Atk. Damit ist dein Drache schwächer als meine Venus." Mit 2800 Atk. war sein Monster um dreihundert Punkte stärker als der weiße Nachtdrache, der bereits seine Diamantenkugel aus dem Maul geschossen hatte und direkt auf die Famose Venus zusteuerte.

"Bye, bye Weißer Nachtdrache", lachte Wotan, während die Attacke der beiden Monster das gesamte Spielfeld beherrschte. Rauchschwaden, sowie winzige diamantene Krümel verhüllten die Sicht auf das Geschehen. Langsam tauchten die Spieler aus den Nebel hervor.

"Wie-", perplex starrte Wotan den weißen Nachtdrachen an, der sich zurück an Rins Seite begeben hatte, "dein Monster! Es hätte diesen Angriff nicht überstehen dürfen."

"Du hattest keine Ahnung von dem zweiten Effekt meiner Fallenkarte Fähigkeitserbe," zufrieden sah sie zu ihrem Weißen hinauf, der ein lautes Kreischen von sich gab, "sobald eines meiner Monster angreift, kann ich Fähigkeitserbe vom Friedhof verbannen. Im Gegenzug hat mein weißer Nachtdrache 800 Atk erhalten. Damit war er wieder um fünfhundert Punkte stärker als deine Venus." Wotan knirschte mit den Zähnen.

"Deine fliegende Echse wird dir nicht ewig helfen können."

"Wie auch immer", Rin schwang ihren Pferdeschwanz nach hinten, obwohl der Wind keine Gnade zeigte, "ich lege eine Karte verdeckt und beende meinen Zug."

"Ha", Wotan zog eine Karte, "hast du meine Zauberkarte Wellenbewegungskanone vergessen!? Sobald ich am Zug bin, verlierst du 1000 Lebenspunkte." Über Rin ratterte die Anzeige die Lebenspunkte herunter bis 2700 übrig geblieben waren.

"Nun decke ich meine letzte verdeckte Karte auf: Unendliche Unbeständigkeit. Sie macht den Effekt deines Monsters unwirksam. Oh ja, ich weiß genau, dass dein Drache gegen Zauber und Fallen immun ist. Aber jetzt nicht mehr."

"Herzlichen Glückwunsch, du bist der erste der aufgepasst hat", erwiderte Rin und bemühte sich gelassen zu bleiben.

"Sobald ich dieses kleine Hindernis aus dem Weg geräumt habe", Wotan knallte eine Zauberkarte aufs Feld, "kann ich die hier spielen - Ehrung der Verdammten - damit kann ich dein Monster direkt auf den Friedhof befördern. Und du kannst nichts dagegen unternehmen." Ohne Vorwarnung löste sich der weiße Nachtdrache auf, dass ihn Rin auf den Friedhof legen musste.

Ich habe genug Karten, ihn wieder zu mir zu holen.

"Ich lege eine Karte verdeckt", fuhr Wotan mit seinem Zug fort, während er Rins zerknirschtes Gesicht amüsiert betrachtete, "und beschwöre diese wunderbare Kreatur - erscheine, holde Victoria."

"Nein!"

"Das Kaiba-Mädchen scheint mein Monster zu kennen. Dann sollte es dich nicht überraschen, was ich als nächstes tun werde. In jedem Spielzug kann ich ein Drache-Monster von deinem Friedhof auf meine Seite rufen. Und ich beginne mit deinem netten weißen Nachtdrachen." So schnell hatte Rin ein Wiedersehen nicht erwartet. Ihr lieb gewonnenes Monster auf der anderen Seite zu sehen, zerwühlte sie mehr als sie erwartet hatte.

"Du siehst ja so niedergeschlagen aus", lachte Wotan, "liegt es etwa daran, dass ich dein stärkstes Monster auf meine Seite geholt habe...oder daran, dass du nichts hast, womit du dich verteidigen könntest? Am Ende bist du doch nur der billige Abklatsch einer weit zurückgelegenen Vergangenheit." Rin funkelte ihn an, ihren Blick ignorierend fuhr Wotan fort: "Weißer Nachtdrache! Greif`deine Herrin direkt an und lösch`ihre Lebenspunkte aus."

"Nicht, wenn ich die hier spiele," Sie deckte ihre Fallenkarte Ausbrechen auf, "wenn ich einen Zauber von meiner Hand abwerfe ist die Battle-Phase sofort beendet. Zusätzlich sind die Effekte aller Monster in diesem Zug wirkungslos."

"Du zögerst nur das Unvermeidliche hinaus."

"Das wollen wir doch sehen. Ich ziehe!" Allmählich spürte sie, wie sich der Wind in ihre Kleider biss. Das Auf- und Abflattern ihres Mantels machte es nicht unbedingt besser. Sie spürte, dass die Kälte versuchte, ihren Geist zu schwächen. Rin biss sich auf die Unterlippe.

"Niemand spielt eines meiner Monster und kommt damit unbeschadet davon!" Sie setzte zwei Karten verdeckt. "Ich spiele Schimmerdrache im Angriffsmodus", der steinerne Drache kam aus der Luft und landete scheppernd vor Rin.

"Dein Monster hat nur 1900 Atk, du solltest doch wissen, dass du gegen deine eigene Bestie nicht ankommst."

"Ich greife meinen weißen Nachtdachen auch nicht an," sie zeigte auf Victoria, "sondern sie." Auch wenn nur 100 Lebenspunkte abgezogen wurden, war Rin doch erleichtert, dass dieses Monster keinen weiteren Schaden anrichten konnte. Obwohl sich Rin sicher was, dass er bereits das hatte, was er wollte.

"Und wieder einmal ist dein Zug beendet", Wotan zog eine Karte und betrachtete voller Genuss wie Rin weitere 1000 Lebenspunkte verlor, "die Luft wird mit jeder Runde dünner." Er ließ den Weißen Nachtdrachen angreifen. Für einen kurzen Moment schloss Rin die Augen.

"Du hast meine Fallenkarten vergessen," eine deckte Karte sich auf, "verschwundener Wind. Damit verliert der weiße Nachtdrache die Hälfte seiner Angriffspunkte.

"Unmöglich!", mit offenen Mund sah er die sinkende Zahl des weißen Nachtdrachen, der nun um vierhundert Punkte schwächer war als der Schimmerdrache.

"Dann decke ich ebenfalls meine Fallenkarten auf: Boden aus einer anderen Dimension. Damit geht dein weißer Nachtdrache nicht zurück in den Friedhof, sondern wird direkt verbannt."

"Willst du mir sagen, dass du das von Anfang an so geplant hast?"

"Nun", zuckte Wotan mit den Schultern, "irgendwie musste ich ja dein Monster los werden."

"Ganz schön viel Aufwand für so eine kleine Nummer, findest du nicht?"

"Wer weiß das schon", entgegnete Wotan amüsiert, dass Rin nicht weiter darauf einging und stattdessen eine Karte zog.

"Ich spiele drei Karten verdeckt." Vier Karten lagen nun auf ihrer Kartenzone, selbst für Rin, die gerne mit Zaubern und Fallen spielte, war dies eine Premiere.

"Es wird langsam Zeit, deinen Erlöser vom Feld zu pusten", damit griff der Schimmerdrachen an, Layard der Erlöser wurde zerstört, Wotan stand nun wieder ohne Monster da.

Wenn ich so weitermache, verliere ich noch das Duell. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Ich brauche nur diese eine Karten. Wenn sie gespielt wird, kriege ich ihn.

"Du bist dran", entgegnete Rin, halb in Gedanken versunken, während ihre Augen zu ihrem Gegner und seinen Punktestand hin und her wanderten. Wotan hatte noch 3000 Lebenspunkte und mit jeder Zauberkarte, die gespielt wurde, wuchs der Abstand zwischen ihm und Rin. Sobald Wotan die Hand auf sein Deck legte, ging es los: "Ich aktiviere meine Fallenkarte Zauberschild Typ 8!", Rins erste verdeckte Karte offenbarte sich, Rin legte eine ihrer Karten von der Hand auf den Friedhof, "damit zerstöre ich den Effekt von Wellenbewegungskanone und meine Lebenspunkte bleiben unversehrt."

"Du magst zwar meine Zauberkarte zerstört haben", an Wotans Gesicht war deutlich abzulesen, dass er diese Wendung nicht vorhergesehen hatte, "aber das heißt nicht, dass du eine reale Chance gegen mich hast." Rin starrte ins Leere, Gänsehaut machte sich auf ihrem Körper breit. Die Kälte hatte ihr Innerstes erreicht, sie hob den Kopf und grinste schief.

"Warum hören wir nicht mit diesen Spielchen auf und machen endlich ernst," Irritiert sah er sie an. Rin stemmte derweil die Hände in die Hüften:

"So wie ich das sehe, eierst du die ganze Zeit nur rum. Dabei hatte ich ernsthaft geglaubt, einem würdigen Gegner gegenüberzustehen. Aber wenn ich dich so ansehe, sehe ich da nicht mal einen richtigen Mann vor mir."

"Was willst du damit sagen", knurrte Wotan.

"Ist das nicht offensichtlich? Ich halte dich nicht einmal für Manns genug, dich ordentlich mit dir duellieren zu können. Dabei hast du doch so große Töne gespuckt, dass du mich ausmerzen würdest. Vielleicht ist es an der Zeit, dein Wort einzulösen." Ihre Augen stachen wie zwei Smaragde hervor und verfehlten ihr Ziel nicht, dass Wotan die Augen gefährlich zusammenzog.

"Was glaubst du, mit wem du hier redest? Ich kann dich in einem Zug fertig machen, wenn du es nicht anders willst."

Rin legte den Kopf schief.

"Das würde ich dir raten. Mehr als diesen einen Zug wirst du auch nicht von mir bekommen."

"Ich werde dir das Maul stopfen!", schrie Wotan regelrecht und brachte sich in eine Position, die Rin als Kriegserklärung verstand.

"Das ist doch-", Mokuba hatte sich gerade aufgesetzt. Er schüttelte den Kopf, "verstehst du das, Seto?" Angesprochener blickte stoisch zur Bühne. Die Punkteanzeige flackerte bedrohlich über den Köpfen der Duellanten. Yamamori lag weit zurück, ihre stärksten Monster lagen auf dem Friedhof oder waren verbannt worden. Sogar ein Anfänger wusste, dass es nicht gut für sie aussah. Und trotzdem: die junge Frau wirkte nicht als wäre sie am Ende. Drehte sie jetzt womöglich durch? Bereits Top-Spieler, die in die Enge gedrängt worden waren, konnten in Momenten wie diesen ihre Beherrschung verlieren. In DuelMonsters brauchte es starke Nerven - hatte Yamamori vielleicht ihre Grenze erreicht? So wie sie aussah war es durchaus im Bereich des Möglichen: In ihren Augen loderte die Ruhelosigkeit, die dem künstlichen Sturm um sie herum Konkurrenz machte. Ihre Lippen waren zu einem einzigen geraden Strich geformt, der Gelassenheit ausdrücken sollte, aber wohl eher als letzter Verzweiflungsakt verstanden werden konnte. Kaiba resümierte über das bisherige Geschehen: Irgendwas passte nicht ganz zusammen. Es wollte ihm einfach nicht einfallen, was.

Zwar kann Wellenbewegungskanone keinen weiteren Schaden anrichten, aber solange Arizu's Zauberabsorbation auf dem Feld ist, sind ihm seine Lebenspunkte sicher. Es braucht schon mehr als ein starkes Monster, um das Duell für sich zu entscheiden. Vorausgesetzt, sie weiß, was sie tut...Was geht bloß in deinem Kopf vor?

"Oh Mann", Mokuba ballte die Hände zur Faust, "glaubst du, sie blufft nur?"

"Rin blufft nie", hörte er hinter sich eine Stimme murmeln. Ohne nach hinten zu blicken, wusste der junge Firmenchef, dass es Rins Mitbewohnerin gewesen sein musste. Lumina Phoenix hatte während der ganzen Zeit kein einziges Wort gesagt. Ihre knurrige, leicht rauchige Stimme ging in der Menschenmenge beinahe unter.
 

Seit Rins Provokation lechzte das Publikum nach Wotans Revanche. Auf einer Seite der Arena riefen sie im Chor seinen Namen, während die andere Hälfte eifrig dagegen fieberte. Der stille Mittelpunkt bildete Zigfried von Schroeders finsteres Lächeln. Seine selbstsichere Ruhe ließ den sonst so kontrollierten Firmenchef kochen.

Diese selbstgefällige Kröte hat sicher auch etwas geplant

"Also", hörte er Mokuba wie ein Rauschen neben sich sprechen, "hat sie einen Plan? Denn, wie ich das sehe, braucht sie mehr als nur eine gute Strategie. Wenn nicht jetzt ein Wunder geschieht-", so aufgeregt hatte er den Schwarzhaarigen lange nicht mehr reden hören. Das letzte Mal als Kaiba gegen Yugi im Colloseum verloren hatte, musste Mokuba so heftig gezittert haben, dass er nicht einmal mehr den Koffer halten konnte.

"Wir werden sehen", entgegnete sie knapp, "Rin spielt nie auf gut Glück."

Glück wird dir hier nichts bringen - außer du bist ein vertrottelter blonder Köter...Dann zeig' mal lieber, was du drauf hast. Wenn du schon eine große Klappe riskierst, solltest du mich nicht enttäuschen...

Die Arme verschränkt versteckten sie seine geballten Fäuste. Die Anspannung um ihn herum kostete ihn Nerven. Wenn die junge Frau nun doch bluffte-

Die Kleine hinter ihm hatte recht: Yamamori hatte noch nie geblufft und so sehr ihn die Tatsache störte, er musste seiner Duellantin wohl oder übel vertrauen.

Damit widmete er sich wieder ganz dem Duell und den zwei Spielern, von denen der eine besonders in Rage geraten war, dass er vor lauter Wut vergessen hatte zu ziehen. Wotan Arizu setzte schließlich ein Lächeln auf. Seine Zähne blitzten auf - das letzte Bleaching lag wohl erst ein paar Tage zurück: "Du wirst es noch bereuen, kleines Kaiba Mädchen. Deine große Klappe wird dir nicht nur den Untergang bescheren. Nun wird alle Welt sehen, dass die Kaiba Corporation nichts als ein schwacher Geist vergangener Tage ist, und ihren alt eingestaubten Platz frei räumen muss", er lachte auf, "aber spuck' ruhig große Töne. Umso niederschmetternder wird deine Niederlage sein, mit der du alles um dich herum in die Tiefe reißen wirst. Ich freue mich schon, dich winselnd auf den Knien zu sehen, du kleines arrogantes Miststück. Ha", er zog eine Karte, "du hast es nicht anders gewollt. Mit meinem fullminanten Sieg über die Kaiba Corporation wird sich die wahre Nummer eins erheben - dein letztes Stündlein hat geschlagen! Ich spiele Kraftengel - Valkyre", eine kriegerische Valkyre erschien auf dem Spielfeld, "nur keine Angst - mein kleines Kaiba Mädchen - ich habe dir ja versprochen, mich nicht zurückzuhalten. Also sieh' zu und lerne von einem Meister! Mit meiner nächsten Zauberkarte Umarmung der Valkyre setze ich meinen Kraftengel im Verteidigungsmodus", weitere fünfhundert Punkte gingen auf Arizu's Konto. Zeitgleich begannen die beiden Monster auf dem Feld zu leuchten. "Sobald ich meine Valkyre in den Verteidigungsmodus geschickt habe, verbannt meine Zauberkarte deinen jämmerlichen Schimmerdrachen aus dem Spiel. Wie fühlt es sich an, ohne Monster dazustehen?" Doch die junge Frau reagierte nicht. Sie war wie erstarrt. Sowohl in Mimik als auch in ihren Bewegungen, die sich nur noch auf das Atmen konzentrierten. Ihr Gegner störte sich nicht daran. Seine extravagante Rede, die in Kaiba ein starkes Dejavu weckte, schien für den regionalen Champion mehr als nur aufheizendes Geplänkel zu sein. "Kommen wir zum zweiten Akt", eine weitere Zauberkarte aktivierte sich, "ich spiele Begräbnis aus einer anderen Dimension und aktiviere meinen Joker." Die Karte begann zu blinken. Kaibas Augen durchdrangen den Zauber. Dass weitere fünfhundert Punkte zu Wotans Lebenspunkten hinzugefügt wurden, war nebensächlich geworden.

"Was ist los, kleines Kaiba Mädchen", Arizu wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sofort wieder auf seiner Wange landete, "kommst du etwa nicht mit? Begräbnis aus einer anderen Dimension erlaubt es mir ein Monster außerhalb des Spiels in meinen Friedhof zu legen." Er schüttelte den Kopf, "dann werde ich es dir leichter machen und die hier spielen", er wedelte mit einer Karte vor seinem Gesicht, "Letztes Licht!" Kaiba drehte sich zu seiner Spielerin. Ihre Mundwinkel begannen zu zucken. Aus dieser Entfernung wusste Kaiba ihre Reaktion nicht zu deuten. Die seines Nachbarn dafür umso mehr. Das Team der Schroeder Corp. begann ein breites Lächeln aufzusetzen, das an Gehässigkeit kaum zu überbieten war.

"Mit Letztes Licht", begann Arizu verzückt zu berichten, "kann ich jedes Valkyre-Monster von meinem Friedhof beschwören - für einen läppischen Preis von eintausend Lebenspunkten. Aber da dein Ende naht, spielt es sowieso keine Rolle mehr", tausend Lebenspunkte fielen von seiner Anzeige, "ich bin dir zu großem Dank verpflichtet", er verbeugte sich vor Yamamori, die sich nur auf seine Punkteanzeige konzentrierte, "ohne dich hätte ich wohl nie die Unfähigkeit der Kaiba Corporation vor der ganzen Welt aufzeigen können", ausladend zeigte er auf die Arena und die Meute, die sich nach solchen Hasstyraden sehnte, "nun denn: lassen wir das Duell mit einem nie da gewesenen Höhepunkt enden: ich spiele meinen Joker aus", nur unweit des jungen Firmenchefs begann ein hellblaues Licht zu funkeln, "erhebe dich aus der Schönheit des Augenblicks, du erhabene Kreatur der Glorie! Erscheine, Valkyre Brunhilde!" Das Publikum tobte als eine der bekanntesten Monster die Bühne betrat. Brunhilde auf ihrem hohen Ross, das ihr Schwert in die Höhe streckte, spiegelte die Siegesgewissheit ihres Meisters wider. Zigfried labte sich an dem Anblick seiner Kriegerin, die ihm gewiss viele Siege eingebracht hatte - aber nie den Triumph, der ihm seiner Meinung nach zustand.

"Nun Kaiba", sprach er ruhig, ohne den jungen Firmenchef anzusehen, "ist sagte dir doch, dass deine kleine Amateur-Kopie keine Chance gegen einen echten von Schroeder hat. Und jetzt wird es alle Welt sehen, was von der einstigen DuelMonsters Größe übrig geblieben ist und sie werden einsehen, wessen einzige Macht wirklich beständig ist." Ohne eine Antwort abzuwarten, die er in diesem Fall auch nicht erhalten hätte, wandte er sich dem Duell zu und genoss den Moment, in dem die Stärke seiner Valkyre ausnahmslos das Spielfeld führte.

"Durch den Effekt meiner Zauberkarte", Arizu fuhr fort, nachdem er eine theatralische Schweigeminute eingelegt hatte, die eindeutig von ihm einstudiert worden war, "sie gestattet es dir, ein Monster aus deinem Friedhof zu holen. Natürlich nur mit zweitausend oder weniger Atk."

"Ich beschwöre Denko Sekka im Angriffsmodus", entgegnete die junge Frau trocken und streckte ihren rechten Arm aus, dass ihr Donnermonster von Neuem auf dem Spielfeld erschien. Sofort schoss die Angriffszahl der Valkyre nach oben.

"Für jedes deiner Monster", erklärte Arizu, "erhält Brunhilde fünfhundert Lebenspunkte extra. Damit hat sie sechshundert Angriffspunkte mehr als deine Kriegerin. Brunhilde", gab er das Startsignal zum Angriff, dass die Valkyre in Position ging, "vernichte ihr Monster." Mit einem lauten Knall war Denko Sekka besiegt. Ihr kurzer Auftritt hatte nur zu Bruchteilen den Angriff abgepasst.

"Oh Mann", neben ihm war sein jüngerer Bruder aufgesprungen, "Rin hat jetzt nur noch 1200 Lebenspunkte und Wotan immer noch 3500. Nicht mal ihre versteckten Karten konnten etwas gegen Brunhilde ausrichten." Er raufte sich durch die Haare."

"Verdammt, Rin", hörte er das Murmeln hinter sich, "du hattest recht-"

Hm?!

"Nun - Kaiba Mädchen", süffelte Arizu und nickte der Braunhaarigen zu, "solltest du an dieser Stelle nicht besser aufgeben? Nichts in deiner Hand kann gegen diese majestätische Bestie ankommen. Deinen weißen Nachtdrachen habe ich verbannt und es ist nur eine Frage der Zeit, bis deine Lebenspunkte erschöpft sind. Jetzt hast du noch die Möglichkeit dir deine Niederlage einzugestehen...du schweigst immer noch? Dann möge es so sein. Ich beende meinen Zug."

"Schon vergessen", entgegnete die junge Frau und zog eine Karte, "ich sagte dir, dass du nur diesen einen Zug hast. Deine Chance mich zu besiegen ist vertan."

"Was soll das heißen?", lachte er sie aus, "hast du es denn immer noch nicht verstanden: du bist am Ende-"

"Nein", sie riss die Augen auf, "du bist am Ende. Denn jetzt bin ich am Zug. Und ich werde mit genau neun Karten alle Lebenspunkte nehmen."

"Wie-?"

"Ich hoffe für dich, dass du so gut aufpasst, wie diese Anzeigetafel hier."

"So ein Schwachsinn", fauchte Arizu und bekam eine starken Lufthauch ab, dass er die Beine ein Stück weiter spreizte. Kaiba hingegen konzentrierte sich einzig auf seine Spielerin. Seine eiskalten Augen durchbohrten ihren kühlen Blick, den sie nicht erwidern konnte, da ihr Fokus einzig auf ihren Karten lag: "Ich beginne", rief sie und spielte die erste Karte von ihrer Hand, "ich spiele die Zauberkarte Nachladen. Indem ich alle meine Karten aus der Hand zurück ins Deck lege, kann ich dieselbe Anzahl an Karten ziehen, die ich soeben zurück gelegt habe." Sie steckte die Karten in ihr Deck und mischte.

"Bist du jetzt völlig bescheuert?", ihr Gegner starrte erbost auf ihre Hand, die neue Karten zog. Für Wotan eigentlich ein willkommenes Fressen, da weitere Punkte in seine Lebensanzeige flossen.

"Als nächstes", verkündete Rin und streckte eine weitere Karte in die Luft, "spiele ich die Zauberkarte Inzahlungnahme: Ich lege ein Monster der Stufe acht auf den Friedhof und kann zwei weitere Karten ziehen."

"Aber-"

"Weiter", Rin ließ sich von Arizu's Gestammel nicht beeindrucken, "ich decke meine Fallenkarte auf - Extrazeit."

"Das ist doch-"

"Ganz recht", entgegnete Rin, "Extrazeit aktiviert sich, sobald mein Gegner 4000 oder mehr Lebenspunkte hat und stockt meine eigenen LP soweit auf, bis ich genau tausend weniger habe als du." Rins Anzeige ratterte, dass sie auf 3500 stieg.

"Du schindest bloß Zeit", rief ihr Arizu mit einer wegwerfenden Handbewegung zu.

"Dann pass Mal auf", nun setzte auch Rin ein schiefes Lächeln auf, "deine Arroganz wird dir letztendlich das Genick brechen."

"So redet nur jemand, der verzweifelt versucht, sich aus dem sinkenden Schiff zu retten."

Doch Rin grinste weiter, während ihre Augen voller Abscheu zu ihrem Gegenüber blickten: "Hier wird nur einer untergehen", sie legte eine Karte auf die Zone, "indem du dieses Monster aufs Feld gebracht hast, gabst du mir keine andere Wahl als mit aller, geballter Macht zu kontern", das Feld begann zu leuchten, warme Luft umhüllte die Arena. Kaiba erhob sich.

Sie wird doch nicht-

Fast vergaß er den Mund zu schließen als ein Strudel auf der Spielfeldseite erschien, die gesamte Tribüne für sich einnahm, dass sogar das Publikum für einen Moment nicht mehr wusste, ob es zur Showeinlage gehörte oder nicht. Nur die junge Frau ließ sich von der gewaltigen Kraft der Simulation nicht beeindrucken. Sie blickte hinauf, in das Auge des Strudels und rief: "Wenn die Schroeder Corp. mir den Krieg erklärt, gibt es nur eine Antwort darauf", der Zopf schlug ihr ins Gesicht, "ich spiele Dimensionsfusion und aktiviere ebenfalls meinen Joker." Zweitausend Lebenspunkte opferte die junge Frau - völlig unbedeutend. Aus dem Augenwinkel sah Kaiba, wie seine eigene DuelDisc zu leuchten begann.

"Wa-", hörte er nur noch Mokuba sagen.

Yamamori, du-

Die junge Duellantin breitete die Arme aus: "Kommt her, meine Bestien! Beenden wir diese Farce auf unsere altbewährte Tour." Kreischen ertönte.

"Unmöglich", ihr Gegner starrte hinauf. Über Rins Kopf erhoben sich drei weiße Drachen mit eiskaltem Blick, sowie der weiße Nachtdrache, den Arizu erst kürzlich verbannt hatte. Sechs eiskalte Augenpaare starrten zu

Arizu, der einen Schritt zurückgegangen war. Sein Gesicht hatte den letzten Hauch an Farbe verloren. Kurz geriet er ins Straucheln, bis er schließlich den Kopf schüttelte und die Fassung wieder erlangte. "Du Närrin!", lachte Arizu als wäre er aus einer Starre erwacht, "jedes deiner Monster beschert Brunhilde 500 zusätzliche Angriffspunkte. Mit 3800 Atk ist sie das stärkste Monster auf dem Feld. Glaubst du wirklich, mich mit deiner Dramatik klein zu kriegen?"

Rin streckte die linke Hand aus, "ich aktiviere meine zweite Fallenkarte: stampfende Zerstörung. Da ich jetzt meine Drachen auf dem Feld habe, aktiviert sich der Effekt von stampfende Zerstörung und deine Zauberabsorbation ist Geschichte!"

"Das ändert aber nichts daran, dass deine Monster nicht gegen Bru-"

Rin unterbrach ihn, indem sie auf ihren Drachen zeigte: "Weißer Nachtdrache, greif' Brunhilde an: Dimantenblitzattacke!" Die Zuschauer hielten den Atem an als der weiße Nachtdrache seinen Angriff ausführte. Brunhilde schwang lässig ihr Schwert und zersäbelte die fliegende Kreatur, noch bevor sie in Arizu's Nähe gekommen war.

"So etwas Dummes habe ich noch nie gesehen", perplex schüttelte er den Kopf.

"Warum hat sie das gemacht?", der Jüngere der Kaiba Brüder hatte sich nach vorne gebeugt, dass nicht viel fehlte und seine Nasenspitze die Bühne berührte. Er sah zu dem Älteren, der sich nicht anmerken lassen wollte, dass ihn der Anblick seiner drei Weißen aus der Bahn geworfen hatte.

"Rin hat jetzt nur noch 700 Lebenspunkte. Noch so ein Angriff und sie ist erledigt." Mokuba kratzte sich an den Kopf. "Sie darf nicht verlieren."

"Sie verliert nicht", erwiderte Kaiba, "das Duell ist entschieden."

"Du meinst-?", der Schwarzhaarige sah zu Rin hinauf, "sie hat ihren Drachen opfern müssen, damit Brunhildes Atk sinken?"

"Als sie Dimensionsfusion gespielt hat", Kaiba deutete auf Rins Spielfeldzone, "musste sie sämtliche Monster, die verbannt wurden, aufs Feld holen - außer Schimmerdrache, der gerade erst aus dem Spiel entfernt worden war."

"Aber sie hätte doch nur den Nachtdrachen spielen können. Dann wäre er stärker gewesen als Brunhilde."

"Mokuba, du scheinst Brunhildes besondere Fähigkeiten vergessen zu haben. Außerdem hat sie nur diesen einen Zug. Ihr blieb nichts anderes übrig, als eines der Monster zu opfern."

"Krass. Das heißt ja auch, dass Rin noch nicht fertig ist."

Dein Spiel fängt gerade erst an, habe ich recht...Rin?
 

"Tja", sagte Arizu, der noch immer den Sieg auf seiner Seite sah, "Brunhilde ist immer noch stärker und selbst wenn, du hast keine Chance an sie vorbei zu kommen."

"Das wollen wir doch mal sehen", sie streckte den Arm zu dem ersten weißen Drachen aus, dass dieser sich in Position brachte, "ich aktivere noch eine Fallenkarte. Sie nennt sich Tyrannenflügel und rüstet eines der Bestien mit zusätzlichen 400 Punkten aus. Ich denke, du kannst das zusammen rechnen. Doch es kommt noch besser: Tyrannenflügel erlaubt mir, das ausgerüstete Monster zweimal angreifen zu lassen."

Arizu knirschte mit den Zähnen. Innerhalb von Sekunden hatte der stärkere der Weißen sein Maul aufgerissen und Kraftengel Valkyre ausgeschaltet. Ohne weiter Zeit zu schinden baute sich eine weitere Kugel auf. Die Lichtblitzattacke schoss auf Brunhilde, die im letzten Augenblick mit ihrem Schild abwehrte. "Brunhildes Effekt schützt sie vor ihrer Zerstörung", tausend Verteidigungspunkte gingen von ihr ab, "und - falls du es noch nicht weißt - dadurch, dass Brunhilde ihre Verteidigung aufgegeben hat, lässt sie die Battle-Phase umgehend beenden. Das war's dann wohl mit deinem lächerlichen Versuch, mich besiegen zu können-"

"Weißer Drache mit eiskaltem Blick", Rins gebieterische Stimme war dem jungen Firmenchef ein Dorn im Auge. Sie kommandierte seine Monster als gehörten sie ihr - ihm begann es in den Fingerspitzen zu jucken. Er konnte sich nicht eingestehen, dass sie durchaus Führungsqualitäten aufwies, die er keinem anderen als sich zusprechen wollte. Doch Yamamori schien nicht einmal mehr mitzubekommen, dass sie von tausenden von Zuschauern umgeben war, die ehrfürchtig auf die Tribüne blickten - geschweige denn, dass sie keinen ihrer eigenen blauäugigen Drachen spielte. Dieser versunkene Blick auf seine eigenen Fähigkeiten. Natürlich wusste Kaiba, wie sie sich fühlte. Was für einen Rausch es auslösen konnte, wenn ein alles entscheidener Sieg bevor stand. Rin achtete nur auf sich und die Drachen, von denen einer zum nächsten Angriff überging. Sehr zum Entsetzen ihres Gegenübers - als Brunhildes Schild zersprang und der weiße Drache in tausend Teile zerlegt wurde.

"Wie war das möglich? Du hättest sie gar nicht angreifen können...was für ein mieser Trick ist das?"

Die junge Frau sah ihn durchdringend an: "Ich habe dir doch gesagt, dass du ganz genau aufpassen sollst." Wo langsam der Rauch der letzten Attacke verebbte tauchte eine große, steinerne Uhr auf.

"Nein!", rief Wotan, der die Fallenkarte zu erkennen schien. Pyro-Uhr des Schicksals - eine Karte, welche die Zeit zurückdrehen konnte. Um genau einen Zug, dass sie zwar ihren Tyrannenflügel aufgeben musste, dafür aber Brunhildes Spezialfähigkeit auf die einzig möglich Weise ausgetrickst hatte. So langsam begriff Kaiba, welches Ausmaß Rins Berechenbarkeit annehmen konnte. Die junge Frau hatte doch tatsächlich das Duell gelenkt - und Wotan war blindlinks in ihre Falle getappt. Oder besser gesagt Zigfried, dessen Gesichtsausdruck nicht mehr die Überzeugung ausdrückte, dass er nur noch entsetzt dem weiteren Treiben zusah. Brunhildes Schutzlosigkeit hatte er nicht kommen sehen. Seine heiß geliebte Bestie, die durch den Sieg mit dem ersten weißen Drachen um weitere fünfhundert Punkte geschwächt worden war, unterlag nun den blauäugigen Monstern, die hungrig auf ihre nächsten Befehle warteten.

"Weißer Drache mit eiskaltem Blick", fuhr Rin ohne Umschweife fort, "greif' Brunhilde an - Lichtblitzattacke", ihre Stimme übertönte auch den lautesten Wind, dass der weiße Drache mit den Flügeln ausholte, sein Maul aufriss und seine Lichtkugel auf das gegnerische Monster abfeuerte. Mit einem schwachen Versuch zu kontern, löste sich schließlich die Valkyre zu Staub auf. Mit offenem Mund sah Arizu auf die Stelle als eine zweite Lichtblitzattacke auf ihn zusteuerte. Weißes, funkelndes Licht umhüllte die Tribüne.

"Das war Nummer neun", Rin verschränkte die Arme vor der Brust und deutete auf ihre letzte verdeckte Karte, "Kampfgeist der Drachen. Mit diesem Schnelleffekt konnte dieser Weiße ein zweites Mal angreifen. Du hast sicher mitgerechnet, was das für dich bedeutet."

"Nein!", er sah auf seine Anzeigetafel, auf der noch 1700 Lebenspunkte standen.

"Weißer Drache mit eiskaltem Blick", sie streckte ihren Arm aus, dass die Initialen des Armschmucks in die Kamera gezeigt wurden, "jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird die ganze Macht unseres Zorns zu spüren bekommen", sie knirschte mit den Zähnen, "beenden wir endlich dieses Duell und schicken diese Bastarde in die Hölle! Lichtblitzattacke!" Die letzte Lichtkugel erhellte die gesamte Arena, dass der Zeppelin, auf dem sie standen, allmählich verblasste, bis nur noch das Bug zu sehen war. Die Wucht der Attacke, ließ die Windböen blass aussehen. Es existierte nur Licht und der Ruf des Weißen, dessen Lichtblitz auf den Gegner zusteuerte und ihn in die Knie zwang.

"Wie", Zigfrieds zittrige Stimme hallte durch den Raum, "wie konnte das passieren?" Fassungslos starrte er auf die Tribüne, die langsam wieder auftauchte. Die Simulation war beendet. Der Zeppelin vollends verschwunden und die Arena erstrahlte in ihrer ursprünglichen Form. Fünftausend Zuschauer blickten hinauf zu den beiden. Rin Yamamoris Blick war kühl und abgeklärt als sie ein paar Schritte auf ihren Gegner zukam.

"Das kann nicht sein!", winselte Arizu und fasste sich an den Kopf, "wie...wie konnte ich verlieren?"

"Wirklich?", entgegnete Rin, "das fragst du dich?" Sie zuckte mit den Schultern. "Du warst es doch, der mich die ganze Zeit als Kaiba Mädchen bezeichnet hat. Da hättest du doch wissen müssen, dass dieses Duell nur auf eine Weise ausgehen konnte." Sie drehte ihren Kopf, dass sie direkt auf Zigfried blickte, dem es die Sprache verschlagen hatte. Die Ruhe um sie herum war unheimlich. Die Sekunden, in denen keiner etwas sagte, war geradezu erdrückend. Doch dann preschten sie vor - der Jubel der Zuschauer war wie eine Explosion. Die Stimme des Kommentators musste sich durch die Stimmenmassen durchkämpfen, bis sie endlich Gehör fand: Eines der unerwartetsten Comebacks meiner bisherigen Laufbahn! Rin Yamamori besiegt Wotan Arizu. Die Kaiba Corporation konnte wieder einmal ihren Titel gegen die von Schroeder Corp. verteidigen." Sogar Mokuba brach in Jubel aus, dass seine Augen zu funkeln begannen.

"Rin, was hast du nur getan", murmelte es seufzend hinter dem jungem Firmenchef.

"So eine Spannung habe ich echt nicht erwartet", entgegnete eine unbekannte Stimme, "das war haarscharf." Mokuba drehte sich zu der Stimme um und nickte eifrig. "Erinnert mich an das Herz der Karten."

Nein. Sie hat bloß Wahrscheinlichkeitsrechnung angewandt. Rin wird ihre Karten auswendig kennen. Das verlangt ein gutes Gedächtnis und einfache mathematische Fähigkeiten. Sie wusste genau, welche Karten sie für einen Sieg gegen Brunhilde brauchte und diesen armseligen Wicht hat sie einfach nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Die Provokation sollte doch nur dazu dienen Zigfrieds Valkyre aufs Feld zu holen. Mit einem hättest du nur nicht rechnen können: mit dem Joker-

Seine Gedanken stoppten als die Stimmen im Hintergrund immer lauter wurden. Die Massen hinter ihm hatten sich zu einem Chor zusammen geschlossen: "Duel Madness", wiederholten sie wie einen Kampfschrei. Kaibas Augen wurden zu gefährlichen Schlitzen. Er sah zu Yamamori hinauf, die in den Raum blinzelte als wäre sie aus einem Traum erwacht. Ihr Blick wandelte sich. Verschwunden waren der Hass und der Rausch ihres letzten Angriffs. Sie sah hinunter zur Tribüne, auf der die Zuschauer jene Worte aussprachen, die Kaiba über fünf Jahre nicht mehr gehört hatte. Die Reaktion des Publikums schien die junge Frau nicht erwartet zu haben. Obwohl sie Kaibas weiße Drachen gespielt habe, schien es ihr nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass die Menge ihren Auftritt anders interpretiert haben könnte als ihr jemals bewusst gewesen war.

Und was jetzt…?

Gleichmäßig bewegte sie Arme und Beine, im grazilen, teils ruhigen Rhythmus, dass sie dem natürlichen Strom des Wassers folgte. Leise rauschte die Quelle in ihren Ohren, ließ sie abschalten, ließ sie alles um sich herum vergessen. Ihre Glieder entspannten, Muskeln lockerten sich, trieben auf der Oberfläche des Schwimmbeckens. Genau das Richtige nach dem gestrigen Duell. Ihr Körper hatte Ruhe verdient, ihr Geist durfte sich fallen lassen, ganz in Richtung der Strömung geführt werden. Ein solcher Moment wie dieser ließ Rin jeden negativen Gedanken beiseite schieben, dass sie nie mehr auf die Annehmlichkeiten der Kaiba Corporation verzichten wollte. Wenigstens jetzt, im Schutz des klaren Beckens, das auf angenehme Körpertemperatur aufgeheizt worden war, lockerten sie jedes kleinste Knötchen an Anspannung und Verdruss. Ja, so konnte es sich leben lassen! Die junge Frau tat einen tiefen Seufzer, der durch die verlassene Schwimmhalle schallte und als Echo zu ihr zurück schnellte. Mit geschlossenen Augen drehte sie sich auf den Rücken.

Noch eine letzte Bahn

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen als sie die Lider öffnete und ihrem geliebten Weißen in die Augen sah, der sie eindringlich zu betrachten schien, dass ein Schauer über ihren gesamten Körper ging. Wie sehr sie seinen Anblick genoss. In aller Stille, an einem Ort, der sich so anfühlte als gehörte er ihr allein. Wie leicht sich doch Schwerelosigkeit anfühlen konnte.

Huch

Rin blinzelte. Hatte sie sich das Scheppern nur eingebildet? Bestimmt. Um diese Zeit war niemand in den Untergeschossen, geschweige denn in den Badeanstalten. Ruhig trieb sie bis ans Ende des Beckens. Ihre Beine wurden tief in das Wasser gezogen, bevor sie sich am Beckenrand abstützte und sich mit einem Ruck hinauszog. Wassertropfen perlten an ihrer hellen Haut ab, die sich selbst im Sommer kaum bräunte. Ihre Hände fuhren durch das mandelfarbene Haar, das sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt hatte. Einige lose Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und klebten an ihrer Wange. Langsam tappelten die nackten Füße über die Fließen, kühlten nur mäßig ihren erhitzten Körper. Gerade genoss sie die Wärme, die sie gänzlich umfing, sie wie einen Kokon einhüllte. So wohlig warm, dass sie es bis in ihrem Innersten spürte.

Sie nahm ein Handtuch aus ihrem persönlichen Fach, tupfte erst ihr Gesicht ab, bevor sie sich doch dafür entschied, noch einmal schnell unter die Dusche zu springen. Den Chlorgeruch von ihrer Haut herunter zu bekommen. Sie streifte sich den Badeanzug von den Schultern, entledigte sich des klebrigen Stoffes und hing ihn über den Balken, direkt neben den Wasserstrahlern. Dann schraubte sie an dem Duschkopf, stellte ihn so ein, dass dicke pralle Strahlen hinausschossen. Wie kleine elektrische Impulse schlugen die Tropfen an ihrem Rücken. Heißer Dampf umhüllte ihren Körper, verdeckte als letzter ihre zarten Rundungen. Die junge Frau hob die Hände gen Strahler, fing das Wasser auf und betrachtete dessen Klarheit, bevor sie ihren Hals streckte und das Gesicht den peitschenden Tropfen hinhielt. Den Mund leicht geöffnet empfing sie die Hagel ähnlichen Körner, bevor sie ein weiteres Mal glaubte, etwas gehört zu haben. Rin drehte ihren Kopf. Die Wasserstrahlen ließen die Sicht vor ihr verblassen. Alles schien unverändert. Nur ein Gefühl schlich sich ein, brennend tief, dass sich ihr Atem beschleunigte. Das Prasseln des Wassers lenkte sie ab, dass sie ihren Blick zurück an die Wand lenkte.

Was?!

Sie riss die Augen auf. Weiche Lippen legten sich auf ihr rechtes Schulterblatt, dass sie sich nicht zu atmen traute. Feuchtes Haar kitzelte ihren Nacken, bevor auch dieser von Küssen geneckt wurde.

"Aber", stotterte die Braunhaarige und spürte wie ihre Beine zu Pudding wurden.

"Was >aber<", säuselte hinter ihr die vertraute Stimme und neckte sie, in dem die Lippen über ihr Ohr wanderten, sanft daran knabberten und die Worte zu einem Hauchen verblassen ließen, dass Rin nur noch mehr der Kopf drehte.

"Das…", begann sie zu stöhnen, "geht doch...nicht...Ah." Kalte Hände umfingen ihren Körper, einzelne Finger arbeiteten sich zu ihrer Hüfte entlang zu ihrem Bauchnabel. Hinter sich spürte sie ein neckisches Grinsen.

"Nein", hauchte sie und spürte wie ihre Stimme an Luft verlor, während sie gegen das Gefühl ankämpfte, ihren zittrigen Körper noch enger an diese feste Statue hinter sich zu pressen als es seine zwei Hände ohnehin schon für sie taten und dabei noch viel mehr als nur Unruhe in ihr wachriefen. Mit schmerzender Geduld bewegten sie sich auf ihrem feuchten Körper, erkundeten ihre Rundungen, ertasteten ihre Reizbarkeit.

"Nicht", schüttelte sie mit dem Kopf und wurde nur stärker in den klammernden Griff hineingedrückt, "wir...wir können das nicht tun...Kaiba."

"Ach ja?", kam es kratzig zurück, wobei er die Finger seiner linken Hand über eine ihrer Brustwarzen fahren ließ, kleine Kreise zog, bevor Daumen und Zeigefinger vorsichtig daran zogen. Rin öffnete ihren Mund, legte den Kopf in den Nacken und ließ die Luft stoßweise aus der Lunge. Hinter ihr spürte sie das süffisante Lächeln, die provokante Überlegenheit, den stählernen Körper, der sich noch enger an sie drückte, dass sie seine Erregung über ihrem Hinterteil nun deutlich spürte. Die junge Frau biss sich auf die Lippen. Seine Hände, - diese Hände - diese Hände waren wie glühende Kohlen, je tiefer sie wanderten. Mit jedem weiteren Zentimeter, zog sie tiefer die Luft ein. Dass der Mann hinter ihr noch breiter grinste, erschwerte nur diesen unstillbaren Durst - dieses unkontrollierte Kribbeln, das sie im Zaum zu halten versuchte. Und noch dazu diese Lippen, diese verdammten Lippen, die tiefe brummende Töne süffelten: "Und warum sagt mir dein Körper etwas ganz anderes?" Mit einer unfassbaren Selbstverständlichkeit ging er zwischen ihre Beine, spreizte sie und strich sanft über die reizbare Knospe. Tief glitt ein Finger in sie hinein, zog sich aus ihr zurück und wieder hinein.

Warum fühlt sich das so verdammt gut an?!

Zufrieden knurrte es hinter ihr, dass sie sich für ihre Zügellosigkeit hasste, die ihren Körper dazu trieb, sich gegen seine Hände zu reiben, noch mehr dieser Berührungen einzufordern.

"Es ist…", stöhnte sie in seine Lippen, "es ist falsch." Aber als Antwort erhielt sie ein noch breiteres Grinsen, dass Rin einfach die Augen schloss - als Zeichen der Resignation. Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen. Tief im Inneren wollte sie es auch nicht, was er schamlos für sich nutzte. Flink krallte er seine Finger in ihre Hüften, drückte ihr Hinterteil an seinen Unterleib, dass sie die Geduld verlor und sämtliche Scham mit sich trieb. In diesem Moment wollte sie ihn nur noch in sich spüren - und das schnell und hart. Er schien ihren Wunsch zu kennen, drückte ihren Rücken weiter hinunter. Sie hob ihren Kopf. Er brachte sich in Position und…

Bevor die ersehnte Erlösung eintraf, schnellte ihr Kopf durch den Ruck so weit nach vorne, dass ihre Stirn die Wand küsste. Mit einem Knall traf sie auf die kühlen Fließen...nein, das waren keine Fließen, sondern Laminat. Und sie stand auch nicht mehr im Duschraum, sondern hing kopfüber aus dem Bett, die Beine noch gerade so auf der Matratze. Was man von ihrem Oberkörper nicht behaupten konnte. Stöhnend fasste sich die junge Frau an die Stirn. Blinzelnd versuchte sie die grellen Sonnenstrahlen zu vertreiben, die sich hartnäckig durchs Fenster gemogelt hatten. Warum hatte sie auch vergessen, das Rollo hinunter zu ziehen?

So ein verdammter Mist

Sie wusste nicht, welche Tatsache sie mehr ärgerte: Der Schein der Morgensonne oder doch so frühzeitig aus dem Traum gerissen worden zu sein. Ausgerechnet an dieser Stelle.

Wie unbefriedigend...und wieder mal typisch

Halb stolpernd erhob sie sich und fuhr sich schroff durch die Haare.

Nie wieder Alkohol nach einem Duell! Scheinbar gehen tatsächlich ein paar Gehirnzellen flöten

Schlürfend verließ sie das Zimmer, durch den winzigen Flur, vorbei am Badezimmer, aus dem die Dusche hervor lugte und ihre Laune noch weiter runterzog, während gleichzeitig die Hitze in ihre Wangen zurück kehrte. Heftig schüttelte sie mit dem Kopf und versuchte mit den Händen die Morgensonne zu vertreiben.

"Seit wann bist du so früh munter", murrte die junge Frau und blieb vor der Küchenzeile stehen. Am Wasserkocher lehnte lässig ihre beste Freundin und grinste die Braunhaarige schief an.

"Na? Gut geschlafen?"

"Ich hab schon schlechter geschlafen", murmelte Rin, welche die Bilder des Traumes noch nicht erfolgreich von sich geschoben hatte. Warum musste sie auch ausgerechnet von ihm träumen.
 

Lumina grinste weiterhin breit als sie eine dampfende Tasse Tee vor Rins Nase hielt: "Du machst doch sonst nie nach einem einzigen Drink schlapp."

"Einer war schon definitiv zu viel", dankend nahm sie die Tasse und sog den süßlichen Duft ein, "Müdigkeit, Hunger und Adrenalinkicks sind eindeutig nicht die beste Mischung für einen Jack Daniel's."

"So einfach wirst du mir beim nächsten Mal nicht davonkommen", wedelte die Schwarzhaarige mit einer unbenutzten Zigarette. Genüsslich nippte Rin an ihrem Grüntee. Fast fühlte es sich wie damals an. Als Lumina und sie frisch zusammen gezogen waren. Manchmal vermisste sie die teils verplanten teils improvisierten Morgen, an denen sie zumindest in den paar Stunden die Sorgen des Alltags vergessen konnten; die Prüfungsängste, die verzweifelten Bewerbungsschreiben - es spielte keine Rolle, wenn sie frühs zusammenstanden, Lumina mit ihrer Kippe und Rin mit ihrem Lieblingsgetränk - dann konnte sie die ganze Welt mal kreuzweise.

"Und", Lumina nahm ihr Feuerzeug zur Hand und ließ eine kleine Flamme entzünden, "wie sehen für heute deine Pläne aus?" Rin zückte ihr Smartphone, dass sie vor dem kleinen Tisch am Fenster liegen gelassen hatte und ging ihre Mails durch. Ihr Blick verfinsterte sich: "Meetings, Besprechungen, Meetings." Noch dazu wollte ihr Vorgesetzter sie sprechen. "Entspannung kann ich mir wohl abschminken. Wenn Senjin mich sehen will-"

"Was hast du erwartet?", Lumina zog an ihrer Zigarette, "sei' froh, dass der Meister des Großkotz' dich nicht persönlich sehen will", sie stieß die Luft aus und lächelte schief, "ich glaube nicht, dass er dich einfach so davonkommen lässt. Du hast schließlich seine geliebten Babys ins Spiel gebracht." Lumina schüttelte den Kopf als könnte sie selbst kaum glauben, was sie da sagte: "Ich muss zugeben. So viel Mumm hab ihr dir nicht zugetraut. Langsam gefällt mir die >Duell-Rin<, die allen den Arsch aufreißt."

"Ich habe mich lediglich an die Regeln gehalten", entgegnete Rin, die im Nachhinein weniger stolz auf sich war. Sie hatte nicht mit einer derartigen Reaktionen Seitens des Publikums gerechnet. Noch dazu der Blick Seto Kaibas, dem sie versuchte zu trotzen. Bisher hatte sie es nicht gewagt, den jungen Firmenchef zu deuten. Sie wusste, sie würde es nur bereuen.

"Ich habe alle Erwartungen der Kaiba Corporation erfüllt. Niemand sollte sich beschweren", damit trank sie den Tee in einem Zug leer und hakte das Thema für den Rest des Morgens für sich ab. Anders ihre Freundin, diese hob eine Augenbraue und zog geistesabwesend an ihrer Zigarette. Ihr Blick schweifte zur Seite: "Ach ja, bevor ich es vergesse", mit einem Nicken deutete sie auf die Küchenzeile, "Du hast Post bekommen. Scheinbar von deiner Bank."

"Bestimmt meine Kontoauszüge. Ich bin die letzten Wochen nicht dazu gekommen persönlich hinzugehen."

"Schau lieber nach. Nicht, dass man dich schon wieder wegen deines Lohns nappen will."

"Schon gut, schon gut", damit riss Rin den Brief auf. Dutzende Blätter lagen darin, unter anderem ein Angebot über Wertanlagen, das sie noch nie erhalten hatte.

"Waaaaa", sie starrte auf den Auszug und wartete darauf, von einem weiteren Traum aufgeschreckt zu werden.

"Was ist los?", Lumina knuffte sie an, dass sie sicher sein konnte wach zu sein und betrachtete ebenfalls den oberen Teil des Blattes, dass ihr beinahe die Zigarette aus dem Mund fiel: "Da lässt aber einer einen gucken. Ich meine", die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf, "was ist das hier?! Dein Trinkgeld?"

"Dann scheinen die Gerüchte wahr zu sein", murmelte Rin. Von losem Gerede hatte sie einmal aufgeschnappt, dass die Preisgelder pro gewonnenes Duell innerhalb der Vorrunden bis zu zehntausend betragen konnten. Das erklärte nur nicht die Summe auf ihrem Konto, die weit oberhalb dieser Grenze lag. Ihr neues Gehalt war zwar um einiges höher als das zu Beginn, jedoch nicht so, dass sie beinahe um das zehnfache mehr verdiente.

"Vielleicht hat sich jemand vertan. Senjin traue ich so viel Inkompetenz zu."

"Glaube ich nicht", Lumina zeigte auf die einzelnen Zeilen, "dein Name steht deutlich auf jeder Buchung...Yamamori Bonus - Battle-City, Yamamori Bonus - Kaiba Corp., Yamamori Bonus-Rooftop, Bonus-"

"Ja, schon gut", Rins Kopf begann zu hämmern, "ich kann nicht ganz glauben, was hier gerade abgeht."

"Jetzt", begann ihre Freundin, "geht der Wahnsinn erst richtig los. Duellmadness"

"Erinnere mich nicht daran", ihr wurde ganz flau im Magen - und nicht weil sie bisher noch nichts gefrühstückt hatte.

"Es ist genau das eingetreten, was du all die Jahre vermeiden wolltest", langsam lief Lumina auf das Fenster zu, riss es auf und stieß den letzten Rauch aus ihrer Lunge, bevor sie den Stummel hinaus warf, "früher oder später musste es wohl passieren." Statt einer Antwort stellte Rin die leere Tasse zurück auf die Küchenzeile. Sie streckte die Glieder, ignorierte den blauen Fleck an ihrer Hüfte und machte sich daran, aus ihren Shorts zu schlüpfen.

Ein neuer Tag musste anbrechen, ob sie nun wollte oder nicht. Der Tatsache ins Auge blickend machte sie sich ausgehfertig, zwängte sich mit dem kleinen Wuschelkopf ins Bad und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Mit zusammengepressten Lippen kämmte sie ihr verwildertes Haar, das ihr nur zu deutlich den vergangenen Traum vor Augen führte, dass sie innerlich den Kopf schüttelte.

"Und", Rin machte sich gerade daran ihren Zopf zu befestigen, "wie sieht es heute bei dir aus?" Lumina zuckte mit den Schultern und entgegnete: "Wenn ich schon mal auf bin, werde ich mitkommen. Ein paar Erledigungen in der Stadt machen. Der Kühlschrank sieht auch ziemlich leer aus."

Genau wie mein Magen

Um ihren Hunger würde sie sich auf Arbeit kümmern. Vielleicht sollte sie einmal die Firmenkantine ausprobieren. Die junge Frau hakte sich bei ihrer Freundin ein, die ihr zunickte, dass sie ebenfalls fertig war.

"Vergiss' den Hausschlüssel nicht", sagte Lumina wie damals ihre Mutter, wenn Rin bereit für die Schule war. Nur statt eines Lunchpaketes zückte die Schwarzhaarige ihre Zigarettenschachtel und klemmte sich eine der frischen hinters Ohr. Rin klimperte mit dem Schlüssel vor ihrer Nase und steuerte die Treppenstufen an. Ein älterer Nachbar kam an ihnen vorbei und murmelte etwas Unverständliches beim Vorgehen. Ein zweites Mal kam ihnen ein murrender Mann entgegen, der ähnlich finster drein blickte. Bei dem Wetter konnte Rin die Gesichter nicht verstehen. Die Sonne hatte bereits jetzt den Himmel für sich eingenommen. Kein Platz bot sie auch nur der kleinsten Wolke. Rin freute sich geradezu nach draußen zu kommen, die paar Minuten auszukosten, bevor sie in den Büros und Konferenzräumen eingepfercht wäre. Sie riss munter die Tür auf. Wie versteinert blieben sie und ihre Freundin an der Schwelle stehen.

Das darf nicht wahr sein.

"Frau Yamamori, wie sehen Ihre nächsten Schritte aus-"

"Werden Sie das Erbe des weißen Drachen antreten-"

"Was sagen Ihre Eltern zu Ihren Spielmethoden-"

"Frau Yamamori, noch eine Frage-"

Rin knallte mit aller Wucht die Wohnungstür zu und starrte auf das modrige Holz. Ihr Herz war ihr bis in die Hose gerutscht. Am liebsten wäre sie zurück in ihre Wohnung gerannt, direkt auf die Toilette und hätte sich für den Rest des Tages dort eingeschlossen. Stattdessen bewegte sie sich kein Stück, konnte nicht aufhören auf die Tür zu starren, hinter welcher das irre Gewusel weiterlief. In was für einen Traum war sie jetzt schon wieder geraten?

"Und jetzt?", war neben ihr Lumina die erste, welche die Worte wieder fand.

"Keine Ahnung", entgegnete die Braunhaarige wie in Trance.

Diese Leute...woher wissen die, wo ich wohne?

"Komm", damit packte ihre beste Freundin sie am Unterarm und zog sie mit sich.

"Was hast du vor?", Rin wusste nicht, warum Lumina den Hinterhof ansteuerte. Na gut, dort würde noch keiner der Presseleute stehen, da nur wenige wussten, dass hinter der knapp ein Meter fünfzig Mauer der Wohnblock ihres Zuhauses lag und man nur durch den zweiten Hof huschen musste, um auf die Hauptstraße zu gelangen. Wenn Rin es eilig hatte, nutzte sie die kleine Abkürzung, die zumindest die zwei Minuten einsparte, mit denen man noch knapp den Bus schaffen konnte.

"Hier lang", damit schleppte Lumina sie in den Schuppen, dass Rin irritiert blinzelte.

"Dein Moped? Du meinst-?"

"Glaubst du, du entkommst denen einfach so, wenn wir bis zur Haltestelle rennen? Klar, du bist schnell, aber wer weiß, was vor der Kaiba Corporation abgeht."

"Und du willst, dass wir die Kiste über die Mauer tragen?", Rin beobachtete entsetzt wie die Schwarzhaarige ihr Gefährt nach draußen schob, bis an die Mauer und dort auf ihre Freundin wartete. Die junge Frau schüttelte den Kopf: "Du bist irre."

"Hilfst du mir jetzt oder was?, Lumina stemmte die Hände in die Hüften.

"Und was hast du dir gedacht? Dass wir das Ding über die Mauer werfen?"

"Die Gute hier", Lumina klopfte auf den Sitz, "hält mehr aus als sie den Anschein macht."

"Wie du willst", noch immer glaubte Rin, dass die Schwarzhaarige doch besser ausgeschlafen hätte - scheinbar zeigte der Schlafmangel gerade seine Entzugserscheinungen. Trotzdem half sie ihrer Freundin das Moped anzuheben.

Ein Glück, dass Lumina nicht das Geld für ein richtiges Motorrad hatte

Mit rutschigen Händen schafften sie es tatsächlich, die Maschine anzuheben. Trotz des Trainings der letzten Wochen zitterten ihre Beine, der Rücken bekam ein undefinierbares Stechen: "Wenn ich wegen dir im Krankenhaus lande und nicht in die Endrunde kann-"

"Jaja, nicht so viel reden….Noch ein Stück", schnaufte ihre kleinere Freundin. Nach einem letzten lauten Fluch, schafften sie das Moped über die Mauer. Es rumpelte, dass Rin das Herz in die Hose rutschte. Beide Frauen sahen sich mit aufgerissenen Augen an, bevor sie schnell über die Mauer sprangen.

"Und du sagst, ich bin die Wahnsinnige", musste Rin darüber lachen, dass die Maschine lediglich ein paar Schrammen abbekommen hatte. Sie hatten Glück. Seit einem Jahr wuchs entlang der Mauer Gras, dass seit dem Frühjahr gut fünfzig Zentimeter in die Höhe spross.

"Nicht wirklich", grinste Lumina zurück, "vor 'nem halben Jahr bin ich mal mit einem Bekannten von 'ner Party heimgekehrt und irgend so ein Idiot hatte die Haustür abgeriegelt. Da blieb uns nichts anderes übrig als die Kleine hier über die Mauer zu hieven."

"Und warum hast du mich nicht angerufen?"

"Du warst bei deinen Eltern und ich einfach nur total blau."

"Und geil."

"Damit solltest du dich ja am besten auskennen."

"Halt bloß die Klappe und fahr mich zur Kaiba Corp."

"Mit dem größten Vergnügen, Frau Yamamori", Lumina zwinkerte neckisch und startete den Motor. Sie nahmen die zwei Helme, die ihre Freundin gerne an das Hinterteil der Maschine befestigte, stülpten sie sich über und fuhren los.

Gerade aus den Hof gedüst, sahen sie schon ein dutzend Pressefotografen und Journalisten. Das Moped raste nach rechts, als die Gruppe zum ersten Mal die beiden bemerkte. Nach einem kurzen Versuch, der Maschine zu folgen, die anfangs etwas brauchte, bevor sie an Tempo gewann, hatten sie die kleine Meute abgewimmelt.

"Danke", rief Rin, die dem kleinen Menschenfleck hinterher blickte, bis sie ganz verschwunden waren.

"Na, was sagst du jetzt", lachte Lumina und konzentrierte sich auf den Wochenverkehr, "wenn du unter die Top drei kommst, schuldest du mir ein neues Moped."

"Du hast doch meinen Auszug gesehen: Ich kaufe dir eine verdammte Dukati!"

"Nur nicht übermütig werden", schrie ihre beste Freundin, bevor sie in das schallende Lachen einstimmte.
 

Es dauerte seine Zeit, bis sie das Hochhaus der Kaiba Corporation erreicht hatten. Innerhalb der Woche war es unmöglich, das Banken- und Geschäftsviertel ohne den üblichen Stau zu überstehen, der sich über Kilometer hinziehen konnte, dass die Wolkenkratzer kaum auszumachen waren. Vorbei an gestressten Arbeitern, angespannten Familienvätern, die ihre Jüngsten in die Schule beförderten und scheinbar nur darauf warteten, ihren Frust der Woche an ihren Fahrzeugen auszulassen, war die Fahrt zur Firma eine Mischung aus Geduldsprobe und Konzentrationsspiel. Lumina schien da ganz in ihrer Rolle der hektischen Mopedfahrerin aufzugehen. Sehr zum Frust der anderen, überholte sie einige Kleinwagen, zwängte sich an der Ampel bis ganz nach vorne und hängte sich an ein oder zwei Kombis, dass nicht viel fehlte und sie hätten das Hack an ihre Nasenspitzen gehabt. Jetzt erinnerte sich Rin auch wieder, warum sie nur selten mit der Schwarzhaarigen fuhr - sobald sie abstieg, begann der Kopf sich wie ein Kreisel zu drehen. Schnaufend riss sie den Helm vom Kopf und atmete die frische Hochsommerluft ein. Nur Lumina schien völlig gelassen, sie genoss geradezu ihre Fahrten, während Rin für den Rest der Woche damit abgespeist wäre.

"Bis später", winkte die Schwarzhaarige und startete wieder den Motor, "ich halt dich auf dem Laufenden, was die Meute vor unserer Wohnung macht."

"Die haben doch gesehen, dass ich nicht mehr dort bin", winkte Rin ab, "ich denke, bis zum Feierabend wird alles wieder beim Alten sein...Schau dich nur mal hier um", sie drehte den Kopf und zeigte auf die Fußgängerzone, "bis hierhin sind sie mir auch nicht nachgelaufen. Wer weiß, warum sich die Presse ausgerechnet unser Zuhause ausgesucht hat."

"Wollen wir es hoffen", entgegnete ihre beste Freundin trocken und winkte noch einmal zum Abschied, bevor sie im Eiltempo in den Straßen Domino Citys abtauchte.

Rin tat einen tiefen Seufzer. Sie hatte bereits damit gerechnet, vor dem Firmengebäude von lästigen Paparazzis attackiert zu werden. Noch hatte sie die Bilder des gestrigen Sieges nicht vollständig verarbeiten können. Besonders als die Presse wie Asgeier auf sie losgegangen war. Nur wegen einer Monsterkarte.

Na gut: nicht irgendeine, und eigentlich waren es drei.

So wirklich wollte sie nicht durch die Drehtür. Nicht, nachdem sie sich ein inoffizielles Tabu geleistet hatte, das noch niemand in der Geschichte von DuelMonsters gewagt hatte - Seto Kaibas Karten zu spielen. Im Eiltempo marschierte sie in die Vorhalle, wo sie bereits Blicken ausgesetzt wurde, die eindringlicher als beim letzten Mal waren. Schon da hatte Rin nicht gewusst, wie sie darauf reagieren sollte. Diese Augenpaare jedoch waren keine stummen Beobachter.

"Morgen, Yamamori", lächelte sie ein junger Mann an.

War das nicht der Kerl von neulich?

Zwei weitere Angestellte begrüßten die junge Frau, die lediglich an ihnen vorbeischritt als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Am Empfang erreichte sie ein perfekt getimetes Lächeln. Die Empfangesdame zeigte ihre frisch gebleachten Zähne, die im grellen Neonlicht leuchteten: "Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Yamamori, und herzlichen Glückwunsch zu Ihrem gelungenen Sieg. Ich soll Ihnen mitteilen, dass Sie für achtzehn Uhr in das Chefbüro zitiert worden sind. Außerdem wünscht Sie Herr Senjin zwölf Uhr zu sehen und weitere Themen Ihres Vertrages zu besprechen. Sollten Sie noch fragen haben, wenden Sie sich an die Personalabteilung oder kommen Sie einfach zu mir. Ich werde Ihnen gerne helfen."

Seit wann spricht Blondie mehr als zwei Worte mit mir?

"Ich werde es mir merken", entgegnete Rin mit einem Nicken. Dann setzte sie ihren Weg fort. Vorbei an der großen Digitaluhr, die ihr sagte, dass sie noch genug Zeit hatte.

Und nun?

Warum war sie nochmal so früh aufgestanden? Im stetigen Kampfschritt durchquerte sie die Schließfächer der Mitarbeiter. Als dann noch ihr Magen in krampfhaften Schüben zu rebellieren begann, war ihre Laune weit unterhalb des Erdgeschosses. Sie verstand nicht, was alle Welt von ihr wollte. Warum noch mehr Meetings, wieso diese sinnlosen Analysen und Besprechungen. Rin hatte gerade die erste Vorrunde bestanden, sie musste erst einmal wieder Kräfte sammeln, wieder zur Besinnung kommen und nicht in den nächsten Trubel gerissen werden. Und jetzt auch noch Kaiba persönlich, der sie zu sprechen wünschte. Sie biss sich auf die Lippen, ermahnte sich, nicht an ihren Traum zu denken und beschäftigte sich mit dem Inhalt ihres Spinds, in dem bereits ein neuer Gehaltszettel auf sie wartete.

Und das hier?

Ein weiterer, weitaus schmalerer Briefumschlag lag direkt darunter. Der Inhalt fühlte sich fester an, fast so…

Eine DuelMonster Karte?

Eindeutig war das lizensierte Hintergrund-Logo zu erkennen. Rin drehte die in Folie gelegte Karte um und erschrak ein weiteres Mal an diesem Tag. Ihr Kopf arbeitete, während ihr Herzschlag bereits schneller war und Luftsprünge vollführte. Ihre Augen verschlangen das Bild, fingen es mit einem aufspringenden Blitzen auf. Noch nie hatte sie diese Karte in den Händen gehalten.
 

Die Fallenkarte Kartenvernichtungsvirus war keine gewöhnliche Karte. Sie gehörte der Seltenheitsstufe eins an - eine Seltenheit, die nur Raritätenkarten der ersten Editionen besaßen. Diese Falle gab es damals nur in einem Boosterpack, in sehr geringer Stückzahl. Sie kannte nur einen Duellanten, der im Besitz dieser Karte war. Ein Schauer durchfuhr der Braunhaarigen, die noch nicht ganz fassen konnte, dass sie gerade ihre Lieblingskarte in den Händen hielt. Abgesehen von ihren Drache-Monstern gehörte diese Falle zu ihren absoluten Favoriten. Zusammen mit einer weiteren Karte aus ihrer Sammlung könnte sie nun ihre Lieblingskombi ausprobieren - die ultimative Vernichtungsstrategie.
 

Langsam kam sie zu sich. Vorsichtig griff sie nach ihrer Duellbox, die sie zuvor an einem ledernen Gürtel um ihre Hüften geschnallt hatte, öffnete diese und verstaute ihre neueste Errungenschaft in die Nähe ihres weißen Nachtdrachen.

Sie schloss behutsam die Box. Später würde sie das hübsche Ding genauer untersuchen. Wenn sie Zeit und Ruhe fände, vielleicht nach der Besprechung mit ihrem Vorgesetzten.
 

"Sie machen Scherze, Senjin", Rin schüttelte den Kopf (für einen einzigen Tag, der sich noch nicht einmal dem Ende geneigt hatte, hatte sie das heute schon sehr oft tun müssen). Doch diesmal grenzte es an puren Spott.

"Aber nicht doch", lächelte sie ihr Gesprächspartner an - ein falsches, nie dagewesenes Lächeln, das Rin innerlich schütteln ließ. Zwar kannte sie den verängstigten Ausdruck, den ihr Vorgesetzter gerne einsetzte, sobald sein Boss zugegen war; nur nicht, dass er Rin in einer ähnlichen Weise gegenüber saß. Fast schon freundlich, dass es einem die Kehle hochkam.

Langsam verstehe ich, warum Kaiba immer so dreinblickt. Wenn ich mir vorstelle, jeden Tag so angesehen zu werden, kann man ja nur noch eklig werden.

"Frau Yamamori", setzte Senjin erneut an, sichtlich bemüht seine Laune beizubehalten, "dieser neue Vertrag", er zeigte auf das Schriftstück, welches er näher zu ihr hinschob, "ist deutlich zu ihren Gunsten. Ein paar zusätzliche Klauseln bezüglich Geheimhaltung und Verpflichtungen, aber das versteht sich von selbst."

"Das sehe ich", nur zu deutlich sprang ihr die Gehaltssumme entgegen. Ganz so ähnlich hatte ihr Kontoauszug ausgesehen. Sämtliche Farbe wich aus der jungen Frau, dass sie ihm den Vertrag zurück schob: "Aber ich kann diesen Bedingungen nicht zustimmen." Senjin starrte sie perplex an: "Sie scheinen nicht zu verstehen, Frau Yamamori."

"Doch, das tue ich und ich lehne eine Gehaltserhöhung ab."

"Wa-? Ich verstehe nicht ganz."

"Ich habe bereits eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben...mehrmals, wenn ich mich recht entsinne. Meine derzeitigen Konditionen entsprechen eher meinen Wünschen. Ich sehe keinen Grund, meinen jetzigen Vertrag aufheben zu lassen."

Ihr Gegenüber schien die Informationen nur sehr langsam zu verarbeiten.

"Sie…", ein Schweißtropfen rann seine Schläfe hinab, "Sie können nicht ablehnen...Ich meine, es wäre ein Fehler, sich diese Chance entgehen zu lassen. Ich glaube nicht, dass Herr Kaiba", er schluckte schwer, "ein zweites Mal so großzügig sein wird."

"Sagen Sie Herrn Kaiba, dass ich die aufgeführten Aufgabenfelder gerne ausführen werde, ich jedoch keinen Grund sehe, einer neuen Vertragsordnung zuzustimmen." Senjin kämpfte mit dem letzten Funken Freundlichkeit, den er aufbringen konnte: "Ich habe noch nie erlebt, dass sich jemand wehement gegen eine Gehaltserhöhung sträubt", er betonte seinen Unglauben, indem er heftig mit dem Kopf schüttelte. Rin interessierte wenig, was ihr Gegenüber von ihr dachte. Noch vor wenigen Wochen war sie wie ein naives Mädchen behandelt worden. Jetzt schien man ihr die Füße lecken zu wollen. Bereits seit Rin das Büro betreten hatte, wirkte Senjin um hundertachtzig Grad gewandelt. Scheinbar schien die gesamte Belegschaft einen Wechsel erfahren zu haben, der für Rin nicht an Speichelleckerei zu überbieten war - zumindest in ihrer Welt, in der Leute wie sie zu den Arschkriechern zählten und nicht umgekehrt.

Gerade dieser abrupte Wandel ließ die junge Frau innerlich kochen. Sie wollte einfach nur normal und ihren Fähigkeiten entsprechend behandelt werden. Scheinbar war in der Welt von DuelMonsters nur das eine oder andere möglich.

"Ich bleibe bei meiner Entscheidung", dabei sah sie Senjin mit einem Blick des Endgültigen an, dass dieser sich auf die Lippen biss, bevor die Stimme der Resignation aus ihm sprach: "In Ordnung. Ich werde es so weiterleiten. Damit wäre alles gesagt worden."

"Gut", damit erhob sich Rin und wappnete sich bereits für die nächsten Heuchler, denen sie bis zum Feierabend über den Weg laufen würde.
 

Laut stieß sie die Luft aus, nachdem sie die letzten Besprechungen hinter sich gebracht hatte und sich auf einem der Plastikstühle niederließ, welche zum Standardequipment der Firmenkantine zählte. Bis auf ein paar Bilder der Hafencity, die wohl aus dem letzten Jahrhunderts geschossen worden sein mussten, wurde die Halle sehr kahl und trostlos gehalten. Dies war auch der Grund, warum Rin bisher keinen Fuß in diese düstere Halle gesetzt hatte - es spiegelte nur die Stimmung der Mitarbeiter wider; die leeren Gesichter und ausdruckslosen Mienen, dass Rin allein bei dem Gedanken der Appetit verging. Doch heute war sie dankbar, nicht das Kaiba Building verlassen zu müssen. Nachdem sie die letzte Nachricht von Lumina gelesen hatte, wollte sie nicht länger als nötig einen Fuß hinaussetzen. Zwar waren es nur ein paar Schritte bis zum Café, doch heute war ihr wenig nach Plaudereien zumute, dass sie keine gute Gesellschaft abgegeben hätte.
 

Nachdem sie eine Hühnersuppe bestellt hatte und an einem der rund hundert Tische Platz genommen hatte, zückte sie ihr Smartphone heraus und blätterte die Nachrichten durch. Nach einigen lästigen Mails und Kontaktversuchen Seitens alter Klassenkameraden, von denen sie seit Abschluss nichts mehr gehört hatte, las sie erneut Luminas Textfluss:
 

11:45Uhr "Schlechte Nachrichten: die Bekloppten belagern noch immer das Haus. Keine Ahnung, wo die alle herkommen, aber es scheinen nicht weniger zu werden."
 

13:30 Uhr: Okay, das wird hier scheinbar nichts. Ich musste mich in unserer Wohnung verschanzen. Sie haben mitbekommen, dass ich zu dir gehöre. Keine Ahnung, wann die verschwinden.
 

15:27 Uhr: Ganz im ernst: DAS WIRD NICHTS!!! Ich habe nächste Woche mündliche Prüfung verdammt!
 

15:29 Uhr: "Werde kurzfristig zu Hotaru ziehen. Du solltest dir auch eine Alternative suchen... wohnt nicht Yamato in der Nähe der Firma?
 

15:49 Uhr: Geh bloß nicht auf die Schlagzeilen des Tages!!! Auch wenn's dir schwer fällt: ruf Yamato an. An die Adresse deiner Eltern werden sie bestimmt auch schon gekommen sein.
 

16:03 Uhr: Auch wenn du eine Woche lang nicht mehr mit mir sprichst...ich hab Yamato geschrieben. Wenn er dir anbietet, bei sich zu wohnen (und wir wissen beide, dass er da tun wird), dann mach' es vedammt!
 

Geistesabwesend stocherte Rin in ihrer Suppe herum. So hatte sie sich den Ruhm nicht vorgestellt. Sie wusste, dass die Schwarzhaarige keineswegs zu Übertreibungen neigte, eher im Gegenteil. Es musste schon wild zugehen, dass Lumina bei ihrer Cousine Unterschlupf suchte. Für gewöhnlich pflegten die beiden einen distanzierten Kontakt zueinander, der lediglich an Geburts- und Feiertagen stattfand. Mies fühlte sich die junge Frau, die ihre Menschen scheue Freundin in einen derartigen Rummel verwickelt hatte. Sie schrieb ein paar Worte an den kleinen Wuschel, bevor sie sich Yamatos Nachrichten widmete. Wie Lumina bereits vorhergesagt hatte, bot er ihr ohne mit der Wimper zu zucken, einen Platz in seinem Zweizimmerapartment an. Die Nähe zur Kaiba Corporation und die Tatsache, dass sie nicht zu ihren Eltern konnte, selbst wenn sie gewollt hätte, ließ sie sämtliche Scham abwimmeln, die noch wie ein Rockzipfel an ihr hing und sie an die> alten Sitten< erinnerte. Ein einfaches ja und danke tippte die junge Frau ohne hinzusehen, bevor die Antwort auch schon versendet wurde. Langsam steckte sie ihr Telefon zurück in ihre Hosentasche, bevor sie sich dem einzigen Trost des Tages widmen konnte, der sie wenigstens wieder Lächeln ließ. In aller Stille - selbst die Dame hinter der Theke war bereits in ihren Feierabend gegangen - betrachtete sie ihr neues Geschenk. Noch immer durchzuckte sie ein Schaudern, noch immer verstand sie nicht, wie die Fallenkarte in ihrem Schließfach gelandet war. Ein Versehen konnte es unmöglich gewesen sein, wenn es auch nicht in ihren Kopf ging, wofür dieser Bonus gewesen sein sollte. Unheimlich war der Gedanke, dass jemand von ihrer Vorliebe gewusst haben könnte. Im Schein des künstlichen Lichts betrachtete sie die Reflektionen der Kartenhülle. Trotz des beinahe perfekten Zustandes war doch die ein oder andere Abnutzung zu sehen. An den Rändern, wenn man genau hinsah, ließ sich erahnen, in wie vielen Kämpfen diese Falle eingesetzt worden war.

Ich möchte zu gerne wissen, wer sie in mein Spind getan hat. Und nein, ich denke jetzt nicht an das Naheliegendste - noch bin ich nicht völlig verblödet.

"Na, du auch hier?" Ein dunkler Schatten stand direkt vor Rins Tisch, dass sie erschrocken die Karte umklappte und zu der Stimme hinauf sah. Mit einem breiten Grinsen, dass die braunen Augen zu funkeln begannen, sah der jüngere der Kaiba Brüder zu der jungen Frau herunter. In seiner rechten Hand hielt er zwei Colaflaschen, die er wohl aus dem Automaten am Seiteneingang besorgt hatte. Als die Braunhaarige zaghaft zurück lächelte, setzte sich der Schwarzhaarige einfach auf den gegenüberliegenden Stuhl, streckte die Beine lang und stellte eine der Flaschen neben Rins Suppenschale.

"Du siehst ganz schön geschafft aus", entgegnete der junge Kaiba und legte den Kopf schief, "etwa die Nacht durchgefeiert? Ich würde es dir nicht verübeln. Du hättest es dir echt verdient."

"Eher weniger", erwiderte die Braunhaarige und spießte ein paar der Udon-Nudeln aus der Brühe, "ich bin glaube nur etwas überfordert."

"Überfordert?", blinzelte der Wuschelkopf, "Wieso das denn?"

"Ach", sie schüttelte den Kopf und sah zur Decke, "ich weiß, dass ich nicht darüber jammern sollte...ich bin es einfach nur nicht gewohnt, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Dieser ganze Trubel wegen des Duells. Du hättest die Arschkriecher von Marketingexperten erleben müssen. Als wäre ich die Königin der Sammelkartenspiele."

Mokuba fing an zu kichern und öffnete den Schraubverschluss seiner Flasche: "Ich sehe es vor mir. Bestimmt haben sie dir erzählt, wie sie deine >Genialität< noch besser in Szene setzen können."

"So in der Art."

"So sind die immer, wenn sie frische Beute gewittert haben. Im Vergleich zur Presse werden sie aber harmlos gewesen sein."

"Presse…", Rin dachte an die Meute vor ihrer Wohnung. Ob sie immer noch dort Wache schoben?

"Meinst du", setzte Mokuba an, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, "du hast die Nachrichten noch nicht gelesen?"

"Meine Freundin meinte, ich sollte es lieber lassen."

"Findet sie? Die schreiben aber nur Gutes über dich."

"Lass' mich raten", auch Rin schraubte den Deckel ab, " Duellmadness "

"Die meisten Leute würden es begrüßen, mit meinem Bruder verglichen zu werden."

"Sicher", knirschte Rin mit den Zähnen, "ich hätte wissen müssen, dass so etwas passieren würde. Nach all den Jahren hat sich nichts geändert. Es ist meine Schuld. Sobald ich in einem Duell stecke, schalte ich alles um mich herum aus. Dann zählt nur noch der Sieg."

"Das kann man in deinen Augen sehen", nickte Mokuba ernst, "ich verstehe nur nicht, warum dich die ganze Aufmerksamkeit so überfordert. Schließlich arbeitest du doch schon seit Wochen darauf hin. Schon in Battle-City hast du ziemlich viel Aufmerksamkeit auf dich gezogen."

"In Battle-City", Rin stellte ihre leere Schale beiseite, "ich habe da völlig ausgeblendet, dass die Kameras laufen. Ich habe einfach nur meinen Job getan. Deshalb bin ich doch hier. Um mich zu duellieren und um zu gewinnen. Der Rest ist völlig nebensächlich", sie musste schmunzeln, "es ist eher lästig. Ich hätte nie gedacht, dass ich so empfinden würde, aber mir war es lieber als mich alle unterschätzt und nicht beachtet haben."

Mokuba prustete: "Der Zug ist definitiv abgefahren. Aber nimm' es nicht so schwer. Nicht jeder geilt sich so an seiner Beliebtheit auf wie es ein paar "Experten" tun. Yugi zum Beispiel: Er war anfangs viel zu schüchtern, obwohl ihn alle Welt als König der Spiele bezeichnet. Er lebt noch heute sein bescheidenes Leben im Spieleladen seines Großvaters. Du siehst, auch diese Seite ist möglich."

"Der König der Spiele", murmelte Rin, die sich nicht vorstellen wollte, wie viel Trubel um ihn herrschte- auch nach seiner DuelMonsters-Karriere. Mehr zu sich selbst murmelte die junge Frau: "Der König der Spiele hat auch sicherlich nichts dagegen, wenn man seine Monsterkarten spielt."

"Ich kenne auf jeden Fall jemanden, der das weniger entspannt nimmt", Mokuba grinste schief, dass Rin zügig ein paar Schlücke nahm.

"Ich weiß, dass er mich noch köpfen wird."

"Das denke ich nicht."

Rin sah ihn mit aufgerissenen Augen an: "Ich habe in knapp einer Stunde einen Termin. Sicher wird er mich nicht sehen wollen, um mir zu gratulieren."

"In einer Stunde sagst du?", der Schwarzhaarige kratzte sich am Kopf, "bist du dir sicher?"

"Ich habe es mehrmals bestätigt bekommen."

"Hm", Mokuba verschränkte die Arme vor der Brust, "um diese Zeit bestellt er in der Regel niemandem zu sich. Er ist nach Feierabend nur noch mit seiner...Arbeit beschäftigt. Wenn er dich also wirklich sehen wollte, dann wird es nur etwas Geschäftliches sein, dass sich nicht aufschieben lässt." Mehrmals tippte sich der junge Kaiba ans Kinn, als könnte er noch nicht ganz glauben, dass Rin sich nicht vertan hatte: "Mach' dir keine Gedanken", damit bekam sein eher rundes Gesicht sein gewohntes Lächeln zurück, "Seto ist nicht sauer auf dich. Ich kenne meinen Bruder: wenn er wütend ist, sieht es ganz anders aus und er hätte es dich auch sofort wissen lassen. Sicher, er wird nicht begeistert gewesen sein, aber er respektiert Spieler mit Selbstbewusstsein und Mumm."

Respekt. Ist das wirklich möglich?

"Danke Mokuba", lächelte sie ihn an, "du hast mich daran erinnert, wieso ich überhaupt Duellant geworden bin."

Mokuba hob grinsend die halbleere Flasche hoch: "Ich danke dir. Es hat Spaß gemacht zu sehen, wie du die Ehre unserer Firma verteidigt hast. Ich glaube, nicht einmal Seto hätte es besser hinbekommen können. Ich bin froh, dass du zu unserem Team gehörst."

"Ich auch", erwiderte Rin, bevor sie mit dem schwarzhaarigen Wuschel anstieß.

"Dieses Duell hat alles verändert", schüttelte Josuke Nagawa mit dem Kopf und rückte seine Brille zurecht, "wir müssen eine neue Strategie entwickeln."

"Und das ganze Konzept verwerfen?", entgegnete Maki Kamizake. Er fasste sich durch seinen korrekt geschnittenen Pony. Niemand stellte seine Werke in Frage!

"Welches Konzept?", lachte Josuke, der Chef der Social Media Abteilung, auf, "du meinst wohl eher, deine schwammigen Versuche. Statt du dich einfach an die Vorlagen gehalten hättest-"

"Du machst wohl Witze! Versuche doch du mal innerhalb von Stunden einen komplett neuen Menschen zu kreieren-"

"Es reicht", die ruhige Stimme des Chefs der Kaiba Corporatio ließ die beiden Streithähne augenblicklich verstummen. Innerhalb der letzten Minuten hatten sie verdrängt, dass sie in Seto Kaibas Büro heran zitiert worden waren. Die heutige Thematik hatte sie vergessen lassen, dass der junge Firmenchef derartige Unterhaltungen nur schwer ertragen konnte. Die Schwelle der Geduld war ein Balanceakt, den nur wenige zu meistern wussten.

Mit gefalteten Händen, die vor seinem Gesicht platziert waren, saß er kerzengerade in seinem Bürosessel. Die Beine übereinander geschlagen könnte man annehmen, er hätte eine entspannte Position eingenommen. Sein eiskalter Blick verriet nur zum Teil die Strenge und Konzentration, die dahinter verborgen lag. Ein leichtes Blitzen seiner Iris ließ seine Mitarbeiter wissen, dass etwaige Kommentare zu unterbinden waren. Sie wussten, dass jedes weitere Wort auf die Goldwaage gelegt wurde - es galt Vorsicht walten zu lassen.

Als die gewünschte Ruhe einkehrte, wanderte Seto Kaibas Blick zu seinem Medienexperten. Josuke Nagawa räusperte sich und tat eine leichte Verbeugung - die einzige Reaktion, die ihm sinnhaft erschien, obwohl Schleimereien jeglicher Art von Seto Kaiba weniger toleriert, denn als übler Beigeschmack seiner Genialität und Machtposition hingekommen wurden, dass es kaum Wirkung zeigte (außer ein genervter Blick, der jedoch um einiges angenehmer war als von seinen eiskalten Augen getroffen zu werden). Jeder Angestellte von Kaiba Corp. fürchtete um jenen hasserfüllten Blick, der Nahe an der Grenze des Gefeuert-werdens schwebte und daher der Begriff >Todesblick< gar nicht so weit hergeholt schien.

"Ich habe", begann Kaiba, dessen Stimme selbst bei leiser Lautstärke ein Beben hervorrufen konnte, "Sie nicht in mein Büro gerufen, damit Sie darüber diskutieren, wer von Ihnen der Dümmere ist. Den Platz verschenke ich gerne an Sie beide."

Seine Augen wanderten zu seinem Schreibtisch herunter, auf dem ein Tablet die Schlagzeile des Tages präsentierte. Seitdem er das Chefbüro betreten hatte, fixierte ihn das kleine quadratische Gerät. Die Bilder schienen ihn dazu anstacheln zu wollen, die Aufmerksamkeit alleine für sich zu beanspruchen.

"Ich habe Sie hergeholt, damit Sie sich etwas einfallen lassen. Oder wollen Sie, dass ich das für Sie übernehme?"

"Na-natürlich nicht, Herr Kaiba", lächelte Josuke. Auch sein Imagedesigner, Maki Kamizake, nickte eifrig. Beide wippten leicht mit dem rechten Fuß, die Blicke waren weniger zu ihrem Boss gerichtet, dass sie mehr durch ihn hindurch sahen, in der Hoffnung, keinen Blickkontakt hervorzurufen.

"Die Presse ist sich noch uneins", sagte Kamikaze - als ob Kaiba nicht selbst zwischen den Zeilen lesen könnte! Beiläufig wanderten seine Augen zum Tablet. Das Titelblatt der Tageszeitung zeigte Rin Yamamori in ihrem letzten finalen Angriff. Die linke Hand nach oben gestreckt, dass wieder einmal das Firmenlogo wie eine versteckte Werbung aussah - besitzt du wirklich so viel Berechenbarkeit, Yamamori?. Genau darüber der weiße Drache - sein weißer Drache. Sein Markenzeichen, seine Definition, sein Monster. Kaibas Augen bekamen dunkle Schatten als er daran dachte. Diese Frau! Mit allem hatte er gerechnet. Nur nicht, dass sie es tatsächlich wagte, seine Monster aufs Feld zu holen - noch dazu aus seinem Deck. Jedem anderen hätte er den Kopf abgehackt. Jedem die Maßlosigkeit seiner Arroganz und Dummheit büßen lassen. Auf die junge Frau mit den stechend grünen Augen, die so viel Wahnwitz und Überlegenheit ausgestrahlt hatten, hatte er jedoch nichts entgegen bringen können. Sie hatte das Duell gewonnen - seine einzige Anweisung an sie. Die Art, mit der sie gekämpft hatte, ihr Blick, mit dem sie ihren Gegner ausgeschaltet hatte - er musste ihr einräumen, dass sie durchaus in der Lage war, einen weißen Drachen mit eiskaltem Blick zu kontrollieren.

Was ihr immer noch nicht das Recht gibt, meine Karten zu benutzen...aber sei' es drum. Es wird sich noch herausstellen, wie viel Berechnung dahinter steckte.

Kaiba musste zugeben, dass die junge Frau immer schwerer zu durchschauen war. Wo sie anfangs ein offenes Buch war, zeigten sich nach und nach undichte Stellen, von welchen er hoffte, sie bald beseitigen zu können. Kurz schweiften seine Gedanken ab. Zu seinem neuen System und daran, wie er aus Rin die nötigen Informationen entlocken könnte. Heute Abend würde er mit den Forschungen beginnen, ob sie nun den neuen Vertrag unterzeichnete oder nicht. Seine Mundwinkel zuckten. Der junge Firmenchef hasste es Kontrolle zu verlieren. Er würde sie schon noch nach den Gründen fragen, die sie dazu trieben, seinen neuen Auflagen nicht Folge zu leisten.

Sie soll bloß nicht auf dumme Gedanken kommen und glauben, mich in irgendwelche Spielchen verwickeln zu können.
 

"...die Meinung der Presse zu nutze machen", erst jetzt nahm er Nagawas Stimme wieder wahr. Das zittrige Unterwerfende überhörte der Chef der Kaiba Corporation schon gerne einmal.

"Die Presse", wiederholte Kaiba und überflog aus dem Augenwinkel die Schlagzeilen. Noch spalteten sich die Tages- und Klatschblätter. Die einen sahen in Rin Yamamori so etwas wie einen Nachfolger Seto Kaibas, während andere bereits von einem neuen König der Spiele sprachen. Kaiba kam das eine abstruser als das andere vor. Er wusste nur zu gut, dass die Presse Vergleiche liebte, vor allem Großspurige und völlig an den Haaren herbei gezogene.

Diese Idioten können nie den Ball flach halten.

"Und von welcher Meinung sprechen Sie?", Kaibas Worte waren nicht als Frage zu verstehen, trotzdem antwortete sein ihm vertrottelter Untergebener: "Für die Kaiba Corporation ist das ideale Aushängeschild selbstverständlich der blauäugige weiße Drache. Die Fans haben gestern eindeutig gezeigt, zu wem sie stehen. Eine Rückkehr zu den alten Spielen, wäre die perfekte Gelegenheit, die neue Generation der DuelDisk an den Start zu bringen."

"Sie wollen Rin zu einer Kopie meines Bruders machen?", schaltete sich zum ersten Mal der jüngere Kaiba in die Unterhaltung ein. Seit der späten Mittagsstunde - zu Beginn des Meetings - hatte der Schwarzhaarige stumm neben seinem großen Bruder gestanden. Mokuba war für seine Verhältnisse still und nachdenklich gewesen, was Seto Kaiba nur sehr selten erlebte. Umso euphorischer kamen die Worte aus seinem kleinen Bruder. Dass sein Marketingexperte mit einem Lächeln zu nicken begann, schien dem jungen Kaiba noch weniger zu passen.

"Natürlich wird sie nur eine billige Kopie werden. Es kommt schließlich niemand an Ihre Duellfähigkeiten heran, Herr Kaiba. Aber für gewöhnlich reicht es der einfachen Bevölkerung, wenn man ihnen einen Knochen hinhält."

"Das kann nicht Ihr ernst sein!", erhob der schwarzhaarige Wuschelkopf seine Stimme, "Seto, bitte. Lass' das nicht zu." Nagawa jedoch schien geradezu beflügelt von seiner eigenen Idee: "Die Tatsache, dass Frau Yamamori hauptsächlich mit Drache-Monstern spielt und mit ihrem Auftreten mehr als deutlich provoziert, sollten wir zu unserem Vorteil nutzen. Ihre wachsende Beliebtheit können wir ganz gezielt darauf lenken. Die Fans werden mit Freude darauf anspringen und dementsprechend die Produkte kaufen."

"Wenn ihr sie einmal in diese Richtung vermarktet, wird es kein Zurück mehr geben. Das können wir nicht zulassen", Mokuba ballte die Hände zur Faust und sah aufgeregt zu dem jungen Firmenchef herunter, der bisher nichts an seiner Haltung geändert hatte.

"Für den Moment", Josuke Nagawa verschränkte die Arme vor der Brust als hätte er bereits die Diskussion für sich entschieden, "ist es die lukrativste Lösung, die uns schnelles Geld liefert. Wir müssen auf den Zug aufspringen, solange dieser Hype anhält."

"Nein", schüttelte der Jüngere der Kaiba mit dem Kopf, dass sämtliche Strähnen durch alle Himmelsrichtungen gingen, "die Firma macht auch so Riesengewinne, ohne dass wir dafür ein Double brauchen."

"Mokuba hat recht", entgegnete schließlich Seto Kaiba selbst. Er spürte, wie sein Bruder erleichtert aufatmete. Warum hatte sich der Jüngere so in Rage geredet? Der mächtige CEO lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und fuhr fort: "Wie Sie selbst sagten, ist diese Lösung nur auf kurz Geld einbringend. Publikum und Presse sind launisch, die Stimmung kann schnell kippen, besonders wenn Yamamori nicht unter die top drei kommen sollte."

"Es bleibt aber die effektivste Lösung", versuchte Nagawa seine Idee zu retten.

"Sie meinen, die einfachste Lösung für Sie", Kaiba formte seine Augen zu Schlitzen, dass der Leiter der Social Media Abteilung nicht mehr darauf konterte. Wenn Mokuba Kaiba ein Veto einsetzte und Seto Kaiba dem zustimmte, war die Schlacht endgültig verloren. Betreten sah Josuke Nagawa zur Seite - wie ein betröppelter Hund, den man zu lange im Regen stehen gelassen hatte. Noch länger würde der junge CEO nicht diese Meute an kindischer Inkompetenz ertragen.

"Trotzdem", damit neigte Seto Kaiba leicht seinen Kopf, dass er zu dem Jüngeren hinauf sah, "es wäre Verschwendung, den derzeitigen Rummel nicht zu unserem Vorteil zu nutzen."

"Weißt du", sagte sein Bruder und bekam die Leichtigkeit in seiner Stimme zurück, "du solltest Rin einfach so weitermachen lassen. Ich meine, bisher hat sie doch auch alles richtig gemacht. Ganz ohne Experten. Noch hat es keinem genützt, bloß eine Kopie von jemandem zu sein. Wenn wir sie ihren Weg gehen lassen, wird sich ihr Image von selbst finden."

"Bei allem Respekt, junger Master", schaltete sich Maki Kamizake ein und schien noch weniger von der Tatsache begeistert, von seinen Aufgaben ausradiert zu werden, "die Stars von heute werden nicht >einfach so< geboren. Die Zeiten, in der Sympathie und Charisma zählten, sind längst vorbei. Die Leute wollen Kunstwerke sehen, die den Anschein vermitteln als wäre ihr Auftreten ganz selbstverständlich und natürlich. Kaum einer schafft es heutzutage noch, sich massentauglich zu verkaufen. Rin Yamamori ist viel zu jung und ohne jeglichen Einfluss als dass ihr Image von selbst entstehen könnte. Jemand ohne richtiges Profil geht in der Medienwelt unter wie ein Anker ohne Seil." Der junge Firmenchef wusste, dass Maki recht hatte. Zudem konnte er sich nur schlecht damit anfreunden, alles Weitere dem Zufall zu überlassen. Noch bevor Mokuba in erneute Aufregung geriet, hob der Ältere den Arm: "Fürs erste", begann er, "konzentrieren wir uns auf das Aushängeschild der Kaiba Corporation und der baldigen Vermarktung der neuen DuelDisk. Vorerst ignorieren wir die Meinungen der Presse. Wenn sie glauben, eine Verbindung zu erkennen, sollen sie darüber schreiben. Für den Verkauf wird es sicherlich hilfreich sein. Wir werden aber kein weiteres Futter darauf geben, haben Sie mich verstanden? ...Gut. Bis sich ein deutlicher Kurs abzeichnet, wird Yamamori lediglich das Gesicht der neuen Generation. Nächste Woche sind die Entscheidungsduelle. Die restlichen Tage will ich ihr Gesicht mit der Kaiba Corporation in Verbindung sehen - und zwar auf sämtlichen Werbeplakaten der Stadt. Inklusive aller Kaiba Stadien. Holen Sie, Nagawa, jegliche Ressourcen heran und bringen Sie sie auf jedes Cover jedes verfluchten Magazins. Seien Sie schneller als der restliche Presserummel. Und Sie, Kamizake", leicht wanderte sein Blick zu dem Imagedesigner, "Sie überlegen sich, wie man Yamamoris Auftreten noch besser in Szene setzen kann. Ihre Art sich zu duellieren soll sich in ihrem gesamten Auftreten widerspiegeln. Was die Leute hinein interpretieren, interessiert mich nicht. Hauptsache, es zeigt seine Wirkung. Und kommen Sie nie wieder auf die Idee, mir eine Blondine anschwärzen zu wollen!"

"Ich habe verstanden, Herr Kaiba", verbeugte sich Kamizake. Mit dem Ergebnis war er nicht zufrieden, doch gab er sich fürs erste damit ab. Alles war besser als nicht mehr gebraucht zu werden.

"Gut", Kaiba schloss die Augen. Wieder einmal hatte er sich selbst um die Angelegenheit kümmern müssen. Manchmal fragte er sich, warum er so viele Angestellte beschäftigte, wenn er am Ende alles selbst machen musste. Seine Nerven waren gereizt. Am liebsten hätte er sich die Schläfen massiert. Ein Klopfen an der Tür lenkte ihn kurzzeitig ab.

"Isono", stellte Kaiba trocken fest. Sein engster Mitarbeiter verneigte sich ehrfurchtsvoll vor seinem Boss, bevor er Mokuba mit einer weitaus weniger ausladenden Neigung seines Hauptes begrüßte.

"Hast du dich um das Problem kümmern können, Isono?"

"Es ist alles erledigt, Herr Kaiba", antwortete sein treuester Bediensteter, "ich habe mit den Herrschaften der Presse verhandelt und ihnen mitgeteilt, dass eine Belagerung vor der Kaiba Corporation nicht geduldet wird und ernsthafte Konsequenzen nach sich zieht, sollten sie den Forderungen nicht unverzüglich Folge leisten. Die Unannehmlichkeiten des heutigen Morgens werden sich kein weiteres Mal wiederholen, Herr Kaiba. Sie haben mein Wort."

"Sehr gut" - wenigstens etwas, dass funktioniert , "du kannst gehen. Und was Sie beide betrifft", Kaiba hielt es nicht einmal mehr für nötig, einen von ihnen anzusehen, "machen Sie sich heute noch an die Arbeit. Morgen will ich sehen, dass Sie mich nicht nur nachäffen können, sondern Ihre Köpfe selbst anstrengen. Sonst werde ich mir ab nächste Woche ein neues Team zusammenstellen."

"Jawohl", beide verbeugten sich - der eine mit hochgerötetem Gesicht, während der andere alle Mühe hatte, seine Brille auf der mit Schweißperlen benetzten Nase zu behalten. Beim Hinausgehen stolperten sie beinahe über ihre Beine, sahen sich mit grimmigen Mienen an und unterdrückten jegliche Kommentare, bevor sie nicht das Büro außer Hörweite hatten.

Neben dem jungen Firmenchef begann Mokuba tief zu seufzen: "Bin ich froh, kein Profiduellant zu sein."

"Kannst du mir sagen, was das sollte?", der Ältere schob das Tablet beiseite und holte aus dem unteren Schubfach seinen Laptop hervor. Der Schwarzhaarige sah ihn fragend an: "Was meinst du?"

"Dein Verhalten", entgegnete Seto trocken, "es war unprofessionell... und kindisch von dir."

"Ich habe nur die Wahrheit gesagt!", verteidigte sich der Jüngere und setzte sich auf den Schreibtisch.

"Du scheinst zu vergessen, dass Yamamori eine unserer Angestellten ist - deine subjektive Meinung sollte nicht vor allen anderen ausposaunt werden." Damit widmete sich der junge Firmenchef seinem Aufgabenberg, den er bis achtzehn Uhr noch soweit abgearbeitet haben wollte, dass er seine Gedanken nicht ständig darum kreisen lassen musste.

"Aber Seto-", setzte Mokuba an und wurde augenblicklich von seinem großen Bruder unterbrochen: "Nichts aber. Du solltest jetzt nicht damit anfangen, dir innerhalb der Firma neue Freunde zu suchen. So etwas lässt deine Autorität schwammig erscheinen."

"Du bist der Chef, nicht ich", erwiderte Mokuba und sprang vom Schreibtisch auf, "und darum", er streckte die Hände aus und ließ den Älteren damit wissen, dass er nicht länger darüber reden wollte, "werde ich jetzt noch den Automaten von der Kantine plündern und dann nach Hause gehen." Vor der Bürotür nahm er sich seine Jacke vom Haken. Kurz sahen seine braunen Augen zu dem Mantel seines Bruders: "Wirst du heute wieder an deinem großen neuen Projekt arbeiten?" Ein leichter Anflug von Hoffnung schwang in der Frage mit. Hoffnung, sein Bruder würde heute vor Mitternacht nach Hause kommen und wenigstens für eine Nacht zur Ruhe kommen. Seto sah über seinen Laptop direkt zu dem Jüngeren: "Die neue Technologie hat oberste Priorität, Mokuba. Wenn sie bis Ende nächsten Jahres in den Verkauf gehen soll, muss ich jede freie Minute nutzen."

"Aber ich dachte", murmelte Mokuba und sah zu Boden, "die Alpha-Testphase sei längst abgeschlossen und dass die Duellanten der Vorrundenentscheide das System bereits gut aufnehmen."

"Mokuba", seufzte Seto, "das neue virtuelle System muss zu hundert Prozent funktionieren und absolut sicher sein. Nur weil ich ein paar Subjekte damit rumspielen lasse, heißt es nicht, dass das System allen Ansprüchen gerecht wird. Außerdem bekommen die meisten von ihnen lediglich fünfzehn Prozent der eigentlichen Leistung zu spüren. Aber das System soll mit hundert Prozent an den Markt gehen. Dafür brauche ich einfach die Zeit."

"Verstehe", sagte Mokuba, der sich manchmal einen weniger genialen Bruder wünschte. Einen, der Zeit hatte. Sich weniger um das große Ganze kümmerte und dafür einfach nur ein großer Bruder war.

"Dann versprich' mir wenigstens, dass du es nicht übertreiben wirst. Ich will nicht, dass mein großer Bruder irgendwann tatsächlich in der Cyber-Welt gefangen ist, weil er vergessen hat, sein Empfinden für Zeit wieder einzustellen." Dem jungen CEO entfleuchte ein Lächeln: "Ich bin doch nicht Noah. Also mach' dich nach Hause, bevor du auf dümmere Ideen als diese kommst."

Er war das erste Mal seit Stunden wieder allein. Genau das, was er wollte. Zu viele Menschen raubten ihm einfach zu viel Zeit und zu viele Nerven. Nichts, was er gebrauchen konnte - gerade jetzt.
 

Man könnte meinen, Seto Kaiba wäre es gewohnt, die Gegenwart von Heuchlern und schmierigen Arschkriechern zu ertragen. Bereits seit seiner Kindheit, während etlicher Veranstaltungen, an denen er seinen Stiefvater begleiten musste, begriff der einstige Sprössling, dass Macht und Geld Menschen aus sämtlichen Schichten anzog. Besonders diejenigen, die meinten, eine ebenso glänzende Zukunft stünde ihnen bevor. Dass sie denselben Anspruch darauf hätten. Der junge Seto Kaiba hatte damals alles genau beobachtet und schnell festgestellt, dass diese Menschen nur als Fußabtreter zu gebrauchen waren. Denn im Grunde genommen boten sie sich genau dazu an - mit einer Hingabe, die Kaiba die Galle hoch rutschen ließ. Er verstand die Gründe, konnte sich jedoch nie damit identifizieren. Zu selbstständig war der bereits heranwachsende Sprössling, zu abgeklärt und auf sich selbst fokussiert als dass er um andere herum geschlichen wäre.

Nachdem schließlich Gozaburo Kaiba von der Bildfläche verschwunden war und Seto Kaiba die Führung übernommen hatte, richteten sich alle Blicke auf den jungen Firmenchef. Schnell war die alte Regentschaft der Kaiba Corporation vergessen. Es zählte nur noch das Wohlgefallen Seto Kaibas für sich zu gewinnen. Seine Aufmerksamkeit und Anerkennung gleichermaßen. Seitdem war er ständig von Leuten umringt, die ihm Honig ums Maul schmierten, ihm nachliefen, seine Worte wie eine Predigt wiederholten. Die ständige Präsenz seiner Untergebenen wurde Seto Kaiba immer mehr zu einer unumgänglichen Notwendigkeit. Dieselbe Leier Tag täglich, dass er nicht mehr mitzählte. Dabei war es der mächtige CEO gewohnt, für sich zu sein. Alleine seinen Studien nachzugehen, alleine zu arbeiten, alleine Entscheidungen zu fällen. Jeder Weitere war bloß ein Anhängsel, ein Übel, dem er sich nicht entziehen konnte, da sich eine Firma nun einmal nicht alleine führen ließ - auch wenn es sich für ihn manchmal so anfühlte. Er brauchte die Schleimer, die die Drecksarbeit für ihn erledigten. Die Möchtegern-Spezialisten, wo sich jeder für den größten hielt und wodurch keiner dem anderen traute, dass sich Kaiba seiner Loyalität gewiss sein konnte. Jeder hing an einer Kette, an dessen Ende der junge Firmenchef seine Zügel in den Händen hielt. So war es schon immer und würde in Zukunft auch so bleiben.
 

Mit flinken Fingern flog er über die Tastatur. Beantwortete Mails, sah die Bilanzen des letzten Monats durch und überflog zwischendurch die Aktienkurse. Das Tippen über die einzelnen Zeichen, gab dem jungen Firmenchef ein beruhigendes Gefühl. Solange dieses in seinen Ohren widerhallte, gab es keine weiteren störenden Geräusche um ihn herum. Seto Kaiba brauchte keine Meditationen - nur einen Rechner und völliges Ungestört-sein. Mit der linken Hand schob er den Berg an Verträgen, Anträgen und Konzepten näher an sich heran. Hin und her wanderte sein Blick - von dem Papier zurück zu dem Bildschirm. Sein Kopf verarbeitete das eine, während schon die Augen das nächste in Angriff nahmen. Schließlich hatte er nicht viel Zeit. Kaum eine Stunde bis er sich dem Herzstück seiner Arbeit widmen würde.
 

Hm

Bewegungen außerhalb seines Büros lenkten ihn kurz ab. Hinter der Tür aus durchschimmernden Glas konnte der junge Firmenchef einen Schatten ausmachen. Einzelne Schritten drangen sogar bis in sein gut isoliertes Büro durch. Das Klappern der Absätze ließ ihn immer ein Bild im Kopf entstehen - irgendwie herrisch und gleichzeitig von Disziplin geprägt wie es einem folgsamen Soldaten entsprach. Nur eine Frau besaß solch einen Schritt. Rin Yamamori hatte sich vor den Schreibtisch seiner Sekretärin gestellt. Mit einem Lächeln begrüßte diese seine Duellantin. Kurz unterhielten sich die beiden Frauen, bevor seine Sekretärin schließlich in ihren Feierabend ging. Daraufhin wandte sich die Braunhaarige ab, steuerte das weiße Ledersofa an und setzte sich. Kaibas Blick schweifte zurück zu seinem Rechner. Yamamori war früh dran. Eine ganze halbe Stunde zu früh. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn jedoch stark an seinen eigenen - als hätte sie jemand unnötig warten lassen. Kaiba presste die Lippen zusammen. Er würde jetzt nicht damit anfangen, sich nach anderen zu richten. Wenn sie so früh auftauchte - ihr Pech!

Schneller hämmerten die Finger über jeden Buchstaben. Fest umklammerte die andere Hand den Kugelschreiber, dass das Weiß seiner Knöchel hervortrat. Mit harten, geschwungenen Linien unterzeichnete er die Blätter und verstaute sie in eines der Schubfächer. Noch zehn Minuten. Kurz überlegte er, Rin noch etwas länger warten zu lassen. Kaiba juckte es in den Fingern, sich irgendwie dafür zu revanchieren, dass sie seine Weißen gespielt hatte. Er konnten diesen Fakt nicht einfach so stehen lassen. Es störte ihn mehr als er zugeben wollte. Lediglich die Tatsache, dass er vorhin seinem Bruder wegen seines kindischen Verhaltens eine Standpauke gehalten hatte und nun selbst dabei war, etwas Kindisches zu tun, ließ ihn seinen Laptop zuklappen.

Perfektes Timing

Die junge Frau hatte ihr Smartphone am Ohr. Ihre Lippen bewegten sich, sehr zaghaft, dass er sich sicher war, dass sie flüsterte. Ihre Miene verfinsterte sich, selbst aus dieser Entfernung sah er die Anspannung in ihren Zügen. Dabei hatte sie ihr Gesicht bewusst von der Bürotür abgewandt. Das Sofa war so ausgerichtet, dass Kaiba jeden Neuzugang genauestens studieren konnte. Innerhalb der letzten dreißig Minuten hatte Rin kein einziges Mal zur Tür geblickt und stattdessen die Wanduhr fixiert. Dass er dieses Detail bemerkte, schob er auf seine Fähigkeiten, seine Blicke überall zu haben und nicht, weil er die Braunhaarige beobachtet hätte.

Kaiba sah nun selbst zur Uhr, deren großer Zeiger nun genau im Zenit stand. Er erhob sich und lief bis an die Türschwelle. Per Gesichtserkennung entriegelte sich die Tür mit einem Klicken und öffnete sich von selbst einen Spalt breit. Ab achtzehn Uhr unterlag es seiner alleinigen Authentifizierung, sämtliche Räume der Chefetage aufzuschließen.
 

"...sag' ihr, sie soll sich keine Sorgen machen...Ja", Rin presste die Lippen zusammen. Kaiba trat einen Schritt nach vorne, dass sein Schatten direkt vor ihrem Platz auftauchte. Jetzt registrierte sie ihn. Ihre leuchtenden Seelenspiegel sahen zu dem jungen Firmenchef hinauf.

"Ich muss jetzt Schluss machen. Bis dann", noch während sie das Smartphone in ihre Hosentasche verstaute, erhob sich die junge Frau. Ihr Blick bekam einen etwas dunkleren Ton, dass Kaiba ebenfalls mit seinem eiskalten Blick konterte. Sie standen nur für Millisekunden stumm und regungslos voreinander, doch für Kaiba fühlte es sich länger an, dass er das Ticken der Wanduhr vollkommen verdrängte.

"Komm' rein", sagte er schließlich und schritt zurück in sein Büro. Dicht hinter ihm Rin, die sich bis zu seinem Schreibtisch bewegte und dort mit verschränkten Armen stehen blieb. Erneut standen sie sich gegenüber, diesmal mit einem weniger angriffslustigen Blick. Scheinbar hatte es sich Rin anders überlegt, denn ihre Augen funkelten weitaus weniger provokativ.

"Ich denke, du weißt", begann Kaiba und versuchte sich nicht zu sehr von ihren Augen ablenken zu lassen, "warum ich dich her bestellt habe."

"Um ehrlich zu sein - nein." Daraufhin schellte Kaibas linke Augenbraue in die Höhe. Tat sie nur so oder meinte sie, was sie sagte?

"Also", ergänzte sie und schien über ihre Worte noch einmal nachgedacht zu haben, "ich habe so meine Vermutungen, aber bisher stellte sich heraus, dass ich damit selten richtig liege."

Seine Augen blitzten auf, was Rin wenig beeindruckte.

"Es geht um deine neuen Aufgabenfelder", entgegnete Kaiba ohne Umschweife, "oder hast du die etwa schon vergessen?"

Ihre Augen weiteten sich, scheinbar lag Kaiba mit seiner Frage gar nicht so falsch. Innerlich musste der junge Firmenchef schmunzeln: "Denkst du, ich habe dir nur zum Spaß meine neue Technologie gezeigt? Ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich dich für die Weiterentwicklung haben will."

Kurz schienen Rins Wangen auf zu glühen. So schnell wie die Farbe auftauchte, verschwand sie auch wieder. Rin nickte abgehakt und ließ den Blick schweifen: "Wolltest du deshalb einen neuen Vertrag aufsetzen?"

"Neue Aufgaben erfordern neue Regelungen", seine Augen zwangen sie, sich wieder ihm zuzuwenden, "Senjin sagte mir, du hättest dich gesträubt, ihn zu unterzeichnen." Leicht kniff sie die Augen zusammen: "Daran hat sich auch nichts geändert."

"Und warum?"

"Das spielt keine Rolle", entgegnete sie rauh, "ich habe Senjin gesagt, dass ich mit meinem jetzigen Vertrag vollkommen zufrieden bin."

"Niemand schlägt so viel Geld aus."

"Ich weiß, dass es den meisten schwer fällt zu glauben, dass mir das Geld herzlich egal ist." Mit einem schiefen Lächeln schüttelte Kaiba den Kopf: "Ich weiß nicht, ob ich dich für dumm oder clever halten soll. Das scheint wohl situationsabhängig zu sein."

"Wie du es auch nennst, es ändert nichts an meiner Entscheidung...und auch nicht daran, dass ich mit dir an dem neuen System arbeiten werde."

"Weißt du, was du da gerade sagst? Ich soll dich in meine Arbeit involvieren, ohne mich vorher absichern zu lassen?"

"Ich habe bereits eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben. Ich bin mir bewusst, dass Firmengeheimnisse nicht an Außenstehende weitergeleitet werden dürfen. Das ist schließlich nicht mein erster Job." Ihre Hände wanderten zu ihren Hüften. Ihr Blick war klar. Selten hatte ihn jemand so angesehen. Sie wusste genau, was sie wollte: "Wenn ich mit dir zusammen arbeiten soll, dann musst du mir vertrauen... Das Restrisiko tragen, wenn dir der Begriff lieber ist." Kaiba wägte ab. Dies geschah schnell, sein Geist war darauf trainiert, Entscheidungen effizient zu treffen. Es gefiel ihm nicht, dass sie ihm ihre Regeln aufdrängen wollte. Wann war das letzte Mal, dass er sich dem Willen anderer gebeugt hatte? Diese Situation kam dem Gefühl sehr nahe. Auf der anderen Seite wollte er auf ihre Mitarbeit nicht verzichten. Zu viel Potential und zu viele Möglichkeiten gab es, die sich Kaiba nicht entgehen lassen konnte. Dass Rin plötzlich zu lächeln begann, riss ihn aus seinen Überlegungen: "Über eine Gehaltserhöhung können wir gerne reden, wenn ich unter den top drei bin."

"In Ordnung. Belassen wir es vorerst dabei", raunte der junge Firmenchef, "und ich dachte, du würdest mit mir um die Konditionen feilschen."

"Warum sollte ich das tun?", kaum war die Frage ausgesprochen, blinzelte sie ihn überrascht an, bevor sie ein weiteres Mal finster zu ihm aufblickte: "Glaubst du wirklich, dass ich der Typ für solche Spielchen bin?"

"Ich kenne dich nicht", entgegnete er trocken, "und wie du selbst erkannt hast, vertraue ich niemandem. Daher wäge ich alle Möglichkeiten ab."

"Das stimmt", murmelte sie und schien kurz in Gedanken versunken, "ich habe etwas ähnliches gedacht. Dass der Vertrag dazu da war-", sie stockte, "ich hatte nicht das Gefühl, dieses Geld verdient zu haben. Viel mehr als ob...mir gefällt der Gedanke einfach nicht, käuflich zu sein."

"Willst du noch einmal deine Meinung ändern? Wo du jetzt weißt, wofür dieser Vertrag gedacht ist."

"Nein", die Antwort kam schnell, "ich bleibe dabei." Er nickte. Sie hatte gar nicht einmal so unrecht mit ihrem Gedanken. Anfangs hatte er überlegt, wie er dieses Problem von neulich für immer totschweigen könnte. Vor allem, wie er dafür sorgen konnte, dass sie schwieg. Geld war die schnellste und einfachste Methode, um etwas Mundtot zu machen. Bisher hatte diese Methode bei jedem funktioniert. Doch etwas hatte ihn daran gehindert. Vielleicht eine schwache Intuition - die sich nun bestätigte.
 

"Verlieren wir keine weitere Zeit", Kaiba sah flüchtig zur Uhr, "wir haben heute noch einiges vor." Damit drehte er sich um und schritt - zu Rins Verwunderung - auf einen seiner großen Bücherschränke zu. Aus dem mittleren Fach zog er ein rotes Buch hervor.

Klack Das Regal bewegte sich seitwärts und offenbarte einen dahinter liegenden Fahrstuhl. Ungläubig sah die junge Frau erst zu Seto Kaiba, dann zu dem Lift, dessen Tür sich im selben Moment öffnete.

"Wir werden wohl nicht in die Trainingshallen fahren", sagte sie und schien darauf keine Antwort zu erwarten. Ein Schmunzeln huschte über seine Lippen. In ihr verunsichertes Gesicht zu blicken war belustigend. Dieser Blick verriet genau, was sie dachte.

"Normalerweise bin ich der einzige, der diesen Fahrstuhl benutzt", sagte er und schritt in das schmale Innere. Langsam kam auch Rin auf den Fahrstuhl zu, Kaibas wartender Gesichtsausdruck ließ nichts anderes zu als sich direkt neben ihn zu stellen. Oder besser gesagt mit hinein zu zwängen. Es trennte beide kaum eine Handbreite voneinander, dass Kaiba ihren Atem an seinem Pullover spüren konnte. Selbst ihr Duft drang in seine Nase, dass ihm das Bild einer dampfenden Dusche in den Sinn kam.

Wie ist der Geruch von Wasser?

Mit seiner rechten Hand betätigte er den einzigen Knopf, dass mit einem sanften Ton die Tür sich schloss und der Fahrstuhl nach unten rauschte. Er wusste nicht wieso, aber es gab ihm ein Gefühl der Befriedigung als er Rins unruhige Blicke beobachtete. Wie sie ihren Kopf erst nach unten richtete, dann zur Seite, kurz nach oben schnellen ließ und schließlich sich erneut auf Kaibas Oberarm fixierte, als verriet ihr die Spiegelung seines Armschmucks etwas, das dem jungen Firmenchef bisher verborgen geblieben war. Mit einem leichten Ruck kam der Fahrstuhl zum Stehen. Kaiba merkte wie neben ihm Rin die Luft anhielt. Sie regte sich nicht und wartete stattdessen darauf, dass Kaiba zuerst aus dem Fahrstuhl stieg. Dunkelheit lag außerhalb des Inneren, dass Kaiba zwei große Schritte tätigte. Ein Flimmern tauchte oberhalb seines Gesichtsfeldes auf. Sein Sicherheitssystem scannte seine Authentifizierung. Es schien pure Intuition gewesen zu sein, dass die junge Frau sich erst regte als das Flimmern aufhörte und eine Lampe grün zu leuchten begann, bevor die Neonröhren das Licht für den Flur frei gaben. Leicht neigte der junge Firmenchef seinen Kopf in Richtung der Braunhaarigen, die daraufhin aus dem Lift trat und Kaiba vorsichtig folgte. Sie schwieg, während Kaiba die geheimen Anlagen der Kaiba Corporation entriegelte, mit Sicherheitscodes arbeitete und mehrmals einen Scanner über sein Gesicht fahren ließ. Für Kaiba war dieser Vorgang reine Routine. Er merkte es kaum mehr, wie seine Finger über das eiserne Haupttor fuhren, den Bildschirm fanden und den zehnstelligen Code eingaben. Mit einem lauten, donnernden Geräusch öffnete sich die Tür. Seichtes Licht eröffnete einen kleinen Teil dessen, was der Raum für sie bereit hielt. Sobald Rin über die Schwelle schritt, schlossen sich hinter ihr schon wieder die Toren, dass sie überrascht zur Seite auswich. Ihr kurzer Anflug der Unsicherheit wich augenblicklich sobald Rin die unzähligen Gerätschaften sah, die von einem immer heller werdenden Licht beschienen wurden. Sie schüttelte den Kopf, wobei ihre Lippen ein schiefes Lächeln zauberten. Als sie seinen eindringlichen Blick bemerkte, sagte die junge Frau: "Es gibt Menschen, die würden alles dafür geben, so etwas sehen zu können", wieder schüttelte sie den Kopf, "und du wolltest mich dafür bezahlen."

"Es gibt auch Menschen", entgegnete Kaiba, "die damit ganz andere Dinge tun würden als ein bisschen DuelMonsters aufzuhübschen."

"Und du zählst nicht dazu?"

Ihre direkte Frage überrumpelte ihn, dass er sich lediglich von ihr abwandte und auf eines der Pulte zusteuerte. Manchmal hatte sie eine Art an sich, die ihn kurz straucheln ließ. Von anderen unbemerkt geblieben, gab es Kaiba ein seltsames Gefühl. Als blickte die Braunhaarige hinter den robusten Mauern seiner Burg.

Nachdem er unzählige Knöpfe betätigt hatte, erhellte sich die Mitte der Halle in gelb flatterndes Licht. Über den Decken zeigten sich Kabel, die wie Schlingpflanzen ineinander verhakt waren. Diese begannen ebenfalls zu leuchten - in den unterschiedlichsten Farbtönen. Einige von ihnen erzeugten ein surrendes Geräusch. Als die Anlage hochgefahren wurde, verschränkte Kaiba die Arme vor der Brust und sah in den hintersten Bereich der Halle. Rin lenkte ebenfalls ihr Augenmerk auf die scheinbaren Steinplatten, die zu flackern begannen bis sie das Aussehen von Glas angenommen hatten. Hinter diesem Glas verbarg sich ein weiterer Raum. Weitaus kleiner, dafür mit verschiedenen Vorrichtungen ausgestattet, von denen seine Duellantin wohl kaum einen Bruchteil davon benennen konnte.

"Vielleicht", begann Kaiba, "hast du schon einmal von einer Möglichkeit gehört, den Geist in die virtuelle Welt zu projizieren. Anders als bei der holographischen Technologie, dringt die virtuelle Welt nicht in die unsere ein, sonder wir in sie." Rin näherte sich dem jungen Firmenchef, der sich ganz auf die Gerätschaften hinter der Glaswand konzentrierte.

"Es gab mal das Gerücht", fasziniert betrachtete die junge Frau die undefinierbaren Instrumente, "dass die Kaiba Corporation ein Spiel herausbringen wollte. Ein Adventure- game mit DuelMonsters-Features. Und dass dafür virtuelle Kaspeln extra konstruiert wurden."

"Das ist richtig."

Als könnte sie seine Antwort nicht glauben, drehte sie sich mit blinzelnden Augen zu ihm um. Doch Kaiba schüttelte den Kopf: "Das ursprüngliche System hatte einige... undichte Stellen, dass es nicht an den Start gehen konnte", das eisige Blau sah zu ihren schimmernden Smaragden hinunter, "du brauchst dir aber keine Gedanken darüber zu machen. Diese Technologie hat keine sicherheitstechnischen Mängel. Du wirst unbeschadet wieder rauskommen."

"Wie-!?" Aber Kaiba ignorierte ihren perplexen Gesichtsausdruck und ließ stattdessen die Hände unter das Pult gleiten. Er holte eine Art Helm hervor, der allerhand kleine Löcher besaß aus welchen wiederum dünne Fäden herausragten. Ein zweites Mal griff er in das Schubfach und holte eine DuelDisk hervor.

"Da du deine nicht mit hast", er überreichte ihr die DuelDisk, dass Rin sie schnell über ihren rechten Arm stülpte.

"Werde ich mich duellieren?"

"Nein. Heute will ich nur ein paar Daten. Eine kleine Übung zum Einstieg, könnte man sagen. Die DuelDisk hier", er drückte den Knopf, dass sie sich einschaltete, "verbindet dich mit dem System der Kaiba Corporation. Sobald es eingeschaltet ist, sammelt es zusammen mit den Neurosensoren die Daten, die ich brauche."

"Kann meine DuelDisk das auch?"

"Sicher. Ich habe nicht aus Nächstenliebe extra ein Linkshändermodell kreiert. Deine DuelDisk und diese hier sind für die technischen Features der neuen Technogie konzipiert worden, dass sie weitaus mehr aushält als das Vorgängermodell." Rin grinste breit, verriet jedoch nicht, was in ihrem Kopf vorging. Aber das würde Kaiba schon früh genug erfahren.

Nach einer kurzen Anleitung, wie sie den Helm zu tragen hatte und einigen Anweisungen zu den einzelnen Verhaltensweisen, ließ er Rin nur unweit des Pultes Platz nehmen. Der Stuhl war in diesem Raum das einzig Gewöhnliche, dass er beinahe wie ein Fremdkörper wirkte. Manchmal brauchte der junge Firmenchef eine kurze Verschnaufpause, besonders wenn er die virtuelle Simulation mit all seinen Funktionen ausschöpfte.

"Wie gesagt", Kaiba sah durch die Schutzscheibe des Helmes, dass schwach die leuchtenden Seelenspiegel auszumachen waren. Rin wirkte vollkommen entspannt ob der Tatsache, dass sie ein neues System ausprobierte, von dem sie nach Kaiba die erste wäre, "das heute wird nur eine kleine Übung sein. Es dient hauptsächlich der Übertragung der Datensätze und Gehirnströmungen. Nichts, was dich interessieren muss. Konzentriere dich auf das, was du siehst. Denk' nicht so viel an die Kabel um deinen Kopf, dann wirst du sie schnell verdrängt haben." Sie nickte, dass Kaiba zwei weitere Module betätigte, dass das anfängliche Surren aus sämtlichen Kabeln spross. Seine KI dröhnte aus den verschiedensten Lautsprechern, dass die Akkustik der einer Bahnhofshalle entsprach.

"Daten werden gelesen.

Testsubjekt authentifiziert: Yamamori, Rin. Bereit für die virtuelle Simulation - sammle letzte Datensätze zur physischen Entkopplung des Geistes.

System wird gestartet

Beginn der virtuellen Simulationen in fünf - vier -"

Zuerst war alles schwarz. Ein quadratischer Raum mit schwarzen Decken, schwarzen Wänden und einem schwarzen Boden. Keine Türen, Öffnungen, Schlupflöcher - einfach nichts. Anfang und Ende - ohne Bedeutung. Es war als hätte man ihr die Augen zugebunden. Nur im Gegensatz dazu sah sie keine flimmernden, bunten Punkte, die vor ihrem Gesicht herum tanzten. Nur Schwärze, dass sich Rin nicht einmal sicher war, ob sie überhaupt blinzelte. Sie wusste genauso wenig, ob sie stand oder saß - oder ob sie einfach auf dem Boden lag. Existierte sie überhaupt? Bevor sie darüber nachdenken konnte, staute sich etwas in ihr auf. Etwas, dass einem ihrer Träume nahe kam: Wenn Rin kurz vor der Tiefschlafphase stand, träumte sie häufig, dass sie in einem dunklem Raum saß. Auf einem Stuhl, der wie in Zeitlupe nach hinten kippte. Sobald er den Boden berührte, geschah alles ganz schnell - Rin rutschte vom Stuhl, stürzte in die Tiefen und wachte mit klopfendem Herzen auf. Genau dieses Gefühl überkam die junge Frau. Das Herz begann in ihrer Brust zu flattern, ihr Körper rauschte in die vermeintliche Schlucht, die sich vor ihren Augen immer noch nicht auftun wollte. Nur das Gefühl existierte. Ihre Beine fühlten sich auch nicht so als als würden sie schweben - eher als klemmte sie irgendwo fest. An einem Türhaken oder ähnlichem. Ihr Körper war da, und wiederum auch nicht. Nur ihre Gedanken, die hörte sie klar in ihrem Kopf.

Gleich wachst du auf. Alles andere ist unlogisch.

Statt die Augen aufzureißen und sich verschlafen im Zimmer umzusehen, beobachtete Rin einen einzelnen Tropfen, der sich an ihrer Nasenspitze verfangen hatte. Sie hatte also doch ihre Augen auf! Der Tropfen begann auf ihrer Haut zu kribbeln, bevor er sich von ihrer Nase löste und hinabglitt. Platsch. Ein zweiter Tropfen folgte auf ihrem Schopf, ein weiterer auf ihrer Wange. Innerhalb von Sekunden wurde das leise Plätschern zu einem dröhnenden Rauschen.

Was zum Teufel-

Rin drehte ihren Kopf. Das, was der Regenschauer nicht von der Sicht genommen hatte, betrachtete die junge Frau mit aufgerissenen Augen: Die Straßen Domino Citys. Oder besser gesagt die Hauptkreuzung der Innenstadt. Sie stand direkt an der Fußgängerzone, gegenüber eines kleinen Buchladens, den sie während ihrer Zeit im Call Center oft besucht hatte.

Der Buchladen. Dort wollte ich doch erst kürzlich hin… Das war als ich Yamato begegnet bin

Langsam drehte sie den Kopf, während die Augen gegen den peitschenden Regen ankämpften. Ein Schauer breitete sich auf ihren Armen aus. Der Regen hatte sich durch ihre Kleider gefressen, dass der Saum ihrer Jacke zu tropfen begann. Irritiert sah sie zu sich herunter.

Meine Sachen

Sie trug ihren blauen Trechcoat und die verwaschene Jeans, welche viel zu knapp an ihren Hüften klebte. Hatte sie die nicht erst neulich aussortiert?

Was ist hier los?

Ein Windstoß wirbelte ihr offenes Haar in sämtliche Richtungen. Ihr Blick driftete zu der Ampel ab, die auf rot umgeschwenkt hatte. Wie in Trance fixierte sie die leuchtende Farbe.

Als ich die Kreuzung das letzte Mal überquert habe, wäre ich fast überfahren worden…Genau! Ich wollte zur Kaiba Corporation. Der Anruf. Ich musste mich beeilen.

Sie zog scharf die Luft ein.

Es hat an dem Tag genauso geregnet. Ich hatte sogar dieselben Klamotten an.

Mit einem tiefen Zug atmete sie die Luft aus.

Welcher Tag ist heute? Hatte ich etwa einen Tagtraum? War alles nur Einbildung? Wunschphantasie? Wo habe ich überhaupt mein Handy?

Sie griff in ihre Jackentasche. Das Smartphone fühlte sich schwer und unnütz an. Ihr Atem beschleunigte sich.

Vielleicht gab es nie einen Anruf. Vielleicht bin ich schon so verzweifelt, dass ich mir die letzten Monate nur ausgedacht habe… Meiner wilden Phantasie ist das durchaus zuzumuten - und meinem bekloppten Hirn sowieso.

Dieser Gedanke sponn sich weiter. Panik machte sich in ihr breit. Die kalten, feuchten Peitschenhiebe taten ihr Übriges. Rin biss sich auf die Lippen

Nein! Unmöglich! Reiß' dich zusammen, Rin. Konzentrier' dich...Es ist die Umgebung...Etwas passt nicht.

Da war es. Auf einmal kam sich Rin unglaublich dumm vor. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie auf der Kreuzung die einzige war. Es fehlte der rege Trubel der Innenstadt. Die lachenden Kinder, die von ihren Eltern nach Hause gebracht wurden. Die Schüler, die lauthals miteinander lachten und stritten. Die vielen Berufstätigen mit ihren Smattphones, Tablets und Kopfhörern, von denen jeder glaubte, sein Job wäre der wichtigste. Es fehlten auch die vielen Banner für den diesjährigen Worldcup. Die unzähligen Plakate und Werbeflyer, die wild auf den Boden verstreut lagen. Kopfschüttelnd wischte sich Rin eine Strähne aus dem Gesicht. Noch immer prasselte der Regen hernieder - wild und ungezügelt wie es ihn nur in ihrer Heimatstadt geben konnte.

Die Ampel schaltete auf grün. Ihre Lippen öffneten sich.

Das-

Inmitten des Gewitters, direkt auf der Straße, umwehte der Sturm einen weißen langen Mantel, dass der Stoff einen aufgebrachten Tanz vollführte. Das imposante Kleidungsstück blieb die einzige Regung des hochgewachsenen Mannes, sonst war Seto Kaiba starr wie ein Fels. Mit verschränkten Armen vor der Brust, einem eiskalten Blick und stoischer Miene - wie es dem CEO der Kaiba Corporation gebührte. Er scherte sich nicht um den Regen, der seiner strengen Frisur etwa zügellos Wildes verlieh, dass ihr Gedanke kurz zu dem Traum zurückkehrte.

"Eine virtuelle Projektion?", sagte Rin und blinzelte die Regentropfen von den Wimpern weg, "wie war das noch gleich? Dein Gehirn ist mit dem System verbunden?"

Der Anflug von einem Lächeln huschte über sein Gesicht: "Wie ich sehe hast du aufgepasst", entgegnete der junge Firmenchef (oder sein perfektes Abbild?), "tatsächlich bin ich nur eine Reproduktion gesammelter Informationen. Die wichtigere Frage ist: War es nur purer Zufall oder hast du es erkannt?"

"Ich weiß, dass du nicht der Echte bist", Rin selbst kam die Antwort abstrus vor, wo sie noch vor wenigen Minuten ihren eigenen Verstand angezweifelt hatte. Der virtuelle Kaiba zog die Augenbraue zusammen: "Woran hast du es gemerkt?" Rin sah zur Seite. Sie wollte nicht antworten: "Deine Augen", murmelte Rin.

"Meine Augen?", wiederholte Kaiba als könnte er nicht glauben, was sie da gerade sagte.

"Dein Blick", begann sie und kratzte sich am Nacken, "er ist derselbe, aber gleichzeitig auch nicht. Es fehlt etwas - etwas Entscheidendes. Ich kann nur nicht sagen, was." Selbst wenn Rin gekonnt hätte, sie hätte es nicht gewollt. Der Ausdruck ihres virtuellen Chefs verriet ihr, dass die Antwort ihn verblüffte. Sicher war er es nicht gewohnt, die Echtheit seiner grafischen Hologramme angezweifelt zu bekommen. Rin war selbst erstaunt, wie ihr sofort klar gewesen war, dass sie nicht Seto Kaiba persönlich gegenüberstand. Schließlich wäre es nichts Ungewöhnliches, wenn der junge Firmenchef persönlich in die virtuelle Realität eingetaucht wäre. Quasi als Reiseführer durch den Cyber-Raum.

"Es stimmt", sagte schließlich Seto Kaiba und wandte ihr den Rücken zu, "sowohl mein Körper als auch mein Geist befinden sich vor den Arbeitspulten und kümmern sich um das Restrisiko. Das heißt aber nicht", er sah hinauf in den dunklen Himmel, "dass ich nicht echt bin." Ein Blitzschlag erschien direkt über seinem Haupt.

Diese Dramatik! Woher nimmt er die immer nur?

"Vielmehr", fuhr er fort, "spiegel ich die virtuelle Version meines menschlichen Gehirns wider."

"Und die Umgebung?"

Kaiba neigte seinen Kopf, dass sie ihn schief grinsen sah: "Der Anfang."

"Mir wäre ein anderer Ort lieber gewesen...und ein anderes Wetter."

"Ich sagte doch, dass ich dir vorerst eine kleine Einführung geben will. Um mit der virtuellen Realität zu spielen, solltest du zunächst einmal begreifen, was sie bedeutet." Er hob seinen rechten Arm, streckte die Hand an der Stelle aus, aus der noch vor Kurzem der Blitz eingeschlagen hatte und betrachtete deren Innenfläche. Mit ein Fingerschnipp hielt der Regen inne. Abermillionen Tropfen hingen vor ihrem Gesicht.

"Willst du hier Wurzeln schlagen?" Rin hatte nicht bemerkt, wie Kaiba los geschritten war. Noch immer fasziniert von dem Standbild lief sie ihm hinterher. Über die Kreuzung, weiter die Hauptstraße, der Ladenmeile entlang, dass Rin ihren Blick zu dem Spieleladen richtete, der die neuen Boosterpacks anprieß. Die junge Frau wunderte sich, dass gerade diese Kleinigkeit so detailgetreu wiedergegeben wurde.

"Sag' mal", nach einem kurzen Zögern, ob sie wirklich die Stille druchbrechen sollte, wandte sich Rin an ihren Gegenüber. Sie hatte Kaiba eingeholt, der wohl absichtlich an Tempo verloren hatte. Seine sicheren jedoch bedächtigen Schritte zwangen sie geradezu näher ans Fenster zu gehen, mit der Handfläche über die leicht angelaufene Fensterscheibe zu streichen, dass sie nur Millimeter dünnes Glas von der neuesten Edition trennte: "Gibt es einen bestimmten Grund, warum wir ausgerechnet hier starten?"

"Nein", entgegnete er knapp, "dieser Ort dient nur zur Veranschaulichung", er drehte seinen Kopf zu ihr, dass die eisblauen Augen zu ihr herunter sahen, "eigentlich ist mein Ziel ein anderes. Aber es kann nicht schaden ein paar Eindrücke zu gewinnen. Außerdem", er wandte sich wieder der verlassenen Straße zu, "braucht mein reales Ich die Zeit, um alle nötigen Informationen sammeln zu können."

"Du hälst dich immer noch sehr bedeckt, was diese >Information< anbelangt."

"Das wird sich in Zukunft auch nicht ändern."

"Natürlich nicht, ich frage mich nur-", sie stockte.

"Was?", seine Frage war fordernd, fast als könnte er es nicht leiden, wenn sie ihm etwas verschwieg.

Was für eine Ironie

"Es ist nur so", sie ließ den Arm sinken, "das hier...es kommt mir wie eine verschwommene Erinnerung vor. Außerdem", ihre Augen wanderten zu sich herunter, "verstehe ich nicht, warum ich nicht so aussehe wie vor dieser virtuellen Simulation." Fast wäre sie in seine große Statur hinein gelaufen. Kaiba war stehen geblieben, sein Blick war eisig und starr auf die junge Frau gerichtet. Kurz schienen seine Lippen zu zucken, doch dann schritt er weiter und antwortete: "Dass diese Szene Erinnerungen hervorruft, wird bloßer Zufall sein. Gedanken kann ich schließlich noch nicht lesen."

Noch nicht...

"Aber", seine Stimme wurde eine Spur ernster, "warum du dein Outfit geändert hast, kannst du wohl besser beantworten als ich. Ich habe schließlich kein Interesse daran mich mit sinnlosen Details zu langweilen. Andererseits ist es so gut wie unmöglich, dass du bereits jetzt in der Lage sein sollst, meine Umgebung zu beeinflussen. Wobei - darum bist du schließlich hier." Das Letzte schien der junge Firmenchef zu sich selbst gesagt zu haben. Ein leichtes Schmunzeln lag auf seinen Zügen, die selbst in solchen Momenten keinen Deut weicher wurden.

"Vielleicht", setzte Kaiba seine Überlegungen fort, "handelt es sich um eine Anomalie. Wir werden sehen." Die Art, wie Seto Kaibas virtuelles Ich sprach, ließ Rin keinen Zweifel, dass er direkt aus dessen Gehirn entsprungen war. Sie hörte regelrecht heraus, wie jede Zelle zu arbeiten begann, Zentren angeregt wurden und Überlegungen und Schlussfolgerungen übereinander lappten. Der Mann neben ihr war die Replikation seines Gehirns. Der denkende Teil, das Genie. Für Rin war es eine faszinierende Vorstellung, Kaibas Rationalität gegenüber zu stehen. Sie hatte zwar nicht das Verständnis, sämtliche komplizierte Rechenwege zu erfassen, die solche Technologie mit sich brachte. Das hinderte sie jedoch nicht daran sich dafür zu faszinieren. Am liebsten hätte sie Seto Kaiba mit Fragen bombardiert, ihre Begeisterung rege zur Schau gestellt, da der Gedanke an technologischer Grenzenlosigkeit ihr Herz hüpfen ließ. Sie musste sich auf die Lippen beißen, diesem Drang zu widerstehen. Immerhin war es Seto Kaiba, und sie wollte nicht riskieren, dass er seine Entscheidung überdachte - Anomalie hin oder her. Lieber beobachtete sie weiter, schaute sich den klärenden Himmel an, deren dichte Wolkendecke langsam einem typischen Sommerwetter wich. Sonnenstrahlen traten hervor, trockneten langsam den Boden, ließen Pfützen entweichen und schimmerten auf Asphalt und Backstein.

Allmählich verließen sie die Innenstadt und steuerten den Hafen an. Kaiba sagte während der ganzen Zeit kein Wort - selbst als sie dem Meer immer näher kamen und Kaiba-Land wie ein kleiner blauer Punkt in der Ferne erschien, lief er stumm neben ihr her. Sie überquerten die Promenade, die einzelnen Cafés und Souvenirläden, die allesamt verlassen waren. Vorbei an Containern und Lastschiffen, vielen einsamen Bänken und einer übermächtigen Bronzestatue, welche die Hafenarbeiter der letzten Jahrhunderte repräsentierte. Langsam wurde Rin neugierig. Kaiba lief direkt auf den Leuchtturm zu. Jenen, der außerhalb der Gewässer platziert war und heute nur noch als dekoratives Mittel der Hafen-City diente. Ganz selbstverständlich öffnete er die Tür und schritt voran. Sie stiegen die Treppen hoch. Rin wurde etwas schwindlig, die vielen Stufen waren eng und zogen sich wie ein Strudel nach oben. Leicht wackelig wurden ihre Beine und sie war froh als sie endlich oben angekommen waren. So hoch war ihr der Leuchtturm nie vorgekommen wie es an Treppenstufen gab. Doch der Gang hatte sich gelohnt. Der Blick auf Domino City war nur durch die tosenden Wellen des Meeres zu überbieten. Nordwind blies durch die offene Luke, durch die sich der junge Firmenchef zwängte und Rin keine andere Wahl ließ als ihm zu folgen, um noch mehr dieser Eindrücke in sich aufzunehmen. Kalt wehte der Föhn durch den inzwischen trockenen Stoff. Erneut kitzelte die Gänsehaut sie am gesamten Körper. Ehrfürchtig wagte sie einen Blick in die Tiefe, die der Anzahl an Stufen gerecht wurde. Es war bei weitem nicht so hoch wie während ihres Roof-top-Battles, doch es genügte, dass sie Respekt davor hatte. Auch wenn dieser Ort nicht echt war. Anders Seto Kaiba. Dieser lief soweit es ihm die Ziegelsteine erlaubten und verschränkte erneut die Arme: "Um virtuelle Realität zu erschaffen, muss man die Struktur der wirklichen Welt genauestens erfassen." Wie Rin bis hierhin feststellen konnte, war ihm dies auch ausgezeichnet gelungen. Er wandte sich ihr zu und fuhr fort: "Jedes Detail, jede Information muss exakt abgespeichert werden, damit das hier entsteht." Wie auf Knopfdruck verfinsterte sich der Himmel. Zu schön war die klare Aussicht als dass sie von Ewigkeit hätte sein können.

"Wenn man die Zusammensetzung der Wirklichkeit versteht, kann man die Schwächen unseres Planeten entdecken und sie korrigieren." Stärker blies der Wind, dass Rin sich konzentrieren musste, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

"Der erste Schritt", obwohl der Wind pfiff, wurde Kaiba nicht lauter, "ist die Kopie unserer Welt. Diese wird eins zu eins in die Virtuelle gepackt und mit allem ausgestattet, was sie...authentisch wirken lässt. Sprich: Es wird gezielt nach den Schwächen unseres geistigen Verstandes gesucht und zunutze gemacht." Ein schiefes Lächeln zierte seine kantigen Züge. "Es ist erstaunlich, wie einfach es ist, den Geist zu manipulieren. Der Mensch als das höchstentwickelte Wesen lässt sich mit ein paar Handgriffen hereinlegen als wäre er ein dressierter Schimpanse." Weiter wanderte der Blick in die Tiefe. "Weil das Gehirn alles glaubt, was es sieht, sendet es die gesammelten Informationen an die jeweiligen Nervenzentren. Sämtliche Sinne werden aktiviert, weil ein paar richtige Knöpfe im Hirn gedrückt wurden. Physische Reize haben dieselben Auswirkungen wie in der echten Welt. Alles, was dein Hirn glaubt spüren zu müssen, wandelt er in echte Impulse um. Nehmen wir nur einmal an, ich würde dich von diesem Leuchtturm springen lassen. Dein Hirn würde glauben, dass du dreißig Meter in die Tiefe fällst. Was wäre die logische Konsequenz dieses Sprungs?"

"Der sichere Tod", murmelte Rin und begann zu zittern.

"Du würdest nicht nur hier sterben", sagte er so beiläufig als spräche er über das aktuelle Wetter, "dein Geist wäre nutzlos und ließe sich nicht mehr in deinen Körper zurückführen. Es sei denn", er machte eine bedeutende Pause und starrte in die Tiefe als wollte er selbst springen, "man nutzt das Potential der virtuellen Realität und überbrückt das Unumgängliche", kopfschüttelnd lächelte er noch breiter, "wer will schon eine virtuelle Welt, die so wenig perfekt ist wie unsere. Das wäre doch langweilig und reine Zeitverschwendung."

"Wie nutzt man das Potenzial?", fragte Rin und wagte einen scheuen Blick in den Abgrund.

"In dem man die Grenzen der Wirklichkeit überschreitet und sich gegen die Dummheit seines eigenen Verstandes wendet. Aber so einfach, wie du es dir vielleicht vorstellst, ist es nicht. Es erfordert Training und Disziplin."

"Während der holographischen Simulationen wirkte es immer so einfach." Mittlerweile beherrschte sie das neue DuelMonsters System so gut, dass sie kaum mehr darüber nachdachte, was sie tat. Es geschah einfach, durch Glaubenskraft und Vorstellungsvermögen.

"Die virtuelle Simulation der DuelDisk", sagte Kaiba und sah sie herablassend an, "ist ein Witz gegen das, was mein neues System wirklich kann. Zugegeben, du bist nicht so minder bemittelt wie der Rest meines Teams und weißt, wie man ein paar Tricks anwendet, die vielleicht das Publikum und deine Gegner beeindrucken. Aber du kommst nicht annähernd an das Potential heran, was ich in deine DuelDisk eingebaut habe."

"Was hast du mit meiner DuelDisk gemacht?", Rin musste an Luminas Worte denken und daran, wie ihr Arbeitsequipment sie regelrecht ausspionieren konnte.

"Ich habe ihr ein Upgrade gegeben. Du bist in der Lage, fünfzig Prozent meiner derzeitigen neuen Technologie anzuwenden. Die restlichen Pappnasen besitzen nicht einmal ein Drittel deiner Möglichkeiten. Das heißt aber nicht, dass du sie wirklich nutzt. Du bist bei annehmbaren dreißig Prozent. Bei dem Tempo brauchen wir Jahre bis wir die volle hundert Prozent erreicht haben."

" Das waren bisher nur dreißig Prozent?" Sie erinnerte sich an Hiis Provokation. Seto Kaiba selbst hatte zu ihr gesagt, dass sie theoretisch gar nicht dazu im Stande wäre. Was wäre passiert, wenn sie Zugriff auf das gesamte virtuelle System gehabt hätte?

"Wie das System funktioniert", sagte Kaiba als könnte er ihre Gedanken lesen, "braucht dich nicht zu interessieren. Du würdest es vermutlich auch nicht verstehen. Was ich von dir will, sind ein paar Informationen zur Verbesserung und Optimierung. Als Gegenleistung kannst du dich an deinen neu erworbenen Fertigkeiten erfreuen."

-bei denen immer noch du derjenige bist, der am meisten davon profitiert

"Und was jetzt?", Rin sah ihn mit großen Augen an. Es juckte ihr in den Fingern mehr zu erfahren und weiter in diese Materie eintauchen zu dürfen: "Soll ich jetzt springen?"

"Nein", lachte Kaiba auf, obwohl seine Augen überrascht drein blickten, "wie schon gesagt, wäre dies dein letzter Sprung - zumindest vorerst. Fürs erste haben wir genug geplaudert. Ich sollte jetzt alle Informationen von dir haben, die ich brauche. Damit habe ich für heute nur noch eine Sache, die du für mich tun sollst."

Mit einem Grinsen saß Rin am Frühstückstisch, wärmte ihre Hände, die wie jeden Morgen zwei tiefgefrorenen Kühlakkus gleichkamen, mit einem frischen Pott Kaffee. Leichte Schatten lagen auf ihren funkelnden Augen.

Obwohl sie nicht all zu spät die Kaiba Corporation verlassen hatte, war diese Nacht kaum an Schlaf zu denken gewesen. Immer wieder kreisten die Gedanken um ihren virtuellen Spaziergang und an dieses Gefühl als sie schließlich den Helm abnehmen konnte und in die wirkliche Welt zurück gekehrt war. Es war nicht annähernd dasselbe Gefühl als wäre sie aus einem Traum erwacht. Ihr Geist fühlte sich erschöpft an, ihr Körper wie ein fremdes Anhängsel, zudem sie nur langsam wieder Vertrauen aufbaute. Das erste, was die junge Frau zu Gesicht bekommen hatte, war Kaibas ernster, jedoch weniger feindselige Gesichtsausdruck. Er hatte die ganze Zeit am Pult gestanden (zumindest glaubte das Rin) und sein Gesicht einem der unzähligen Bildschirme zugewandt, welche direkt vor ihm platziert waren und die Rin vorher gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Er schien weniger zufrieden, denn nachdenklich. Mit einem Nicken hatte er die Arbeit für beendet erklärt - zumindest für Rin. Nachdem Kaiba sie aus den geheimen Räumen und zurück in die Eingangshalle der Kaiba Corporation geführt hatte, war er wieder Richtung Fahrstühle geschritten. Wenn es nach Rin gegangen wäre, hatte sich noch länger in den virtuellen Räumen zugebracht. Besonders in diesen einen letzten.
 

Der junge Firmenchef hatte sie nach ihrer Einführung dazu aufgefordert, einen - wie hatte er es ausgedrückt? - Dungeon nach ihrer Erinnerung zu gestalten. Eigentlich kannte die junge Frau diesen Begriff lediglich aus der Spielewelt und wusste nicht, wie die einzelnen Zusammenhänge verknüpft waren, aber Kaibas Anweisungen würde sie nie öffentlich anzweifeln. Der Ort, den sie auswählen sollte, musste sie vor ihrem geistigen Auge sehen - möglichst detailgetreu und ohne Verschnörkelungen; die leichteste Übung für die junge Frau. Dabei hatte sie in ein Headset sprechen und jede Kleinigkeit genauestens beschreiben müssen. Seltsam war es, laut die Gedanken auszusprechen. Das leise Echo ihrer eigenen Stimme hatte durch die Kopfhörer gehallt. Noch nie hatte sie ihre Stimme gern auf Videobändern oder sonstigen Aufnahmen gehört. Zudem war sie keine sonderlich gute Geschichtenerzählerin, dass die ersten Sätze abgehakt und stockend über ihre Lippen gekommen waren. Erst als sie verdrängte, dass sie beobachtet und von allen Seiten analysiert wurde und sie sich einfach vorstellte, die Worte nur zu denken, erst dann wurde ihr Redefluss weicher, die Worte sprudelten aus ihr heraus, Eindrücke wurden klarer und am Ende hatte sie sogar richtig Spaß daran.

Ich frage mich, was Kaiba damit bezweckt

Rin nippte an ihrem Becher und sah aus dem Fenster - die Aussicht auf die unzähligen Hochhäuser und Hotelketten ließ sie weiter abdriften.

Irgendetwas verschweigt er mir... sicher, er wird es mir nie verraten, aber es muss schon etwas Beeindruckendes sein. Warum sonst sollte er mir sein geheimes Projekt zeigen.

Rin seufzte.

Und was für Informationen sollte ich für ihn haben? Wieso meine holographischen Performances besser als die der anderen sind?... Übertreib' es nicht, Rin. Beim nächsten Mal-

Sie hielt inne und freute sich bei dem Gedanken, bald wieder daran arbeiten zu dürfen, wie ein kleines Kind.

"Also", Yamatos Stimme riss sie aus ihren Tagtraum, "wenn du so abwesend durch die Gegend schaust, würde ich nur zu gern wissen, was in deinem Kopf vorgeht." Der Schwarzhaarige hielt selbst eine große Tasse Kaffee in der Hand. Entspannt stand er vor der Küchenzeile und grinste die junge Frau schief an, dass Rin die Farbe ins Gesicht schoss.

"Ich musste nur an meine Arbeit denken", nuschelte Rin und blickte zu ihrer Tasse herunter.

"Wenn ich nur auch so von meiner Arbeit schwärmen könnte", grinste der Schwarzhaarige noch breiter und stützte sich an der Platte ab. Mit seinen warmen Augen sah er in Rins leicht verschlafenen Blick, dass sie ihre eigenen Seelenspiegel leicht nach unten sinken ließ.

"Ich hätte auch nie gedacht, dass ich jemals meine Arbeit lieben könnte." Sie bereute sofort, diese Worte in den Mund genommen zu haben. Irgendwie schien es ihr fehl am Platz. Als wäre es verboten, so darüber zu reden.

"Man sieht, dass du mit Leidenschaft dabei bist", entgegnete Yamato und setzte seine leere Tasse ab, "da fällt mir ein", seine Augen wurden mit einem Mal groß und kaum den Satz ausgesprochen verschwand er in den Flur. Rin sah ihm noch fragend hinterher, bis der Schwarzhaarige zurückkehrte - mit einer DuelDisk. Ihrer DuelDisk, und der Deckbox, in dem sie ihre seltensten Schätze aufbewahrte.

"Lumina meinte", dabei hielt er ihr die DuelDisk hin als trüge er eine Verantwortung, von der er froh war, sie wieder abgeben zu können, "dass du nicht darauf verzichten könntest." Lächelnd nahm sie es entgegen.

"Selbst daran hat sie noch gedacht."

Obwohl ein paar Wechselklamotten auch nicht schlecht gewesen wären.

"Sie klang ernsthaft besorgt um dich", Yamato fuhr sich durch die Haare, dass sie glaubte, er wollte noch etwas hinzufügen. Stattdessen betrachtete er Rins Arbeitsequipment, das sich die junge Frau ans Handgelenk befestigte, ohne dabei ihren Kaffee aus den Händen zu geben.

"Ja", entgegnete Rin und drückte die beiden Enden zusammen, dass sie mit einem Klick einrasteten, "dabei mach' ich mir gerade mehr Sorgen um sie." Sie drehte ihren Arm, prüfte ob die Disk auch wirklich fest genug war. "Sie steht vor einer wichtigen Zwischenprüfung und braucht die Zeit zum Lernen. Jetzt nicht nach Hause zu können, ist für sie belastender als es den Anschein hat." Rin wusste, dass sich Lumina nur ihretwegen nicht beschwerte. Nie hätte ihr schwarzhaariger Wuschel freiwillig ihren Privatraum aufgegeben, schon gar nicht, um bei ihrer Cousine einzuziehen. Auch wenn Sakura keine Fremde war, fühlte sich Lumina nie wohl, wenn sie nicht ihren Rückzugsort hatte. Rin war die einzige, die sie in ihrer unmittelbaren Nähe auf unbegrenzte Zeit ertrug. Für andere kaum nachvollziehbar, verstand Rin die extrem schüchterne Art der Schwarzhaarigen, welche manche als Ablehnung oder Verachtung missdeuteten. Und so wie Lumina sie vor allem Übel beschützen wollte, war es auch für Rin schwer, ihre Freundin nicht unterstützen zu können. Eher im Gegenteil - ihr Job fing an, auch Luminas Privatleben zu beeinträchtigen. Die junge Frau wusste, dass schnell eine Lösung her musste. So konnte es nicht ewig weitergehen. Erneut ging ihr Blick Richtung Fenster. Aus der Ferne meinte sie, das Kaiba Building erkennen zu können.

"Übrigens", sagte Rin und fuhr sich durch die Haare, "danke, dass ich mich vorübergehend bei dir...verschanzen kann." Aus der Spiegelung sah sie ihn erneut lächeln. Zusammen mit dem Anzug, der zu seinem täglichen Arbeitslook zählte, sah er unverschämt charmant aus.

"Du bist herzlich willkommen." Seine Stimme war weich, zusammen mit diesem Blick würde sie ihm alles glauben.
 

Schon gestern Abend hatte er sie herzlich empfangen. So als würden sie sich bereits ewig kennen. Zwei Monate waren nichts, aber Zeit bewies sich wieder einmal als relativ, gerade jetzt. Yamato mit seiner Art machte es Rin unglaublich leicht, sich wohl zu fühlen. Ganz selbstverständlich hatte er ihr Essen warm gehalten (sie war erleichtert, dass er nicht selbst gekocht hatte; seine unzähligen Fähigkeiten mit seinem Wesen gepaart waren wie ein unwirklicher Traum). Wann hatte sie schon einen Mann getroffen, der scheinbar so perfekt war?

Rin hatte nicht schlecht gestaunt, als sie sein Apartment betreten hatte - sein Zuhause war weitaus gepflegter als sie es von anderen Kerlen gewohnt war. Ihr letzter Freund hatte eine typische Singlebude gehabt- überall hatten Fastfood-Verpackungen gelegen, Pizzaschachteln stapelten sich an den Fensterbrettern, Cola- und Limoflaschen standen aneinandergereiht als wären sie für eine Runde Kegeln aufgestellt worden. Yamatos Apartment war das genaue Gegenteil - irgendwie richtig erwachsen. Saubere Zimmer - nicht nur oberflächlich. Er wohnte noch nicht lange hier, dass kaum Persönliches von ihm zu finden war: Ein paar Bücher lagen auf dem Fensterbrett seines Wohnbereiches, daneben einige lose Dokumente, die er wohl von Arbeit mitgenommen hatte. Die Küche hatte einen offenen Zugang zum Wohnzimmer, was dem Raum eine enorme Präsenz und Größe verlieh. Am Kühlschrank klebte eine Postkarte, die einen Strand in Osaka zeigte. Wohl von einem Freund. Rin hatte diesen einzigen, bunten Fleck genauer betrachtet und trocken festgestellt, dass sie noch nie einen richtigen Strandurlaub gehabt hatte. Ihre Eltern waren weniger die typischen Familienurlauber gewesen. Sie hatten zweimal richtig Urlaub gemacht - außerhalb Domino Citys, nahe der Berge. Die Großtante ihres Vaters hatte dort ein gemütliches Anwesen mit Tieren und einem kleinem Feld zum privaten Anbau. Die restlichen Ferien verbrachten sie Zuhause, damit Rin Kurse besuchen konnte. Zusätzliche Lernmodule zur weiterführenden Bildung. Noch bevor sie schlechte Laune bekommen konnte, hatte sie sich Yamato zugewandt, der ihr sein Schlafzimmer für die nächsten Tage angeboten hatte. Der Schwarzhaarige gab sich die Nacht mit dem Sofa zufrieden, dass Rin ein schlechtes Gewissen bekommen hatte. Doch Yamato hatte bloß abgewunken, dass sie kaum mehr etwas entgegen zu bringen hatte. Schon mehrmals hatte sie sich bei dem schwarzhaarigen jungen Mann bedankt, da sie einfach nicht wusste, wie sie ihre Empfindungen anders ausdrücken konnte. Sie wusste, dass das Schicksal es derzeit gut mit ihr meinte. Es passierte so viel, Ereignisse überschlugen sich, dass sie kaum mehr zu Atem kam. Sicher, sie war erst am Anfang. Der Worldcup ginge erst in die heiße Phase, die wirklich wichtigen Duelle lägen noch vor ihr. Es blieb kaum Zeit, sich vorzubereiten. Dann auch noch so etwas wie ein Privatleben dazwischen zu bekommen, während bereits Seto Kaiba mit seiner neuen Technologie um die Ecke kam, war mehr als nur Jonglieren. Es war nicht Rins Talenten zu verdanken, dass weder Lumina sich beschwerte noch Yamato sich von ihr distanzierte. Beide Menschen gaben ihr die Normalität, die den Wahnsinn der DuelMonsters-Branche ins Gleichgewicht brachte. Ohne einen von ihnen wäre sie womöglich auch zu einem dieser Spinner mutiert. Irgendwann würde sie sich dafür revanchieren.

Sie erwiderte sein Lächeln und hoffte, bald mehr Zeit mit dem Schwarzhaarigen verbringen zu können. Rin hatte das Gefühl, dass sie es ihm schuldig war. Kaum richtig für sie zu beschreiben, verspürte sie so etwas wie ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich trafen oder sie an ihn dachte. So ein Gefühl kannte sie noch nicht. Bisher war es Rin, die um Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. Dass jemand so direkt ihre Nähe suchte, war schmeichelnd und gleichzeitig nagten an ihr Zweifel, ob sie das Richtige tat, in dem sie sich bei Yamato einquartiert hatte. Noch hatte keiner von ihnen darüber gesprochen, als was sie sich sahen - Bekannte, Freunde… Sie wusste, sie musste sich damit auseinandersetzen, wenn es auch nicht zu ihren Stärken zählte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass dafür nicht der richtige Zeitpunkt war. Schnell trank sie den restlichen Kaffee, bevor sie Yamato in den Flur folgte.

"Bist du dir sicher, dass du schon mitkommen willst?", entgegnete der Schwarzhaarige und holte aus einer kleinen Schale seine Autoschlüssel heraus, "du hättest dich ruhig noch etwas ausruhen können. Wie schon gesagt, fühl dich ganz wie Zuhause."

"Schon okay", erwiderte Rin und stülpte sich ihre Ankleboots über, "ich wüsste sowieso nichts mit mir anzufangen. So kann ich mich wenigstens ungestört auf die nächsten Duelle vorbereiten."

"Deine Arbeitszeiten würden mich wahnsinnig machen", lachte ihr Gegenüber auf und öffnete die Tür, "ich finde es schon ächzend, wenn ich alle drei Wochen in den Bereitschaftsdienst muss."

"Es fühlt sich für mich weniger nach Zwang an. Eher so als könnte ich selbst bestimmen, was ich tue... natürlich nur, wenn ich trainiere", sie schüttelte schmunzelnd den Kopf und folgte ihm in die Garage. Nicht nur, dass Yamatos Apartment in der Stadtmitte lag und einige Quadratmeter größer als die kleine rechteckige Kiste von Wohnung, die sie und Lumina bezogen. Das Wohnhaus besaß einen Nachtwächter, jeder hatte einen Balkon, der direkt auf das Meer gerichtet war, dass Rin in der Nacht die Kräne der Hafencity erkennen konnte. Sofort waren die Bilder der Simulation zurückkehrt - und ein unaufhörliches Kribbeln in ihrer Brust.

"Wie weit sind wir von der Firma entfernt? Zwanzig Minuten?", fragte Rin, als sie in den Wagen gestiegen waren und Yamato aus der Ausfahrt fuhr. Gestern Abend hatte sie, trotz Yamatos genauer Schilderung, ihre Haltestelle verpasst, dass sie ein weites Stück zu Fuß hinlegen musste, bis sie die angegebene Adresse gefunden hatte.

"Mit dem Auto sogar nur zehn Minuten", entgegnete Yamato und holte aus dem Seitenfach eine Sonnenbrille heraus. Die tiefstehende Sonne schien direkt in die Frontscheibe, dass Rin stattdessen aus dem Seitenfenster blickte.

"Ich wünschte, unsere Wohnung wäre nicht so am Rande der Welt."

"Wohnst du schon lange mit Lumina zusammen?"

"Etwa zwei Jahre", antwortete Rin. Die Zeit davor fühlte sich bereits so fern an und das Zusammenwohnen mit ihrer besten Freundin so natürlich, dass sie manchmal überlegen musste, wie lange es eigentlich her was.

"Keiner von uns beiden hatte zu der Zeit genug Geld, um sich was eigenes zu suchen...und außerdem hatten wir uns geschworen, nach dem Abschluss unserer Ding gemeinsam durch zu ziehen."

"Verstehe ich", Yamato nickte, "meinem damaligen Kumpel und mir ging es da ähnlich. Mein Vater hätte mir zwar das Studium finanziert, aber damals wollte ich von ihm nichts annehmen."

"Du hast mal erzählt, dass deine Eltern getrennt leben - oder?", erinnerte sich die junge Frau an ihr zweites Treffen im Café. Sie hatte an dem Tag viel über Yamato erfahren.

"Mein Vater", sagte Yamato - man konnte förmlich hören, wie sein Ton ernster wurde, "hatte sich nach der Scheidung kaum blicken lassen, dass ich schon fast vergessen hatte, dass es ihn überhaupt gibt. Als er nach der Schule ankam und mir vorschlug in seiner Firma zu arbeiten, hab ich ihm erstmal den Vogel gezeigt."

"Lass' mich raten: dein Vater wollte, dass du eines Tages die Firma leitest."

"Das will er heute noch", seufzte Yamato und hielt an der roten Ampel, "am liebsten als stellvertretender Juniorchef. Er hat mir vor ein paar Monaten ein gutes Angebot gemacht. Ich muss zugeben, dass es lukrativ ist."

"Wirst du es annehmen?"

"Einerseits ist es verlockend. Ich hätte eine gute Position, müsste mich nicht mit so viel Kleinkram beschäftigen, wie ich es jetzt muss-"

"Aber", Rin sah zu dem Schwarzhaarigen, der zum ersten Mal die Stirn kraus zog.

"Ich bin noch nicht bereit. Außerdem", sein Lächeln kehrte zurück, "hab ich mich gut in Domino eingelebt. Ich möchte noch nicht weg-"

"Oh! Mein! Gott!", Rin wollte gerade etwas erwidern als ihre Augen von einem riesigen Werbeplakat eingesogen wurden. Ein Bild des hiesigen DuelMonsters Worldcup prangerte an einem der Wolkenkratzer. Direkt darunter lächelte sie ihr eigenes Spiegelbild an - angriffslustig und siegessicher. Es war eines der Bilder, die der Fotograf neulich von ihr geschossen hatte.

"Das ist doch Wahnsinn!, schüttelte Rin den Kopf und wandte sich von ihrem eigenen Profil ab. Auf der anderen Straßenseite erwartete sie bereits ein weiteres Poster - diesmal lag die neue DuelDisc im Fokus, während ihre grell funkelnden Seelenspiegel auf die neue Generation hinunter blickten. Daneben erschien in überdeutlicher Schrift das Logo der Kaiba Corporation.

"Deine Freundin hat echt nicht übertrieben, als sie sagte, dass dich die Medien ins Visier genommen haben."

"Ich weiß nicht, ob das die Medien sind", murmelte Rin, die auf ihr metallenes Armband blickte, "damit hätte ich rechnen müssen." Je näher sie dem Kaiba Building kamen umso mehr dominierten die Bilder des Turniers, allen voran die >Newcomerin< der Kaiba Corporation.

Wenn es hier schon so abgeht, will ich gar nicht wissen, wie es im Netz aussieht... Auch wenn die Bilder gar nicht so schlecht aussehen...
 

Yamato parkte den Wagen vor der Ladezone eines fünf Sterne Restaurants - keine fünf Gehminuten von der Kaiba Corporation, dessen Gebäudespitze bereits alles andere überragte. Das Nobellokal war berühmt, aber niemand, den sie kannte, war bisher dort gewesen. Soweit Rin gehört hatte, musste man ein halbes Jahr im Voraus buchen, sowie in den richtigen Verbindungen stecken, um überhaupt in deren Telefon überhaupt ein Freizeichen zu bekommen. Rin hielt nicht viel von überteuerten und aufgestylten Restaurants. Es gab ein kleines gemütliches Lokal am Rande der Stadt, das zum Frühling mit einem dutzend blühender Kirschbäume verziert war, die man von jedem Sitzplatz aus betrachten konnte. Eine kleine alte Frau brachte einige Köstlichkeiten zur Begrüßung, während ihre zwei Söhne sich um die Hauptmahlzeiten und Getränke kümmerten. Das Essen schmeckte wie das Lokal aufgebaut war - heimisch, deftig und ehrlich. Genau wie es die junge Frau liebte. Ihr letzter Besuch lag einige Jahre zurück, da es nur schwer ohne Auto zu erreichen war. Wenn sich die Gelegenheit ergäbe, würde sie bei nächster Gelegenheit wieder dort essen. Ihr leerer Magen schien ihr eifrig zuzunicken.

Vielleicht mit Yamato.

Dieser lehnte sich über den Wagen und klimperte mit einem Schlüsselbund.

"Für den Fall, dass du früher als ich fertig sein solltest. Du sollst nicht vor verschlossener Tür stehen. Sie haben für heute Nachmittag Regen angesagt."

"Ich weiß echt nicht, wie ich dir danken soll", sie nahm die Wohnungsschlüssel und verstaute sie in ihre Hosentasche.

"Ich lasse mir was einfallen", grinste er breit, "du überlegst schon mal, was du heute zu Abend essen möchtest. Ich würde uns was nach Feierabend holen." Der Gedanke an Essen ließ ihren Magen gierig zusammenziehen.

"Gut, ich werde mir etwas überlegen." Damit verabschiedeten sie sich vorerst voneinander. Rin war froh, dass der Wagen zwischen ihnen stand und sie nicht über die Gesten der Verabschiedung nachdenken musste. Bisher war dieser letzte Akt, in dem geklärt werden könnte, wie nahe sie sich kommen wollten, immer wieder umgangen worden. Sie wusste, dass der mehr als peinliche Grund bei ihr lag. Manchmal ärgerte sie sich über ihr eigenes kindisches Verhalten, dass sie einfach nicht abstellen konnte. Mit einem flüchtigen Wink kehrte Yamato in sein Auto zurück, dass sie dem Wagen hinterher sehen konnte, bevor dieser in den Wochenverkehr abgetaucht war.

Die paar Minuten zu Fuß, die es noch zu beschreiten galt, taten ihr gut, sie genoss die angenehme Temperatur des Morgens und überlegte sich, wie sie den Tag am besten nutzen könnte. Heute standen keine Meetings oder Besprechungen an, dass sie sich ganz aufs Duellieren konzentrieren konnte. Vielleicht noch einen Abstecher ins Café und Makoto nach den neuesten Leckereien ausquetschen. Sie hatten sich die Woche noch gar nicht zu Gesicht bekommen, dass sie die fröhliche Art der Kassiererin zu vermissen begann. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen als das Café auf der anderen Straßenseite sichtbar wurde.

Vielleicht ziehe ich den Besuch nach vorne. Ein kleines Frühstück vor dem Training könnte nicht schaden

Sie suchte nach einer günstigen Gelegenheit die Straße zu überqueren als ihr Handy zu vibrieren begann.

Kaiba Corporation - Dringend?

Die Nachricht öffnend blieb sie vor dem Firmengebäude stehen und las den knappen Text, in dem sie aufgefordert wurde, ins Chefbüro zu kommen - unverzüglich.

Auch noch Kaiba persönlich

Vielleicht hatten sich die Pläne des jungen Firmenchefs geändert und er hätte heute Abend doch Zeit mit ihr weiter zu arbeiten. Er hatte den nächsten Termin auf Samstagabend geschoben - womöglich hatte er es sich anders überlegt. Sicheren Schrittes steuerte sie das Firmengebäude an.

~
 

"Können Sie uns das erklären?!", mit grimmiger Miene, die nur von seiner knurrenden Stimme überboten wurde, beugte sich Josuke Nagawa zur ihr vor, dass er seine Brille richten musste. Verwirrt sah die junge Frau den Chef der Medienabteilung an, der daraufhin das Tablet, das er noch in seiner leicht zittrigen Hand festgehalten hatte, auf Seto Kaibas Schreibtisch knallte - wohl um dem Moment die nötige Dramatik zu geben - dass der Bildschirm direkt in Rins Sichtfeld lag. Die junge Frau stand vor dem Schreibtisch, da ihr keinen Moment Zeit gegeben wurde, sich zu setzen - geschweige denn sie dazu aufgefordert wurde. Stattdessen sah sie zu der Schlagzeile herunter, die aus einem der unzähligen Klatschblätter stammte, für die Rin noch nie etwas übrig gehabt hatte. Zunächst verstand sie nicht, warum sie deswegen ins Chefbüro zitiert worden war. Noch dazu, dass Nagawa sich neben seinen Boss aufgestellt hatte, als wäre er die Rechte Hand Seto Kaibas. Auf der Schlagzeile war die junge Frau in einem ihrer Battle-City-Duelle abgelichtet worden - kurz vor dem Duell mit Insector Haga, dies erkannte sie an der Location, sowie ihrem Outfit. Sie lächelte verschmitzt, sicher ein Schnappschuss nach einem gelungenen Sieg. Langsam wanderte ihr Blick hoch zu dem Titel.

Nein

Sie erstarrte.

"Ist Ihnen bewusst, was für einen Eklat es geben könnte!", entgegnete der Social Media Experte und baute sich regelrecht vor ihr auf. Doch Rin sah nur auf die Schlagzeile.

Nein! Wieso!?

"...in was für eine peinliche Lage Sie die Firma bringen…, Josuke redete sich in Rage, während Rin in einen Strudel geraten war, den sie selbst nicht mehr aufhalten konnte. Ihr Kopf drehte sich, das Bild verschwamm vor ihren Augen, wurden durch alte Sequenzen ersetzt. Schemenhafte Szenen rauschten an ihr vorbei. Noch dazu die eindringliche Stimme ihres Gegenübers. Sie fühlte sich in die Schulzeit zurückversetzt. Das Bild von ihrer Mutter und der Klassenlehrerin tauchte vor ihrem geistigen Auge auf und drohte die Oberhand zu gewinnen.

"Vertragsbrechung."

Wie in Zeitlupe hob sie ihren Blick zu Nagawa, der ein weiteres Mal die Brille richtete und wie ein Rektor zu ihr herabblickte, der einen seiner Schüler maßregelte, obwohl er nicht einmal dessen Namen kannte. Hass flammte in den smaragdenen Seelenspiegeln auf, dass * kurz innehielt. Erst als sie den Blick zurück auf den Bildschirm lenkte, begann er mit seiner Standpauke von vorn.

Schon wieder... es ist immer wieder dasselbe... Ich bin geliefert.

"Wenn diese Bilder öffentlich werden", Nagawa fasste sich an den Kopf, "die Presse wird sich darauf stürzen. Dann ist es vorbei mit unserem gut durchdachten Plan. Und Sie, Frau Yamamori, können sich schon mal nach einer neuen Stelle umsehen. Sie müssten wissen, dass falsche Angaben mit einer Abmahnungen oder höherem bestraft werden. Schließlich haben sie die Zusatzklausel unterschrieben."

"Ich", knurrte Rin und bemühte sich, die Stimme nicht noch bissiger klingen zu lassen, "ich habe keine falschen Angaben gemacht."

"Und wieso erfahren wir erst jetzt von diesen... pikanten Details aus ihrem Privatleben?"

"Dieser", murmelte sie und ballte beide Hände zur Faust. Sie spürte wie die Galle in ihren Mund vordrang, bitter und brennend.

"In Ihren Angaben", fuhr Nagawa fort und verschränkte die Arme, "steht kein Wort über diesen Freund, geschweige von irgendwelchen Sexbildern."

"Das", sie atmete stoßweise und konnte den Satz nicht beenden. Ihre Augen brannten, sie wollte aus dem Raum flüchten, sich in die nächste Ecke verkriechen. Irgendwo weit weg sein, weg von diesen Worten, diesen Lügen, diesen Blicken. Sie tat einen tiefen Atemzug: "Ich hatte mit diesem Mann keine Beziehung."

"Frau Yamamori", lächelte sie Nagawa schief an, "diese Information ist zweitrangig. Egal, was sie mit diesem Mann hatten, letztendlich zählen nur die Fakten. Und die sehen sehr schlecht für Sie aus."

"Sie sprechen von den Bildern", sie richtete sich auf und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, "soll' er doch machen, was er will", ihr Gesicht bekam etwas Fratzenartiges, sie sah in Josuke Nagawa schon lange nicht mehr den Chef der Medienabteilung - Profile verschwammen miteinander, dass Rin kaum noch klar denken konnte: "Ich habe mich schon immer gefragt, was er den Leuten präsentieren will."

"Drücken Sie sich klar aus, Frau Yamamori", erst jetzt ergriff Seto Kaiba persönlich das Wort, dass sie augenblicklich ihren Kopf zu ihm schwenkte. Das Wahnwitzige wich aus ihren Zügen, dafür war ihr Blick kapitulierend. Obwohl seine Stimme emotionslos wie eh war, wusste sie, dass der Grund seiner Anwesenheit wichtig sein musste. Hier ging es nicht darum, Rin zu ermahnen. Ihre Karriere stand auf dem Spiel. Es war nur noch eine reine Formsache. Niemand durfte das Ansehen der Kaiba Corporation beschmutzen. Egal, auf welchem Höhenflug er gerade war. Das hier hatte keinen Sinn für sie - nicht, wenn man sie erneut in eine Schublade steckte. Leer wurden ihre Augen. Sie versuchte sich zusammen zu reißen, sie wollte nicht mehr Schwäche zeigen: "Es gibt keine Bilder. Kann es auch gar nicht."

"Und wieso sind Sie sich da so sicher", feixte Nagawa. Rin sah nur zu dem mächtigen CEO, der keine Miene verzog. "Weil ich mit diesem Mann nie intim war."

Weil ich so ein Mädchen nicht bin, hätte sie gerne noch gesagt, aber vor Seto Kaiba erschien ihr diese Tatsache lächerlich und unglaubwürdig. Und dass es so war, hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Am liebsten wäre sie seinem eiskalten Blick ausgewichen. Nichts deutete auf irgendeine Reaktion hin. Rin wäre es sogar Recht gewesen, wenn er sie ausgelacht hätte, statt stoisch wie eh zu ihr aufzusehen. Er faltete die Hand vors Gesicht und stützte sich mit dem Ellenbogen am Schreibtisch ab. Genau in dieser Position verharrte er und sagte: "Vielleicht sind Sie ja jetzt gewillt, darüber zu reden."

"Na gut", sie zuckte mit den Schultern, sie hatte das Gefühl, dass es keine Rolle mehr spielte und begann aus ihren Container an verdrängten Erinnerungen zu wühlen: "Sein Name ist Yoshida - zumindest hatte er sich so genannt. Ich habe ihn im Internet kennengelernt, kurz vor den Abschlussprüfungen. Wir haben uns geschrieben. Es kam zu zwei Treffen. Danach hab ich ihn nie wieder gesehen", kurz schweiften ihre Gedanken ab, Bilder ihrer ehemaligen Klassenkameraden kamen wieder an die Oberfläche, wie sie Rin angesehen hatten, wie sie ihr Zettelchen in den Spind getan und in den Fluren der Schule abgepasst hatten. Genauso anklagend sah sie Nagawa an. "Und das sollen wir Ihnen ernsthaft abkaufen?" Ohne auf seinen Kommentar einzugehen, sprach sie weiter: "Ein paar Tage nach unserem letzten Treffen, kursierte das Gerücht in der Schule, ich hätte Nacktfotos geschossen und sie an einen Schwarm von mir geschickt. Es folgte eine Reihe von aufdringlichen Mails und Nachrichten, in denen ich dazu aufgefordert wurde, zweitausend Dollar zu zahlen. Später erfuhr ich, dass ich nicht die einzige war, die auf diese Masche reingefallen ist. In den anderen Fälle gab es aber diese sogenannten Bilder. Weil ich wusste, dass er nichts von mir hatte, habe ich ihn ignoriert."

"Und jetzt versucht dieser besagte Mann, diese Masche erneut?", fragte Nagawa und klang etwas weniger gehässig.

"Sicher. Beim ersten Mal hat es doch auch geklappt", Rin knirschte mit den Zähnen, "dieses... Gerücht erreichte schließlich die Schulleitung. Sie haben meine Mutter in die Schule geholt, die jedes Wort geglaubt hatte und schließlich die aufgeforderte Summe bezahlte."

"Hm", Nagawa hielt mit dem rechten Zeigefinger das Brillengestell fest, während er zu überlegen schien. Als ob Rin nicht mehr anwesend wäre, begann er nachdenklich zu erzählen: "In dem Fall könnten wir Frau Yamamori die Opferrolle zuschieben und den Spieß umdrehen - sofern die Geschichte stimmt."

"Es ist mir egal, ob Sie mir glauben", sagte Rin so harsch, dass Nagawa sie verduzt ansah. Die junge Frau wandte sich von ihm ab, dass sie nun wieder Kaiba ansah. Die Festigkeit, die sie sich in den Wochen hart erkämpft hatte, gelangte in ihre Stimmbänder zurück: "Wie ich schon sagte - es gibt keine Bilder. Und wenn Sie meinen, festzustellen, dass ich Sie belogen habe, dann können Sie mich ruhig feuern." Alles in ihrem Inneren schrie danach, diese Worte zurück zu nehmen, doch es war zu spät. Es war ihr bewusst, dass sie es hier nicht länger ertragen könnte, wenn sich die Ereignisse vom letzten Mal wiederholten. Sie wollte sich nie mehr damit auseinandersetzen, sich nie mehr rechtfertigen für etwas, dass sie nie getan hatte. Grün und Blau blickten einander stumm an. Der eine, weil er es konnte, der andere weil er nicht die Kraft besaß wegzusehen.

"Nagawa", ohne den Blickkontakt zu Rin abzubrechen sprach er zu seinem Social Media Experten, "finden Sie unverzüglich heraus, wer dieser Mann ist."

"S-sofort, Herr Kaiba", stammelte Nagawa und tat eine tiefe Verbeugung, "soll ich auch gleich mit der Gegenkampagne beginnen?"

"Sie werden gar nichts in der Hinsicht tun."

"Sie meinen-"

"Ich meine", zischte Kaiba als hätte ihn sein Mitarbeiter unterbrochen, "dass wir darauf nicht reagieren werden. Sobald die Blase im Keim erstickt ist, wird kein Hahn danach mehr krähen. Beziehen wir Stellung, könnten dies einige als Bestätigung sehen. Die Geschichte würde sich nur unnötig hoch schaukeln, und ich will dass die Presse sich auf das Wesentliche konzentriert." Rin verstand nicht, was gerade geschah.

"Diese Klatschblätter", sagte Kaiba als könnte er nicht fassen, dass er sich mit so etwas auseinander setzen musste, "sind sowieso nur dummes Geschwätz, das ein paar unterbelichtete Teenager und Hausmütter lesen - zur täglichen Befriedigung ihres eigenen lächerlichen Lebens. Diese Zielgruppe interessiert mich nicht. Machen Sie also weiter, wie wir es gestern besprochen haben. Frau Yamamori", rüttelte er sie aus ihrer Schockstarre, "Sie können jetzt gehen."

Rin nickte, während sie den Puls an ihrem Nacken hörte. Ihre Finger glitten über das Armband: "Danke", hauchte die junge Frau, bevor sie wie in Zeitraffer zu Tür lief.

Es war zu viel. Der Kloß in ihrem Hals war wie ein Felsbrocken, den man ihr in den Rachen gedrückt hatte. Ihr Körper begann zu zittern, jede Faser ihres Körpers reagierte auf diesen kalten Schauer. Im Inneren des Fahrstuhls angekommen, lehnte sie sich an die Wand und beugte ihren Oberkörper nach vorne als müsste sie sich jeden Moment übergeben. Schwer stieß sie den Atem hinaus, als wollte sie jeden finsteren Gedanken damit heraus pusten. Die Luft im Fahrstuhl wurde drückend, die Leere machte sie wahnsinnig. Das Brennen in ihren Augen wurde stärker. Sie wusste, es fehlte nicht viel bis sie dem Drang zu weinen nicht widerstehen könnte.
 

Die heutige Schlagzeile hatte ihr Gefühlschaos auf die Spitze getrieben. Jede Emotion der letzten Wochen kroch aus jedem Winkel ihres Bewusstsein, wollte sich bemerkbar machen und seinen Anspruch an der Oberfläche behaupten. Weniger der Tropfen auf dem heißen Stein, war es wie ein Eimer voll kaltem Wasser, das ihr über den nackten Rücken gegossen wurde. Nach all dieser Zeit mit der Vergangenen konfrontiert zu werden, die sie mal mehr mal weniger erfolgreich von sich fort geschoben hatte, prallte nun die gesamte emotionale Bandbreite der letzten vier Jahre auf sie hernieder. Noch immer sah sie die verachtenden Blicke, die Enttäuschung. Gleichzeitig zeigte sich ihr eigenes Gesicht - unsicher und voller Selbstzweifel. Wie sie diese Rin hasste! Doch hatte sich wirklich etwas geändert? Wo sie so naiv gewesen war und ernsthaft geglaubt hatte, dass die Vergangenheit nicht herausbrechen würde? Es hätte ihr klar sein müssen. Rin fasste sich an die Stirn und versuchte ihren Atem zu beruhigen. Der Puls hämmerte ihr in den Ohren, die Wände des Raumes drängten sich ihr auf. Nie hätte sie gedacht, dass die Ereignisse von damals sie noch so emotional mitnahmen. Nach Wochen des Verdrängens, hatte es irgendwann einen Lichtblick für sie gegeben, dass Rin geglaubt hatte, darüber hinweg gekommen zu sein. Es hatte geholfen, dass sich das Schuljahr dem Ende geneigt und sie sich ganz auf sich konzentriert hatte. Die lausigen Jobs, so nervtötend sie auch gewesen waren, hatten sie vergessen lassen, wie sehr sie mit sich zu kämpfen hatte. Auch Rin war enttäuscht, über eine lange Zeit hatte sie es jeden spüren lassen, um irgendwann festzustellen, dass es zwecklos war.

Erneut schüttelte sie mit dem Kopf, während der Fahrstuhl unaufhörlich nach unten rauschte, sie weiter weg von der Chefetage brachte. Ein Gedanke erfasste sie sprunghaft. Er war so klar und ließ sich mit den anderen nicht im Einklang bringen: Zwischen Wut, Angst und dem Gefühl, nicht davon laufen zu können, war etwas Neues auf sie zugekommen. So als wäre sie von einem Stromschlag getroffen worden.

Er hat mich nicht gefeuert

Diese Tatsache stellte sie geschockt fest, während ihr Innerstes noch immer zu glauben schien, dass es vorbei war. Ihr Kopf hatte die Informationen aufgenommen, aber mental war sie nicht darauf vorbereitet. Man hatte ihr geglaubt - oder zumindest ihre Sicht nicht untergraben. Es machte sie fassungslos - gerade weil es hier geschah, in diesen Gemäuern. Die junge Frau war überrumpelt ob der unerwarteten Reaktion Seto Kaibas. Nach ihrem gemeinsamen Fauxpas hätte sie es ihm nicht einmal verübelt, wenn er ihre Sicht verspottet hätte. Wie musste es für ihn ausgesehen haben, nachdem sie ihm klar gemacht hatte, dass sie keine dieser Frauen war. Wenn er sie ausgelacht hätte - damit hätte sie umgehen können. Doch der junge CEO hatte sie einfach gehen lassen. Hatte die Sache abgehakt, so wie Rin es in den letzten vier Jahren versucht hatte.
 

Im zwölften Stockwerk öffneten sich erstmalig die Türen, dass Rin sich zusammen nahm und sich gerade hinstellte. Ein schlacksiger Kerl aus der Buchhaltung nickte ihr zu, bevor er den Blick auf die sich schließenden Türen richtete. Sie war selbst überrascht, wie gefasst sie in Gegenwart anderer wirken konnte. Mit finsterem Blick, der geradezu danach schrie, nicht angesprochen werden zu wollen, sah sie auf die Anzeige neben den Knöpfen und beobachtete wie der Aufzug von Etage zu Etage zog, nun immer mehr Leute mit sich nahm, die wohl in ihre Mittagspause gingen. Jeder grüßte die junge Frau - jeder auf seine eigene Weise, und nicht immer mit Worten oder Gesten. Sie alle lenkten Rin von ihren wüsten Gedanken ab, dass sie zum ersten Mal dankbar für den Menschenrummel war, der ihr sonst immer die Luft zuschnürte. Der stupide Alltag in der Kaiba Corporation mit all seinen gesichtslosen Mitarbeitern war im Moment wohltuend. Niemand sah sie mit diesen Blicken der Verurteilung an, keiner wagte es in ihrer Gegenwart zu tuscheln oder zu feixen. Es gab nur gestresste Menschen, ein paar gelangweilte Gesichter und einige ehrfürchtsvolle Blicke, welche die junge Frau jedoch nicht mitbekam. Dafür war sie bereits wieder zu sehr in ihren Gedanken vertieft, die schließlich von einer aufschäumenden Wut dominiert wurden, die Irgendwie ausbrechen wollte, nur keine passende Gelegenheit fand.

Im Erdgeschoss angekommen, stieg sie als erste aus. Ihr war gar nicht bewusst, dass man ihr den Vortritt gelassen hatte. Sie war so mit sich beschäftigt, dass sie nicht merkte, wie einige Mitarbeiter zur Seite auswichen um der jungen Frau Platz zu machen. Ihr harscher Schritt zusammen mit diesem hasserfüllten Blick ließ den ein oder anderen eingeschüchtert hinterher sehen.

Seit dem letzten Duell wusste jeder, wer Rin Yamamori war und wenn man ihr nicht unbedingt mit falscher Freundlichkeit begegnen wollte, blieb nur noch ein Ausweichmanöver übrig. Wie Rin an die Mitarbeiter vorbei marschierte, ließ den Gedanken aufkommen, als würde sie dem nächstbesten an die Kehle gehen, sollte er es wagen, ihren Weg zu kreuzen.
 

"Frau Yamamori?", die krächzende Stimme der Empfangsdame riss sie mit einem Mal heraus, dass Rin abrupt stehen blieb. Ihre Augen blitzten zu der jungen Frau, deren Ansätze erst frisch nachblondiert sein mussten. Danach wirkte die Farbe wie ein von Gel durchtränkter Platinschimmer, der ihren Zähnen Konkurrenz machen konnte. Hinter ihrem Arbeitsplatz wedelte sie mit ihrem rechten Arm als versuchte sie mit diesem ein Rieseninsekt zu vertreiben. Am liebsten hätte sie gehässig aufgelacht. Sie war noch derart emotional aufgeladen, dass sie sich nur schwer zurücknehmen konnte. Nur der großgewachsene Mann vor dem Empfangstresen, der langsam seinen Kopf in ihre Richtung drehte, ließ sie nichts dergleichen tun. Stattdessen nahm sie sich zusammen und schritt langsam auf den Empfangsbereich zu. Ohne den neugierigen Blick der Blondine zu beachten, wandte sie sich dem Mann zu, der ihr auf halbem Weg entgegengekommen war - sehr zum Frust der Empfangsdame, die wohl gehofft hatte, dem Gespräch unauffällig lauschen zu können. Rin wusste um ihre lockere Zunge und ihrer Vorliebe der Plauderei und des Tratsches. Besonders mit einem Kollegen aus der Personalabteilung, mit dem sie während ihrer Arbeitszeiten öfters telefonierte. Die junge Duellantin wusste, wieso sie nie mit solchen Frauen klar gekommen waren. Charakter und Interessen lagen weit auseinander - so war es schon immer gewesen.

Noch immer lag ein überraschter Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie mit großen Augen zu ihm hinauf sah: "Vater", ihre Begrüßung glich mehr einer Frage, dass sie von Neuem ansetzte, "ich wusste nicht, dass du vorbeikommen wolltest. Was machst du hier?"

Ganz toll, Rin. Das war jetzt kein Stück besser

Mit einem sanften Lächeln erwiderte er die Frage. Dabei bekam sein Gesicht eine jugendlich Frische, von der viele behaupteten, sie in Rins Gesichtszügen wiederzuerkennen. Auf den ersten Blick ähnelten sie sehr einander. Seine dunkelbraunen Haare, dazu die große schlanke Statur. Er hatte sogar grüne Augen, die jedoch weniger die Wildheit besaßen wie ihr Gegenüber. Wenn er nicht lächelte, war sein Blick eher von einer Strenge durchzogen, die manchmal an einen Lehrer erinnerte. Sein gesamtes Auftreten konnte Respekt und Ernsthaftigkeit ausstrahlen. In ihrer Kindheit hatte es oft genügt, wenn er sie so ansah, damit sie Reue verspürte. Ihn jetzt mit diesem Lächeln zu sehen, beruhigte sie. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Sie sehnte sich gerade stärker denn je nach dieser Wärme. All die Menschen um sie herum, die ihr zwar aus dem Weg gingen, jedoch interessiert von der Seite musterten, hinderten sie daran. Ihr Blick wurde distanzierter: "Du bist doch nicht gekommen, um mich zu besuchen - oder?"

"Nicht ganz", nickte er und sah sich im Eingangsbereich um, "auch wenn ich zugeben muss, dass es mich schon interessiert, wo genau meine Tochter arbeitet. Sonst hört man von dieser Firma ja nur aus den Medien."

"Und", sie streckte die Arme aus, "was sagst du?"

"Ich hätte mehr Hightech erwartet."

"Die gibt es in den unteren Stockwerken", erwiderte sie und ließ den Blick hinunter zu seiner rechten Hand schweifen. Ihr Vater hielt eine Shoppingtüte in der Hand, die nicht mit seinem restlichen Auftreten übereinstimmte. Er trug seinen schwarzen Anzug von Arbeit, dass er zwischen den anderen Mitarbeitern kaum weiter auffiel. Vermutlich hatte er gerade selbst Mittagspause, obwohl der Weg zu seiner Versicherungsfirma mehr als nur ein paar Minuten gekostet haben mussten.

"Nun", er bemerkte ihren Blick und hob die Tüte näher an ihr Gesicht, "ich soll dir das von deiner Mutter geben." Rin beugte sich nach vorne und betrachtete den Inhalt.

"Sie hat in deinem alten Zimmer noch Sachen gefunden, die du damals nicht mitgenommen hattest. Vielleicht kannst du sie gebrauchen, wenn du schon nicht in deine Wohnung zurück kannst."

"Danke", murmelte Rin. Sie wusste nicht, ob sie ein schlechtes Gewissen haben sollte, dass sie ihrer Mutter noch immer grollte, wo sie doch extra ein paar Kleider für sie zusammen gesucht hatte. Unachtsamkeit konnte man dieser Frau wirklich nie vorwerfen.

"Und wie läuft es bei euch?", murmelte sie und nahm die Tüte entgegen, "belästigt euch die Presse immer noch?"

Saito Yamamori schüttelte den Kopf. "Gestern Abend sind sie abgezogen und haben sich auch nicht mehr blicken lassen."

"Da bin ich froh. Ich hatte befürchtet, dass sie bei euch dasselbe Spielchen abziehen wie bei uns." Erst heute Morgen hatte ihr Lumina geschrieben, dass noch immer ein dutzend Fotografen und Journalisten auf der Lauer lagen.

"Darum machen wir uns die wenigsten Sorgen", sein Blick wurde ernst, dass Rin von einem weiteren Blitzschlag getroffen wurde. Ihre Augen wurden dunkler: "Hat Mutter schon die Schlagzeile der Klatschpresse gelesen?" , dabei war ihre Stimme wie die eines aufgezogenen Roboters. Saito sagte nichts. Das genügte Rin als Antwort, dass sie pfeifend die Luft ausstieß. Der kurze Anflug eines schlechten Gewissens war von ihr gewichen.

Natürlich. Wie hätte es auch sonst sein sollen.

"Deine Mutter macht sich nur Sorgen um dich", sagte Saito im ruhigen Ton. Doch der Standardspruch erreichte sie nicht. "Du kannst ihr ausrichten, dass ich mich nicht dafür rechtfertigen werde - nicht noch einmal", sie schüttelte den Kopf und lächelte, dass es ihre Augen nicht erreichte, "auf Arbeit schenkt man mir mehr glauben, als ich es von meinem eigenen Zuhause je erwartet habe."

"Rin", Saito sah sie versöhnlich an. Anders als ihre Mutter hatte er sich aus der damaligen Situation gänzlich heraus gehalten. Wenn es womöglich auch das beste war, was er hätte tun können, hatte sie sich damals von ihm im Stich gelassen gefühlt. Zum ersten Mal dachte sie bewusst daran, dass er nicht ihr leiblicher Vater war und hatte sich oft die Frage gestellt, wie er wohl reagiert hätte, wenn es anders gewesen wäre.

"Es geht doch nicht um uns", sagte er, doch Rin nahm es ihm nicht ab.

"Schon gut", winkte sie ab. Ihr war nicht nach reden - nicht darüber, "danke für die Sachen. Sie helfen mir tatsächlich weiter... Und sag' ihr, dass sie aufhören soll, sich ständig Sorgen zu machen."

"Du weißt doch, wie sie ist", entgegnete er und versuchte sie sanftmütig anzublicken, was ihm nur leider nie gelang. Die Strenge dominierte.

"Pass' auf dich auf und melde dich mal bei ihr. Ich weiß, sie wartet nur darauf, dass du sie zurück rufst."

"Ich weiß", Rin sah zur Seite, "sobald sich alles beruhigt hat, werde ich mich bei ihr melden."

Wenn sich alles beruhigt hat… hörst du dir eigentlich selber zu?

"Aber nicht erst nach diesem Turnier", Saitos Lächeln kehrte zurück, dass sich Rin ertappt fühlte und selbst lächeln musste. Er stemmte die Hände in die Hüften, wobei es seiner Statur zusätzliche Größe verlieh. Von der Seite bemerkte sie die Blicke einiger weiblicher Mitarbeiter, die den fremden Mann interessiert musterten. Mit seinen Mitte vierzig war Saito Yamamori ein attraktiver Mann, der schon immer der Blickfang vieler Frauen gewesen war. Rin erinnerte sich noch an die Blicke ihrer Klassenlehrerin und wie sie jedes Mal errötet war, wenn er an einem der Elternsprechstunden teilgenommen hatte. Seine Gesichtszüge waren markant und kantig, er besaß zudem eine tiefe, leicht brummende Stimme, die sowohl herrisch klingen konnte als auch seinem selbstsicheren Auftreten den nötigen Charme verlieh. Hinter diesem Auftreten versteckte sich eine andere Seite, die Rin zu sehen bekam, wenn er mit ihrer Mutter zusammen war. Seine Augen, unter denen bereits kleine Fältchen sichtbar wurden, begannen zu strahlen. Aus seinem Gesicht war abzulesen, dass er ihr jeden Wunsch erfüllen würde - und Rin wusste, dass er das tat. Es war schon fast eine Art der Vergötterung, die Rin sonst aus kitschigen alten Streifen kannte. Die junge Frau war sich auch sicher, dass dies der Grund war, warum ihr Vater seine gesamte Pause opferte, um Rin ihre Kleider auszuhändigen. Ihre Mutter hatte ihn um den Finger gewickelt, dass er auch bis nach Tokyo gefahren wäre. Rin hatte über diese Vernarrtheit immer schmunzeln müssen. Es passte nicht zu seinem restlichen Auftreten, dass so kontrolliert und stringent war.
 

Sie verabschiedeten sich, ohne dass einer von ihnen Anstalten für eine herzliche Geste machte. Rin war ihrem Vater dankbar, dass er ihr keinen dieser konventionellen Wangenküsse aufzwang. In dieser Hinsicht hatte sie viel von ihm abgeschaut und die weniger geheuchelte Art bevorzugt. Er betonte noch einmal, wie sehr sich ihre Mutter auf einen Anruf freuen würde und verließ schließlich das Firmengebäude mit zügigen Schritten.

Einmal tief einatmen und -
 

"Ich bringe dieses Arschloch um!" Rins Wangen glühten, sie hatte sich derart in Rage geredet, dass ihre Stimme von mal zu mal lauter wurde, dass sie schließlich das halbe Café zusammen brüllte. Zum Glück war Makoto die einzige im Raum, dass sonst niemand ihren Wutausbruch miterlebte - außer Lumina am Telefon.
 

Kaum war die junge Frau selbst aus dem Firmengebäude geflüchtet, rief sie ihre beste Freundin an. Es genügte ein hitziges Fauchen, sowie eine Reihe von Beleidigungen, die Rin nur in Tobsuchtsanfällen verwendete, dass die Schwarzhaarige wusste, von wem die Rede war.

"Dieser Wichser kann es echt nicht lassen", knurrte Lumina und atmete tief aus, "der hat das Geld der Kaiba Corp. gerochen und meint jetzt, dasselbe Spielchen nochmal abziehen zu können."

"Ich schwöre dir, Lumina, wenn ich ihn jemals wieder zu Gesicht bekomme, leg' ich ihn übers Knie - und nicht auf die angenehme Art." Ihre Stimme zitterte leicht, ebenso ihre Hände, dass ihre DuelDisk zu vibrieren begann. Wortlos schob Makoto ihr eine frische Tasse Kaffee hin, die Rin nickend entgegennahm.

"Lass' dich nicht von diesem Vollarsch runter ziehen", sagte schließlich Lumina, die wusste, dass Rin auf weitere Sticheleien nur noch fuchsiger reagierte, "du bist nicht mehr die kleine verletzliche Rin, die sich in ihrem Zimmer verkriecht. Die Zeiten hast du hinter dir. Konzentrier' dich auf den Worldcup und lass' diesen Spinner doch sagen, was er will. Du weißt doch, wie die Presse ist - heute so, morgen so."

"Ich bin froh, dass sie mich deswegen nicht gefeuert haben", seufzte Rin.

"Dein Großkotz von CEO wäre auch ganz schön dumm, wenn er dich wegen so was gehen ließe. Wenn du es noch nicht gesehen hast: du bist gerade deren Vermarktungsmaschine. Und außerdem ist schlechte Publicity immer noch besser als keine."

"Ich weiß nicht, ob mich das jetzt aufbaut." Langsam beruhigte sie sich und ließ sich auf den Hocker neben der Theke nieder. "Aber vermutlich hast du recht. Ich muss mich jetzt auf die Duelle konzentrieren." Sie dachte an übermorgen und daran, wer ihre nächsten Gegner sein würden. Da gab es Typen, die eine weitaus größere Gefahr für sie darstellten als ein dahergelaufener Betrüger.

"Danke", murmelte Rin in den Hörer. Sie konnte deutlich spüren, wie Lumina zurück grinste: "Und sorg' Mal dafür, dass unser Zuhause eine pressefreie Zone wird."

"Na klar. Ich spreche mit meinem Bodyguard, dass er sie mir vom Hals schaffen soll."

"Kannst du dir nicht einen dieser Kerle mit Stacheligelfrisur leihen?" Rin musste lachen.

"Ich frag' mal, ob gerade einer freisteht."

Jetzt fühlte sie sich besser. Als sie auflegte, huschte ein leichtes Lächeln über ihre Lippen. Sie war noch immer aufgebracht und zerstreut. Das Telefon half, dass sie sich selbst nicht mehr so sehr verabscheute.

"Alles klar bei dir?", fragte vorsichtig ihre Lieblingskassiererin. Sie hatte sich einige Brötchen geschnappt und begann diese mit frischen Salatblättern zu garnieren.

"Geht so", gestand die junge Frau, die das Gefühl hatte, der Braunhaarigen vertrauen zu können.

"Meine Fehler der Vergangenheit haben sich nur bei mir gemeldet. Ich dachte eigentlich, dass das Thema abgehakt wäre, aber die Presse schien das anders zu sehen

"Ich muss zugeben", flink schnitt Makoto die Tomaten in Scheiben, "ich hab bisher nur von deinem fulminanten Sieg gehört", sie lächelte warmherzig, dass sie es erwidern musste.

"Wenn ich Glück habe, wird die Geschichte schnell im Sande verlaufen. Ich ärgere mich einfach bis heute noch über meine Dummheit." Sie stützte sich mit dem Ellenbogen ab und beobachtete weiterhin Makoto. Ihre routinemäßigen Bewegungen hatten eine meditative Wirkung auf sie.

"Worum ging es denn? Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie du eine Dummheit begangen haben sollst."

"Im Grunde war ich einfach nur naiv", Rin legte den Kopf schief, "in der Oberstufe hatte ich eine Beziehung mit einem Typen, von dem ich glaubte, dass er der Richtige wäre. Dass es für immer sein könnte, obwohl wir erst ein paar Monate zusammen waren."

"Was ist passiert?"

"Seine Familie ist in eine andere Stadt gezogen. Er sagte es mir als es beschlossen wurde und machte am selben Tag noch mit mir schluss. Er meinte, dass eine Fernbeziehung keinen Sinn macht und dass er das Absehbare nicht hinauszögern will. Ich war am Boden zerstört, ich konnte nicht fassen, dass es ihm so leicht viel. Er hat zu mir geredet als wäre es ganz selbstverständlich. Ich war verletzt und hatte Zweifel an mir", Rin nahm einen kräftigen Schluck. Sie hatte ihren Schuss Milch vergessen, aber die Bitterkeit tat ihr gerade gut, "kurz darauf lernte ich jemanden im Internet kennen. Einen Kerl. Er war etwa zehn Jahre älter als ich und sah verdammt gut aus. Er war nett, wir haben viel miteinander geschrieben und uns kurz darauf getroffen. Bei unserem ersten Date war er aufmerksam und zuvorkommend. Zum Abschied haben wir uns geküsst, es fühlte sich richtig an, auch wenn ich noch nicht mit meiner letzten Beziehung richtig abgeschlossen hatte. Wir trafen uns ein paar Tage später wieder. Noch immer zeigte er mir sein Interesse und ich sprang voll darauf an. Naja, zumindest bis er mich fragte, ob ich noch zu ihm nach Hause will... Auch wenn etwas in mir aufgeregt war, konnte ich diesen Schritt nicht machen. Ich habe gemerkt, dass ich noch nicht bereit für was Neues war. Es ging mir zu schnell. Er brachte mich noch nach Hause, er wirkte auch nicht sauer oder so. Aber", sie krallte ihre Finger in die Tasse, "danach hat er sich nicht mehr gemeldet, selbst wenn er online war, antwortete er nicht. Und mein Selbstwertgefühl ist wieder ein wenig mehr angekratzt worden. Zu dem Zeitpunkt dachte ich, dass ich es nicht hätte schlimmer treffen können. Was für ein Irrtum", lachte sie auf und spürte wie die Galle zurück in ihren Rachen kehrte, "danach ging es richtig los: Auf einmal erzählte sich die halbe Schule, ich würde mit fremden Männern schlafen und mich dabei fotografieren lassen. Ich dachte erst, es hätte sich jemand einen Scherz erlaubt. Nur fühlte es sich nicht wie einer an. Lange Rede kurzer Sinn: am Ende stellte sich heraus, dass der Kerl, mit dem ich geschrieben hatte, sich unter falschen Namen in die Chatportale einloggt, Mädchen anschreibt, mit denen er sich dann verabredet...und mit ihnen schläft. Danach beginnen die Drohungen. Unzählige Mails, Briefe, Posts in sozialen Netzwerken. Am Ende geht es um eine Stange Geld, die die Betroffenen zahlen sollen. Damit die Fotos nie an die Öffentlichkeit kommen."

"Aber du hast doch nicht mit ihm geschlafen!", erhob nun Makoto ihre Stimme und stellte das Messer beiseite, "da kann es doch keine Fotos geben."

"Gibt es auch nicht", mit zwei weiteren Schlucken war der Kaffee leer getrunken, "worum es geht ist doch, dass die anderen glauben, dass es welche gibt...am Ende hat er bekommen, was er wollte und ich scheinbar das, was ich für meine Naivität verdient hatte", die letzten Worte knurrte sie in die Tasse.

"Das war doch nicht deine Schuld", lehnte sich die Kassiererin nach vorne, dass sie nur eine Handbreite von Rin entfernt war, "jeder wäre auf so eine Masche reingefallen. Du darfst dich von so was nicht runterziehen lassen."

"Der Kerl", entgegnete Rin und schob die Tasse beiseite, "ist nicht das eigentliche Problem. Klar, ich bin wütend und ich will ihm am liebsten an die Gurgel gehen...ich hatte größere Probleme damit, dass mir niemand glaubte. Dass diese Geschichte hingenommen wurde und das Geld einfach bezahlt-" Sie hielt inne. Das Gesicht ihrer Mutter fiel ihr wieder ein. Wie sie ihre einzige Tochter angesehen und ständig mit dem Kopf geschüttelt hatte. Dazu ihre Worte - die ihr keinen Spielraum zum kontern gegeben hatten. Hastig schob sie diesen Gedanken beiseite.

Vergiss' sie. Du hast Lumina, die dir immer geglaubt hat. Die anderen brauchst du nicht.

"Ist das der Grund", Makoto stemmte die Hände in die Hüften, "warum du seit drei Jahren keine Beziehung hattest?"

"Möglich. Wenn es ernst werden könnte, spüre ich, wie sich Panik in mir aufbaut. So als könnte eine Traumblase platzen und mich in die Tiefe reißen." Ihre letzte Beziehung war ein zaghafter Versuch gewesen, aus diesem Kreislauf der Minderwertigkeit heraus zu kommen. Dieser Versuch war nach hinten losgegangen, dass sie sich mehr denn je auf ihr Ziel der Berufsduellantin gestürzt hatte.

"Auch wenn es ziemlich abgedroschen klingt", die Braunhaarige blickte sie sanftmütig an, "aber wenn du den Richtigen findest, wird es keine Rolle mehr spielen." Rin musste an Yamato denken, und daran wie geduldig und einfühlsam er zu ihr war - egal wie wenig Zeit sie hatte. Ihr war klar, dass sie sich mehr darauf konzentrieren sollte, was vor ihr lag. Sie nahm sich vor, das heute noch in die Tat umzusetzen.

"Endlich Wochenende", Mokuba streckte die Beine aus, dass sie das Hinterteil des Fahrersitzes berührten. Mit geschlossenen Augen und einem überbreiten Grinsen ließ er den Kopf in den Nacken fallen. Er wirkte wie ein Athlet am Ende eines erfolgreichen Wettkampfes - ausgepowert und zufrieden. Es fehlten lediglich die Schweißperlen und die keuchenden Atemstöße. Der jüngere der Kaiba-Brüder war die Versinnbildlichung eines zufriedenen Angestellten an einem Freitagnachmittag.

"Du scheinst zu vergessen", entgegnete der Ältere und hatte sich mit übereinander geschlagen Beinen neben seinen jüngeren Bruder gesetzt, "dass wir noch nicht fertig sind." Im Gegensatz zu dem Schwarzhaarigen war Seto Kaibas Gesichtsausdruck gleichbleibend.

"Ach", lachte der schwarzhaarige Wuschel auf, "die Besprechung mit der Kommission ist doch nichts. Derselbe Larifari wir jedes Jahr und am Ende wird beschlossen, dass wie es so wie immer machen. Das strengt mich nur halb so sehr an als mir Hentos ständiges Gequake anzuhören", er verzog genervt das Gesicht, dass das Kindliche in seinen Zügen die Oberhand gewann, "als ob ich dein lebendes Sprachrohr wäre und nichts besseres zu tun hätte." Er stieß einen leisen Pfiff aus. Als Bruder des mächtigen Firmenchefs bekam er oft den Großteil der Schleimereien ab. Der Jüngere war trotz seiner Erfahrungen noch viel zu nett mit dem Personal, auch wenn er in den Jahren viel dazu gelernt hatte und die meisten Anliegen einfach ignorierte.

Langsam ließ Mokuba den Kopf in Richtung Fensterscheibe sinken. Seine braunen, klaren Augen sahen verträumt in das Sommergewitter, das vor wenigen Minuten schlagartig begonnen hatte. Klarer Himmel war gewichen, dass eine graue Wolkendecke die Stadt überzog und mit plätschernden Gesängen seinen allmonatlichen Ritus beschwor. Mokuba lächelte in sich hinein: "Zumindest haben wir dich schon mal aus der Firma bekommen. Das heißt", ohne seinen großen Bruder anzusehen, begann er schelmisch zu grinsen, "nach der Besprechung ist Schluss für heute." Dies sagte er wie eine Mutter, die ihrem Kind eine letzte Geschichte vor dem Zubettgehen erlaubte, bevor sie anschließend das Licht ausschalten würde. Was für Mokuba die Chance war, seinen älteren Älteren einmal ganz für sich zu haben, passte dem jungen Firmenchef so sehr wie dem kleinen Jungen, der noch nicht ins Bett gehen wollte. Ausgerechnet heute fanden die Besprechungen statt. Er hatte nicht die Nerven, sich mit Kleinkram zu befassen. Wie Mokuba bereits sagte, einigten sie sich letztendlich immer auf dasselbe, dass seine Präsenz eigentlich nicht von Nöten wäre. Aber er gehörte nun mal der Kommission an, wofür seine Firma im Gegenzug einen Sonderstatus während sämtlicher Turniere erhielt. Die Privilegien, die damit einhergingen, waren wichtig für den weiter steigenden Umsatz und der hohen Präsenz seiner Technologien - das sah selbst der mächtige CEO ein. Es änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass er lieber in den geheimen Anlagen weiter gearbeitet hätte.

Gestern Abend hatte er es nicht mehr nach Hause geschafft. Zu sehr war er in das System und seine weiter steigenden Rätsel vertieft. Drei Uhr morgens war ihm schließlich aufgefallen, dass er noch immer nicht weitergekommen war. Die Notwendigkeit des Schlafens war für ihn etwas Unumgängliches und nichts, wodurch er sich eine Auszeit gönnte. Ein paar Stunden Schlaf genügten ihm - er war es gewohnt, früh aus dem Haus zu sein und erst kurz vor der Grenze des Unerträglichen sein Bett aufzusuchen. Selbst an vermeintlich freien Tagen konnte er nicht länger liegen bleiben. Er sah es als Bürde Seitens der Natur, dass er gezwungen war, aufzuhören. Schlaf hinderte ihn nur daran, weiter zu arbeiten. Gerade, wenn er an einem Punkt war, an dem er nicht weiterkam, war es für ihn zermürbend, zunächst damit aufzuhören.

Wie kann sich dieser Raum den mathematischen Gesetzen widersetzen?

Er hatte im virtuellen Raum gestanden. Jener Raum, dem er Rin aufgetragen hatte, nach seinen Regeln zu kreieren. Er konnte sich nicht erklären, wie sie es geschafft hatte, sein System auszutricksen.

Es ist ihr Gehirn. Irgendwie hat sie es geschafft, die gesprochenen Informationen entgegen ihrer Gedanken zu steuern. Unmöglich, dass sie das bewusst getan hat! Das erklärt nur nicht die Frage, wie sie in meinem eigenen System einen Ort erstellen konnte, in dem ich keinen Zugriff habe-

Kaiba ballte die Hände zur Faust

Es machte ihn fuchsig. Nicht nur, dass es möglich war, ihn in seinem eigenen Programm auszusperren. Schon allein diese Tatsache war ihm unbegreiflich. Niemals würde er an der Perfektion seines Programmes zweifeln, erst recht nicht an dessen Fähigkeiten, mit denen es kein Hindernis gab, an dem er nicht vorbei könnte. Dieser Dungeon - den Kaiba nur so benannt hatte, weil er in diesem ein verschachteltes System ausarbeiten wollte - war wortwörtlich zu einem Rätsel geworden. Er musste sein System durchlaufen lassen, um sämtliche Knackpunkte entschlüsssln zu können. Heute morgen hatte er die Arbeiten nicht fortsetzen können. Das System war noch am Arbeiten gewesen, die einzelnen Dateien standen noch zur Überprüfung. Die Warterei machte ihn rasend. Die Bilder der virtuellen Umgebung tauchten ständig auf: Die Wiese, in ihrem perfekt ausgeleuchtenden Zustand; die schwingenden Sommerblumen, aus denen kleine Insekten krabbelten, Bienen und Hummel sich sammelten; der Wald, der sich verdichtete, dunkler wurde, je weiter er hinein gelockt wurde bis er schließlich zu dem Haus kam...

Dieses Haus

Wieso kam er nicht in dieses Haus rein? Er wollte so schnell wie möglich Antworten, und wenn er Rin persönlich in den Raum zerrte. Sein Blick wurde eisig. Kaum den Gedanken beendet, erschien das Gesicht der jungen Frau hinter den Glasscheiben seiner Firma. Das Bild war keine Illusion, für die er es kurz gehalten hatte. Die Braunhaarige ging durch die Drehtür, hinaus in das Sommergewitter. Als eine der letzten, die an einem Freitagnachmittag das Gelände verließ, war sie die einzige, die aus der Tür trat, dass der gesamte Fokus auf ihrer Erscheinung lag. Trotz des Regens, der als dicke Tropfen hinabstieg, bewegte sie sich ruhig, fast als könnte ihr der Regen nichts anhaben. Ihre Kleidung, die binnen Sekunden durchweicht wurde, sagte etwas anderes. Zu seiner Verwunderung blieb sie mitten auf dem Fußweg stehen und sah hinauf, als wäre sie nicht sicher, ob der Regen tatsächlich von den Wolken kam.

"Ich kann das einfach nicht", murmelte neben ihm sein Bruder und biss sich auf die Unterlippe. Noch bevor der junge Firmenchef verstand, ließ Mokuba das Fenster runterfahren und steckte den Kopf hinaus.

"Mokuba, was hast du vor?", langsam begann es in Kaibas Kopf zu arbeiten.

"Ich lass' sie nicht im Regen stehen", entgegnete der Wuschelkopf trocken. Der Ältere sah ihn perplex an: "Ich habe dir doch erst gestern gesagt-"

"Rin", rief Mokuba, seinen Bruder ignorierend und wischte sich die Tropfen von den Strähnen seines Ponys..

"Mokuba!", zischte der junge Firmenchef, "nein!"

"Rin", nun winkte er auch noch, dass schließlich' Angesprochene zur Limousine herüber sah. Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen war sie genauso überrascht angesprochen zu werden. Den Blick zunächst auf das Gefährt werfend, sah sie nun zu dem jüngeren Kaiba herüber, der sie regelrecht anstrahlte. Vorsichtig näherte sie sich der Luxuskarosse, während dem Älteren der Kaiba Brüder nichts anderes übrig blieb, als starr geradeaus zu sehen.

Rin stand nun direkt vor dem Fenster und beugte sich leicht hinunter. Ihr Blick war genauso irritiert, wenn sie sich auch bemühte, freundlich zu bleiben.

"Steig' ein", sagte der junge Kaiba, dass Rin die Augen aufriss.

"Ähm-", aber auch ihr ließ er keinen Raum zum Protestieren.

"Du willst doch nicht ernsthaft hier draußen stehen bleiben!?", grinste er, "komm' schon. Ich werde nicht aufhören zu fragen, bis du eingestiegen bist." Aus dem Augenwinkel sah er ihr Zögern. Scheinbar flüchtig sah sie an Mokuba vorbei, dass ihre tiefen Seelenpiegel auf seinem eiskalten Blick ruhten - für einen Augenblick, aber lange genug, dass beide die Blicke des anderen wahrnahmen. Sie fasste sich an den Nacken.

"Okay. Wenn du mir keine Wahl lässt", flüchtig lächelte sie, wenn auch nicht gerade überzeugend." Darauf riss Mokuba die Beifahrertür auf und rutschte zu seinem großen Bruder heran, der daraufhin einen giftigen Blick an den Jüngeren richtete, bevor er sich gänzlich der Fensterscheibe neben sich zuwandte.
 

~
 

Mokuba! Wieso-?

Dieser Tag entpuppte sich als der schlimmste ihres Lebens! Rin schloss die Tür und versuchte so klein wie möglich in diesem Sitz zu wirken. Das riesige Innere des Wagens erleichterte ihr das Vorhaben. Noch nie hatte sie das Innere einer Limousine gesehen - nur aus dem Fernsehen, da war der Wagen jedoch eher zur Minibar umfunktioniert worden. Dieses Innere war geradezu bescheiden - wenn der Begriff für ein derartiges Gefährt überhaupt benutzt werden durfte.

"Das ist wirklich nicht nötig", sagte Rin, in der Hoffnung, irgendwie doch noch hier heraus zu kommen.

"Ach Quatsch", winkte der Schwarzhaarige ab, "kein Problem. Sollen wir dich nach Hause bringen?"

Wir

Am anderen Ende blickte der junge Firmenchef wie eine Eissäule aus dem Fenster, dass Rin die Kälte bis zu sich spüren konnte. Die Ablehnung, die mit ihr einher ging, war in jeder Sekunde greifbar, dass die junge Frau den Beutel mit Wechselkleidern auf ihren Schoß platzierte und diesen fest in ihre Arme schloss, dass ihr Oberkörper fast gänzlich bedeckt wurde. Obwohl sie nichts Durchschimmerndes trug, hatte Rin das Gefühl, die Feuchtigkeit legte die Sicht unter ihrer Bluse frei. Sie dachte an das Vorstellungsgespräch, dass automatisch die Erinnerung an die gestrige virtuelle Simulation zurückkehrte. Diese wäre ihr gerade lieber - genauso Seto Kaibas digitale Version, die im Vergleich geradezu menschlich wirkte, im Gegensatz zu dem Mann auf der linken Beifahrerseite. Dass die Feuchtigkeit auch noch ihren Körper erschaudern ließ, machte es nicht besser für sie.

"Danke, aber es reicht vollkommen, wenn ihr mich vor dem Domino-Mall-Parkplatz rausschmeißt", sie wollte noch ein paar Einkäufe erledigen. Sie kannte ein paar Seitengassen, in denen kleine Stände frische Lebensmittel verkauften - ein Geheimtipp, dass die junge Frau bezweifelte, dort jemanden zu treffen, der sie erkennen könnte.

Als Mokuba daraufhin skeptisch die Augenbraue hob, ergänzte sie, "ich bin da später noch...verabredet."

"Oh", Mokuba sah sie mit seinen großen runden Augen an, bevor kleine Fältchen entstanden und ein schiefes Grinsen seine Gesichtsmuskeln zucken ließen, "eine Verabredung. Etwa mit deinem Freund?", die Frage kam so unerwartet, dass sie ihn unwissend anblinzelte.

"Meinem Freund?"

"Na der Kerl, den du zu deinem Duell mitgebracht hast."

"Yamato?", Rin schüttelte den Kopf - Mokuba, wieso tust du mir das an?! - "nein, wir sind nicht zusammen. Er ist ein Freund."

Wow, das kam jetzt einfacher über die Lippen als ich dachte

Rin war stolz auf sich, sie hatte keine dumme Ausrede gestammelt, welche in dieser Gesellschaft nicht verwunderlich gewesen wäre.

"Lass mich raten", Mokuba grinste nicht mehr so schief, dafür hellte sich sein Gesicht wie ein kleines, glückliches Kind auf, "du hast momentan nicht die Zeit für was Festes."

Will er mich ärgern?

"So in der Art", entgegnete sie knapp und packte noch fester die Tüte. Sie war froh als Mokuba sich zu dem Fahrer vorbeugte und die Adresse weitergab. Endlich startete der Wagen und der junge Kaiba lenkte in ein angenehmeres Thema ein.

Zum Glück

"DuelMonsters scheint bei dir auch sowas wie der Sinn deines Lebens zu sein." Sie wusste, dass er auf seine vorherige Frage einging, dass Rin kurz überlegte, um nicht noch einmal in diese peinliche Lage zu geraten: "Komme ich so rüber?", stellte sie stattdessen eine Gegenfrage.

"Du gehst aufs Ganze", Mokuba legte einen Finger aufs Kinn, "ich habe immer den Eindruck, dass du ohne Limit spielst. So als wäre eine Niederlage gleichzusetzen mit dem Tod." Er machte eine kurze Pause. Es schien, als dachte er über das Gesagte nach. Sein Blick wurde durchscheinender.

"Lumina hat das auch immer zu mir gesagt, wenn wir uns duelliert haben", das Gesicht ihrer Freundin tauchte auf. Wie sie eine Augenbraue hochzog und den Kopf schief legte - eine Geste, die ihre Freundin unbewusst tat, wenn sie bluffte.

"Ich hab gesehen, dass sie auch eine DuelDisc bei sich trug. Ich kann mir nicht richtig vorstellen, welcher Typ von Duellant sie ist", der Schwarzhaarige schien ernsthaft zu überlegen. Rin musste schmunzeln. "Ein Magier-Typ."

"Echt", Mokuba schien verdutzt, "so richtig? Mit schwarzem Magier und allem?"

"Jede Karte von DuelMonsters, die mich an den Rande des Wahnsinns bringen sollte. Angefangen vom schwarzen Magier über den Paladin bis zu Kuriboh."

"Ein richtiges Yugi-Deck."

"Eher ein Deck, dass mir den letzten Nerv rauben sollte. Ich muss zugeben, ich hab sie dazu getrieben, mir so auf den Zahn zu fühlen."

"Das klingt nicht gerade nach spaßigen Duellen." Rins scheues Lächeln wurde zu einem finsteren Grinsen. "Ich duelliere mich nicht aus Spaß."

"Nicht mal mit deinen Freunden?"

"Wenn ich mich mit Lumina duelliere, bin ich noch viel schlimmer. Darum spielen wir auch nur noch selten miteinander. Sie hat es nur getan, um mich zu ärgern. Aber ich hatte es auch nicht anders verdient", ihr Grinsen wurde breiter, "schließlich hatte ich etwas, dass sie wollte. Das habe ich ihr in jedem Duell vor Augen gehalten."

"Ich frage mich, was es war", Mokuba Augen blitzten aufgeregt.

"Du bist ganz schön neugierig, weißt du das?", sie sah ihn von der Seite an - ein wenig tadelnd, wenn ihr Blick auch leicht neckend war.

"Naja", Mokuba zeigte seine Zähne, dass die braunen Seelenspiegel zu leuchten begannen. Sein leicht kindliche Auftreten verdrängte das Ungemütliche, das diesen Wagen umgab. Kurz war der stumme Firmenchef und seine alles gefrierende Aura vergessen.

"Sieh' es als kleine Gefälligkeit an", seine Augen kniffen sich durch sein fortwährendes Lächeln immer weiter zusammen, "dafür, dass wir dich mitnehmen."

"So ist das also.. Na dann leg' mal los. Du willst doch sicher etwas Bestimmtes wissen", sie sah ihn herausfordernd an, dass er kurz innehielt, bevor er noch breiter lächelte.

"Ach, ich find' es einfach nur spannend. Deine Art dich zu Duellieren - irgendwie berechnend und gleichzeitig unerwartet. Da hab ich mich gefragt, ob du schon immer so spielst."

"Es hat sich vorher nie die Gelegenheit ergeben, das herauszufinden", entgegnete sie und versuchte sich im Geiste die unzähligen Duelle mit Lumina vorzustellen, die manchmal dazu geführt hatten, dass sie danach stundenlang kein Wort miteinander gewechselt hatten.

"Mit meiner besten Freundin", Rin versuchte die richtigen Worte zu finden, "habe ich mich schon immer auf diese Weise duelliert." Der Wagen lenkte in die nächste Kreuzung, dass Rin ein Plakat des Worldcups entdeckte. Schnell sah sie weg. "Dadurch, dass sie ihr Deck so aufgebaut hat, um meine Drachen zu vernichten, haben wir eher wie Feinde miteinander gespielt."

Wenn man das Spielen nennen kann.

"Lumina hasst nämlich Drachen und alles, was damit zu tun hat."

"Tatsächlich?", blinzelte Mokuba, "dann habe ich mir es nicht eingebildet, dass sie etwas gegen unsere Firma hat", die letzten Worte murmelte er, während er den Feierabendstau vor sich beobachtete.

"Ja, aber das hat einen anderen Hintergrund."

"Ich kann mir nicht vorstellen, was das sein soll", er verschränkte die Arme als hätte man ihn persönlich beleidigt.

"Es gab damals ein Spiel, worauf sie völlig abfuhr. Das mit den kleinen Kapselfiguren auf einer Spielfeldmatte. Muss, glaube, sieben Jahre her sein als die Kaiba Corporation die Marke aufkaufte und schließlich einstampfte."

"Ich erinnere mich an das Spiel. Wir haben es kurz nach der Eröffnung des Themenparks abgesetzt", Mokubas Blick ging flüchtig zu seinem Bruder, ohne diesen direkt anzusehen: "Stimmt. Es war zu der Zeit ziemlich beliebt."

"Sie trauert dem Spiel noch heute hinterher und nachtragend sein gehört zu ihren Stärken", sie hatte das Gefühl, den Jüngeren aufbauen zu müssen. Auch wenn er es gut zu vertuschen wusste, sah sie in seinem Gesicht, dass ihn etwas beschäftigte, wollte aber nicht zu sehr persönlich werden. Noch immer saß Seto Kaiba wie eine Statue am anderen Ende. Auch wenn er kein Wort sagte und womöglich nicht einmal zuhörte, würde sie nichts fragen, worin er sich in seiner Privatsphäre angegriffen fühlen könnte. Zwar sprach der schwarzhaarige Wuschel sehr oft und gerne über das Leben außerhalb der Kaiba Corporation, aber in Gegenwart seines Bruders musste sie es nicht unbedingt provozieren.

"Sag' mal", Mokubas Worte wurden schwächer, aber sie konnte ihn noch deutlich verstehen, "wieso spielst du DuelMonsters?" Seine Frage war ernst, als müsste sie die richtige Antwort geben.

Ich frage mich, was er wirklich wissen will.

"Als das Spiel neu rauskam", Rin hatte noch deutlich das Bild des anfänglichen Logos vor Augen, "gab es ein Geschäft am Rande der Innenstadt, dass sein Schaufenster mit einem gewaltigen Plakat versehen hatte", ihre Augen bekamen etwas Verträumtes, Rin dachte gerne daran zurück - für sie hatte es damals etwas Magisches gehabt, "darauf war der weiße Drache mit eiskaltem Blick abgebildet - groß, gewaltig, einfach atemberaubend. Ich hatte schon immer eine Schwäche für diese Kreaturen." Die Spiegelung des linken Beifahrerfensters ließ die junge Frau jenen eiskalten Blick spüren. Ein kurzes Zucken glaubte Rin bei Seto Kaiba gesehen zu haben, nur ganz flüchtig, dass es auch Einbildung gewesen sein könnte.

"Krass", erhob Mokuba die Stimme, und sein Gesicht wurde wieder heller, "war es das Plakat in der 42. Straße, neben dem Möbelmarkt"

"Was für eine genaue Beschreibung... aber ja." Die Limousine verlor immer mehr an Tempo - sie waren kurz vor der Domino-Mall - man brauchte nur noch über eine Ampel, dann tauchte auch schon der Parkplatz auf.

"Ich hab gesehen, dass du selbst ein paar der Weißen in deiner Sammlung besitzt. War bestimmt ein ganzes Stück Arbeit, sie zu bekommen." Fast hätte Rin aufgelacht. "Man kann es schon als Glück bezeichnen, dass ich sie überhaupt in die Finger bekommen habe. Wäre der Ladenbesitzer nicht so freundlich gewesen und hätte sie für mich reserviert, würde ich heute noch ohne dastehen."

"Ich kenne nur einen Ladenbesitzer, der so freundlich ist."

"Ich auch", lächelte sie und fasste sich über ihre DuelDisc, in der sie ihr Sonderdeck hinein gesteckt hatte, "ich komme aber auch ganz gut ohne sie zurecht."

"Was war dein erstes Monster?" Rin brauchte nicht lange überlegen. Sie zückte die zweite Karte ihres Decks und hielt sie dem jüngeren Kaiba hin.

"Sieht ja nicht so stark aus."

"Pah", jetzt konnte sich Rin ein Lachen nicht verkneifen, "sie hat gut zu mir gepasst - ein harmloses Monster mit nur einem Stern und mikrigen Lebenspunkten", sie sah zu dem Drachen, "umso überraschender kommt sein Effekt." Sie merkte, dass die Limousine angehalten hatte: "Ich hoffe, ich hab meine Gefälligkeit getan." Sie sah zur Beifahrertür, wenn auch die Sicht durch den Regen etwas verblasste. "Danke fürs Mitnehmen", sie neigte leicht den Kopf.

"Isono", wandte sich der Jüngere an den Fahrer, "gib' Frau Yamamori einen Regenschirm für unterwegs.

"Sofort, junger Kaiba", damit stieg Isono aus, lief einmal um den Wagen und war nach einer Minute vor der hinteren Beifahrertür, die er Rin aufhielt. Mit der anderen Hand hielt er den Regenschirm - geöffnet und bereit ihn Rin zu überreichen. Sie wandte sich an Mokuba. Bevor sie erneut zum Dank ansetzen konnte, winkte er ab und sagte: "Viel Spaß und genieß' dein Wochenende."

Klingt ja so als wüsste er nicht, dass ich morgen mit seinem Bruder arbeite

"Du auch", sie richtete sich auf, dankbar nicht erneut vom Regenschauer erfasst zu werden, "bis Sonntag."

"Bis dann", Mokuba rückte von seinem Bruder ab und machte es sich im Inneren der Limousine bequem. Ohne den Älteren anzusehen, schloss sie die Beifahrertür, bedankte sich bei Isono für den Regenschirm und überquerte den Fußgängerüberweg, der sie weg von der Mall und in Richtung der weniger überfüllten Straßenecken brachte. Trotz der Peinlichkeit, die diese Fahrt mit sich gebracht hatte, war sie dem Schwarzhaarigen dankbar, dass er sie abgelenkt hatte. Der Groll war bis nach ganz hinten gerückt, stattdessen dachte sie an den Grund, wieso sie sich duellierte und daran, dass der schwarzhaarige Wuschelkopf es immer wieder schaffte, ihr vor Augen zu führen, was wirklich zählte.

Der kleine Bummel durch Dominos unscheinbare Gegenden fühlte sich ein Stück weit befreiend an. Nachdem sie wochenlang von einem Duellschauplatz zum nächsten gerannt war, tat ein einfacher Spaziergang durch die verwinkelten Straßen der Altstadt gut. Es gab niemanden, der sie hetzte, sie hatte alle Zeit der Welt durch die Gassen zu schlendern, die nur Einheimische und Kenner der Stadt zu schätzen wussten. Mit ihren Wochenmärkten, den kleinen Ständen, in denen allerhand Krimskrams darauf wartete, beäugt und bewundert zu werden, war es ein angenehmer Kontrast zu den modernen und überfüllten Hauptstraßen der City. Schon als kleines Kind war sie von den Kuriositäten fasziniert gewesen, die Händler aus den verschiedensten Teilen der Welt aufgelesen hatten und nur hier zum Verkauf anboten. Neben Fleisch, Fisch und diversem Frischobst und -gemüse gab es die kuriosesten Souvenirs, von denen man vorher nicht wusste, dass sie überhaupt existierten, geschweige denn man sie gebrauchen könnte. Rin war oft mit ihrer Mutter hier gewesen. Hauptsächlich um den Wocheneinkauf mit allerlei Spezialitäten abzurunden. Schon früh hatte sie ihr die Vorzüge guter, frischer Küche nahegebracht. Kochen und Backen gehörte einfach zu den Grundlagen einer guten Hausfrau - so hatte sie es immer formuliert - und Yukiko Yamamori war der Inbegriff einer perfekten Hausfrau. Ihre Mutter hätte gut als Vorzeigeprojekt hingehalten - jede Frau, die glaubte, ihren Job Zuhause gut zu machen, wäre von ihr eines Besseren belehrt worden. Sie beherrschte alles, ohne jemals den Eindruck zu erwecken als kostete es sie Anstrengung. Über Nacht ein Festmahl für zwanzig Personen zaubern, während die Küche ihren alljährlichen Hausputz bekam? Oder die Kleider für den Abschlussball nähen, obwohl sie mit Grippe ans Bett gefesselt war? Für ihre Mutter kein Problem! Sie beherrschte die Riten der Teezeremonie, konnte in feinster Kalligraphie Einladungen verschicken und beherrschte die Kunst des Blumenbindens besser als so mancher Florist. Für Rin war sie die Verkörperung einer tadellosen, traditionellen Frau, die vor hunderten von Jahren jeder Familie Ehre gemacht hätte. Dass sie die Rolle manchmal zu streng nahm, war nur eines von vielen Nebeneffekten, die ihre einzige Tochter zu spüren bekam. Nicht selten trat zum Vorschein, dass sich ihre Mutter mehr als nur ein Kind gewünscht hätte, um das sie sich kümmern und dem sie all ihre Fürsorge schenken konnte. Dass Rin keine weiteren Geschwister hatte war ein Seitenhieb Seitens des Schicksals gewesen. So projizierte Yukiko die Erwartungen ihrer platonischen vier, fünf Kinder einzig auf Rin - eine gebündelte Ladung Sorge, Hoffnung und Ehrgeiz, die sie, seit sie denken konnte, verfolgten. Neben dem schulischen Erfolg musste Rin stets in sämtlichen häuslichen Pflichten versiert sein, dass nicht nur ein paar Geheimrezepte und Putztechniken hängen geblieben waren. Darum wusste Rin genau, wie ihre Mutter ein Dankesmahl zubereiten würde.
 

Nachdem sie lange gegrübelt hatte, wie sie Yamato ihre Dankbarkeit ausdrücken könnte, war ihr schließlich eingefallen, wie ihre Mutter immer Okonomyiaki zubereitet hatte, wenn ihr Vater Geschäftskunden oder -partner mit nach Hause brachte. Sie hatte eine eigene Art, das Gericht abzurunden - sie vermischte die Stile von Osaka und Hiroshima und kreierte so eine eigene Komposition, die bisher bei jedem gut angekommen war. Rin hatte nicht vergessen, dass Yamato Okonomyiaki als sein Leibgericht betitelt hatte und wie schade er es fand, bisher kein gutes in Domino-City gegessen zu haben. Auch wenn es eine Weile her war, dass Rin richtig gekocht hatte (abgesehen von den schnellen Mahlzeiten für ihren flauschigen Kochmuffel), wusste sie wie, das Gericht zubereitet werden musste. Im Geiste hörte sie ihre Mutter, während die junge Frau von einem Stand zum nächsten lief, die einzelnen Zutaten einkaufte und ihre Wahl zweimal überdachte, wenn das Gemüse nicht so aussah wie man es sie gelehrt hatte. Ihr Mutter war da sehr penibel; das Gemüse durfte farblich und von der Konsistenz nicht mal um eine winzige Nuance abweichen.

Es verdirbt den Geschmack Yukikos Stimme war so einnehmend, dass sie zwischendrin glaubte, ihre Mutter stünde neben ihr. Ein Gefühl, nur keinen Fehler zu begehen, nistete sich wie ein altes Lied in ihr ein, dass sie den Gedanken sofort abschütteln musste und sich lieber auf ihre eigene Intuition verließ.
 

Ich sollte auch Mehl und Eier kaufen.

Yamatos Küche hatte so tadellos ausgesehen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie bisher eingeweiht worden war. Der Ofen und die Herdplatten glänzten wie frisch aus dem Katalog entsprungen, die Arbeitsplatten schienen wie poliert - kein Kratzer oder ähnliches. Für Rin war es eine Schande, dass das Potenzial der Küche bisher nicht genutzt worden war. Sie verstand, dass Yamato nach Arbeit wohl kaum Lust hatte, für sich etwas zu kochen, konnte es jedoch nicht akzeptieren, sie als bloßes Ziermittel zu betrachten. Die Küche von ihr und Lumina war da das genaue Gegenteil - ein zusammengewürfelter Haufen an Möbeln, die hauptsächlich von ihrer besten Freundin stammten - wie fast alles in ihrer Wohnung. Die kleine Arbeitsplatte und der noch kleinere Kühlschrank boten kaum Platz für ein ausgiebiges drei Gänge Menü, dass es meist nur für Ramen in den simpelsten Variationen reichte. Bei dem Anblick dieser hochmodernen, luxuriös ausgestatteten Küche, die sicher zum Repertoire seines Appartments gehörte, fragte sie sich nicht zum ersten Mal, wie viel der Schwarzhaarige verdiente. Als leitender Finanzplaner für die Stadtwerke musste für ihn schon ein respektables Gehalt abfallen, dass er sich ein Appartement in unmittelbarer Nähe des Geschäftsviertels leisten konnte. Normalerweise waren die Mieten in der Innenstadt und in deren Umkreis unverschämt hoch. Sogar die kleinen Wohnungen, die kaum saniert wurden und in ihrer Bezahlung völlig ungerechtfertigt, gingen schnell vom Markt. Rin erinnerte sich noch genau, wie sie und Lumina beinahe in Ohnmacht gefallen waren als sie die Preise gesehen hatten. Meist waren die Wohnungen noch kleiner als ihre Bruchbude. Größere Apartments wie sie Yamato bewohnte, waren nicht nur hoch im Preis, man kam auch nur sehr schwer an sie heran. Bei nächster Gelegenheit würde sie ihn nach seinen Beziehungen fragen. Anders konnte sie sich nicht erklären, wie er so viel Glück gehabt haben konnte.
 

Weiter durch die Straßen schlendernd, sammelte sie noch die letzten Zutaten zusammen. Sie hatte sich für die dezentere Variante des Gerichts entschieden, die weniger üppig ausfiel, jedoch immer noch stark im Geschmack wäre. Für ausschweifende Details bliebe keine Zeit, wenn sie fertig werden wollte, bevor Yamato nach Hause käme.

Hm, vielleicht noch-

Ihre Aufmerksamkeit wurde unterbrochen als sie Blicke von der Seite bemerkte. Drei Jugendliche, vermutlich aus dem Abschlussjahr, sahen zu ihr herüber.

"Das ist sie. Ganz bestimmt", hörte sie einen der Jungs sagen, während die anderen eifrig nickten.

"Wahnsinn! Rin Yamamori. Sie sieht genauso wie im Fernsehen aus. Genau dieselbe gefährliche Coolness", sagte wiederum ein anderer, dass Rin sich direkt zu der kleinen Gruppe umdrehte, die darauf erschrockene Gesichter machte, als wäre es ihnen nicht bewusst gewesen, dass ihre Stimmen laut und deutlich zu hören gewesen waren.

Rin hatte erst gedacht, dass die Kerle sie ansprechen würden. Etwas hinderte sie scheinbar daran, dass sie stattdessen ein paar Schritte zurück gingen und so taten als hätten sie nicht über die junge Frau gesprochen. Ihr war es nur recht. Es genügte, dass sie auf Arbeit von jedem angesprochen und beachtet wurde. Dass noch die Presse Zuhause auf sie wartete, verdrängte sie derweil.

Sie versuchte nicht weiter über das seltsame Verhalten nachzudenken und setzte ihren Bummel fort. Allmählich erhellte sich der Himmel, der Regenschauer war nur noch ein leises Rascheln verirrter Tropfen, die über ihren Schirm glitten. Rin wollte noch so viele Eindrücke wie möglich in sich aufnehmen. Der Kontrast ihres derzeitigen Lebens war mit jedem weiteren Schritt spürbar. Vor allem die strahlenden Gesichter der Verkäufer und Marktfrauen, die eine Abwechslung zu den vielen falschen Gesichtern waren, denen sie die Woche begegnet war. Mit Freude, dass Rin ihnen die Begeisterung an der Arbeit abkaufte - dem Wetter zum Trotze - grüßten sie ihre Kundschaft, plauderten mit ihrem Nachbarn oder erzählten leidenschaftlich von ihren neuesten Waren, dass Rin nur noch mehr Lust aufs Kochen verspürte. Die Banalität des Alltags hatte Rin die letzten Wochen völlig verdrängt. Es hatte nur noch ein Thema in ihrem Kopf gegeben, dass es ganz schön war, einmal den Stress zu vergessen - auch wenn es ihr schwer viel. Für heute hatte sie es sich fest vorgenommen.

Keine Firma, keine Idioten, kein Ärger Zielstrebig steuerte sie die nächste Kreuzung an. Von hier wusste sie, wie sie zu Yamatos Wohnblock käme. Ohne sich verlaufen zu haben stand sie eine viertel Stunde später vor dem Hochhaus. Sie klopfte sich innerlich auf die Schulter - ausnahmsweise hatte sie ihr Orientierungssinn nicht im Stich gelassen. Den Schlüssel in der Hand haltend betrachtete sie den kleinen grauen Anhänger, der wie ein aufgelesener Jackenknopf aussah. Kurz zögerte Rin. Seltsam war es, die Tür einer Wohnung zu öffnen, die nicht ihre war.

"Yamato sagte, ich solle mich hier wie Zuhause fühlen. Also. Dann mal los!" Ihre Stimme hallte durch den breiten Flur, der so groß sein musste wie ihr Wohn- und Schlafzimmer zusammen.

Sie streifte sich die Schuhe ab, die dem Regen nicht standgehalten hatten. Ihre Socken hatten die Tropfen ebenfalls aufgesogen, dass sie ein schmatzendes Geräusch gaben. Beides verstaute sie neben Yamatos Freizeitschuhen, die auf einer Gummimatte standen - ordentlich der Jahreszeiten sortiert. Anschließend schnallte sie sich die DuelDisc vom Arm ab. Im Gegensatz zu dem restlichen Outfit, war ihre wasserabweisende Disc so trocken wie vor dem Gewitter.

Die Technik hat mal wieder über die Naturgewalt gesiegt. Das schafft aber auch nur einer...Stop! Du wolltest nicht mehr an die Arbeit denken. Also reiß' dich zusammen.

Vorsichtig tippelte sie über den Flur, dass kein Tropfen auf den Teppichboden kam. Vorbei an der Wohnzimmercouch steuerte sie direkt den Küchenbereich an und packte die Lebensmittel aus. Ihre DuelDisc landete mit auf der breiten Küchenzeile. Sie zückte ihr Smartphone aus der mit Wasser vollgesogenen Hosentasche und stellte es neben die einzelnen Zutaten auf. Wenn sie rechtzeitig fertig werden wollte, musste sie die Uhr im Auge behalten. Kurz schrieb sie Yamato eine Nachricht, dass er sich nicht ums Essen kümmern musste, bevor sie schließlich los legte: Ganz im Vorbild ihrer Freundin Makoto schnibbelte sie in Rekordzeit das Gemüse, wusch das Fleisch und schnitt es ebenfalls in mundgerechte Stücke. Es dauerte nicht lang, da stand bereits ein Topf mit gesalzenem Wasser bereit, während daneben in einem etwas kleineren Topf die Sauce angerührt wurde. Direkt davor rührte sie den Teig, den sie erst ein paar Mal selbst gemacht hatte, jedoch schon hunderte Male bei ihrer Mutter beobachtet. Anschließend legte sie ein Geschirrtuch über die Schüssel und entschied sich kurzerhand noch schnell unter die Dusche zu springen. Mit dem Shoppingbeutel ihres Vaters flitzte sie ins Bad und hatte in handumdrehen die klebrigen Kleider abgestreift. Mit einem Klick verschloss sie die Badezimmertür - etwas woran sie sich hier gewöhnen musste, da sie und Lumina nach einem unglücklichen Missgeschick entschieden hatten, die Badtür nicht mehr zu verschließen. Aus dem Duschkopf schoss binnen Sekunden das heiße Wasser und rann über ihren Körper, bevor sie die Temperatur etwas runter schraubte. Selbst an Sommertagen war sie der klassische Warmduscher.

Denk' an was anderes als an Sex unter der Dusche. Denk' an was anderes als an Sex unter der Dusche-

Sie wickelte sich das Handtuch über, das ihr Yamato gestern gegeben hatte, stieg aus der Dusche und beugte sich zu der Papiertüte herunter. Wie Rin vermutete hatte, waren kaum nützliche Kleider darin. Nachdem sie aus ihrem Elternhaus ausgezogen war, hatte sie nicht viel zurückgelassen - zumindest kaum etwas Taugliches. Sie entschied sich für eine lockere Stoffhose, an die sich Rin nicht einmal erinnern konnte, sie jemals getragen zu haben und zog sich ein weites Shirt über, das früher einmal als Nachthemd umfunktioniert worden war. Ihr Aussehen spiegelte nichts von dem wider, womit sich die junge Frau identifizierte. Da sie bereits in ihrer Jugend ihren Look gefunden hatte, der sich anfangs stark an die Cyberpunk-Serie ihrer Kindheit orientierte und daher die Kleider nicht selten in die rockige Achtziger-Schiene gelenkt waren, war sie nie sonderlich stark von ihrem Kurs abgewichen. Wo früher Jeans und Leder dominierten, wurde sie mit der Zeit etwas dezenter - bis auf ihr rotes Mantelkleid, das wohl zu dem Exzentrischsten ihres Kleiderschrankes zählte. Langsam verstand sie, warum der ein oder andere Duellant sich durch das Tragen eines Kleidungsstücks identifizierte. Es gab einem ein Stück weit Identität, die man selbst geschaffen hatte, ohne sich selbst dabei aufzugeben. Ihr jetziger Look erinnerte kaum mehr an die Duellantin Rin - genauso wenig an ihr vergangenes Ich. Keines der beiden Teile hätte sie jemals in der Öffentlichkeit getragen. Für Zuhause - oder Yamatos Zuhause - reichte es. Wenn sie morgen auf Arbeit ging, musste etwas anderes her - auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, was.

Sie befreite sich von dem hohen Zopf und schüttelte die dunkle Mähne, während sie durch den Flur huschte. Hastig erhitzte sie die Pfanne, ließ das Salzwasser aufkochen und schätzte die Menge an Nudeln ab. Der Duft des Schweinefleischs stieg in ihre Nase, zusammen mit dem Kohl und den verschiedenen Kräutern nahm es einen intensiven Geruch an - genauso wie sie es haben wollte. Rin huschte ein Grinsen über die Lippen. Der Duft erinnerte an unzählige Wochenenden mit Bekannten und Freunden, Arbeitskollegen und Geschäftskunden, die alle spät abends satt und zufrieden nach Hause zogen. Je länger sie in der Küche stand, freundete sie sich mehr und mehr mit ihren Vorzügen an. Sie dachte an den letzten Gehaltscheck, die vielen Boni und daran, dass es gar nicht so abwegig war, in Zukunft öfter in solchen schicken Gegenden zu kochen - beim nächsten Mal schon in ihrer eigenen Wohnung? Der Gedanke kam plötzlich. Ein Leben ohne ihre beste Freundin. Sie musste sich schütteln. Bisher war es nie auszumalen gewesen, wie die Zukunft aussehen könnte. Fest stand immer, dass Lumina ihre Studien im Ausland fortsetzen würde. Anfangs hatte dies in weiter Ferne gelegen. Nun stand aber ihre beste Freundin bereits vor der ersten Zwichenprüfung - kurz vor der großen Abschlussarbeit. Wenn alles nach Plan verliefe, würde sich die Schwarzhaarige für ein Auslandssemester bewerben. Sechs Monate, auf denen weitere Monate und Jahre folgen könnten, sollte sie anschließend die heiß ersehnte Doktorantenstelle erhalten. Und Rin? Würde sie das Leben eines Profiduellanten leben, dass sie sich immer erträumt hatte? Allmählich kamen ihr Zweifel, ob der Alltag eines Spielers tatsächlich aus Duellieren, Gewinnen, und noch mehr Duellieren bestand. Die Zeit in der Kaiba Corporation zeigte ihr, dass sie mehr wollte. Mehr als ihr vielleicht gut tat.

Klasse! Soviel zum Thema: Nicht darüber nachdenken.

Sie knirschte mit den Zähnen, das sehr gut in den Tönen der spritzenden Pfanne unterging, und wendete den ersten Okonomyiaki. Beinahe hätte sie das Rumpeln überhört, als die Wohnungstür aufging und der Schlüssel in die Schale klatschte.

"Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass der Geruch von hier kommt", grinste sie Yamato breit an, der sich am Türrahmen festhielt und zu Rin in die Küche linste.

"Ich dachte", entgegnete die junge Frau und lächelte zurück, "dass ich mich so bei dir erkenntlich zeigen kann. Weil ich doch bei dir unterkommen darf und so", murmelte sie den letzten Satz und wandte sich den kochenden Nudeln zu.

"Vorsicht", der Schwarzhaarige hatte sich zur Küchenzeile begeben und ließ sich dort auf einem der Barhocker nieder, "an so was könnte ich mich gewöhnen." Er hörte nicht auf zu grinsen und beugte sich begeistert zu den bereits fertigen Okonomyiaki.

"Ich wusste nicht, dass du kochen kannst", er streifte sich das Jackett ab und hing es über den Hocker, bevor er sich daran machte, Teller aus dem Schrank zu holen.

"Was denkst du, warum Lumina mich all die Jahre ausgehalten hat?", sie musste selbst lächeln und schaltete sämtliche Herdplatten aus. "Ich bin ein wenig aus der Übung, aber deine Küche hat es mir einfach gemacht."

"Wenigstens jemand, der sie mal richtig nutzen kann", Yamato streckte sich zu einem der marmorierten Wandschränke. Seine Finger zogen eine Flasche Wein heraus. Rin war kein sonderlicher Weintrinker; bei dem Schwarzhaarigen würde sie eine Ausnahme machen. Wein stieg ihr wenigstens nie in den Kopf.

"Ich bin ein miserabler Koch", sagte er und entkorkte die Flasche, "frag' meine Mutter. Als Teenager musste ich mich ein paar Mal selbst verpflegen. Es fehlte nicht viel und ich hätte die Küche in Brand gesteckt."

"Wie schafft man denn das?", Rin schüttelte den Kopf. Mit der Kelle verteilte sie die Okonomyiaki auf beide Teller.

"Bei einem Gasherd geht das schneller als du glaubst."

"Wenn das so weitergeht", Rin setzte sich neben Yamato, der bereits die Weingläser gefüllt hatte und ihr ein frisches Pack Essstäbchen hinhielt, "wirst du noch ein paar Tage länger meine Kochkünste ertragen müssen."

"Esch wäre mir eine Freude", kaum hingesehen, hatte Yamatos bereits den Mund mit allerhand Fleisch und Gemüse gefüllt. Sein Gesicht strahlte als hätte er seit Monaten kein richtiges Essen vorgehalten bekommen.

"Und?", fragte die junge Frau, obwohl sein Blick Bände sprach.

"So hab ich es noch nie gegessen...du bist eine Magierin, Rin Yamamori. Das Essen hat mich für alle weiteren Okonomyiakis verdorben."

"Dann habe ich ja mein Ziel erreicht", lächelte sie und nahm selbst einen Bissen. Ihr Rezept kam nicht ganz an die Perfektion ihrer Mutter heran, geschweige denn an dem Feingefühl, die einzelnen Zutaten richtig und punktgenau anzuwenden. Für ihre ersten Okonomyiaki seit knapp drei Jahren war sie zufrieden mit sich. Der Ausdruck auf Yamatos Gesicht war die eigentliche Bestätigung. Die braunen Augen funkelten, während er seine Portion verschlang, dabei immer wieder Rin betrachtete, als müsste er sich vergewissern dass sie es war. Rin genoss derweil die Unbeschwertheit, die langsam in den restlichen Tag Einzug hielt. Die Gegenwart des Schwarzhaarigen fühlte sich nicht nur unbeschwert an, es war auch richtig in diesem Moment. Sie spürte es. Anders konnte es einfach nicht sein. Diese klaren Augen gaben ihr Sicherheit, dass sie nicht weiter darüber nachdenken musste, ob es ein Fehler war, sich bei ihm einquartiert zu haben. Yamatos lebhafte und lockere Art taten ihr übriges, dass es keinen einzigen Moment der peinlichen Stille gab, die jemand mit unnötigen Smalltalk aufheben musste. Dafür gab es zu viel zu erzählen. Der Schwarzhaarige war nicht nur gebildet, seine Art zu sprechen, lud dazu ein, sich ganz seiner Stimme zu widmen, dass sie noch eine Weile vor den leeren Tellern saßen und einfach nur redeten. Erst als Rin sich um den Abwasch kümmern wollte, kam er ihr zuvor, in dem er den Arm ausstreckte und meinte, ihm die Arbeit zu überlassen. "Keine Frau muss bei mir abwaschen."

"Oder den Haushalt schmeißen", ergänzte Rin und erhob sich, "ich habe noch nie einen Kerl getroffen, der so... ordentlich ist. Das bekommst du sicher öfter zu hören." Ihre Augen fixierten den Armschmuck. Sie hatte das leichte Metall kein einziges Mal abgenommen seit sie es sich gestern Morgen in ihrem Schlafzimmer umgebunden hatte. Sie wusste nicht, warum es ihr gerade jetzt auffiel.

"Normalerweise", damit riss er sie aus eine Art Trance, dass sie wieder zu ihm aufsah, "ist das nicht das Thema, über das ich mich mit Freunden oder Kollegen unterhalte." Obwohl er lächelte, schien er über ihren Kommentar etwas verwirrt, dass sie nicht weiter darauf einging. Stattdessen stellte sie erstaunt fest, wie schnell Yamato die einzelnen Küchenhelfer abgespült und getrocknet hatte: "Ich musste mich schon in meiner Kindheit um den Haushalt kümmern", Yamato legte das Geschirrtuch beiseite und stellte die Pfannen und Töpfe zurück in den Schrank, "meine Mutter war tagsüber arbeiten. Sie hatte nicht die Zeit, sich noch um die Wohnung zu kümmern. Also hab ich die Aufgaben übernommen, um ihr wenigstens etwas von der Last abzunehmen. Ich schätze, ich bin nie ganz aus dieser Rolle herausgekommen." Wenn er über seine Familie sprach, merkte Rin immer den Unterschied zwischen den einzelnen Elternteilen. Seine Mutter bewunderte er. Er lächelte, wenn er über sie sprach. Ebenso die auffallend warmherzige Stimme. Sie hatte ihn alleine großgezogen, ohne Hilfe von außen und der Unterstützung seines Vaters, über den er nur ungern sprach. Anders als Rin redete er gerne über die Vergangenheit, erzählte von Erlebnissen, die Rin begeisterten oder nachdenklich zurück ließen. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie zu viel von sich zurückhielt. Wenn sie an die Offenheit des Schwarzhaarigen dachte, schien es nicht fair, dass sie selbst teilweise so verschlossen blieb.

"Hast du noch Pläne für heute?", seine Stimme riss sie aus dem Gedankenstrudel, dass sie etwas zu heftig mit dem Kopf schüttelte: "Für heute steht nichts an. Ich muss mich erst morgen wieder mit Arbeit befassen."

"Morgen auch?", Yamato kratzte sich an den Kopf, "ich dachte, die nächsten Runde geht erst nächste Woche los."

"Schon, aber-, ich kann ihm ja wohl schlecht von dem geheimen Projekt erzählen, "ich muss noch jede Menge trainieren. Bisher hatte ich es kaum mit ernsthaften Gegnern zu tun und ich will nicht in der nächsten Runde wie ein Anfänger aussehen."

"Wenn das so ist", er stemmte die Hände in die Hüften, "entscheidest du, wie wir den Tag nutzen. Du hast die freie Wahl...nur nichts Abgedrehtes, wonach ich anschließend nicht mehr alleine stehen kann."

"Schade", schmunzelte Rin, "ich hatte mich auf eine Runde Windsurfing gefreut. Aber so", sie fuhr sich durch die Haare, die vom Regen noch etwas feucht waren, "würde ich sagen, bleiben wir Zuhause."

"Echt?"

"Ich komme nur noch so selten dazu, mich einfach mal auf die Couch zu setzen und einen Film zu gucken."

"Bin ich dabei", nickte Yamato und griff nach den zwei halb leeren Weingläsern.

Keine fünf Minuten später lümmelten beide auf der Couch, den Blick auf den Fernseher, der einen ihrer Lieblingsfilme aus der Neuzeit laufen ließ. Lange war es her, dass sie die langsam wachsende Trägheit ihrer Beine spürte; wie die Arme schwer wurden und der Kopf sich kaum mehr gerade halten konnte. Dann ergriff es sie - die schlaflose Nacht zeigte sich mit einem Schlag, dass jeder Wimpernschlag Kraft kostete, die Augen wieder zu öffnen. Die Worte des Protagonisten hallten in ihren Ohren, das Wimmern der Sirenen und die kraftvolle Melodie, die sie im Geiste immer mit summte. All das verblasste mit jedem weiteren Atemzug, bis die Müdigkeit die Oberhand gewann. Blitzende Bilder verschwammen, ihr Atem wurde ein leiser Hauch.
 

Es war kein besonderes Geräusch, dass sie aus dem Schlummerzustand riss. Mit flatternden Lidern kam sie zu sich. Der Abspann ratterte herunter. Mit der linken Hand fasste sie sich an die Stirn und tat einen tiefen Atemzug. Ein leichtes Gegengewicht, das an ihrem rechten Ohr drückte, ließ sie den Blick zur Seite schweifen. Schwarze Haare lagen auf ihrem Nacken, ein ruhiger Atem berührte sanft das Kinn. Ohne es bemerkt zu haben, hatte sie sich an Yamatos Schulter gelehnt, der - wie Rin feststellte - selbst eingenickt war. Ihr Bewegung, so vorsichtig sie auch war, riss ihn aus seinem Ruhezustand. Seine Augen bewegten sich als hätte er sie nur für einen kurzen Moment schließen wollen. Sein Blick glitt zu ihrem herunter. Rin regte sich nicht. Seine Seelenspiegel bekamen etwas Ruheloses, leicht Stürmisches, dass sie nicht wegsehen konnte. Und sie wollte nicht wegsehen. Sie war so oft den Blicken ausgewichen, die immer eine klare Sprache gesprochen hatten, nur darauf zu warten schienen, dass Rin sie erwiderte. Er neigte nur leicht den Kopf, dass sein Gesicht direkt vor ihrem lag, kaum ein Papier dazwischen passte. Wie in Zeitraffer schloss sie die Augen als bereits seine Lippen zu ihren fanden. Sie zaghaft umschlossen, bevor Entschlossenheit zum Vorschein kam, der Kuss intensiver und selbstsicherer wurde. So lange hatte sie es hinausgezögert. Jenen Moment, der in jedem Augenblick ihrer Treffen präsent war. Nun, da der Moment gekommen war, fühlte sie -

Nichts

Panik machte sich in ihr breit.

Nein. Nein! NEIN!

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, trotz geschlossener Augen begann sich für sie der Raum zu drehen.

Bitte, das darf nicht sein?! Wieso-?!

Wo war dieses intensive Gefühl - das alles beherrschende Kribbeln im Bauch, die weichen Knie. Nichts geschah - nichts, das ihr ein gutes Gefühl gab. Ein Gefühl der Bestätigung. Wenigstens ein klein wenig. Stattdessen nur Leere, die sich in ihrem Inneren ausbreitete.

Was ist nur los mit mir? Ich will es fühlen! Ich! Will! Fühlen!

Ihr Innerstes streikte, dass sie glaubte, keine Luft zu bekommen.

Warum kann es nicht so sein wie...Nein! Hör auf! Es ist falsch! Falsch! FALSCH! FAAAAALSCH

Ruckartig ließ er von ihr und sah sie überrascht an. Auch Rin hatte die Augen aufgerissen und ließ eine Hand über die feuchte Stelle unter ihrem Auge fahren.

"I-ich", stammelte der Schwarzhaarige und starrte auf die verirrte Träne an Rins Wange, "es tut mir leid. Ich-", er rutschte ein Stück von ihr, da Rins Hautfarbe einen ungesunden Teint angenommen hatte, "ich wollte dich nicht überrumpeln... nicht, dass du denkst, ich wollte dich nur deshalb…"

"Yamato", schüttelte Rin mit dem Kopf. Ihre Stimme war schwach, sie bemühte sich nicht zu krächzen, "mir tut es leid. Ich bin-" Es war furchtbar den Schwarzhaarigen so zu erblicken. Yamato sah aus als hätte er alles verdorben. Dabei war es Rin, die es vermasselt hatte, die ihn bereits über Wochen hinhielt und falsche Hoffnungen machte. Sich selbst hatte sie die letzten zwei Monate gut zugeredet, dass es ihr so vorkam als hätte sie sich selbst verraten.

"Es war ein furchtbarer Tag", die junge Frau sah zur Seite, sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen, sie hatte das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben, "es ist...es war sehr aufwühlend...der Stress und der ganze Druck... meine Reaktion...es war heute einfach etwas viel." Beinahe hätte sie gesagt, dass es nicht seine Schuld war - mit letzter Mühe unterdrückte sie den verhassten Standardspruch, der sie mehr als einmal Wut schnaubend davon stampfen ließ.

"Alles gut", seine Stimme nahm seinen gewohnt fröhlichen Ton an.

Diesmal glaubte sie ihm nicht.

"Oh Mann", Rin legte den Kopf auf den Tresen, die Stirn voran, dass kaltes Holz auf heiße Haut traf. Ein tiefer Seufzer folgte - bereits zum dritten Mal. Die Haare fielen ihr übers Gesicht, dass nicht mehr viel von der jungen Frau übrig blieb, die gerne ihren Kopf tiefer in den Tresen gerammt hätte. "Ich bin der größte Vollidiot", jammerte sie kaum verständlich und bewegte ihren Kopf hin und her. Ihre Augen waren halbgeöffnet, obwohl sie nichts erkennen konnte. Lediglich ein kleiner Lichtschein drang durch eine dünnere Strähne direkt in ihr linkes Augenlid durch, dass sie die Umrisse ihrer Kaffeetasse ausmachen konnte, die bereits wieder fleißig gefüllt war. Sie war Makoto dankbar, die bisher Rins Verhalten unkommentiert gelassen hatte und stattdessen einen Kaffee nach dem nächsten aufkochte. Der Geruch der schwarzen Flüssigkeit schob sich neckend zwischen das Haarbüschel, dass sie ihren Kopf neigte und den aufsteigenden Dampf beobachtete.

"Ich verstehe es nicht", murmelte Rin und tat einen vierten Seufzer, während ihre Finger träge nach der Tasse griffen. Sie hatte bereits vergessen, wie viel Koffein sie bereits intus hatte. Nach dem dritten Mal hatte die junge Frau aufgehört zu zählen, stattdessen schüttete sie die Hitze durch ihre Kehle. Schon immer zog sie die Wirkung des schwarzen Goldes jeglichem Alkohol vor - besonders, wenn sie gestresst oder traurig war. Zwischen diesen simplen Gefühlen schlich sich eine ordentliche Portion Frust mit ein, der in leichten Zorn umschwenken konnte. Momentan wollte sie sich zweiteilen und ihr Ich einmal kräftig am Arm packen und schütteln, bis es zur Vernunft gekommen wäre. Die eine Hand den Henkel umfassend, während die andere angewinkelt war, dass sie den Kopf stützen konnte, der nur widerwillig von seinem kühlen Tresen wich -

in dieser Position verharrte sie, blickte auf ihr Heißgetränk, das seichte Wellen schlug, wobei die grünen Seelenspiegel kaum die Bewegungen wahrnahmen. Zu sehr drifteten ihre Gedanken immer wieder zu dem einen Punkt ab, bis sie schließlich feststellen musste, seit gestern Abend keinen Schritt weitergekommen zu sein.

Das Scheppern der Tür war das einzige, das sie bewusst wahrnahm. Die schleichende Kundschaft, die so sporadisch hereinspazierte, dass die Wochen im Vergleich dazu ein hektisches Durcheinander waren. Meist kamen nur ältere Herren; Schichtarbeiter, zum Wochenende verdonnerte Angestellte aus dem Dienstleitungesbereich, die sich einen Kaffee für den Weg mit nahmen und so schnell wieder verschwanden, dass sie genauso gut Halluzinationen hätten sein können.

"Ich verstehe es nicht", seufzte die junge Frau als ein weiterer Gast von dannen zog.

"Du musst schon deutlicher werden", lächelte sie die Kassiererin an. Makoto hatte sich leicht zu der jungen Frau vorgebeugt. Die Hände in die Hüften gestemmt wartete sie darauf, dass Rin endlich mit der Sprache rausrückte.

"Erinnerst du dich an den Typen, mit dem ich hier mal Kaffeetrinken war?"

"Der gutaussehende Mann mit den schwarzen Haaren? Er wirkte nett. Irgendwie habt ihr gut zusammengepasst."

"Das habe ich auch gedacht", es folgte Seufzer Nummer sechs, "er ist genauso, wie ich es mir früher immer ausgemalt habe - sogar noch besser. Damals wäre ich ihm schmachtend um den Hals gefallen. Hätte mir Hochzeitskleider überlegt, Kindernamen ausgedacht-", sie hielt inne und trank einen kräftigen Schluck, "wir können uns den ganzen Tag unterhalten, ohne dass es langweilig wird. Er ist fürsorglich, aufmerksam...seit Wochen zeigt er Verständnis...und ich...ich bin zu diesen Frauen mutiert, die solche Männer am Haken halten, ohne sie zu angeln." Sie knallte die Tasse auf den Tresen und sah zu der Braunhaarigen hinauf: "Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist. Als wir uns gestern geküsst haben, merkte ich, dass ich nichts von ihm will...nicht auf diese Art."

"Manchmal springt der Funke einfach nicht über", Makoto schnappte sich Rins Tasse und drehte sich mit dieser zu der Kaffeemaschine um. "Womöglich hast du deshalb so lange gewartet. Weil du es insgeheim wusstest."

"Dass ich so dumm bin, meinst du?", murrte Rin und beobachtete die routinierten Handgriffe der Kassiererin. Nachdem Milch und Zucker in feinen Nuancen eingerührt wurden, überreichte sie ihr das schwarz-braune Dopingmittel. "Wie kann ich nicht wollen?" Sie schüttelte den Kopf und hauchte: "Was hat sich nur verändert?"

"Vielleicht bist du es, die sich verändert hat." Makoto stützte sich mit den Handflächen am Tresen fest, "vielleicht willst du jetzt etwas anderes."

"Dann wäre die Frage, was ich dann will. Das Gegenteil? Einen Arsch, der sich nur für sich selbst interessiert und mich wie Dreck behandelt? Ich hab diese Weiber immer ausgelacht, die den Traum hatten, aus diesen Kerlen das Gute herauskitzeln zu können. Dass sie sich wegen ihnen ändern könnten...so blauäugig bin ich nicht. Ich will einfach nur...dass es passt."

"Das sieht man nicht immer auf den ersten Blick."

"Makoto, wo nimmst du nur immer diese Kalendersprüche?", Rin musste grinsen, - das erste Mal an diesem Tag - sogar Makoto lächelte breit: "Da spricht nur die Erfahrung. Als die Ältere von uns beiden darf ich mit solchen Weisheiten daher kommen." Es waren fünf Jahre Altersunterschied, welcher bei den beiden Frauen kaum sichtbar war, da Makoto ebenfalls ein junges, mädchenhaftes Gesicht besaß.

"Kaito und ich", begann die Braunhaarige und sah zu den kleinen Cupcakes herüber, die in zweierlei ineinander laufenden Farben eingedeckt waren, "wir gehen seit der Oberstufe miteinander. Ich kannte ihn aus den Vorjahren, die Mädchen flogen auf ihn, liefen ihm hinterher und brachten ihm allerhand Geschenke. Auf mich hat er wie der typische Schwarm gewirkt. Es hatte mich wütend gemacht, dass es ihm egal schien, dass er von allen Seiten angeschmachtet wurde. Als wir im letzten Jahr in dieselbe Klasse kamen, ging dasselbe Spiel von vorne los. Obwohl wir uns nie unterhalten haben, konnte ich ihn nicht ausstehen. Erst recht nicht als er mich um ein Date gebeten hat. Ich dachte, der Typ wollte mich auf den Arm nehmen." Sie lachte auf. Rin stellte sich vor, wie sie mit derselben Lache Kaito den Laufpass gegeben hatte.

"Ich habe natürlich nein gesagt, aber Kaito blieb hartnäckig. Er wusste, warum ich so zu ihm war und versuchte um jeden Preis, mich vom Gegenteil zu überzeugen...Was mich nur noch sturer werden ließ."

"Wie seid ihr zusammen gekommen? Oder hast du einfach irgendwann nachgegeben?"

Makoto fuhr sich durch den Pferdeschwanz: "Durch Zufall habe ich ihn nach der Schule getroffen. Er arbeitete in einer Bäckerei und schuftete wie ein Wilder. Das ging jedes Wochenende so. Von früh bis spät. Als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, haben wir geredet. Zum ersten Mal richtig, ohne Sticheleien oder die üblichen Sprüche. Er erzählte mir von seinem Traum, ein eigenes Café zu besitzen, selbst zu backen, um den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Auf einmal wirkte er erwachsen - gar nicht wie der selbstgefällige Sunnyboy. Ich kam mir so dumm vor. Von uns beiden war ich die Oberflächliche gewesen - das war mir in den Moment klar geworden." Schmunzelnd schüttelte Makoto den Kopf. Den Blick hatte sie zur Seite gerichtet, dass Rin den verträumten Ausdruck wieder erkannte.

"Seitdem hatte ich den Wunsch, mit ihm diesen Traum zu leben. Wenn ich daran zurückdenke, wird es der Moment gewesen sein, als ich mich in ihn verliebt habe - auch wenn ich das zu dem Zeitpunkt nicht wusste."

"Ihr seid ein süßes Paar", Rin meinte das aus tiefstem Herzen. Wenn Kaito und sie zusammen waren, umwehte beide eine Aura, die genau diese Zuneigung ausdrückte, die Makoto beschrieb.

"Und Kaito hat recht", ergänzte die junge Frau und deutete auf die Leckereien, "seine Kunstwerke zaubern einem tatsächlich ein Lächeln", sie zeigte auf eines der Nussbutter-Törtchen, dass Makoto sofort verstand. "Aber es ist schon schade, dass seine Fähigkeiten nicht richtig gewürdigt werden. Bei der misepetrigen Kundschaft. Wäre da nicht ein anderer Standort besser? Dort, wo die Leute es wirklich zu schätzen wissen, was ihr hier leistet?" Während Makoto das Törtchen auf einen kleinen Teller legte, schweifte ihr Blick kurz durch das Café. "Ganz so ist es nicht", sie überreichte Rin das kugelförmige Gebäck, "Kaito nimmt an enorm vielen Wettbewerben und Kontests teil. Woanders hätte er wahrscheinlich nicht die Zeit dafür. Außerdem", sie sah dabei zu, wie Rin Stück für Stück in die Gabel schob, "bekommen wir von Mokuba Kaiba alle zwei Wochen einen Großauftrag. Keine Ahnung, wofür er das alles immer braucht - ich denke, für ein paar Charityprojekte...Und dann wären da noch die Geburtstage und Neujahrsbestellungen, wo wir die Sachen in die Kaiba Villa fahren."

"Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Mokuba eure Kreationen zu schätzen weiß." Makoto nickte: "Wir haben es auch ihm zu verdanken, dass wir damals das Objekt vermietet bekommen haben. Als die Ladenfläche frei stand, ist er beim Vorstellungsgespräch dabei gewesen. Er war so begeistert von Kaito, dass er ihm einen unbefristeten Mietvertrag gegeben hat. Ich sag' dir, seltsam war es schon, mit einem Zehnjährigen den Vertrag auszuhandeln. Auch wenn am Ende Seto Kaiba derjenige war, der das letzte Wort hatte."

Apropos

Rin sah aus dem Ladenfester, dass das Kaiba Building nur einen winzigen Teil seines gigantischen Ausmaßes präsentierte. Bis zur verabredeten Zeit blieben noch genug Stunden, sich mit Kaffee und Kuchen den Koffein- und Zuckerspiegel ordentlich in die Höhe zu treiben.

Ich sollte mich etwas zurücknehmen. Keine Ahnung, wie sich die Technik mit übertriebenen Kaffeekonsum verträgt.

Ihr Smartphone vibrierte neben ihrem Teller, dass sie die Nachrichten ihrer besten Freundin durchflog, die sich in der nächsten Stunde angekündigt hatte.

Gestern hatte Rin der Schwarzhaarigen vorgeschlagen, zum Lernen ins Café zu kommen. Nicht nur, dass sie die Leckereien seit Wochen anprieß. Die angenehme Ruhe und der wenige Trubel waren genau der richtige Ort für den scheuen Wuschel. Noch dazu war der Weg zur Kaiba Corp. weitaus kürzer als der zur Uni-Bibliothek - vor allem seit sie bei ihrer Cousine übernachtete. Nach zwei Tagen ohne einander gesehen zu haben, freute sie sich darauf, ein wenig Zeit mit ihrer besten Freundin zu haben, bevor Studium und Arbeit das Feld besetzten. Gerade bei der jungen Frau, welche das Tablet zur Hand nahm und auf der offiziellen DuelMonsters-Worldcup-Seite die übrig gebliebenen Spieler durchsah. Gestern hatte Yoshihiko seinen Platz in der nächsten Runde gesichert - ebenso Hii Yuta. Beide waren gegen Duellanten der Sponsorengruppe angetreten, die seit Jahren in den Top fünfzig rauf und runter fuhren - je nachdem, wie viel Geld ihnen gerade zur Verfügung stand. Jeder einzelne von ihnen, ließ Rins Miene verfinstern, dass ihr Zorn auf sich selbst erst einmal beiseite geschoben wurde. Stattdessen blätterte sie die Dateien durch, überflog Yoshis zweitklassiges Spiel, bei dem er schlampige Züge fabrizierte und mehr als einmal mit seinem teuer erkauften und überboosterten Deck punktete statt mit clever durchdachten Runden. Duellant Nummer eins der Kaiba Corp. hatte wie so oft ein Spiel abgeliefert, das seine Arroganz und Selbstgefälligkeit zur Schau stellte, ohne dass es fremder Hilfe bedarf. Selbst an Turnieren wie dem Worldcup besaß er keinen Respekt vor seinen Gegnern, machte stattdessen den Eindruck als hätte er bereits das Ticket für die internationalen Spiele sicher - obwohl er nur knapp einer Niederlage entkommen war.

Irgendwann mache ich diese Flachpfeife fertig

Mit dem Zeigefinger wischte sie seine selbstverliebte Visage vom Bildschirm und wechselte zu Paradius' Duellanten, der ein ganz anderes Spiel ablieferte. Penibel genau beobachtete sie Yutas Züge, versuchte einen Zusammenhang zu seinen bisherigen Gegnern festzustellen. Rin raufte sich die Haare.

Da stimmt was nicht. Die Art, wie er spielt. Gibt er sich etwa keine Mühe?

Seine Züge waren weniger von jener Aggressivität geprägt, wie sie die junge Frau in vorherigen Spielen gesehen hatte. Eher im Gegenteil: Hii war ruhig, spielte das Duell mit souveränen Taktiken, dass er schließlich den Sieg einheimste, ohne dem Gegner die vernichtende Niederlage ins Gesicht zu werfen.

Hat er seine Strategie geändert? Eher unwahrscheinlich. Warum sollte er plötzlich weich werden, wenn ihn jedes Duell den Sieg kosten könnte. Was steckt da bloß dahinter?

Sie versuchte aus seinem Gesicht zu lesen. Eine Veränderung der Muskeln, ein leichtes Zucken oder Blinzeln. Dartz' Vorzeigeduellant blieb ohne jegliche Regung. Wie ein Roboter zog er die Karten, setzte sie und spielte die Monster, die im guten bis mittelmäßigen Bereich lagen. Rins Augen fokussierten die Karten.

Er hat kein einziges Mal Orichalcos auf's Feld geholt. Das ist doch Standardprogramm bei denen. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn es zu ihren Anweisungen gehört, diese Feldkarte zu spielen. Mai hat sie auch bisher immer aktiviert. Also warum setzt du sie nicht ein?

Ihre Augen wanderten zu seinem Gegner. Fujimoto war ein guter Duellant, der alle zwei Jahre am Worldcup teilnahm. Dazwischen sammelte er auf etlichen Turnieren und Spendenaktionen das Geld für die Teilnahme an den großen Spielen zusammen. Wer nicht dauerhaft gesponsert wurde oder bei einer Firma fest angestellt war, hatte keine Chance, die Battle-City-Runde zu überstehen, ohne am Ende auf der Straße zu landen. Neben dem finanziellen Fakt schien es noch einen weiteren zu geben - seine Duellstrategie. Diese überlegte er sich jedes Jahr aufs Neue. Da er mit seinen Kartenkombos nur mäßigen Erfolg erzielte, überdachte er die Taktiken bei fast jedem seiner Duelle. Somit hatten seine Spiele fast immer einen unerwarteten Kniff, wenn auch nur kurzweilig. Den Rest des Duells kam er nicht zu selten ins straucheln und schien mehr Glück als Verstand mitzubringen. Mit Hiis Deck und dessen spielerischen Fähigkeiten hätte er das Duell viel schneller beenden können.

Moment! Kann es sein-? Er macht Fujimoto nicht fertig, er ist...nett zu ihm?

Rin riss die Augen auf.

Seine bisherigen Gegner stammen aus den fünf größten Firmen des Landes... Fujimoto ist selbstständig. Das heißt, er verschont ihn, weil er...keine Gefahr darstellt?

Je länger sie darüber nachdachte, umso plausibler kam es ihr. Hii hatte damals zu ihr gesagt, für was er sie hielt. Besonders, was er von der Firma hielt, für die sie arbeitete. Sie musste schnellstmöglich seine Duelle analysieren. Wenn sie in den letzten Runden gegen ihn antreten sollte, durfte sie keinen Fehler begehen. Jeder Zug musste sitzen, keine Karte falsch gespielt werden.

Er könnte der härteste Gegner in diesem Turnier werden.

Sie hatte gar nicht gemerkt, wie erneut die Tür aufging und ein kleiner unscheinbarer Schatten sich neben sie stellte.

"Rin, ich wusste nicht, dass du auf Rollenspiele stehst?" Die junge Frau drehte sich zu dem langhaarig schwarzen Geschöpf herüber, welches sie von oben bis unten musterte. Es folgte ein kurzes Schweigen, bevor Lumina nicht mehr in sich halten konnte und drauf los prustete, dass sie sich den Bauch festhalten musste. Rin sah mit einer Mischung aus Ärger und Scham zu sich herunter. "Das war das einzige, das noch halbwegs passabel war", murmelte die junge Frau. Selbst Makoto hatte sich weiter vorgebeugt und betrachtete das Outfit. Lumina hingegen wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und lehnte sich breit grinsend an den Tresen.

"Und du meinst, deine Schuluniform ist da noch das passabelste?"

"Ich hätte ja wohl schlecht in meinem Abschlussballkleid antanzen können - oder dem Sommerkimono", sie zupfte an ihrer Bluse, die etwas ausgewaschen war. "Ich habe den Rock extra umgekrempelt, damit man das Logo nicht sehen kann."

"Steht dir - die kurze Variante", feixte die Schwarzhaarige, "sonst hab ich dich ja nur im braven, langen Rock gesehen. Wo ist eigentlich der Blazer?"

"Dort, wo er hingehört. Und können wir bitte über etwas anderes reden?"

"Ich hoffe, du bist dir im Klaren, dass ich nicht die einzige bin, die mitbekommt, was du da für ein Outfit trägst?" Natürlich wusste Rin, worauf ihre Freundin anspielte. "Mein Outfit wird bei der Arbeit keine Rolle spielen."

"Natürlich nicht", säuselte Luminas, dass Rin ihr am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre, "aber reden wir nicht länger von großkotzigen Arbeitgebern", daraufhin stellte sie ihren Rucksack auf den Boden und verschränkte die Arme vor der Brust, "erzähl' mir lieber, was gestern passiert ist."

"Na gut."
 

Rin führte ihre Freundin zu ihrem Stammplatz. Einige Tassen Kaffee später (die lediglich von Lumina gelehrt wurden, Rin war derweil auf Wasser umgestiegen) und ein weiteres Stück Torte, dass sich die beiden jungen Frauen teilten, saßen sie beide mit dem Ellenbogen auf dem Tisch und sahen sich fragend an.

"Und nun? Wie lief's heute morgen?", Luminas lilafarbenen Seelenspiegel wirkten konzentriert, das Sarkastische war aus ihnen gewichen.

"Dieses peinliche Schweigen", schüttelte Rin mit dem Kopf, "oh Gott, es war so furchtbar. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Und Yamato", sie schluckte den Seufzer herunter, "ich weiß jetzt einfach nicht, was ich machen soll."

"Rin und Männerprobleme... hätte nie gedacht, dass es mal so rum laufen könnte", Luminas Augen blitzten auf, doch Rin verkniff sich einen Kommentar.

"Du musst mit ihm sprechen", dabei fing die Schwarzhaarige an, ihr Feuerzeug aus ihrer Shorts zu ziehen. Zeige- und Mittelfinger drehten das metallene Werkzeug wie ein Zauberer seine Karten. "Ich weiß, dass dir sowas schwer fällt, aber da musst du durch." Sie hielt inne und starrte auf die eingravierten Initialen ihrer Lieblingsband. "Schade. Ich mag Yamato."

Ich doch auch

Lumina wechselte ihren Fokus zum Fenster. Leicht blitzten die Augen, bevor sie sich erneut ihrem Feuerzeug widmete: "Ich kann dir gleich sagen, dass du es bereuen wirst, aber wenn du meinst, dass es mit euch beiden nichts werden kann, dann sag' es ihm."

"Ja", murmelte Rin. Sie wusste, sie konnte ihn nicht länger hinhalten, selbst wenn er sich von ihr abwenden sollte. Bei diesem Gedanken wurde ihr mulmig im Magen. Seine Gegenwart war so selbstverständlich, dass sie ihn nicht mehr wegdenken konnte. Sie wollte ihn weiterhin um sich haben - sicher ein weiterer Grund, warum sie ihn zappeln ließ. Ihr war klar, dass er sich langsam von ihr distanzieren würde, bis am Ende der Kontakt vollständig abgebrochen wäre. Yamato war zwar nett, aber er hatte auch nie verschleiert, welche Absichten er hatte. Wenn sie ihm offen sagte, dass sie nichts für ihn empfand, war es vorbei mit ihrer Freundschaft. Rin legte ihren Kopf zwischen die Hände und tat einen tiefen Atemzug: "Erzähl' mir noch ein bisschen von dir? Kommst du mit dem Lernen voran?"

"Ich weiß, dass du nur ablenken willst", Lumina grinste schief, "aber ich muss gestehen, dass ich bisher ein ziemlich gutes Gefühl habe." Die Schwarzhaarige ließ den Blick durch das Café schweifen. "Mir geht nur Mina gerade ziemlich auf den Sack. Ständig dieses sinnlose Gequatsche. Als ob wir jetzt anfangen müssten, uns wie Freundinnen zu verstehen. Da ist es mir hier schon lieber."

"Hatte ich zu viel versprochen?"

"Es ist perfekt zum Lernen. Auch wenn ich auf die Aussicht verzichten könnte."

"Du sollst auch nicht die Aussicht genießen, sondern lernen", entgegnete Rin und schlug die Beine übereinander.

"Aber wie soll ich dich denn sonst im Auge behalten", flüsterte Lumina und sah sie mit ihrem provokanten Blick an, "ich muss doch sicher gehen, dass mein Lieblingslamm nach Hause kehrt." Zu gern hätte sie Kontra gegeben, im letzten Moment biss sie sich auf die Lippen und sandte Todesblicke, die in den letzten Wochen an Intensität zugenommen hatten. Selbstzufrieden lehnte sich ihre beste Freundin zurück und genoss ihren kleinen Triumph. Dann wurde sie ernster: "Lass' dich einfach nicht so lange aufhalten, okay?"

"Es ist Arbeit, Lumina", Rin sah sie ebenfalls ernst an, "mach' dir keine Gedanken. Ich werd' nichts Dummes tun...nicht nochmal", schnell verdrängte sie die Nacht, die nicht einmal eine Woche zurücklag, in ihrem Gedächtnis jedoch bereits als tiefste Vergangenheit abgehakt worden war- mehr oder weniger.

"Gut", sagte schließlich die Schwarzhaarige und griff mit der freien Hand nach ihren Rucksack. Lumina hatte ihr eigenes Arbeitsequipment, bestehend aus kleinen Notizzetteln, ihrem Laptop und zwei Packungen Kaugummis, welches sie auf den Tisch ausbreitete als wäre sie bei ihnen zu Hause vor der Schlafcouch. Die Utensilien schienen wahllos aneinander gereiht, doch Rin wusste, dass ihre beste Freundin ein System hatte - wenn sie auch noch nicht dahinter gestiegen war.

"Wie lange hat das Café auf?"

"Bis zwanzig Uhr", antwortete Rin und sah zu Makoto herrüber, welche die Bestellungen der nächsten Woche durchging, "aber Makoto ist meist bis Mitternacht hier und macht einen Großputz. Wenn du sie lieb fragst, lässt sie dich sicher noch etwas länger hier sitzen."

"Mal schauen", erwiderte Lumina, obwohl klar war, dass sie sich nicht trauen würde zu fragen.
 

Noch eine Weile saß Rin neben ihrer Freundin und beobachtete ihre konzentrierten Blicke. Ihr wurde bewusst, wie sehr sie die Zeit vermisste, in der sie nichts tat und einfach nur mit Lumina abhing. Selbst wenn die Schwarzhaarige mitten im Prüfungsstress stand und Rin lediglich zusehen konnte, wie Lumina die Kaugummis reihenweise kaute und dabei hektisch auf ihren Laptop hämmerte - es beruhigte Rin, dass sich nicht alles verändert hatte. Makotos Worte hatten ein Echo in ihrem Innersten gebildet, dass sie sich fragte, wie viel sich verändert hatte und was noch vor ihr lag. Sie hatte damit gerechnet, dass es ihr mehr Angst machen würde. Dass sie bereits bei dem ersten Anflug von Druck zusammenbräche. Und ja, sie musste zugeben, dass sie kurz davor gestanden hatte, auf die Knie zu gehen - auf eine andere Weise als sie sich vorgestellt hatte. Statt der Angst, versagen zu können oder dem Druck nicht standzuhalten, fühlte sich der Stoß, der sie mit einer Wucht von hinten traf, eher wie der Anstoß an, der ihrer Geschwindigkeit mehr Tempo verlieh. Anfangs strauchelnd, dass sie nicht sicher war, ob sie das Gleichgewicht verlieren könnte, fühlte sie allmählich, wie sie selbst an Fahrt aufnahm. Rin hoffte, am Ende der Strecke vor sich selbst zu stehen, vor ihrem richtigen Ich - wenn die Chancen auch besser standen, dass sie direkt auf eine Klippe zu steuerte.

"Virtuelles System erneut starten", orderte dessen Schöpfer an. Die Geräte fuhren auf Höchstleistung, die elektronische Frauenstimme zählte den Countdown herunter, das System startete und Seto Kaibas Geist entkoppelte sich. Ruhig lag der unbrauchbare Körper auf dem Stuhl, lediglich Puls und Herzschlag arbeiteten, dass sie auf einem der Bildschirme abgebildet und ausgewertet wurden. Kaum die Übergangsphase verlassen, die lediglich aus einem stockdunklen würfelförmigen Raum bestand, befand sich der junge Firmenchef inmitten einer Wiese, die - wie er aus Live-Aufzeichnungen sehen konnte - von seiner jüngst Angestellten optisch wiedergegeben worden war und sehr nahe ans Originale herankam. Rin Yamamori hatte eine Wiese aus den Mishimoto-Bergen in ihrem klassischen Sommermotiv dargestellt - die Fläche war uneben, die Blumen wuchsen ungleichmäßig, das ganze Konstrukt hatte nichts Perfektes - und genau darum war es so gut getroffen worden. Kaiba musste gestehen, dass ihr Gedächtnis sehr gute Arbeit geleistet hatte. Zusammen mit seinem System war ein exaktes Abbild der Wirklichkeit geschaffen worden, das mit hilfe technischer Mittel dem virtuellen Raum Leben einhauchte. In schwingenden Bewegungen atmete Wind den Blumenblättern Luft ein, das sogar die Halme erzittern ließ. Bis hierhin war der junge Firmenchef zufrieden. Bienen und Hummeln tummelten sich, surrten in seinen Ohren, dass es nicht weiter auffiel, wie sich ein weiteres, zaghaftes Flattern dazwischen drängte. Doch Kaiba war vorbereitet. Er lenkte seinen Blick Richtung Osten. Zwischen dem blendenden Licht der Sonne trat eine Gestalt hervor. Beim ersten Mal hatte er sie erst bemerkt als sie direkt vor seinen Füßen lag - so leise waren ihre Bewegungen. Diesmal beobachtete der junge CEO, wie das Wesen die verschiedensten Lichtbrechungen aufnahm, dass es wie ein Regenbogen die Farben entfächerte. Kaiba hatte die Gestalt sofort erkannt. Die Zauberkarte Seelenerlöser hatte damals zu einer seiner Kartenkombinationen gehört. Das Wesen in weiblicher Gestalt, dessen matte, nach Lavendel aussehende Haut wie Marmor wirkte, kam schwebend auf ihn zu. Mit geschlossenen Augen, scheinbar von seinem grün bis lilafarbenen Haar getragen, dass es keine Flügel brauchte, um knapp über dem Boden zu gleiten. Das weiße anschmiegsame Kleid war wie ein Handtuch um das Wesen gewickelt und war in so einem reinen Ton, dass es ihn kurzzeitig blendete. Statt vor ihm innezuhalten, schwebte es an ihm vorbei, dass sich Kaiba langsam in Bewegung setzte und ihm folgte. Wie beim letzten Mal führte es ihn aus der Wiese direkt in einen Wald, der sich so natürlich auftat, dass es den Eindruck erweckte als gehörte es hierhin. Kaiba wusste es besser: Seine Analysen hatten ergeben, dass diese Fläche sich außerhalb des Dungeons befand. Eine Art Geheimgang, den es gerne einmal in RPG's oder Adventure-Games gab, um den Spieler mit versteckten Räumen zu überraschen. Nur war dies kein Spiel und der verdeckte Raum erwies sich eher als selbstständiges Konstrukt. Je tiefer er durch den Wald lief, umso mehr umgab ihn das Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Dabei war es in seinem eigenen virtuellen Raum unmöglich, sich zu verirren. Er konnte jeden Moment das System auffordern, die Session abzubrechen. Mit seinen Gedanken, die er direkt mit der Technik verbunden hatte, würde er binnen Sekunden den Wald verschwinden lassen können und nach seinen eigenen Regeln spielen lassen. Doch er wollte sich von dem Seelenerlöser führen lassen, der zu einer Waldlichtung gelangte. Dort stand ein Haus - oder wohl eher eine Hütte. Von außen war sie klein, einfach und ohne besondere Merkmale - für Kaiba ziemlich einfallslos. Mit sicheren Schritten trat er an eines der Fenster, auf das die Gestalt zugeflogen war und sich an dessen Wänden in kleine Lichtflecke aufgelöst hatte. Seine eisblauen Augen sahen in das gut durchleuchtete Innere. Die Möbel erinnerten an ein übliches Ferienhaus - ein großer Eichenschrank in der einen Ecke, ein Kamin in der anderen. Davor befand sich ein altmodischer Fellteppich, wie sie in Jagdhütten gerne verwendet wurden. Mittig gelegen stand ein kastanienbraunes Sofa, auf der eine Frau saß. Auch wenn nur der Kopf von hinten zu sehen war und dieser keine Anstalten machte, sich zu regen, hatte Kaiba von Anfang an gewusst, dass es Rin war. Es lag weniger an den braunen, langen Haaren, die von vielen braunhaarigen Frauen auf diese Weise getragen wurde. Er wusste es einfach, dass er an Rins Worte denken musste. Die junge Frau hatte in ihrer ersten Simulation sofort gewusst, dass sie nicht dem echten Kaiba gegenüberstand (auch wenn er noch immer davon überzeugt war, dass sie einfach nur gut geraten hatte). Sie hatte von seinen Augen gesprochen, obwohl es unmöglich an ihnen gelegen haben konnte. Sofern sie tatsächlich den Avatar von seinem menschlichen Geist unterscheiden konnte, musste es etwas anderes gewesen sein. Dieses Unbeschreibbare. Er wandte sich vom Fester ab und lief einmal um das Haus herum. An der Stelle, an der sich die Tür befand, waren die Balken mit der Hauswand verschmolzen. Es gab keinen Knauf, kein Schlüsselloch, rein gar nichts, womit sich die Tür hätte öffnen können. Seine Finger berührten das Holz, wanderten über die Kerbungen, die sich nicht von Hand herausreißen ließen.

"Also gut", seine Stimme war ruhig, er wusste, dass auf seine Technik Verlass war. Er hatte keinen Zweifel, dass sein System ihn hier rein bringen konnte. "Beginne mit Einführung der Entschlüsselungscodes." Es gab ein Zischen als wäre irgendwo eine Gasleitung geplatzt. Das Haus wurde von leuchtenden Strichen überdeckt, die in das Holz einzudringen schienen. Dann erloschen sie. An ihrer Stelle erschienen verschiedene Symbole, dass Kaibas Stirn tiefe Furchen schlug. So hatte er das nicht geplant. Aber er gab dem Ganzen eine Chance und sah es sich genauer an. Am Türbalken war ein Kreis abgebildet, in dem sich ein Stern befand. An der linken Seite war das Sternzeichen Schütze eingeritzt worden.

"Ein Rätsel also", Kaiba senkte den Blick und tat einen tiefen Atemzug, "wenn du es nicht anders willst." Er konzentrierte sich, dass um seinen linken Arm eine DuelDisc erschien und automatisch ausfuhr.

Da hat sich Mokubas kleine Fragerunde von gestern doch ausgezahlt.

Er legte die rechte Hand auf die Deckzone, dass eine Karte aufleuchtete.

Bei dem Stern kann es sich nur um die Stufe des Monsters handeln. Es gibt keinen Zweifel, dass in diesem Rätsel DuelMonsters Karten die Lösung sind. Und ich komme nur durch diese Tür, wenn ich das richtige Monster errate

Er schmunzelte.

Das Symbol des Schützen wird für sein Element stehen - Feuer.

Seine Hand führte die Karte aus seiner Zone.

Yamamoris erstes Drache-Monster. Es war Wachdrache Promineses. Ein schwaches Monster - für diejenigen, die nicht wissen, wie die Wachdrachen gespielt werden. Mit dem nötigen Können kann man eine Menge Spaß mit ihnen haben

Er hielt der Tür die Karte hin. Wie Kaiba erwartet hatte, öffnete sie sich mit einem lauten Knacksen, dass er einfach eintreten konnte. Mit verschränkten Armen sah er von einem Ende des Flures zum anderen. Links ging es zu zwei verschlossenen Türen, die sich auf jeweils einer Seite des Flures befanden. Am anderen Ende gab es eine Treppe. Damit hatte Kaiba nicht gerechnet. Das Haus machte von außen einen viel kleineren Eindruck. Dass sich jetzt ein weiteres Geschoss befand, war eine unvorhergesehene Wendung. Er merkte, dass er allein mit Logik nicht weiter käme. Stattdessen lief er nach links zu den beiden verschlossenen Türen. Eine Art unsichtbare Barriere bildetete sich vor der Linken, dass er gezwungen war, stehen zu bleiben. Aus dem Boden - direkt vor ihm - erhob sie eine große Gestalt, baute sich vor dem jungen Firmenchef auf und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Kaibas Augen blitzten gefährlich auf.

Der schwarze Magier

Auf dieses >Vergnügen< hätte er verzichten können.

"Ach ja, ihre homophobe kleine Freundin hat sich aus dir einen Narren gefressen."

Kaiba versuchte sich das Gespräch zwischen Mokuba und Rin ins Gedächtnis zu rufen. Wenn er an dieses Monster vorbei wollte, musste er es besiegen - dies schien der einzige Ausweg. Er kannte eine Karte, mit welcher der schwarze Magier nur noch trockener Staub wäre. Bevor er die Hand auf die Deckzone legte, durchzuckte ihn ein Gedanke. Vielleicht hatte er nur einen Versuch, das Rätsel zu lösen. Wenn er also falsch lag, so unwahrscheinlich es ihm auch erschien, wäre das Spiel womöglich schon vorbei, bevor es richtig begonnen hatte. Er durfte nicht voreilig handeln. Beobachten und schlussfolgern waren hier der Schlüssel. Mit einem giftigen Blick wandte er sich von dem Magier ab und suchte stattdessen die Treppe auf. Jede Stufe gab ein lauteres Knacksen als das Vorherige. Oben angekommen, betrachtete er den zweiten Flur, der mit dutzenden Türen ausgestattet war. Jede Tür in einem anderen Holzton. Aber jede mit einer Klinke. Gründlich suchte er die Wände nach möglichen Symbolen ab. Wie eine persönliche Aufforderung stand das Schriftzeichen über jede einzelne von ihnen: Nein

Selbst den Worten zum Trotze gab es keinen Zutritt. Die Türen waren verschlossen. Lediglich das Schlüsselloch gab einen flüchtigen Einblick. Hinter den meisten Türen verbarg sich Dunkelheit. Einige wiederum zeigten einen Raum. Einer erinnerte an einen Wintergarten, der anderen an eine Küche und ein Wohnzimmer. Nur war die Sicht so stark eingegrenzt, dass sich Kaibas nicht hundertprozentig sicher war. Mit jeder weiteren Tür, an die er rüttelte, wurde er mürrischer. Wieso hatte sein System nicht sämtliche Räume entriegeln können? Nachdem die Dateien über vierundzwanzig Stunden durchgelaufen waren, hätte es befriedigerende Ergebnisse geben müssen. Seine KI hatte ihm ebenso wenig Aufschluss gegeben, womit er es hier zu tun hatte. Es war die Rede von einer Manifestation verschiedenster Gehirnströmungen gewesen, die sein System von Rin aufgegriffen und kopiert hatte. An sich nichts Neues, wenn er daran dachte, dass sein System bereits seit Wochen die Anwendungen seiner Duellantin kopierte.

Die Daten haben ergeben, dass das System auf bestimmte Handlungen reagiert, die Yamamori in ihrem Unterbwusstsein aktiviert.

Er stand vor der vorletzten Tür und rüttelte sporadisch daran. Es brauchte zwei Anläufe, dass sich die Tür öffnen ließ. Kaiba hielt inne. Mit einem Ruck schob er die Tür weit auf. Grelles Licht blendete ihn, dass er die Hände vor's Gesicht halten musste. Der Effekt dauerte einige Sekunden an, dann lenkten ihn Schritte ab, die als Echo zu ihm druchdrangen, dass er seine Hand senkte. Kaiba blinzelte. Er stand im Flur. Nicht in demselben. Dieser hier war größer, länger und erinnerte stark an eine Schule. Die Spinde an den Wänden bestätigten ihn darin. Ein Quietschen ließ ihn nach links sehen. Zwei Reihen weiter öffnete sich ein Spind. Das Gesicht der Schülerin war hinter dem Metall verborgen, nur der lange blaue Rock lugte hervor. Dann gab es ein Rascheln, der Spind wurde geschlossen und eine junge Version von Rin Yamamori kam zum Vorschein. Ihr Blick war blass im Vergleich zu dem intensiven Ausdruck, den er so oft bei ihr gesehen hatte. Ihre Züge wirkten emotionslos, oder - nein! - viel mehr traurig und leer. In der Hand hielt sie einen Zettel, den sie entfaltete und daraus zu lesen schien. Ihr Mund öffnete sich leicht, bevor sie sich auf die Lippen biss. Falten entstanden unterhalb ihrer Augen.

Was hat das zu bedeuten

Stimmen drangen durch den Flur, ohne dass er jemand weiteren erkennen konnte. Weitere folgten, bis ein einnehmendes Gewirr aus Gelächter und Schreien entstand. Einzelne Fetzen nahm Kaiba auf - Anzüglichkeiten von Seiten der männlichen Stimmen, Gespött und Getratsche von Seiten der Weiblichen. Rin hingegen sagte nichts, ihre Augen wurden durchschimmernder, schon fast glasig. Kaiba tat einen Schritt auf sie zu. Der Raum begann sich zu verzerren, er hatte das Gefühl, fortgezogen zu werden. Er stand nun im Büro des Direktors. Das Bild zeigte Rin, die auf dem einen Stuhl saß, eine blonde ältere Frau saß neben ihr und redete mit dem Direktor. Ihre Stimmen waren nicht zu hören, nur ihre Gesichter verrieten die Ernsthaftigkeit des Gesprächs. Rin hingegen regte sich nicht, sagte nichts und blickte nur auf ihren Schoß, wo sie die Hände ineinander gefaltet hatte. Erneut wechselte die Szene in einem Tempo, dass sich der Raum für Kaiba kurz zu drehen begann. Diesmal stand er in einem Wohnzimmer. Rin und die Frau stritten sich. Das Mädchen fuchtelte mit den Armen, ihre Augen wurden rot, das Gesicht hitzig. Die blonde Frau hingegen wirkte verzweifelt und aufgeregt. Nach einer Weile, in der Kaiba nur lautes Gemurmel verstand, wurden die Stimmen deutlich.

"Wie konntest du das tun! Deine Zukunft! Dein Leben! Wie steht jetzt unsere Familie da?!"

"ICH HABE NICHTS GETAN", hörte er Rin schreien, obwohl sie nicht die Lippen bewegte. Die Frau schüttelte mit dem Kopf, bevor das Bild wieder wechselte. Diesmal in Rins altes Kinderzimmer - das schlussfolgerte der junge Firmenchef auf Grund der einzelnen Möbelstücke. Rin saß auf dem Bett. Die Beine in Richtung Brustkorb geschoben, dass ihr Kopf auf den Knien lag. Das stufige Haar, dass ihr nur knapp über die Schultern ging, verdeckte nur schwach die tränenüberströmten Augen, dass ihm bei dem Anblick ganz anders wurde. Wie eine unsichtbare Kraft, die sich ihm aufdrückte und zwang, dieselben Empfindungen in sich aufzunehmen, dass sich sein Magen verkrampfte. Er musste sich geradezu zwingen, nicht dem Gefühl zu unterliegen. Es war stark, doch Kaiba war stärker. Er war erleichtert als die Tränen langsam versiegten, und Rin ihr Handy zur Hand nahm. Ein scheues Lächeln huschte über ihre Lippen. Aus der Ferne sah er wie Rin eine App öffnete - DuelMonsters-online. Die erste Version der App, die lediglich mit Nicht-Effektmonstern gespielt wurde. Ihre Augen wandelten sich, sobald sie das Spiel startete. Ihr Ausdruck wurde mehr und mehr zu dem, wie ihn Kaiba in Erinnerung hatte - selbstsicher, angriffslustig, giftig. Erneut brach die Szene ab, Feuer flatterte in der Luft, dann sah er Rin mit einem Bund Zettel in der Hand, den sie in die Flamme hielt. Das Feuer spiegelte sich in ihren Seelenspiegeln wider. Sie drehte sich um, schritt aus der Tür. Vorbei an der blonden Frau, die stumm auf sie einredete, mit entsetztem Gesicht. Daneben stand ein Mann. Er sagte nichts, überreichte Rin nur einen Umschlag, den sie nickend entgegennahm. Um den jungen Mann wurde es schwarz. Kaiba drehte seinen Kopf, suchte nach einer Lichtquelle. Schließlich stand er wieder im Flur der Hütte - vor der Tür, deren Klinke er fest umschlossen hielt.

Unmöglich-! Das System-

Kaiba war außer Atem, die ständig wechselnden Bilder hatten ihn Anstrengungen gekostet.

Wieso diese Bilder?

Als hätte ihn ein Stromschlag erwischt, ließ er von der Klinke.

Wollte sie, dass ich das sehe…? Ich muss mich konzentrieren! Yamamori ist nicht imstande, auf das System zuzugreifen, ohne eingeloggt zu sein.

Langsam lief er zurück ins Erdgeschoss. Am anderen Ende wartete noch immer der schwarze Magier. Darum wandte er sich der gegenüberliegenden Tür zu, die bereits einen Spalt geöffnet war, dass er nur noch ein wenig Druck aufwenden musste. Diesen Raum kannte er. Das Zimmer, das er von außen durch das Fenster gesehen hatte. Nur die junge Frau fehlte. Er näherte sich dem Sofa, vor dem sich ein länglicher, tiefer Tisch aus Buchenholz befand. Darauf befanden sich Einkerbungen in Form einer DuelMonsters-Karte mit dessen typischen Logo. Darunter waren Mond und Sonne abgebildet. Kaiba beugte sich hinunter und betrachtete etwas genauer die Einkerbungen. Das ovale Logo hatte winzige Symbole, die wie schlecht gezeichnete Herzen aussahen. Die Linien erinnerten schwer an hervortretende Venen.

Sonne und Mond - oder auch Licht und Schatten. Dazu ein Herz? Mir fällt nur eine Karte dazu ein.

Er zog Wandel des Herzens - jene mächtige Zauberkarte, welche die Kontrolle eines Monster übernehmen konnte ohne dafür einen Preis zu zahlen - und legte sie in die Einkerbungen, dass sie gänzlich bedeckt wurden. Kaiba hatte erwartet, dass ein gleißendes Licht oder ähnliches erscheinen würde. Seine Handlung blieb ohne jeglichen Effekt, dass seine Augen zu kleinen Schlitzen wurden. Er war unzufrieden, und noch ratloser als zu Beginn der Session, dass er sich aufrichtete und die Karte vom Tisch nehmen wollte. Eine Hand hielt Wandel des Herzens an ihren Platz, Kaiba wandte sich der Gestalt zu.

Yamamori

Sie sah ihn an, grüne Giftpfeile trafen auf gefrorenes Wasser. Diese Frau war in ihrem Aussehen eine perfekte Kopie des Originals, ihr Blick sogar noch einnehmender, dass er seinem eigenen eiskalten Blick starke Konkurrenz machte. Ihre Seelenspiegel ruhten regungslos auf dem jungen Firmenchef. Sie blinzelte nur schwach, dass er es kaum wahrnahm. Die Hand auf der Karte, zog sie diese langsam vom Tisch. Die einhaltende Stille legte sich drückend auf ihn. Er war sich nicht sicher, ob sie sprechen konnte. Dies war schließlich eine Reproduktion, kein programmierter Avatar oder NPC. Genauso wenig wusste er, was sie mit der Karte vorhatte, die sie in den Händen hielt ohne auch nur einen Augenblick Kaiba aus den Augen zu lassen.

Diese Stille

Er unterdrückte sich ein Knurren und befreite sich von dem Druck: "Wer bist du?" Sein Gegenüber zuckte nicht einmal, dafür wurde ihre Miene finsterer. War sie etwa wütend? Er sollte derjenige sein, der sauer war. Schließlich war er hier in seiner virtuellen Welt, in der sich ein Fehler eingeschlichen hatte. "Du kannst also nicht sprechen", sagte der junge Firmenchef, der sich gerade abwenden wollte als sie ihn schief anlächelte: "Können und wollen ist ein erheblicher Unterschied."

"Also doch", er verschränkte die Arme und musterte sie wie eine Schaufensterpuppe, welche die neueste Ware präsentierte. Er konnte nicht sagen, ob ihm das Ergebnis gefiel. "Ich frage noch einmal: wer bist du?" Er konnte ihren Blick nicht einfach so im Raum stehen lassen. Die junge Frau sah ebenfalls zu ihm hinunter, dass sie denselben Blick ihres Gegenübers kopierte.

"Ich bin", ihre Stimme war hart, sie erinnerte kaum an die echte Rin, die zwar viel Arroganz und Selbstbewusstsein hineinlegen konnte, jedoch nie so kalt und fauchend war. Sie passte gut zu dieser Version, die ihn keiner Weise Freundlichkeit oder weiche Züge aufwies. Diese Variante gefiel ihm - erstaunlicherweise - weitaus weniger. Zudem spielte sie sich auf als gehörte dieser Bereich ihr, was den jungen Firmenchef an die Grenze des Reizbaren brachte.

"Reicht dir meine Antwort nicht?", fragte sie und legte den Kopf schief, "was ist denn los? Ich dachte, dass ein selbsternanntes Genie, das vor nichts zurückschreckt, besser Bescheid wüsste. Du enttäuscht mich...Seto Kaiba."

"Du weißt also, wer ich bin", der junge Firmenchef konnte sich ein Knurren nicht mehr länger unterdrücken.

"Natürlich", ihr Gesicht wurde ernst, mit Augen, die wie Schlitze aussahen, funkelte sie ihn an.

"Wenn du Spielchen spielen willst", er erwiderte ihren Blick, "dann such' dir jemanden anderen aus und verschwinde von meinem Feld."

"Du denkst, das ist ein Spiel", ihre Worte waren keine Frage, "du bist hier auf meinem Gebiet", dabei zerdrückte sie die Zauberkarte in ihrer Hand, "glaubst, durch Cheats die Regeln umgehen zu können? Falsch!", sie wurde lauter, "dies ist ein Sicherheitsprogramm und ich bin sein Administrator."

Was hatte sie da gerade gesagt? Die junge Frau öffnete ihre Hand und ließ die Karte fallen, dass sie wie eine Feder zu Boden glitt. Kaiba beachtete sie nicht, er versuchte aus der Erscheinung vor ihm schlau zu werden.

"Aber", fuhr sie fort und schwang ihren hohen Pferdeschwanz nach hinten, "wenn du es als Spiel sehen willst...nur zu", sie grinste ihn erneut mit diesem diabolischen Blick an, dass sein Puls sich beschleunigte, "dann heißt es für dich, Seto Kaiba: Game over." Die Hand, welche eben noch die Karte festgehalten hatte, hob sich, bis sie auf seiner Brusthöhe war. Mit der Innenseite berührte sie die Mitte seiner Muskeln. Ein drückendes Gefühl legte sich auf seine Lungen, er riss die Augen auf und wurde in einem Zug aus dem Haus geschleudert, dass er flach auf dem Rücken landete. Kaiba riss die Augen auf. Man hatte ihn hinausgeworfen. Ihn. Er erhob sich, glättete seinen Mantel und sah zu der Hütte hinüber, die einige hundert Meter vor ihm lag. Die unsanfte Landung ließ seine Beine schmerzen, sogar seine Schultern fühlten sich verkrampft an. Etwas, das nicht passieren durfte. Schmerzen in einem virtuellen Raum hatte er schon lange nicht mehr verspürt. Damals. In den Testphasen, oder als ihn sein hirnverbrannter Stiefbruder in den Cyberspace verbannen wollte. Aber nicht in seinem neuen System mit verbesserten Sicherheitsschlüsseln, einem perfekt ausgearbeiteten Programm, das mit diversen Schutzmechanismen arbeitete und im Notfall die Simulation stoppen konnte. Doch das wichtigste: Er hatte seit Jahren die Kontrolle über das System, wodurch ihn physische Attacken nichts anhaben konnten. Die hundertprozentige Selbstbeherrschung seines Geistes übertraf keinen anderen menschlichen Verstand!

"Miko! Was hat das zu bedeuten", die Stimme zitterte leicht. Mit einem leisen Rauschen, welches auch vom seichten Schwingen der Blätter stammen konnte, ertönte nahe seines rechten Ohres die elektronische Frauenstimme: "Es liegt ein Fehler vor. Dem System der Kaiba Corporation wird der Zugang verweigert."

"Das habe ich selbst gesehen", er ballte die Hände zur Faust, "Wie ist das möglich? Gibt es eine Lücke im System?"

"Negativ."

"Was soll das bedeuten?"

"Die Sicherheitsprogramme arbeiten ordnungsgemäß. Es wurden keine Störungen gemeldet."

"Wie kann dann ein Fehler vorliegen?"

"Die gespeicherten Daten der Probantin wurden erwartungsgemäß von dem System aufgegriffen. Zwischen dem Speicherzeitpunkt und dem Durchlaufen der Daten kam es zu einer erneuten Änderung der Codes. Dadurch hat sich ein unabhängiger Raum öffnen können, der außerhalb der Kontrolle des Systems liegt.

Außerhalb meiner Kontrolle

"Wenn es also kein Virus sein kann-", sprach der junge Firmenchef mehr zu sich selbst, "sie selbst hat von einem Sicherheitsprogramm gesprochen. Ein selbständiger Schutz - wovor?"

"Die Analyse hat ergeben", erwiderte seine KI, "dass durch die letzte Session die Gehirnregionen außerhalb des Cortex stark angeregt wurden."

"Ihr Unterbwusstsein."

"Bestätigt. Dieselben Hirnaktivitäten wurden zeitgleich bei Ihnen gemessen."

"Bei mir?"

"Die digitale Version Ihres Gehirns versuchte, Zugriff auf sämtliche Daten der Probantin zu erlangen, einschließlich nicht autorisierter Befehle."

Kaiba schüttelte den Kopf. "Soll das heißen, dass das System", er wollte bewusst sein Gehirn außen vor lassen, "Daten von Yamamori gespeichert hat, die ich nicht ausdrücklich angewiesen habe?"

"Es ist Ihr Gehirn", erinnerte sie ihn daran, dass er mit den Zähnen knirschte.

"Und du willst mir sagen, dass mein Gehirn für dieses Konstrukt verantwortlich ist", er zeigte auf die Hütte. Er musste auflachen, dabei war ihm nicht nach Lachen zumute.

"Die gespeicherten Informationen", begann seine KI, "wurden nicht vollständig in Ihr System integriert. Es besteht die Möglichkeit, dass die fehlenden Teile in dieser entsprechenden Lücke gesichert wurden. Für eine entsprechende Bestätigung fehlen derzeit die nötigen Nachweise."

Mit gesenktem Kopf schloss der junge Firmenchef schließlich die Augen. Er versuchte die negativen Emotionen, die sich hochgepusht hatten, von sich zu schieben. Er musste einen klaren Kopf behalten.

Einmal angenommen, es stimmt und mein Unterbwusstsein speichert unautorisiertes Material - warum sollte es das tun? Konzentrier' dich! Meine genaue Anweisung an Rin lautete, dass sie eine Erinnerung vor Augen haben sollte. Das System bediente sich der auditiven und gedanklich visuell umgesetzten Wahrnehmung. Ihr Gehirn hat durch diese eine Erinnerung womöglich weitere aktiviert und an das System weitergeleitet. Aus einem unbestimmten Grund hat die Technologie Interesse an sämtlichen Informationen.

"Wir werden einen erneuten Versuch starten", sagte Kaiba und öffnete seine Augen.

"Anweisung kann nicht bestätigt werden", antwortete ihm die KI, "ich sollte Sie an Ihren siebzehn Uhr Termin erinnern. In exakt fünf Minuten koppelt Sie das System wieder an Ihren Körper." Richtig. Die zweite Session mit Yamamori. Dass so viel Zeit bereits vergangen war, seit er am Morgen in sein Büro gekommen war und direkt die geheimen Anlagen angesteuert hatte. Diese unerwartete Wendung raubte ihm mehr Zeit als ihm lieb war.

"Also schön", raunte er und sah ein letztes Mal auf das Gebäude, "veranlasse, dass täglich die Systeme durchlaufen werden. Führe Scans und Analysen vor. Bedien' dich Studien aus der Psychoanalyse und ähnlichem. Verschaffe mir Zugang in diesen Raum - egal wie."

"Informationen erhalten. Befehle werden ausgeführt."

Lumina hatte recht.

Verdammt

Als sie dem jungen Firmenchef gegenüberstand, sah sie die Regung in seinen Gesichtszügen - etwas wie Gewissheit - dass Rin am liebsten im Boden versunken wäre. In ihrem Kopf stieg die Hitze, sie konnte selbst nicht mehr zu sich hinunterblicken. Im Gleichtakt schwang der Faltenrock mit ihren Bewegungen, dass die junge Frau jeden Schritt mitzählte, bis sie endlich in Kaibas geheimen Anlagen angekommen waren. Diesmal erklärte er nicht viel. Er zeigte lediglich auf den Helm, der diesmal mit noch mehr Kabeln versehen war und nur noch mehr Fragen aufwarf. Rin nahm ihn vom Pult und sah sich die einzelnen Stränge an als könnte sie irgendwie aus ihnen schlau werden, wenn sie diese nur länger betrachtete. Sie unterdrückte sich einen Seufzer; diese vielen Strippen waren mehr als nur Deko und Rin hatte einfach nicht das nötige Wissen, um ihren Nutzen zu kennen.

"DuelDisc einschalten", sagte die stoische Stimme neben ihr.

"Nicht nötig", entgegnete sie und zeigte auf ihr persönliches Modell, das an den Seiten in einem blassen Blauton leuchtete. Kaiba fokussierte seine eigene Erfindung als wüsste er nicht genau, was ausgerechnet sie damit anfangen könnte. "Seit wann hast du sie an?", seine Stimme blieb monoton, der Blick verriet eine andere Sprache. Die blauen Seelenspiegel versuchten durch sie hindurch zu dringen.

"Seit etwa einer Stunde", entgegnete Rin, die sich kurzfristig dazu entschieden hatte, vor ihrem Treffen mit Kaiba noch die Trainingsgeländer zu besuchen. Training gab ihr das Gefühl, die Welt und deren Probleme von sich schieben zu können. Es existierten nur sie und das Duell. Die kühle Stimme der KI, die vielen Farbspektren während der Aufwärmphase, das Kribbeln im Unterarm, wenn das System endlich startete. Die sechzig Minuten, in denen die Technologie und sie ein Duell austrugen, waren mehr als nur ein paar Übungen. Sie konnte den Schwierigkeitsgrad so hoch schrauben, dass es sie regelrecht an die Wand schleuderte. Sechzig Minuten konnten sich in den virtuellen Simulationen wie mehrere Stunden anfühlen. Stunden, in denen sie nicht grübeln musste, sondern nur auf die Strategie des Gegners fokussiert war. Es gab keinen Presserummel, keine nervigen Analysten oder das eigene menschliche Versagen.

Zudem gab es ihr das Gefühl, Yamato heute morgen nicht angelogen zu haben als sie frühs aus seiner Wohnung getürmt war. Seine treuen Augen erschienen ihr im Geiste, dass ihr Gewissen an ihr zu nagen begann. Schon jetzt wurde ihr mulmig bei dem Gedanken, abends zurückzukehren, ohne eine Ahnung zu haben, wie sie jetzt miteinander umzugehen hatten. Klar, sie musste mit ihm reden - sehr bald. Wenn er sie nicht mehr bei sich wohnen lassen wollte und nur zu höflich war, ihr das zu sagen, musste sie wohl oder übel den Schritt machen - und es möglichst bald tun. Jetzt hoffte sie nur, dass sie die Session lange genug von der Wirklichkeit fernhielt.
 

Sie stülpte sich den Helm über und setzte sich, wie auch schon beim letzten Mal, auf den einzigen Stuhl, dass Kaiba einige Tasten vor sich betätigte und den Countdown startete. Diesmal war das Gefühl des Verloren-seins nicht so stark. Ihr war etwas mulmig als sie in einer riesigen Vorhalle stand, aber das legte sich, sobald sie die Umgebung bewunderte: Die Vorhalle schien dem Klassizismus nachempfunden worden zu sein. Klare Linien, Anspielungen aus der Antike - Rin erkannte die einzelnen Elemente sehr genau und das Ergebnis gefiel ihr ziemlich gut. Weiß waren die Wände, dass sie genauso gut der Eingang zum Himmel hätten sein können - der Gedanke daran ließ sie schmunzeln. Seto Kaiba würde wohl vieles schaffen - eine Vorhalle zum Paradies gehörte sicher nicht zu seinem Repertoire. Vielleicht litt sie auch nur an den Nebenwirkungen der geistigen Entkopplung - dieser reine Ton war für sie grell im Vergleich zu dem schwarzen Nichts, das sie noch vor Sekunden umgeben hatte, dass ihre Augen brannten. Blinzelnd gewöhnte sie sich allmählich an das künstliche Licht. Die Umgebung wurde klarer. Vor ihr führte eine große, halbrunde Treppe zu einer doppelseitigen Flügeltür. Dort oben wartete bereits die Kopie des jungen CEO's, dass Rin keine weitere Zeit verschwendete und direkt auf ihn zulief.

"Weißt du, wo wir sind?", sein eiskalter Blick sah zu ihr hinunter.

Ich hoffe nicht, bei dir Zuhause

"Jedenfalls nicht im Zentrum Dominos", die Antwort kam ihr selbst dumm vor, dass sie den Blick abwandte und die Tür hinter dem Firmenchef betrachtete, die mindestens doppelt so hoch wie Seto Kaiba selbst war. Die Türen schienen aus Marmor, das Gestein hatte einen solchen Glanz, dass sich Umrisse ihrer Statur darin widerspiegelten. Sie konnte sich vorstellen, wie sich Härte und Kälte auf ihrer Handfläche anfühlen würden. Zumindest etwas, denn was sich dahinter verbergen könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft.

"Heute", Seto Kaibas Stimme echote durch die Vorhalle, dass es seiner Stimme zusätzlich an Kraft und Präsenz verlieh , "zeige ich dir, wie das System mit Informationen arbeitet. Sieh' es als eine weitere Übung an, bevor wir mit dem Eigentlichen anfangen. Für die zukünftige Anwendung der neuartigen holographischen Technologie ist es entscheidend, dass dir bewusst wird, wie die Zusammenhänge entstehen, damit du sie später richtig einsetzen kannst." Er gab den beiden Flügeltüren einen Stoß, dass sie aufsprangen und ihr Innerstes preisgaben. Rin blieb der Mund offen stehen. Nach Technologien, die DuelMonsters-Kreaturen Leben einhauchten und die Gesetze des Alls aus den Angeln hoben, war sie nicht darauf vorbereitet gewesen, in eine Bibliothek geführt zu werden. Ihre Augen verschlangen die Reihen an Bücherregalen, die meterhohen Säulen, welche den Weg zu den nächsten Räumlichkeiten säumten. Sie reckte ihren Hals hoch zu den griechisch mythologischen Gemälden, welche die gesamte Deckenwand ausschmückten, dass es Stunden gedauert hätte, die einzelnen Bilder zu studieren. Ehrfürchtig bewegte sie sich auf die Bücher zu. Wie viele waren in diesem Raum gelagert? Zehn-, hunderttausend? Vielleicht Millionen? Ihr Herz machte einen Sprung. Die Schönheit der Detailtreue, die filigrane Ausarbeitung - die gesamte Aufmachung war überwältigend für die junge Frau. Sie konnte nicht ausdrücken, welche Wirkung dieser Raum auf sie hatte. So vieles schwirrte in ihrem Kopf - Gedanken, die sie nur zu gerne hinaus geschrien hätte, wenn die Gedanken nicht einem Konfetti gleich kämen. Es lenkte sie von dem Eigentlichen ab, dass sie den Mann neben sich völlig vergaß und langsam über die Rücken der einzelnen Lektüren strich. Der Geruch von alten Büchern und Holz kitzelte ihre Nase.

"Einfach unglaublich", murmelte sie und legte den Kopf schief, um den Titel lesen zu können - eine Geschichte der Zeit . Der Schatten direkt hinter ihr ließ sie kurzerhand zusammenzucken. Kaiba beobachtete ihre Gesichtszüge, während er die Arme vor der Brust verschränkte. Sein eiskalter Blick war perfekt getroffen worden - dazu dieses leicht Herablassende, das allein schon wegen seiner Körpergröße unumgänglich war. Rin sah hinauf zu ihm, zu seinen blauen Augen. Es fiel ihr immer noch nicht ein, was sie störte. Ein winziges Etwas, weshalb sie ihm nicht abkaufte, der echte Seto Kaiba zu sein, obwohl er eindeutig aus dessen Gehirn entstanden war.

Was fehlt nur diesen Augen?

Bevor sie sich in wilden Theorien verstricken konnte, begann der junge Firmenchef zu sprechen: "Ich erzählte dir bereits, wie das Gehirn von Äußerlichkeiten der virtuellen Realität beeinflusst wird. Dasselbe gilt auch umgekehrt für die virtuelle Realität. Der Geist, sofern er stark genug ist, kann in der Lage sein, die Umgebung zu beeinflussen. Natürlich braucht es etwas mehr als Phantasie und Vorstellungsvermögen, um so etwas", er deutete um sich, "zustande zu bringen. Aber es kann nicht schaden, einfallsreich zu sein."

Rin ließ den Blick schweifen. "Dieser Raum", sie betrachtete die einzelnen Werke, die jeweiligen Regale und Reihen, an deren Enden jeweils weitere Türen lagen, die vermutlich in die nächsten Abteile führten, "willst du damit sagen, dass er mit Hilfe des Geistes geschaffen wurde? So wie bei meiner letzten Aufgabe? Durch Erinnerungen?" Seine Augen blitzten auf. "Diese beiden Dinge sind Welten voneinander entfernt", er hielt inne, "primitiv ausgedrückt basiert es auf demselben Prinzip. Hier wurden ebenfalls Informationen verarbeitet, die direkt an das System gesendet wurden. Es setzt eins zu eins die Gedanken um. Je klarer und definierter sie im Kopf erscheinen, umso besser kann sie das System umsetzen."

"Und hier wurde nicht rum getrickst?", sie berührte einen dicken Wälzer, der leichten Staub angesetzt hatte, "diese Bibliothek. Gibt es sie wirklich?"

"Sie ist von keinem mir bekannten Gebäude abgekupfert - wenn du das damit sagen willst."

"Aber die Bücher sind echt", entgegnete sie und sah hinauf zu den letzten Reihen, "Chemie, Physik, eine Menge Wirtschaft und Finanzwesen. Steuerrecht-, sie drehte sich zu ihm um, "du bist ja ein richtiger Bücherwurm." Seine Züge blieben eisig, aber etwas anderes hatte sie von seinem virtuellen Ich nicht erwartet.

"Ich will", sagte er stattdessen so emotionslos wie eh, "dass du die Sammlung erweiterst." Sie blinzelte ihn an: "Soll ich meine Bücher in die Reihen einfügen?"

"Denk' nicht, dass es so einfach ist, wie es sich vielleicht für dich anhören mag. Ein Buch ins Regal zu stellen ist nichts Besonderes", seine rechte Hand griff wahllos eines der Exemplare, "ein bisschen Farbe, eine Buchhülle, ein paar Seiten - ein Kinderspiel. Was ich von dir will, ist ein wenig mehr als ein Cover auf ein Stück Pappe bringen." Dabei klappte er das Buch auf und blätterte belanglos darin herum. Rin beugte sich nach vorne. Buchstaben flogen ihr ins Gesicht. Ganze Sätze waren zu lesen. Sie zweifelte nicht eine Sekunde deren Richtigkeit an.

"Wie-?", so schnell seine Finger die Seite wechselten, versuchte sie den Inhalt aufzunehmen. Irgendwo eine Lücke auszumachen, einen Fehler. Einen grammatikalischen Hänger, Mängel in der Semantik - irgendetwas, dass nicht nach Perfektion schrie. Er brauchte ihr kein weiteres Werk zeigen; sie glaube auch so, dass die anderen sich kaum in ihrer Ausarbeitung unterschieden.

"Und wie soll ich das anstellen?", sie schüttelte den Kopf - wollte er sie auf dem Arm nehmen? Ihr aufzeigen, wie dumm sie in seinen Augen sein musste? Kein Wunder, dass er kein Privatleben führte (soweit sie das aus Mokubas Gesprächen heraushören konnte) - für ihn mussten alle anderen Menschen wie minder bemittelte Tanzäffchen aussehen. Kleine dumme Dinger, die nicht annähernd seinen Horizont begriffen, egal wie sehr man sich auch bemühte.

"Denk' nicht über das >wie< nach", entgegnete er, dass nur weitere Fragezeichen in ihrem Kopf entstanden, "mach' es einfach."

Wie überaus hilfreich

Rin verschränkte selbst die Arme vor der Brust und sah erneut durch die Reihen. Vielleicht musste sie nur an die Werke denken, die sie im Laufe der Jahre zwischen die Finger bekommen hatte. Sie überlegte. Dachte an die unzähligen Stunden zurück, die sie in der städtischen Bibliothek zugebracht hatte. Die staubigen Werke, die Stapel an Büchern in ihrem alten Kinderzimmer. Titel erschienen vor ihrem geistigen Auge, verschmolzen mit Erinnerungen aus der späten Oberstufe, dass sie sich vor ihrem Schülerpult sitzen sah. Schweigsam, in die Lektüre vertieft, die sie bis Ende der Woche durchzulesen hatte.

Rums

Hatte sich gerade ein Regal bewegt? Die junge Frau blickte zur Seite. Alles schien unverändert. Nur Seto Kaiba entfernte sich von ihr und steuerte auf eines der Regale zu, aus dem das Rumpeln gekommen sein musste. Er beugte sich hinunter und griff ein schmales braunes Buch heraus. Flüchtig überflog er die Seiten, klappte es wieder zu und stellte es an seinen rechtmäßigen Platz. Seine Hände zogen ein weiteres Buch heraus, diesmal ein dickes, mit vergilbtem Einschlag. So hatte die meiste historische Sachliteratur der Schulbücherei ausgesehen. Jetzt wurde Rin neugierig. War es eines ihrer Bücher?

"Für den Anfang", damit klappte Kaiba das Buch zu, "gar nicht mal so übel. Nicht das, was ich erwartet hatte, aber für den Anfang akzeptabel."

Er legte es zurück ins Regal, dass Rin nur noch den Titel lesen konnte. Geschichte, Oberstufe II: 1939-1945. Begeistert war sie nicht, dass ausgerechnet der Schulstoff so präsent in ihren Kopf geblieben war. Dabei hatte es die letzten vier Jahre genug an Unterhaltungslektüre gegeben.

"Unzufrieden?", ertönte es neben ihr. Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe einfach...was hattest du eigentlich erwartet?"

"Ich hatte befürchtet", dabei fuhr er durch die einzelnen Buchrücken des Regals und arbeitete sich dabei langsam durch die gesamte Reihe, "dass du vom Eigentlichen abkommst."

"Hast du gedacht, ich würde deine Bibliothek mit Mangas und Klatschblättern verunglimpfen? Keine Sorge, nichts davon befindet sich in meinen Erinnerungen."

"Rin Yamamori", raunte er und steuerte die nächste Reihe an, "die Frau, die nur Schulbücher kennt." Seine Stimme wurde gedämpfter. Rin verlangsamte ihren Schritt und widmete sich Kaibas Lektüre.

Als ob sein Lesestoff so viel besser ist

Sie stieß die Luft aus und versuchte sich auf ihre derzeitigen Lieblingsautoren zu konzentrieren. Es fiel ihr schwer, die letzten Wochen war sie nicht einmal zum Lesen gekommen, dass die Erinnerungen nur blass an die Oberfläche drangen. Rin wusste nicht einmal mehr, was sie zuletzt gelesen hatte. Einen Krimi oder doch den derzeitigen Bestseller?

Wer war das noch gleich?

"Kaiba?", ohne hinzusehen hatte Rin sich auf die andere Seite der Halle begeben, dass sie vor einer der zahllosen Türen mit verschnörkelten Schwippbogen stand. Sie war neugierig, welches Abteil sich dahinter verbarg, was für wunderschöne Räume die Bibliothek noch für sie offen hielt. Ein Lesesaal oder ein Ort, an dem die verschlossenen Bücher aufbewahrt wurden?

Oder die Tür ist nur zur Deko da

Einmal an die Klinke gezogen, ließ sie sich problemlos öffnen. Rin trat ein. Drehte ihren Kopf und versuchte etwas auszumachen. Die Dunkelheit machte es ihr schwer, dass sie mit den Händen nach dem Schalter tastete.

"So ein Mist", murmelte sie und drehte sich in Richtung Tür.

Aber...

Ihre Hände suchten nach der Klinke. Nichts. Sie biss sich auf die Lippen.

Na toll. Und nun?

"Kaiba?", rief sie. Als Antwort drang ihr eigenes Echo zu ihr durch, "ich bin doch nicht wieder in diesem Zwischenraum?" Dieselbe unangenehme Schwere lag auf ihrer Brust. Mit der Dunkelheit, die keine Sicht auf irgendetwas zuließ, bereitete sich die junge Frau darauf vor, jeden Moment in die Tiefe gerissen zu werden.

Er hätte mich ja mal vorwarnen können.

Sie wippte mit den Füßen und wartete. Der plötzliche Sturz blieb aus, dass Rin allmählich Zweifel bekam, ob sie wirklich im Zwischenraum war.

"Hallo?" Nichts. Ihr war nicht wohl dabei, ständig auf der Stelle zu stehen. Ihre Beine begannen zu zittern als forderten sie die junge Frau dazu auf, sich in Bewegung zu setzen. Also tat sie vorsichtig ein paar Schritte. Doch das war ihren Beinen nicht genug. Sie sollte rennen. Der Impuls zwang sich ihr so stark auf, dass sie los sprintete, ohne zu wissen, ob sie sich überhaupt vom Fleck bewegte. Ihr Atem wurde schneller, sie spürte, wie wie die Luft dünner wurde. Sie hechelte, beinahe so wie am Tag des Vorstellungsgesprächs. Dazu dieselbe Angst. Nein! Nicht dieselbe Angst. Da war etwas anderes, etwas, dass ihr die Panik ins Gesicht trieb. Ihre Augen waren aufgerissen als könnte sie dadurch etwas an ihrer Blindheit ändern. Es war ihr egal, wie vergebens der Versuch war. Sie wusste, sie musste alles versuchen, um wieder sehen zu können.

"Hilf' mir"

Rin hielt inne, stolperte über ihre eigenen Beine und drehte ihren Kopf, dass sie sich ihre Haare ins Gesicht schleuderte. Sie keuchte und suchte nach der Stimme, die ihr so vertraut vorkam.

"Bitte, hilf mir", schrie die Stimme in derselben Verzweiflung wie sie Rin verspürte, dass sich ihr Magen krampfhaft zusammenzog.

"Wo bist du? Ich komme", kam es aus ihrem eigenen Mund. Allmählich veränderte sich die Dunkelheit. Lilafarbene Schatten ebneten einen Pfad. Rin hatte keine Wahl als ihm zu folgen. Schneller zwang sie ihre Beine voranzukommen. Sie stachen und verkrampften, aber das war ihr egal. Das Klappern ihrer Schuhsohlen hallte wider. Sie war hier richtig. Das spürte sie.

"Wo bist du?", schrie sie und sah zu ihrer Linken, "bist du hier?", sie sah zu ihrer Rechten.

" Hilf' mir!", die Stimme wurde schwächer, obwohl sie ganz in der Nähe war. Rins Herzschlag hämmerte bis in ihre Ohren, die Augen füllten sich mit Tränen. Sie rannte weiter, suchte die gesamte Umgebung ab. Licht schob sich zwischen den lilanen Schatten, dass sie neben sich Metallstäbe entdeckte.

Zellen?

Sie war in einem Kerker. Nur wo? Sie griff nach dem kalten Metall, schaute in jede einzelne Zelle hinein. Da war niemand. Ihre Lippen bebten.

"Wo bist du?", schrie sie, Tränen schoben sich aus ihren Augen. Sie musste weiterrennen.

BITTE!!!", kreischte die Stimme. Rin nahm alle Kraft zusammen, stürmte nach vorne, raus aus dem Verließ. Eine Treppe hinauf, in ein drittes Stockwerk. Schritte folgten ihr. Sie musste sich beeilen. Sie musste schneller als die anderen sein.

"Ich komme", schrie sie, spürte wie ihr Körper von Stromschlägen durchbohrt wurde, die ihr den nötigen Schub gaben.

"Hilf mir!", Kilometer von ihr entfernt sah sie einen schwarzen Schopf.

Lumina!?

"Ich. Komme", rief sie zurück, rannte weiter - immer weiter. Rin streckte ihre rechte Hand aus, ignorierte das Klappern von der Seite, das immer lauter wurde. Der Boden unter ihren Füßen begann zu schaukeln. Sie mobilisierte noch einmal alle verfügbaren Kräfte. Eine kleine Hand streckte sich ihr entgegen. Rin war sich sicher - sie würde es schaffen, würde die Hand rechtzeitig greifen können.

" Bitte!, der Körper ihrer besten Freundin kippte nach hinten, Lumina stürzte in die Tiefe.

"NEEEEEEIN", mit ausgestreckten Armen rannte sie ihr hinterher, verlor den Halt unter ihren Füßen, rutschte aus und-

Etwas packte sie am Handgelenk. Ein fester Griff, der sich schmerzhaft um sie legte. Nicht schmerzhaft genug für die tiefe Wunde, die sie in ihrem Innersten verspürte. Trotzdem sah sie hinauf zu der helfenden Hand, die sie langsam nach oben zog.

"Seto...Kaiba?", fassungslos sah sie in sein ebenso erregtes Gesicht, dessen eisiger Blick Feuer gefangen hatte. Er nahm seine zweite Hand, packte die junge Frau an der Schulter und hievte sie auf den Teppichboden. Allmählich kam die junge Frau zu sich. Sie wollte gerade etwas sagen, als beide Hände sie an den Schultern packten, zu sich ran schoben und heftig schüttelten, dass sie ihn nur mit offenem Mund anstarrte.

"Wie bist du hierher gekommen!?", schrie er sie an, dass sogar sein Gesicht rot anlief. Kaibas Nasenflügel bebten, er starrte wutentbrannt auf ihr eingefrorenes Gesicht. Rin konnte nicht antworten. Sie war wie gelähmt. Ihr Körper zitterte unkontrolliert, dass sich ein Schauder nach dem nächsten auf ihm ausbreitete. Schließlich ließ er von ihr, atmete selbst einige Male tief ein und aus, wobei er kurz die Augen schloss und sich wohl selbst zu beruhigen versuchte.

"I-ich", versuchte Rin auf seine Frage zu antworten. Jedes Wort kostete sie Kraft. Jede Silbe brachte ein Keuchen mit sich, dass ihr Hals zu kratzen begann, "ich...ich weiß...nicht... Wirklich." Daraufhin öffnete Kaiba seine Augen. Der Zorn war aus ihnen gewichen, ein Rest von Entsetzen wohnte ihnen noch bei.

"Dir kommt dieser Ort nicht bekannt vor?" entgegnete er. Zum ersten Mal registrierte sie, dass die Dunkelheit von ihr gewichen war. Über ihr baumelte ein gigantischer Kronleuchter und erhellte den Raum. Die Wände waren in einem matten Lila gehalten, Gold umrahmte sie. Das ganze Gebäude wirkte prunkvoll, fast schon königlich.

"Ich war noch nie hier", sie drehte ihren Kopf und sah hinter den jungen Firmenchef.

Diese Anlage

Das erste holographische System der Kaiba Corporation. Dies war eine Arena. Aber wieso? Was war mit der Bibliothek?

"Ist das-?", noch immer fiel ihr das atmen schwer, "das Königreich der Duellanten?"

"Ja", antwortete Seto Kaiba, von dem sie keinen Zweifel hatte, dass er der Echte war. Je mehr sich ihr Geist beruhigte, umso klarer erschien ihr die Umgebung. Sie hatte den Duellschauplatz damals im Fernsehen gesehen. Hier hatten die finalen Spiele gegen den Erfinder von DuelMonsters persönlich stattgefunden. Ein seltsames Turnier - wie sich die junge Frau erinnerte. Es hatte für die Finalisten zwei Möglichkeiten zur Wahl gestanden, sollten sie gegen Pegasus J. Crawford gewinnen: Zwei Millonen Dollar Preisgeld oder die Erfüllung eines Wunsches. Was Zweites bedeutete, war den Zuschauern schuldig geblieben.

"Wieso bin ich hier?", fragte sie leise und sah zu ihrem Firmenchef hinauf, dessen Aussehen nicht seinem jetzigen Bild entsprach. Seto Kaiba wirkte jünger. Einige Züge sogar weicher, dass sie sein Gesicht genauer betrachtete. Selbst seine Aufmachung entsprach nicht seinem derzeitigen Bild. Er trug ein grünes Hemd, mit passender grüner Hose. Dazu einen bodenlangen, blauen - oder doch lila? - Mantel. Zu seiner Rechten blitzte ein silberner Koffer. Genau dasselbe Modell wie ihn Rin von Mokuba erhalten hatte. Sie konnte nicht wegsehen. Eine unsichtbare Kraft zwang sie, das Metall anzustarren als könnte sie den Koffer damit entriegeln. Kaiba hingegen schnaubte und stellte sich aufrecht hin.

"Keine Ahnung", seine Worte kamen wie Peitschenhiebe aus ihm heraus, dass Rin kurz zusammenzuckte. Er verschränkte die Arme vor der Brust, tat einen weiteren tiefen Atemzug und fuhr fort: "Du warst auf einmal nicht mehr in dem System zu finden. Zumindest nicht innerhalb der vorprogrammierten Map."

"Ich verstehe nicht", Rin raffte sich ebenfalls auf, sie geriet ins Taumeln. Stehen war anstrengender als sie vermutet hatte.

"Mika!", Kaibas Stimme hallte durch den Raum, "sofortiger Sessionabbruch."

"Virtuelle Simulation wird abgebrochen. Beginne mit Rückkopplung der Testsubjekte"

Rin nahm nur noch ein leises Rauschen wahr, bevor sich die Umgebung vor ihr aufzulösen begann - oder löste sie sich auf? Ihr Bauch begann zu kribbeln, vor ihren Augen flogen kleine Sterne, dann wurde es schwarz und in der nächsten Minute war sie zurück in den Testgeländen. Sie rieb sich die Augen. Heute brannten sie stärker. Ihr war nach weinen zumute, ihre Brust zog sich drückend zusammen, dass es ein Leichtes gewesen wäre, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Nur Kaibas Präsenz erinnerte sie daran, wo sie eigentlich war und dass weitere Gefühlsausbrüche nur zu Verwirrungen führen würden. Noch immer war ihr nicht klar, was die Bilder zu bedeuten hatten. Es fühlte sich wie ein Traum an, bloß hatte sie nach dem Erwachen nicht das Gefühl, als würde es ihr besser gehen. Sie legte die Hände auf den Schoß und sah zu dem jungen Firmenchef hinauf, der die Geräte abgeschaltet hatte und den Helm von ihrem Kopf abnahm. Anschließend lief er auf einen der Schränke neben sich zu und holte zwei Flaschen Wasser heraus. Eine davon hielt er ihr vor die Nase.

"Danke", murmelte Rin, der es immer noch schwer fiel, in ruhigen Zügen zu atmen. Er musterte sie eingehend als wartete er auf etwas. Als sie die Flasche aufschraubte und einen Schluck nahm, begann er ihre Finger zu beobachten. Erst jetzt sah Rin, dass sie in einer Tour zitterten. Stärker umklammerte sie die Flasche. "Geht schon", sagte sie. Es kam ihr so vor als müsste sie sich auf irgendeine Weise vor ihm rechtfertigen. Sie stand noch völlig neben sich, dass die Umgebung um sie noch leicht wacklig war. Kaiba lehnte sich derweil an das Pult und verschränkte die Arme vor der Brust: "Deine Werte sind plötzlich instabil geworden." Seine Stimme war ruhig - wie ein Arzt, der seinem Patienten die Diagnose erläuterte, sprach er zu ihr, dass sie sich von seiner Stimme eingelullt fühlte und grundlos zu nicken begann. "Dein Puls war fast doppelt so hoch wie normal. Ich dachte schon, du kollabierst."

"Ich bin gerannt", entgegnete Rin als wäre der virtuelle Marathon eine plausible Erklärung, "einfach gerannt." Sie nahm noch einen Schluck und spürte, wie die Flüssigkeit ihren Körper erreichte. Langsam ließ das Zittern nach: "Vielleicht hätte ich vorher nicht so viel Kaffee trinken sollen."

"Das hat damit nichts zu tun", Kaibas Blick ließ keinen Zweifel zu. Rin schraubte die Flasche zu und sah durch das Plaste hindurch. "Du hast gesagt, dass du mich nicht mehr finden konntest", erst jetzt begriff sie, was er ihr da gesagt hatte. Der Gedanke war beängstigend. Wie war es möglich, dass er sie nicht gleich gefunden hatte? Sie war doch in seinem Programm.

"Richtig", Kaiba sah auf einen der Monitore, doch Rin hatte eher das Gefühl als vermied er es, ihr ins Gesicht zu sehen, "du hast den programmierten Raum verlassen. Mein Avatar hat dich nicht mehr finden können."

"Deshalb bist du selbst in das virtuelle System eingestiegen."

"Interessant, dass du den Unterschied sofort erkannt hast."

"Zwischen dir und dem virtuellen Kaiba? Vielleicht ist es Intuition. Auf jeden Fall...danke, dass du mich da rausgeholt hast." Es war gut zu wissen, dass er sie ihm Ernstfall nicht einfach im Cyberspace zurück lassen würde. Der junge Firmenchef lächelte schwach, dass seine Augen blass blieben: "Du scheinst vergessen zu haben, dass dein Gehirn wirklich geglaubt hat, dass du fällst und dass der Sturz sich ebenso auf deinen Körper ausgewirkt hätte."

Sie hatte vor einer Schlucht gestanden, deren Ende nicht sichtbar gewesen war. Ihr war bewusst, was das für sie bedeutet hätte. Rin fasste sich an den Nacken. Dort hämmerte besonders schwer der Puls. Das Gefühl der Panik war noch nicht vollständig gewichen. Wenigstens wollte sie nicht mehr in Tränen ausbrechen. Das sah sie als Fortschritt.

"Wenn", Rin zögerte, "wenn ich nicht mehr auf der Map war", jetzt sah er sie an, wenn auch nicht gerade erfreut, dass sie das Thema aufgriff, "wo war ich dann?" Schließlich hatte der Raum existiert. Sie und Kaiba waren dort, er konnte es nicht abstreiten. Ihr Gegenüber antwortete nicht. Er sah sie lediglich streng an. Allmählich glaubte sie, dass er es ebenso wenig wusste. Dass er deshalb so mies gelaunt war. Unwissenheit für einen Perfektionisten musste etwas Quälendes sein. Dann dachte sie an die Kulisse, Kaibas Aussehen, den Duellschauplatz. "Irgendeine verschobene Erinnerung", ihre Stimme war nur ein leises Gemurmel. Trotzdem zuckten Kaibas Lippen. Mit der einen Hand zerdrückte er die Flasche, dass sie ein knacksendes Geräusch gab und die Stille abrupt beendete.

"Abgespeicherte Bilder", sagte er und stellte die Flasche beiseite, "das System wird es fälschlicherweise in die Map platziert haben. Solche Bilder können Verzerrungen innerhalb der Map entstehen lassen-"

Ich dachte, das System hat keine Fehler

Sie traute sich nicht, ihren Gedanken laut aus zu sprechen. Schon jetzt hatte sie das Gefühl als wäre er noch sauer auf sie. Dabei hatte sie nie beabsichtigt sich außerhalb des Raumes zu bewegen. Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wie sie das angestellt hatte - genau wie ihr Gegenüber. Dieser schien mit dieser Tatsache noch unzufriedener zu sein, dass er schließlich zurück auf den Bildschirm sah, der bereits vollständig runtergefahren war.

"Die Simulation ist für heute beendet", sagte er ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.

"Wirklich?", sie könnte sich nicht vorstellen, dass er mit dem Ergebnis zufrieden war. Wollte er denn nicht selbst wissen, wie dieser >Fehler< passieren konnte? Seine Augen ließen von der Elektrik. "Mit deinen Werten lasse ich dich nicht weitermachen. Ich habe vorerst, was ich brauche. Beim nächsten Mal können wir mit dem holographischen System loslegen."

Sie umklammerte die Flasche fester als das Zittern zurückkehren wollte. Emotionen überlagerten sich. Der Plötzliche Abbruch der Simulation füllte in ihrem Innersten eine Leere aus, die sie nicht zuzuordnen wusste. Die letzten Bilder überschlugen sich, Gefühle überrannten sie ein weiteres Mal, dass ihr schlecht wurde. Irgendwie wollte sie dem Ganzen Druck machen. Es heraus lassen. Zumindest ein wenig. Der Mann vor ihr machte es nicht einfacher für sie. Sie hatte das Bedürfnis sich zu entschuldigen. Der Druck war so stark, dass ihre Finger verkrampften als sie die Flasche zerbeulen wollten: "Tut mir leid", flüsterte sie, dass der Firmenchef sich überrascht zu ihr vorbeugte, "dass ich gestern in den Wagen gestiegen bin. Ich weiß, dass du dich in deiner Privatsphäre verletzt gefühlt hast."

Oh Gott! Wo kam das gerade her?! Bist du jetzt völlig bescheuert, Rin?

Zunächst sah er sie lediglich an als glaubte er selbst kaum, dass die Worte aus ihrem Mund gekommen waren. Schließlich überkreuzte er die Beine, seine Augen kehrten zu dem typischen eiskalten Blick zurück. "Du hättest es einfach nicht tun sollen."

"Es war schwer, nein zu sagen."

Daraufhin fuhr er sich durchs Haar - etwas, dass sie noch nie bei ihm gesehen hatte, "Wie ich Mokuba kenne, hätte er nicht klein beigegeben. Seine Anwandlungen sind fürweilen... etwas impulsiv und neuerdings gehört das Anbandeln von Mitarbeitern zu seinen neuesten Launen."

"Er macht auf mich eher den Eindruck als würde ihm das Teenaderdasein fehlen", entgegnete Rin, die innerlich über das Wort anbandeln schmunzeln musste. Der Gesichtsausdruck des jungen Firmenchefs zeigte keine Form von Verständnis.

"Teenagerdasein", er sprach das Wort wie einen Fluch aus.

"Du weißt schon: in die Schule gehen, sich mit Freunden treffen, Unsinn machen. Halt das, was Teenies so tun."

"Mokuba braucht sicher nicht diesen Unsinn", seine Worte waren endgültig. Sie konnte förmlich seine Gedanken schreien hören. Niemand kannte seinen Bruder besser als er selbst! Rin machte ihm keinen Vorwurf. Etwas versöhnlicher leuchteten seine Augen Rin an. Vielleicht dachte er über das Gesagte nach - nur vielleicht.

"Ich", Rin versuchte sich aus dem Stuhl zu hieven, doch es war anstengender als gedacht. Ihre Beine waren wie Pudding. Noch dazu wollte sie sich vor Kaiba nichts anmerken lassen. "Ich bin auch nicht gerade der Experte, was einen typischen Teenager ausmacht." Sie wusste nicht, warum die Worte aus ihr herausprudelten. Im Geiste schrie sie sich an, die Klappe zu halten. Ihre Lippen pfiffen auf die Drohungen. Überrascht stellte sie fest, dass er ein flüchtiges Lächeln zu Stande brachte. "Du meinst, den ganzen Tag vor den Schulbüchern hocken, gehört nicht zum Teenagerdasein?"

"Du hast sie gesehen?", ihre Miene verfinsterte sich.

"Nein. Nur entschlüsselt." Seine Augen wanderten zurück zu den Bildschirmen. "Oder glaubst du ich beobachte dich durch eine Art Kamera. Dass du auf meinen Monitoren zu sehen bist? Vielleicht noch in 2D. Wie in einem billigen Indie-Game?" Er stieß die Luft aus. Die Vorstellung von sich als Minifigur - Rin musste breit grinsen. Ihr Kopf ließ sie diesen Gefühlsausbruch sofort bereuen.

Bloß keine Miene verziehen

"Ich dachte eher, dass du die Bilder wie eine Erinnerung in deinem Gehirn abspeichern kannst. Weil es doch quasi mit dem System verbunden ist."

"Nicht wie eine Erinnerung, aber ja, ich habe Zugriff darauf. Obwohl die Informationen für mich persönlich völlig irrelevant sind. Aber das ist schon alles, was du zu wissen brauchst ", entgegnete er, bevor Rin so etwas wie Erkenntnis erfassen konnte. Sie begnügte sich schon damit, dass er überhaupt mit ihr redete. Es lenkte von dem eigenartigen Kribbeln in ihrer Brust ab, dass sie seit dem Ende der Session verspürte. Auch wenn er dies wohl nicht aus Empathie tat - sie war sich sicher, dass dies nicht zu seinen Stärken zählte - war sie froh, dass er ihr noch die Zeit gab, ihre Kräfte zu sammeln. Bevor sie einen zweiten Versuch startete und ihren Oberkörper anheben konnte, beugte sich Seto Kaiba noch ein Stück weiter zu der jungen Frau hinunter, dass sie abrupt die Luft anhielt. Seine tiefenblauen Seelenspiegel funkelten, während er seine linke Hand um ihr Handgelenk legte, dass sich ihre beiden Metallarmbänder berührten. Mit einem Ruck hatte er ihr auf die Beine geholfen. Mit glühenden Wangen sah sie zur Seite.

Sei nicht albern

"Eines noch", Kaiba entriegelte das Haupttor, während Rin daneben stand und versuchte ihren Fokus weg von seinen Fingern zu lenken, "sollten Nebenwirkungen auftreten. Gib' mir umgehend Bescheid, hast du verstanden?"

"Nebenwirkungen?", sie fasste sich an den Kopf, dessen Hämmern allmählich nachließ. Die Tür öffnete sich. Kaiba sah sie ernst und bestimmend an: "Halluzinationen, Migräne, Schüttelfrost, Epilepsie-"

"Schon verstanden", beschwichtigte sie mit den Händen, "keine Sorge, mir geht's gut. Ich fühle mich eher emotional angeschlagen. Mein Körper ist völlig in Ordnung- Huch", sie standen direkt vor dem Fahrstuhl. Kaiba stellte sich vor die junge Frau und ergriff erneut ihr Handgelenk. "Ich sagte: du benachrichtigst mich sofort, wenn irgendetwas nicht stimmt."

"Okay", hauchte sie. Sie traute sich nicht einmal zu blinzeln. Kaiba ließ von ihr und drückte den Aufzugknopf.
 

Nebenwirkungen.

Rin lag im Bett, - in einem, das nicht ihres war, niemals ihres sein würde. Es war weich, fast schon zu weich für die junge Frau, die auch auf dem Boden mit einer dünnen, harten Matratze und einem Schlafsack als Decke zufrieden sein konnte. Sie drehte sich auf die Fensterseite. Einige der Hochhäuser hatten vereinzelt noch Licht brennen, dass sich die junge Frau darauf konzentrierte. Ihr Körper fühlte sich erschöpft an, ihr Geist jedoch war unruhiger denn je.

Zählen Entzugserscheinungen als Nebenwirkung?

Zunächst hatte sie nicht begriffen, was mit ihr los war. Wieso sie nicht das Gefühl abschütteln konnte, die Kontrolle verloren zu haben. Rin spürte Angst, Verzweiflung und Wut in einem Schlag. Die Intensität fühlte sich falsch an. Als ob es nicht sie war, die litt. Dass man ihr ein Gefühl aufgezwungen hatte und mit ihrem echten zu kollidieren drohte. Daraufhin versuchte sie die letzte Session zu analysieren. Bis zur Bibliothek war alles entspannt gewesen - bis sie sich verirrt hatte. Danach glichen die Ereignisse einem wirren und erschreckenden Traum. Jene Albträume, die sie zuletzt in ihrer Jugend gehabt hatte. Sie dachte an Lumina und versuchte einen Zusammenhang zwischen dem Königreich der Duellanten und ihrer Freundin zu schaffen. Sie kam auf kein Ergebnis. Lumina hatte in Gefahr geschwebt und Rin war nicht in der Lage, gewesen ihr zu helfen. Ein Gedanke, der sie schaudern ließ.

Vielleicht eine versteckte Angst in meinem Unterbewusstsein. Und eine Szene aus Kaibas Vergangenheit hat sich damit verbunden-

Rin versuchte sich an das Turnier von vor sieben Jahren zu erinnern. Es war das erste großes DuelMonsters Ereignis der Geschichte. Weit vor den Battle-City-Turnieren und dem Worldcup. Der Schöpfer selbst hatte auf seine Insel eingeladen. Die Regeln wurden damals etwas abgeändert. Sie erinnerte sich noch genau, wie die größten Spieler der Epoche gegeneinander angetreten waren. Nur eine handvoll schaffte es, sich Zugang zum Schloss zu verschaffen, in dem Pegasus persönlich herausgefordert werden konnte. Seto Kaiba war während der gesamten Vorrundenduelle nicht anwesend gewesen. Erst am Schluss hatte er gegen Pegasus gespielt - und verloren.

Wie war das noch gleich? Pegasus hatte irgendeine seltsame Regel aufgestellt. Was war das nur für eine?

So sehr Rin DuelMonsters liebte und zu der Zeit bereits selbst gerne dazu gehört hätte, war ihr das Event sehr abgedreht vorgekommen. Teilweise hatte es Duelle gegeben, die den Eindruck vermittelten als ginge es um mehr als Prestige - um viel mehr.

Stimmt. Pegasus ließ die Spieler mit offenen Karten spielen. Es war damit unmöglich, einen Überraschungsangriff zu starten.

Den Blick auf das Fensterbrett gerichtet sah sie ihre DuelDisk und der Drang, das leichte Metall auf ihrem Arm zu spüren, wuchs. Also lehnte sie sich etwas zur Seite und griff nach ihrer stärksten Waffe. Ein kleiner Knopf ließ sie ins System einloggen. Das helle Blau war beruhigend. Sie befestigte die Disc und legte sich wieder hin. Den Rücken auf der Matratze, die Augen starrten an die Decke, während eine Hand über das Metall strich. Die Bewegungen ließen ihre Augen schwer werden. Ihr Herzschlag ging schnell, aber das Gefühl der Panik war von ihr gewichen. Es ärgerte sie, dass sie sich nicht an mehr erinnern konnte. Ihr war nur noch Yugi Mutos finaler Schlag in Erinnerung geblieben. Danach hatte er den Titel "König der Spiele" erhalten. Dass sie sich nicht an Seto Kaibas Gesicht erinnern konnte, das vielleicht etwas mehr Aufschluss über die Situation gegeben hätte, gab ihr ein Gefühl der Unzufriedenheit. Wie hatte er ausgesehen als Pegasus in besiegt hatte? Rührte daher die Angst, die sie gespürt hatte? Angst zu versagen? Rin schloss die Augen. Sie hatte keine plausible Erklärung und würde sie wohl heute auch nicht finden.

Ist es seine Angst, die ich spüre?

Mit diesem Gedanken schlief sie schließlich ein.

Die Nacht träumte sie wieder von ihm. Keine verschnörkelten Szenen, keine heißen Duschräume. Nur Seto Kaiba. Seine junge Version. In einem leeren Raum, von Dunkelheit umgeben stand er vor ihr, sah zu der jungen Frau hinab als begegneten sie einander zum ersten Mal. Rin selbst regte sich nicht. Seine Statur war so einnehmend, dass sie nur ihn im Fokus hatte. Selbst wenn sie wollte, etwas in ihr hielt sie an, sich zu rühren. Seine eiskalten Seelenspiegel waren auf sie gerichtet - konzentriert, fokussiert, suchend. Brennend bohrte sich sein Blick in sie hinein, sie wagte es nicht, sich von ihm abzuwenden. Eine unbestimmte Kraft hielt sie davon ab, dass sie seine regungslose Gestalt betrachtete, welche einer Statue Konkurrenz machen konnte. Lediglich sein Brustkorb hob und senkte sich, dass sie schwach seine Atemzüge ausmachen konnte. Doch Rin war in seinen Augen gefangen, aus denen Worte flackerten - ruhelos und unbestimmt. Sie verstand die Worte nicht, die er ihr ins Gesicht zu schreien versuchte. Sie atmete stoßweise die Luft aus, ihre Lippen waren leicht geöffnet als wollten sie jeden Augenblick selbst etwas sagen, dabei wusste sie nicht, was sie hätte sagen sollen. Seine Präsenz fing sie magnetisch auf, dass sie zu Nichts imstande war außer zu Blinzeln. Ein Wimpernschlag - schnell, flatterig und doch lange genug, dass sie nicht bemerkte, wie er sie an den Armen packte, sie an sich drückte und den Mund auf ihren presste, dass sie erschrocken die Augen aufriss. Weniger der Kuss war es, der sie überraschte, wenn sie es denn als Kuss bezeichnen konnte. Vielmehr war es wie ein Schlussakt, um ihren Körper vollständig einzunehmen - denn genau das schien er mit ihr vorgehabt zu haben. Der Moment, in dem sein Griff eine Endgültigkeit besaß, dass es ihr sämtliche Luft abschnürte, ergriff sie überall, dass es keine Chance gab, dem zu entkommen. Ein schmerzhafter Druck legte sich auf ihre Lunge. Panik überkam sie, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Fester packte sie der Griff, dass ihre Arme taub wurden. Hektisch versuchte sie nach Luft zu schnappen, doch seine Lippen ließen keinen Spielraum zu. Genauso wenig konnte sie sich abwenden. Ihr gesamter Körper war wie gelähmt. Innerlich kämpfte sie dagegen an - ein Kampf gegen den Strom. Statt zu schwimmen, kam sie ins straucheln, wurde in die Tiefe gezogen als hätte man ihr Ketten um die Knöchel gelegt. Auf ihrer Haut breitete sich ein Kribbeln aus - wie tausende von Ameisen, die sich auf ihr bewegten. Immer tiefer drang dieses Gefühl in sie ein. Sie wusste, es kam von ihm. Von diesem jungen Mann, der nicht eine Sekunde seinen Griff lockerte. Er war es, der in ihr Innerstes vorstieß, in Ebenen vordrang, die weit in ihr Unterbewusstes reichten. Rin spürte, dass der letzte Sauerstoff verbraucht wurde. Aus Panik wuchs Verzweiflung. Die mangelnde Luft benebelte ihr Hirn, dass es sich anfühlte, als würde er wie ein Luftballon aufgepustet und dass sie nur noch auf den großen Knall zu warten hatte. Danach ergriff sie eine plötzliche Resignation - und Erkenntnis. Sie war doch in einem Traum! Der Gedanke war so klar, dass sie nicht daran zweifelte, dass es stimmte. Ihre Augen begannen zu flattern, die letzten Reserven stauten sich in ihr zusammen. Vielleicht sollte sie sich ihm einfach ergeben. Ihre Lider senkten sich. Schwach bewegten sich die Lippen als sie einen Hauch verspürten. Erst einen, dann ein zweiter. Allmählich begriff sie. Er küsste sie nicht. Das war ihr doch von Beginn an bewusst gewesen! Er flößte ihr den Atem ein, den sie so dringend brauchte. Sie verstand den Grund nicht; wusste nicht, wieso er sie so umklammert hielt als wäre sie seine Beute. Für sie zählte nur die Luft, die durch sie hindurch schwebte. Ihren Körper von sämtlichen Druck befreite. Ihr Puls beruhigte sich, klopfte gleichmäßig, dass es sie in den Schlaf wiegen könnte, wenn sie nicht bereits geschlafen hätte.

Das ist nur ein Traum

Sie fühlte es. Das Wissen ließ sie stärker werden.

Man kann nicht träumen, dass man stirbt.

Das hatte sie in einem Buch gelesen. Langsam kam die Erinnerung an die Wirklichkeit zurück, und daran, dass Träume gelenkt werden konnten, wenn der Wille stark genug war.

Die virtuelle Simulation ist auch nur ein Traum und wenn ich meinen Geist davon befreie, dann-

Sie blinzelte als seine Lippen sich von ihr abwanden. Kaiba öffnete die Lider, sein Blick war eisig, und doch anders als jener, den der Echte entfachte; aber auch nicht so statisch wie sein virtueller Gegenpart. Weitaus ruheloser, emotionaler. Dieselben Emotionen prallten auf Rin hinab, dass sich ihr so viele Fragen auftaten. Bevor sie auch nur eine davon stellen konnte, öffnete er seinen Mund: "Glaubst du wirklich, dass das ein Traum ist?

In einer einzigen Bewegungen hatte sie sich aufs Bett gesetzt. Die Augen waren weit aufgerissen, sie starrte auf die Schlafzimmertür, die sie zunächst nicht ganz zuzuordnen wusste. Sie drehte den Kopf zur Seite. Grell schien die Sonne auf die Fensterscheibe, zeigte die prachtvollen Hochhäuser der City. Stimmt. Sie war in Yamatos Apartment. Sie krallte die Finger in die Decke als sie ihre DuelDisc um den Arm bemerkte. Ihre Augen fixierten das schwach schimmernde Licht. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie über Nacht auf zu behalten. Mit zwei einfachen Griffen befreite sie sich von dem Metall und legte es direkt neben sich. Für den Rest des Tages würde sie sich eine Auszeit von all der Technik nehmen. Schließlich musste sie sich heute nicht duellieren. Heute ging es ausschließlich um die Verteilung der Teams. Aus vorherigen Endrunden wusste Rin, dass die letzten verbliebenen Duellanten in Gruppen gesteckt wurden. Jeder Spieler musste einmal gegen jedes Gruppenmitglied antreten. Wer die meisten Siege innerhalb der Gruppe erringen konnte, war nicht nur Teamsieger. Derjenige bekam das Ticket für die finalen Spiele, die in diesem Jahr in Kairo stattfanden. Es war Tradition, dass die Endrunden in dem Land ausgetragen wurden, in dem der aktuelle Champion Zuhause war. Mit Marik Ishtar, der letztes Jahr den Titel erlangt hatte, fand der Worldcup zum ersten Mal nicht in dessen Gründungsstätte statt. Rin hatte noch nicht darüber nachgedacht, dass sie mit einem Gruppensieg zum ersten Mal das Land verlassen würde. Ihr Blick ging über die DuelDisc, in der sich noch ihr Glücksbringerdeck befand. Ihr wurde bewusst, dass sie noch nie wirklich über einen Sieg nachgedacht hatte. Die Battle-City-Duelle hatten ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert, dass daran nicht zu denken gewesen war. Und danach war sie so darauf fokussiert gewesen, der Kaiba Corporation einen denkwürdigen Sieg zu verpassen, dass sie zum ersten Mal begriff, wie nahe sie ihrem Ziel war. Dass sie das Ticket bereits in Sichtweite hatte und nur noch genug Ausdauer mitbringen musste, um nach ihm die Arme auszustrecken. Lange starrte sie die Karten an, dann nahm sie das Deck. Sie wollte es bei sich haben, wenn die Vergabe der Gegner bekannt gemacht wurde. Es hatte bereits bewiesen, dass es ihr Glück brachte, auch wenn sie sonst nicht der Typ für Aberglauben und spirituelle Führer war.

Etwas Support kann nie schaden

Damit stieg sie aus dem Bett, legte es genauso ordentlich zusammen, wie sie es die Tage zuvor aufgefunden hatte und schnappte sich ihre Kleidertüte. Für die Nacht hatte sie sich die bequemen Sachen übergezogen, die als einzige zum Schlafen etwas taugten. Zwar war die weite Stoffhose eindeutig zu viel für die Sommernächte, aber ohne sie nachts durch die Flure zu wandeln erschien ihr in der derzeitigen Situation auch nicht angebracht. Zumal das Shirt nur knapp über ihr Hinterteil reichte.

Mit tippelnden Schritten verließ sie das Schlafzimmer, huschte an dem Wohnzimmer vorbei, in dem sie bereits Rascheln und Klappern vernommen hatte und schlüpfte durch die Badtür.

Okay, Rin

Sie nahm einen tiefen Atemzug - dabei kam ihr der Traum in den Sinn, dass sie mittendrin die Luft anhielt. Kopfschüttelnd pustete sie ihren Atem aus.

Heute gibt es keine Ausreden. Heute muss ich mit ihm reden. Egal, wie es ausgeht.

Rin stellte sich vor das Waschbecken und putzte sich die Zähne. Yamato hatte ihr zu Beginn ein kleines Pflegeset mit allem nötigen Zubehör hingestellt. Bei dem Gedanken verzogen sich sämtliche Gedärme. Dieser Mann war einfach so wunderbar und Rin einfach nur der größte Volldepp. Nur zu gerne hätte sie ihnen beiden eine Chance gegeben. Wie lange verzehrte sie sich danach, ihr Bett mit jemanden teilen zu können, dem sie vollends vertraute, bei dem sie sich fallen lassen konnte und ganz sie selbst sein. Über drei Jahre hatte sich nicht annähernd die Gelegenheit ergeben. Keinem, dem sie begegnet war, konnte sie Vertrauen aufbringen. Niemanden, zu dem sie offen sein konnte und sich ganz ihren Empfindungen hingeben. Sie hatte wirklich geglaubt, dass es diesmal anders sein würde. Dass Yamato derjenige war, mit dem es möglich gewesen wäre. Er und Rin wären ein tolles Team. Daran hatte sie keinen Zweifel. Aber seit dem Kuss -

Schroff fuhr sie sich mit dem Kamm durch die Haare. Er war ein toller Küsser. Seine Lippen waren weich. Seine Bewegungen nicht zu voreilig oder verkopft - und trotzdem hatte sie nicht ein Funken seiner Gefühle erreicht. Sie wusste seit Jahren, was sie wollte. Wie sie es wollte. Nun hatte sie die Chance gehabt, all das zu bekommen und es reichte ihr einfach nicht.

Den Blick auf das eigene Spiegelbild gerichtet, versuchte sie die Veränderung, von der Makoto gesprochen hatte, äußerlich zu erfassen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Egal, wie sehr sie sich verändert hatte, sie würde niemand werden, der nicht ehrlich zu den Menschen war, die ihr etwas bedeuteten. Und Yamato bedeutete ihr etwas, so viel stand fest.

"Du schaffst das", murmelte sie und entschied sich, die Haare offen zu behalten. Auch wenn sie heute ihren Gegnern und einigen Firmenchefs gegenüberstand, würde sie niemand sonst zu Gesicht bekommen. Die Vergabe der Teams fand nur unter den Spielern, ihren Sponsoren und dem Komitee statt. Heute wollte sie die eiskalte Spielerin wenigstens noch für einen Tag in der Schublade behalten. Sie spürte, wie die andere Seite von ihr stärker seinen Besitzanspruch geltend machen wollte. Wie es an ihr nagte, sie aufforderte sich ihr zu ergeben. Streng betrachtete sie ihre Seelenspiegel, die darauf warteten ihr Gift zu versprühen. Ungewohnt fühlte es sich noch an, dieser Rin gegenüberzustehen. Sie wusste, dass sie ein Teil von ihr war - aber konnte sie sich auch endgültig von ihrem alten Ich losreißen, das so lange die Oberhand hatte?

Aus der Kleidertüte ihrer Mutter holte sie die Stoffe hervor und breitete die mitgebrachten Sachen auf dem rechteckigen Badteppich aus. Wie sie bereits Lumina gesagt hatte, war die Auswahl sehr sporadisch und weniger Alltagstauglich. Das einzige, was nicht nach Exzentrik oder Rollenspiel schrie, war ein Sommerkleid ihrer Mutter, das sie seit Ewigkeiten nicht mehr an ihr gesehen hatte. Als Rin noch ein kleines Kind war, hatte sie es manchmal getragen. Das Kleid war weiß mit rosanen und blauen Blütenblättern geschmückt. Es war eng am Hals gelegen, und mit einer Schleife an der Seite versehen. Bis zu den Hüften war es Figur betont, danach ging es in eine leicht schwingende Glockenform über, die nicht einmal den schwächsten Böen standhalten konnte. Ihre Mutter hatte toll darin ausgesehen. Ihre zierlich, weibliche Statur, die etwa einen halben Kopf kleiner war als Rin, ließ das Kleid bis zu ihren Knien fallen. Für Rin war es das klassische Ausgehkleid für ein erstes Date. Passend dazu lagen ein paar Sandaletten mit gefährlich hohen Absätzen. Die Schuhe gehörten Rin und waren eine der ersten Fehlkäufe ihres Lebens gewesen. Nicht, weil ihr die Riemchensandalen nicht gefielen. Der Absatz war einfach viel zu schmal, als dass sie länger als eine Stunde damit rumlaufen könnte - schon gar nicht durch ihr mit Backsteinen gepflastertes Viertel. Sie hielt die Sandalen vor's Gesicht.

Wenn ich mich schon in Schale werfe, dann muss ich auch das gesamte Paket bedienen

Zudem waren ihr die Boots allmählich zu warm für die schwülen Hochsommertage, dass sie sich schon selber dämlich darin vorkam. Mit einem Nicken, das sie bekräftigen sollte, zog sie sich um und schlich langsam aus dem Bad Richtung Wohnzimmertür. Sie stand ein Stück weit offen, dass sie ihren Kopf in den Spalt hervorlugen ließ.

"Guten Morgen", lächelte sie der Schwarzhaarige an, der gerade dabei war, sämtliche Fenster aufzureißen.

"Morgen", erwiderte Rin und kam ein paar Schritte ins Wohnzimmer. Seine Augen weiteten sich für Sekunden als er Rin komplett vor sich stehen sah. Um seine Seelenspiegel entstanden kleine Lachfalten: "Bereit für nachher?"

"So in etwa", entgegnete sie und lief auf einen der Stühle vor der Küchenzeile zu, "zum Glück wird keine Presse dabei sein, die sich das Maul darüber zerreißen könnte." Sie lächelte träge.

"Ich finde, du siehst wunderschön aus."

Warum nur? Was habe ich dem Schicksal getan, dass es mich so verarschen muss?

"Danke", flüsterte sie zurück und sah zur Seite.

Du musst es jetzt tun! Einfach ins kalte Wasser springen.

"Sag' mal", Yamato widmete sich einem der Fenster zu und legte die Hand auf die Klinke, "das Treffen findet doch im Themenpark statt - oder?"

"Ja, gegen vierzehn Uhr soll ich in der Hauptarena sein. Wieso?"

"Gibt es dort auch eine Möglichkeit gut zu frühstücken?"
 

Und ob es die gab!

Im Herzen des Kaiba-Themenparks, umzäunt von meterhohen Sonnenblumen, die dem wolkenlosen Himmel zumindest etwas Schatten entgegen zu bringen hatten, befand sich eines von vier Lokalitäten, welches eine der besten Frühstücksbuffets zu bieten hatte, die Rin jemals ausprobiert hatte. Während eines ihrer zahlreichen Battle-City-Duelle war sie schließlich auf einen Absacker hier vorbeigekommen. Der großzügige Rabatt, sowie die gigantische Auswahl an internationaler Küche hatte sie neugierig gemacht. Das Gebäude, das lediglich aus einer riesigen Glaskuppel bestand, war in dem nördlichen Teil des Parks ein richtiger Hingucker. Im Schein der Mittagssonne funkelte das Glas wie eine einzige diamantene Halbkugel, dass sie ihrem weißen Nachtdrachen starke Konkurrenz machte. Unter einem der rotweiß gepunkteten Schirmchen, die um die Kuppel herum platziert wurden, saßen Yamato und sie, bestaunten den Berg an Köstlichkeiten auf ihren Tellern, bevor sie sich breit grinsend einen guten Appetit wünschten.

"Danke für die Einladung", entgegnete der Schwarzhaarige und biss in ein frisch gebackenes Croissant, aus dem noch heißer Dampf heraus quoll. Nachdem sie an der Kasse erkannt worden und nicht einmal ihr Metallarmband von Nöten gewesen war, hatte die Dame hinter der Kasse sie angelächelt und weiter gewunken.

So einfach ist das?

"Danke nicht mir", Rin sah zur Seite, "das zahlt alles die Kaiba Corporation." Neben ihnen tuschelte ein Pärchen, dass sich in Richtung der beiden gewandt hatte. Der Blick der jungen Frau verdunkelte sich. Seit sie im Themenpark angekommen waren, hatten alle Augen auf die junge Frau geblickt, die sich über das Gelände bewegte als schritte sie zu ihrem nächsten großen Duell. Rin konnte einfach nicht anders. Ihre Beine nahmen von selbst das Tempo an - die spitzen Absätze ignorierend, die über das blanke Stein trommelten. Erstaunt sah eine Gruppe Jugendlicher zu der Profispielerin, die sich nicht um die Schaulustigen scherte. Im Gegenteil: Rin blieb eisern und versuchte, die Ignoranz in Person zu sein, dass sie Mühe hatte, Yamato nicht mit derselben Attitude entgegen zu treten. Dieser wusste auch nicht so genau, wie er mit der Situation umzugehen hatte, zumal sich jeder zweite laut die Frage zu stellen schien, mit wem die Duellantin aufgekreuzt war. Yamato allein war schon ein Blickfang für viele junge Frauen. Lässig spazierte er mit ihr durch den Park als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Gespannt betrachtete er die einzelnen Attraktionen, die unzähligen DuelMonsters-Phanatiker, die durch die Gegend rannten und ungeduldig zwischen der Duellantin und der weiter westlich gelegenen Hauptarena hin und her sahen. Die Arena selbst war gut abgeschottet worden. Mit Absperrbändern und rund dreißig Securitys an den Eingängen, kam keiner der Besucher in die Nähe der Halle, die bereits von Weitem erkennen ließ, wofür sie gedacht war - fünfzehn Plakate hingen an dem Gemäuer, dass es gänzlich von den Gesichtern der Topspieler überdeckt wurde. Direkt dazwischen waren Rins Augen in den Fokus gelegt worden. Bestimmt war ihr Blick in die Kamera gerichtet, dass es den Anschein erweckte als würde sie die vorbeilaufenden Gäste anvisieren. Auch Yamato sah zu den Plakaten (Rin hätte gerne gewusst, was in seinem Kopf vorging). Seine Augen blickten entschuldigend drein, als eine weitere Gruppe um ihren Tisch herum schlich: "Tut mir leid", er bemühte sich zu lächeln, wobei er sich wirsch durch den dunklen Schopf fuhr, "ich hab' nicht ganz nachgedacht als ich dir den Vorschlag gemacht habe."

"Schon okay", sie stocherte mit der Gabel in ein Stück Honigmelone, "allmählich muss ich mich damit abfinden, dass mich die Leute erkennen. Ich sehe es als so eine Art Übung an", sie lächelte träge und knabberte an dem perfekt gewürfelten Stück. Ihr Blick ging ins Leere. Die neugierigen Gesichter waren eine Sache. Sie machten sie weitaus weniger nervös als der schwarzhaarige Mann, der ihr gegenüber saß und dem sie eine Erklärung schuldig geblieben war.

"Yamato", ihre Stimme glich einem Flüstern, sie wünschte, sie könnte ihm etwas anderes sagen. Etwas, das er verdient hätte.

Sei kein Schisser!

"Ich-", sie ließ die Gabel sinken. Wieso fiel es ihr so verdammt schwer? Seit Wochen übte sie daran, selbstbewusster zu werden, sich durchzusetzen. Ein paar einfach Sätze brachten sie ins Taumeln. "Es ist so...Ich-"

"Rin?", Yamato verschränkt seine Arme. Sein Blick forderte sie auf, seinen Augen entgegen zu treten. "Es ist alles gut." Der Satz breitete sich wie ein Echo in ihr aus.

"Hör' mal", das Braun seiner Seelenspiegel hatte etwas Tiefgreifendes - so hatte er sie noch nie angesehen, "du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich weiß, was du sagen willst. Es ist okay", er lächelte sanft, dass das Lächeln bis zu seiner Iris gelangte. "Du hast den Kopf gerade so voll mit anderem Zeug und ich habe das Gefühl, dass ich es dir nicht gerade einfacher mache. Du sollst nicht glauben, dass du mir eine Erklärung schuldig bist."

"Ich-", Rin blinzelte verduzt, "du bist der Letzte, der mir das Leben schwer macht." Sie schüttelte den Kopf. "Ich möchte dir einfach nichts vormachen." Endlich war es raus. Sie spürte, wie etwas durch sie hindurch rutschte.

"Oh, das machst du nicht", sagte er und legte die Hände auf den Tisch, "ob du's glaubst oder nicht, du bist ziemlich direkt in dem, was du willst. Das ist ja das Spannende an dir." Sein Lächeln wurde breiter. "Ich muss zugeben, ich habe anfangs gedacht, du wärst leicht rum zu kriegen", seine Finger griffen nach der Kaffeetasse, "eine typische junge Frau halt - ein bisschen zurückhaltend, ein bisschen verlegen, lieb und umsichtig-" Rin hatte diese Eigenschaften schon oft zu hören bekommen. Von der Schulzeit angefangen bis zu ihrer letzten Arbeitstelle war sie als das klassische Mädchen von nebenan betitelt worden. Nur Lumina und sie wussten, dass die Fassade seit Jahren perfektioniert worden war, wodurch niemand wirklich dahinter blicken konnte.

"Aber", Yamatos nahm einen kräftigen Schluck, bevor er sich wieder ganz Rin widmete, "irgendwie hab ich schnell gemerkt, dass du eine ziemlich hart zu knackende Nuss bist. Nicht so leicht zu durchschauen, wie es den Anschein hatte. Das fasziniert mich." Rin stieg die Farbe ins Gesicht. Yamato sprach so locker und offen zu ihr, dass seine Coolness durch die gesamte Umgebung strahlte. Sie wünschte sich, etwas davon würde an ihr abfärben.

"Nett, dass ich doch keine schnelle Nummer für dich bin", sie grinste schief. Seine Worte hatten den Knoten in ihr gelöst. Sie fühlte sich befreiter denn je. Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf: "Nein", lachte er, "dafür mag ich dich zu sehr." Er hielt inne. "Ich möchte nur ungern die Freundschaft mit dir riskieren, nur weil du glaubst, mich die ganze Zeit hingehalten zu haben."

"Ich mag dich auch", flüsterte sie zurück. Seine Worte waren wie Balsam. Mehr hätte sie nicht von ihm erwarten können. Selbst jetzt schien es ungerecht, wie er zu ihr war. Hatte sie das überhaupt verdient?

"Das heißt aber nicht", das Schelmische kehrte in Yamatos Gesicht zurück, "dass ich es nicht trotzdem versuchen werde." Nun musste auch Rin lachen.
 

"Frau Rin Yamamori?", beide hatten nicht bemerkt, wie ein großer dunkler Schatten sich vor ihren Schirm aufgestellt hatte. Ein Mann mit Igelfrisur und schwarzem Anzug stand an ihrem Platz. Seine dunklen Brillengläser reflektierten die direkte Sonneneinstrahlung, dass Rin nicht einmal ihr eigenes Spiegelbild erkennen konnte, geschweige denn durch die Gläser seinen Blick ausmachen konnte. Mit ernster Miene griff er in die Innentasche seines Jacketts und holte einen weißen Umschlag hervor. "Pegasus J. Crawford schickt mich. Ich soll Ihnen diesen Umschlag überreichen." Damit legte er ihn auf den Tisch, direkt neben Rins halbleeren Teller. Noch bevor die junge Frau sich dazu äußern oder auch nur im entferntesten darüber nachdenken konnte, was gerade passiert war, wandte sich der Mann ab und verschwand hinter der Glaskuppel, bis der schwarze Fleck als bloße Erinnerung verblasste.

"Was war das denn?", Yamato blickte in die Richtung, in die der Fremde verschwunden war. Seine linke Augenbraue schnellte in Höhe, kleine Falten entstanden auf seiner Stirn. Nur Rin blieb unbeeindruckt. Sie nahm den Umschlag und drehte ihn in alle möglichen Richtungen.

"Wohl ein Handlanger von Industrial Illusions. Auch wenn man das schwer an ihrem Aussehen ausmachen kann. Die Kerle sehen alle gleich aus - egal für wen sie arbeiten."

Und die Frisur scheint ein Auswahlkriterium für den Job zu sein.

"Das gerade war trotzdem echt seltsam", schüttelte der Schwarzhaarige mit dem Kopf, bevor er sich dem Rest seines Frühstücks widmete.

"Vor allem ein Brief - wie altmodisch", Rin musterte das raue Papier. Der Umschlag hatte kleine Verzierungen, die wie Hieroglyphen aussahen. Auf der Rückseite war er mit einem Firmensiegel verschlossen. In goldener Schrift, die wie handgezeichnet wirkte, stand ihr Name in überdeutlicher Größe. Sonst deutete nichts auf dessen Inhalt hin - es gab weder eine Adresse, noch einen Absender. Die Neugier stieg, doch Rin wollte sich jetzt nicht ablenken lassen, dass sie dem Schwarzhaarigen den Umschlag überreichte. "Könntest du ihn solange für mich aufbewahren?"

"Du willst nicht wissen, was drin steht?" Yamato blinzelte.

"Naja, es wird sicherlich mit dem Turnier zu tun haben. Aber da ich den Chef von Industrial Illusions gleich persönlich antreffen werde und er mir alles Wichtige vor Ort erzählen kann, glaube ich, dass es noch warten kann."

"Wenn du meinst", er nahm den Umschlag entgegen. In seinem Gesicht sah man die Neugier, dass er wohl etwas enttäuscht war, ihn vorerst ungeöffnet zu lassen. "Ich warte solange auf dich."

Rin nickte eifrig. "Wird bestimmt nicht lange dauern."

"Ich kann dich auch unmöglich dieser Meute überlassen", er schüttelte lachend den Kopf, dass kleine Locken aus seiner Frisur sprangen. Die junge Frau lächelte zurück. "Bis gleich."
 

Rin brauche nicht lange bis zur Hauptarena. Es gab eine Abkürzung, die nur von den Mitarbeitern der Kaiba Corporation genutzt wurde, dass sie keinem weiteren Gaffer oder DuelMonsters-Fan begegnete. Die paar Minuten, in denen sie lediglich einer Aushilfskraft und einigen von der Reinigungshilfe über den Weg lief, ließen ihre Gedanken klarer werden, dass sie sich ganz auf das Wesentliche konzentrieren konnte.

Der heutige Tag war maßgebend. Die Wahl der Gegner konnte über Sieg oder Niederlage entscheiden. Sie dachte an die verbliebenen Duellanten, von denen es keinen gab, der nicht ein Ass im Ärmel hatte, mit dem die junge Frau in eine Zwickmühle geraten könnte. Ein paar der Spieler waren zähe Brocken. Alt eingesessene Duellanten, die seit Jahren mit ihren Standarddecks und lediglich einigen Neuerungen Erfolge aufzuweisen hatten, an die Rin noch nicht einmal zu träumen wagte. Sie dachte an ihre Karten und überlegte im Geiste, welche Kombinationen für die nächsten Runden wirksam wären. Ihr war klar, dass einige Gegner mehr drauf hatten als sie in den Runden zuvor bewiesen hatten. Zu gern würde sie selbst herausfinden wollen, wozu ihre Konkurrenten alles in der Lage waren.

Hii Yuta. Was hast du wirklich vor?

Sein gehässiger Blick nistete sich in ihr ein, dass sie die Hände zur Faust ballte.

Egal, was kommt, ich werde meine Revanche bekommen
 

Vor der Absperrung wurde ihr Platz gemacht. Einer der Security-Männer nickte ihr wissend zu, bevor er das Absperrband wieder gerade rückte. Seichter Wind blies ihr entgegen, Rin blickte hinauf in den klaren Himmel, der seit Tagen nicht mehr so strahlend hell gewesen war. Eigentlich schade, dass sie den Tag nicht anders nutzen konnte.

Wenn ich Glück habe, bin ich in einer Stunde wieder draußen

Langsam sah sie zu der Arena, die einige hundert Meter von ihr entfernt war. So gut es ging, versuchte sie nicht auf die Plakate zu blicken. Die Profile der Top-Spieler und mittendrin ihr eigenes Gesicht, waren noch immer ein befremdlicher Anblick für sie. Nach einem tiefen Atemzug setzte Rin ihren Weg Richtung Haupteingang fort. Quietschende Reifen näherten sich ihr von hinten, dass Rin den Kopf drehte.

"Achtung!", rief eine trällernde Stimme. Noch bevor Rin reagieren konnte, bretterte ein klappriges Fahrrad an ihr vorbei, fuhr einmal über den Rasen, der den Hauptweg von der Arena trennte, bog dann in eine scharfe Rechtskurve, bevor es mit einem weiteren Quietschen zum Stehen kam. Der Fahrer schnaubte.

"Oh Mann, tut mir echt leid", hechelte er und fasste sich an die Stirn. Die junge Frau blieb direkt vor dem jungen Mann stehen, der holprig vom Rad abstieg.

"Sorry nochmal", er tat eine tiefe Verbeugung, dass Rin dessen dunkelrotes Basecap ins Auge stach. Die Kürzel des städtischen Pizzaservices waren direkt auf Augenhöhe, unter der Kopfbedeckung lugte das wirre blonde Haar hervor. Sie musste schmunzeln. Mit einem nervösen Lachen stellte er sich wieder auf und fasste sich an die Kappe, "weißt du, eigentlich dürftest du gar nicht hier sein", seine Stimme war sanft, weniger belehrend als seine Worte vermuten ließen, "momentan sperren sie hier die Anlage für das Turnier ab. Also falls du nicht alleine raus findest-", er hielt inne. Seine Augen begannen sich mit Erkenntnis zu füllen. Dann riss er abrupt den Mund auf und sprang einen Satz zurück: "Moment! Du bist doch Rin Yamamori!"

"Hallo...Jonouchi." Die junge Frau versuchte, nicht in Gelächter zu verfallen. Der Ausdruck ihres Gegenübers machte es ihr schwer, sich zu beherrschen.

Irgendwie ist er ja schon putzig.

"Ich hab' dich erst gar nicht erkannt", er kratzte sich an den Hals und fing erneut an zu lachen. Seine Augen wurden dabei zu kleinen Schlitzen, die seine Seelenspiegel zum Leuchten brachten. "Wo ist dein roter, langer >Die-Welt-kann-mich-mal-Mantel< hin?" Rins Mundwinkel zuckten: "Der schien mir bei dem Wetter nicht passend", entgegnete sie und verschränkte die Arme vor der Brust. "Und bei dir?", dabei deutete sie auf sein Basecap, "arbeitest du nebenbei als Pizzajunge, oder warum die Aufmachung?"

"So in etwa, ja", grinste er sie an, "eigentlich", der Blonde lehnte sein Fahrrad direkt neben die Eingangstür, "eigentlich ist das hier nur zu Werbezwecken gedacht, aber", er nahm ein rostiges Schloss und kettete die Räder fest, "während des Worldcups nimmt das Ganze abartige Züge an, dass es sich wie echte Arbeit anfühlt." Damit nahm er das Basecap vom Kopf und schüttelte seine Mähne frei, dass sie wie an einen Griff durch die Steckdose erinnerte. "Anfangs haben sie damit die Werbetrommel gerührt, dass jeder hundertste Kunde die Pizza von mir geliefert bekommt. Das ist aber völlig ausgeartet", er fuhr sich mit Zeigefinger und Daumen durch das blonde Gestrüpp und sah zu zwei wirren Strähnen seines Ponys hinauf, "zum Glück hat auch der Besitzer irgendwann eingesehen, dass die Idee irre ist. Darum fahre ich auch nur noch jede tausendste Pizza aus."

"So wie du aussiehst, ist das immer noch zu viel."

"Ach, kein Ding", er stopfte sich das Basecap sporadisch in die Jeanshose und stemmte anschließend die Hände in die Hüften, "immer noch besser als für einen dieser Fatzkes zu arbeiten...nicht böse gemeint."

"Ich hab es nicht als Beleidigung aufgegriffen", grinste sie zurück und steuerte langsam die Eingangshalle an. Zwei weitere Herren in dunklen Anzügen begrüßten die Neuankömmlinge mit einem knappen Nicken.

"Nein, ehrlich", eilte ihr der Blondschopf hinterher, "ich weiß selber, dass man sich nicht immer aussuchen kann, wo man landet. Vor allem nicht am Anfang." Als er sie eingeholt hatte, entschleunigte er das Tempo: "Ich bin einfach nur platt, dass du nicht so rüberkommst wie du dich in deinen Duellen zeigst. Dachte eher, du spielt lieber die Unnahbare." Sie drehte sich zu ihm um.

"Na du weißt schon", er sah beim Reden hinauf zur Decke als hätte diese die richtigen Worte, "dieses abgefahren Großspurige. Ich dachte schon, du willst mit Kaiba in Konkurrenz um den Großkotz aller Zeiten antreten."

"Katsuya", hinter ihnen tauchte eine weitere Duellantin auf - Mai schwenkte gerade ihre lange Mähne nach hinten als sie sich neben den Blonden platzierte, "schon mal überlegt, dass das zu ihrem Image gehören könnte", ihre Lippen zierten ein Lächeln. Keines, das tatsächlich ihre Augen erreichte, aber dafür die Zähne zum Strahlen brachte. Ihr Anblick hatte etwas leicht Verwegenes, dass Rin sich nicht zum ersten Mal fragte, ob dies nur zu ihrem restlichen Auftreten passen sollte.

"Hey, Mai", entgegnete der Blonde, der zunächst überrascht schien, von ihr angesprochen worden zu sein. Doch dann wurde sein Blick weicher, das Lächeln weniger kindlich, wie er es zuvor bei Rin gezeigt hatte: "Image sagst du", Jonouchi schien darüber zu grübeln, "stimmt das?" Er sah wieder zu Rin, die nicht ganz wusste, wie sie mit der Situation umzugehen hatte. Bisher hatte sie nie ein ordentliches Gespräch mit einem der anderen Duellanten geführt. Es fühlte sich seltsam an, dass sie Mühe hatte, locker zu bleiben: "Ich habe mir noch gar keine Gedanken über mein Image gemacht."

"Hm", überlegte der Blonde weiter und tippte sich mit dem Finger ans Kinn, "dann ist das vielleicht so wie bei Yugi", er sah sie wissend an, obwohl Rin nichts verstand, "er ist auch immer wie ausgewechselt, wenn er sich duelliert. Fast als würde es zwei von seiner Sorte geben."

"Wie auch immer", winkte Mai ab und schritt an ihnen vorbei, "am Ende zählt nur eines. Also zieht euch warm an und betet, dass ihr nicht gegen mich antreten müsst", damit verschwand sie als erste aus der Vorhalle in Richtung Duellschauplatz.

"Kannst du mir sagen", Rin sah der Duellantin hinterher, deren blondes Haar hinter einem der Security-Männer abtauchte, "wieso jemand wie Mai Kujaku zu Spinnern wie Paradius wechselt?" Neben sich hörte sie ein tiefes Seufzen. Seine hellbraunen Augen sahen ins Leere. "Wenn ich das wüsste", seine heiteren Züge bekamen tiefe Furchen, "sie sagt, ich würde es sowieso nicht verstehen. Aber ich kenne sie. Ich weiß, dass sie sich irrt." Seine kryptische Antwort versuchte Rin nicht weiter zu ergründen. Eigentlich ging es sie ja nichts an, und der ernste Gesichtsausdruck ihres Nachbarn bestätigte sie darin, nicht weiter nach zu bohren.

"Wie ich mitbekommen habe", setzte Jonouchi an, wobei er noch immer Löcher in die Decke starrte, "hast du auch noch eine offene Rechnung mit Paradius."

"So in etwa", entgegnete Rin und blickte finster in die Haupthalle. Die Hälfte der Duellanten hatte sich bereits eingefunden. Direkt vor der großen Bühne standen die verbliebenen Spieler von Industrial Illusions. Daneben ein, zwei Duellanten der Sponsorengruppe.

"Dann sind wir schon zu zweit", der Blonde wirkte ebenso entschlossen wie die junge Frau. Auch wenn es keine Rolle spielte, war es für sie beruhigend zu wissen, dass sie damit nicht alleine war. In Jonouchis Augen kehrte das Funkeln zurück, er ballte die linke Hand zur Faust. "Und wenn wir schon dabei sind: ich hätte auch nichts dagegen in der Endrunde gegen dich anzutreten." Er grinste breit. "Dann habe ich endlich wieder die Chance, gegen einen Kaiba zu gewinnen."

"Einen Kaiba?", murmelte Rin.

"Zumindest einen würdigen Nachfahren", sein Grinsen reichte nun bis zu seinen Ohren, "die anderen aus seinem Team zählen nicht. Mit denen werde ich locker fertig, aber du", er zeigte auf die junge Frau, "das könnte spaßig werden."

"Ich verstehe", Rin blieb stehen und musterte den Blonden, "du weißt aber schon, dass ich niemals gegen dich verlieren könnte. Schon allein aus Prinzip."

"Das wollen wir doch sehen", feixte er zurück.

"Ich würde meinen Job verlieren."

"Schon möglich, dass er dir das übel nimmt", dachte er über das Gesagte nach, "nachdem du die weißen Drachen mit eiskaltem Blick gespielt hast, gibt es kein Zurück mehr."

Ich fürchte, da hat er recht

"Das muss man dir lassen", Jonouchi schüttelte lachend den Kopf, "du hast echt Eier, dass du einfach so seine Monster gespielt hast. In den letzten Jahren hat sich keiner getraut, Kaibas Drachen zu spielen - nicht einmal, wenn ihnen die Karten gehören. Darum war es ja so witzig, dass ausgerechnet jemand aus seinem Team seine Monsterchen beschwört. Hätte nicht gedacht, dass er das einfach so durchgehen lässt."

"Ich auch nicht", entgegnete Rin. Noch immer wartete sie darauf, dass sich der junge Firmenchef auf irgendeine Weise an ihr rächen würde. Jonouchi stellte sich direkt vor sie und blinzelte verdutzt: "Wie jetzt? Kein Arschtritt von der Geschäftsleitung? Nichts? Mann, du kannst dich glücklich schätzen. Scheinbar stehst du hoch im Kurs." Darüber hatte Rin auch schon nachgedacht. Ihr Blick schweifte über die Bühne, auf der sich einige Bühnentechniker eingefunden hatten. Einige weitere Mitarbeiter wuselten an der Seite, die meisten von ihnen wirkten geradezu angespannt.

Rin hatte davon gehört: Von Wetteinsätzen der höheren Rigen, die auf bestimmte Duellanten gemacht wurden. Dabei ging es um Summen, die ins Absurde gingen. Je überraschender der Duellant in die Saison startete, umso monströser wurden die Wetteinsätze. Sie hatte auf den Straßen der Nord-City davon gehört. Amateurspieler hatten sich darüber unterhalten, wie man sich selbst an diesen Einsätzen beteiligen konnte. Das schien der jungen Frau aber sehr riskant - für reiche, gelangweilte Aktionäre und Firmenbosse war das schon eher was. Diese tummelten sich ebenfalls in der Arena, dass sie sich durch ihre überteuerten Anzüge und den selbstgefälligen Blicken von dem Rest der Anwesenden abhoben. Auch diesmal schien der Chef von Paradius Inc. mit Abwesenheit zu glänzen, dass Rin lediglich seine zwei Spieler ausmachen konnten, die außer ihrer Biker-Aufmachung wenig gemeinsam hatten: während Mai mit einigen Herrschaften der Oberschicht ins Gespräch kam, hatte sich Hii Yuta von dem Rest gänzlich abgeschottet. Seine kränkliche Erscheinung lehnte an der Wand, weit weg von den anderen, dass er auch als bloßer Schatten hätte wahrgenommen werden können. Die Abneigung, die er mit seinen Augen versprühte, erreichte schließlich Rin, die mit einem finsteren Blick konterte - zumindest finster genug, dass Hii ein schwaches Lächeln zustande brachte, bevor er wieder ins Leere starrte.
 

"Na sieh' mal einer an."

Du hast mir gerade noch gefehlt.

Mit verschränkten Armen und Augen, die sie von oben herab anblickten, war Yoshi an die beiden herangetreten. "Na", schmatzte er, dass Rin seinen Kaugummi aufblitzen sah, "der Pöbel hat sich zusammen getan. Ich war schon immer der Meinung, dass Amateure lieber dort bleiben, wo sie hingehören."

"He, du Schmalzfriese", entgegnete Jonouchi, der fast einen halben Kopf größer als Yoshi war, "du solltest lieber aufpassen, was du sagst. Ich kann mich nicht erinnern, deinen Namen jemals auf der Weltrangliste gesehen zu haben. Also zisch' du lieber ab."

Hii lächelte, dass seine Augen einen dunklen Ton annahmen. Mit einer wegwerfenden Handbewegung warf er ihnen einen letzten abschätzenden Blick zu und drehte sich schließlich von ihnen weg.

"Mann, und mit sowas arbeitest du zusammen?", der Blonde zuckte mit den Schultern, "die Duellanten der großen Firmenhaie waren schon immer Arschgeigen. Sie glauben, weil sie mit einem goldenen Löffel zur Welt gekommen sind, nichts für ihren Erfolg tun zu müssen. Wenigstens lässt sich sowas immer bei einem guten Duell klären", er grinste schief, "bisher ist jeder von denen auf den Arsch gefallen. Da können Papis Millionen auch nicht helfen." Rin lächelte zaghaft zurück. Ihr Gegenüber hatte recht. In DuelMonsters mochten meist nur die privilegierten einen Platz zugesprochen bekommen haben, aber in einem Duell spielte es keine Rolle, wer man war oder woher man kam. Die raue Realität des Spieleralltags holte jeden auf den Boden der Tatsachen zurück. Am Ende überlebten nur die Besten - und diejenigen, die sich mit aller Härte durchzusetzen wussten. Immer deutlicher wurde der jungen Frau, dass sie sich genau wegen dieses Kicks duellierte - sie wollte Leuten wie Yoshihiko Taba den Dreck unter ihren Fußshohlen spüren lassen. Ihnen die Position aufzeigen, in die sie wirklich hingehörten.

Wer zuletzt lacht-
 

"Rin?", von Weitem rief ihr eine bekannte Stimme zu, dass sie aus ihren Tagträumen erwachte und ihren Kopf drehte. Mokuba kam aus einem der hinteren Bereiche, in der sich allerhand Sicherheitspersonal befand, und winkte der jungen Frau zu. Seine Augen scannten einmal über ihre Aufmachung, bevor er breit grinste: "Wow, ich hätte dich fast nicht erkannt...Oh, hallo Katsuya. Na, wie geht's?" Er wandte sich an den Blonden, der ihn ebenfalls begrüßte und den üblichen Smalltalk startete, dass Rin gedanklich wieder abschweifte und sich genauer umsah: Vorne, direkt an der Bühne hatte das Techniker-Team Sitzplätze aufbauen lassen. Die ersten Reihen waren einfache Sitzgelegenheiten, die Rin aus Konzerten und Theatervorstellungen kannte und wohl für die Spieler reserviert waren. Dahinter, mit einem gewissen Abstand, gab es eine weitere Reihe mit gepolsterten Sitzplätzen, auf denen sich bereits einige der älteren Herrschaften niedergelassen hatten. Zwischen zwei schwarzhaarigen, finster dreinblickenden Herren strahlte Pegasus J. Crawfords silbernes Haar hervor und lenkte den Fokus auf dessen entspannte Gesichtszüge. Er war zwischen all dem Gewusel und der Hektik von allen Seiten die Ruhe selbst, dass sie ihn schon fast dafür beneiden könnte. Das Gesicht zur Seite geneigt begegneten sich ihre Blicke. Er nickte, müde lächelnd und widmete sich wieder ganz seiner eigenen Ausgeglichenheit. Sie wüsste schon gerne, was der Erfinder von DuelMonsters von ihr wollte. Diese Geheimniskrämerei und dazu dieser Brief - jemand wie Crawford hatte für alles seine Gründe. Aber um den zu erfahren musste sie sich etwas gedulden.
 

Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren

Eine Hand klopfte ihr auf die Schulter: "...ach kein Thema", wie ein Honigkuchenpferd grinste Jonouchi und ließ Rin keine Chance, darauf zu reagieren, als er sie auch schon nach vorne geschleift hatte. Zufrieden ließ er sich auf einem der Sitzplätze nieder. "Soll ich dir die nächste Runde erklären? In diesem Gebiet bin ich sowas wie ein Experte", er zwinkerte ihr zu. Auch Rin ließ sich nieder, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.

"Also", begann ihr Sitznachbar zu erzählen, "Es werden drei Gruppen mit jeweils fünf Duellanten zusammengestellt. Der Zufallsgenerator wählt die Konstellation aus. Danach duellieren sich die Spieler aus den jeweiligen Gruppen - jeder gegen jeden. Wer die meisten Gewinne einfährt, ist der Sieger und darf in die finalen Spiele nach Kairo einziehen. Bei Gleichstand entscheidet der jeweilige Rang der Spieler, wer weiterkommen darf. Meist entscheidet sich das schon vorher. Die von der Kommission bestimmen das am Anfang - oft wissen die das schon vor den Battle-City-Turnieren."

"Wenn einer der zweiten Liga gegen einen Champion gewinnt, geht der Punkt dann an den Zweit-Legisten?"

"Irgendwie so, ja. Manchmal geht's auch um Spekulationen. In jedem Duell gibt es einen Favoriten. Gewinnt aber der Außenseiter bekommt er so 'ne Art Bonus zugeschrieben. Am Ende geht's nur um Annahmen, diese Anzugträger haben gar keine Ahnung, wie DuelMonsters gespielt wird. Da geht es nur um Zahlen und Statistiken - davon hab' ich echt keinen Schimmer."

Die Bekanntschaft mit den Herren von der Kommission ließ keinen Zweifel zu, dass Jonouchi mit seinen Vermutungen recht hatte. So wie sie mit Rin gesprochen hatten, wussten sie mit Geldern und Papieren umzugehen, aber nicht wie eine DuelDisc geführt wurde, geschweige denn die Karten gespielt werden mussten. Wenn sie also die Endrunde gewinnen wollte, musste sie sich einzig auf sich selbst verlassen und kein einziges ihrer Spiele verlieren.

Also alles wie immer.

Neben ihr gähnte Jonouchi und ließ die Augen kleiner werden. "Ich hoffe, die legen langsam einen Zahn zu. Die brauchen viel zu lange. Normalerweise sind die mit den Vorbereitungen längst fertig, wenn ich hier antanze. Ich seh' noch nicht mal Kaiba, und der ist nie unpünktlich."

Kaiba

Seine unumgängliche Präsenz hatte Rin bisher weitestgehend verdrängt. Obwohl ihre letzte Begegnung sicher nicht zu ihren schlechtesten zählte, kreiste ihr noch der letzte Traum durch den Kopf. Sie sah diese ruhelosen, wachsamen Augen vor sich und schüttelte gedanklich den Kopf.

So viel zu einem klaren Kopf bewahren. Du lernst es nie, Rin.

Schließlich erkannte sie seine dominante Statur - was an diesem Mann ist nicht dominant? - im hintersten Winkel der Bühne. Er sprach zu einem seiner Mitarbeiter. Sein Blick war eisig wie eh. Rin bemühte sich, nicht in seine Richtung zu starren - dieser Fixpunkt im weißen Mantel machte es ihr unglaublich schwer. Der Angestellte nickte und verschwand. Lichter über ihr lenkten ihre Aufmerksamkeit von der Bühne weg. Es ging also los. Die Letzten fanden sich auf den freien Plätzen ein, die Lautstärke regelte sich, und selbst das Personal wurde minimiert. Rin wurde etwas flau im Magen. Sie wusste nicht, wieso. Schließlich musste sie sich heute niemandem beweisen. Egal, wer ihre nächsten Gegner sein würden, der Zufallsgenerator war dafür verantwortlich - und nicht sie.

Ein kleinerer Mann mit Sturmfrisur betrat die Bühne und hielt sein Mikrofon bereit.

"Wer ist das", flüsterte Rin, weil sie nicht wusste, ob Reden erlaubt war.

"Das ist Heiji, der Kommentator."

"Echt?! So hab' ich ihn mir gar nicht vorgestellt."

"Heiji lost die Spieler für die Gruppen aus. Die meisten Firmenbosse trauen einander nicht. Die haben meist Schiss, dass Kaiba die Gruppen zu seinem Vorteil manipulieren könnte."

Rin sah zur Seite, zu Seto Kaiba, der genervt an der Wand lehnte und wohl auf das baldige Ende wartete. Vieles traute sie ihm zu - die Gruppen zu manipulieren eher nicht. Sie war davon überzeugt, dass seine Technologie zu viel Vorrang hatte als dass er sich wirklich um die Platzierung seiner Spieler scherte. Solange sie ihn nicht blamierten. Wenn sie sich einredete, bloß als Spielfigur wahrgenommen zu werden - als Testsubjekt und Werbegesicht der Kaiba Corporation - dann würden vielleicht auch die verwirrenden Gedanken und Bilder verschwinden, die ihr einzureden versuchten, mehr als das zu sein.
 

"Also gut, Leute", hallte Heijis Stimme durch die Arena und ließ auch den Letzten verstummen. Der Kommentator begrüßte die Anwesenden und erklärte kurz die Regeln, die Jonouchi weitaus kompakter rüber gebracht hatte. Dann zeigte er auf eine Tafel, auf der die drei Gruppen abgebildet waren - jeweils in der Farbe rot, blau und grün. Er verwies auch auf das Losverfahren. Eine Methode, bei der Heiji mit der Hand in das Maul des weißen Drachen greifen und die Namen der Spieler ziehen sollte.

"Dann wollen wir mal star-", das Mikrofon hakte aus. Ein leiser Fiepton drang in Rins Ohren. Heiji versuchte es von Neuem, diesmal setzte das Mikrofon ganz aus. Es brachte nichts, darauf zu klopfen. Also wurde ein Neues angeschafft - sehr zum Verdruss ihres Chefs, dessen Miene mit jeder verstrichenen Minute weiter absackte. Gerade als einer der Tontechniker ein neues Mikrofon beschafft hatte, gab es einen Knall, irgendwo hinter den Sitzplätzen. Die Lichter gingen aus und wurden durch zwei Scheinwerfer ersetzt, die den Mittelpunkt der Bühne beleuchteten.

"Was soll das denn jetzt", murmelte Jonouchi und sah sich um, "siehst du Kaiba? Das gehört auf jeden Fall nicht zum Programm."

Gehörte es auch nicht. Laute, widerhallende Schritten lenkten ihren Blick nach rechts. Aus einem der Seitenbereiche schritt jemand auf die Bühne zu. Rin hätte sich am liebsten die Augen gerieben.

Zigfried? Was macht der denn hier?

"Habe ich endlich deine Aufmerksamkeit?", Zigfried schritt ganz selbstverständlich auf die Bühne zu. Die Hände vor sich gefaltet näherte er sich der Mitte und drehte den Kopf Richtung Kaiba, der sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt hatte.

"Was soll das, Zigfried?", fragten der junge Firmenchef, dass Rin einen Seufzer heraus hören konnte, "nach deiner Schmach von neulich könnte man meinen, du hättest es endlich verstanden: Du hast hier nichts mehr zu suchen", sein eiskalter Blick wurde knallhart von Zigfried abgeschmettert.

"Ach, Kaiba", schmunzelte er, "du glaubst, allen anderen überlegen zu sein, dabei bin ich es, der dir immer einen Schritt voraus ist." Jetzt lächelte auch Kaiba, dass Rin ein Schauer durchzuckte. "Was du glaubst, ist mir herzlich egal. Aber du störst schon wieder mein Turnier und ehrlich gesagt, verliere ich langsam die Geduld. Ich kann mir schon denken, dass du für unseren Ausfall verantwortlich bist, aber wieso sparst du dir nicht die Mühe und widmest dich ausnahmsweise mal deiner Firma? Die hätte es einmal dringend nötig. Also hör' mit diesen Kinderspielchen auf und lass' die Profis ihre Arbeit machen."

"Oh, das werde ich, keine Sorge", entgegnete Zigfried, "aber zunächst fordere ich eine letzte Revanche. Ein Nullspiel!" Um Rin herum begann ein aufgeregtes Murmeln.

"Ein Nullspiel?", sie verstand die Aufregung nicht.

"Oh Mann", murmelte Jonouchi und schlug Falten auf der Stirn, "der Kerl rafft es echt nicht. Und jetzt auch noch ein Nullspiel. Das ist ein Ehrenduell unter Top-Spielern. Wenn jemand zu einem Nullspiel herausfordert, kann dieses Duell nicht abgeschlagen werden. Das wäre dann wie eine Niederlage. Der Spieler gibt damit zu, seinem Gegner nicht gewachsen zu sein und wird als Verlierer gebrandmarkt."

"Klingt ganz schön übertrieben." Und nicht so als würde Kaiba auf so etwas anspringen.

"So eine Herausforderung ist kein Witz", sprach Jonouchi voller Ernst zu ihr, "die DuelMonsters-Branche versteht da keinen Spaß. Kaiba muss dieses Duell annehmen, auch wenn es ihm nicht passt. Was ich nur nicht ganz verstehe", er kratzte sich an den Kopf, "normalerweise wird ein Nullspiel zu viert ausgetragen. Also ein Doppelduell - man kann es auch als eine Art Joker sehen. Aber Zigfried ist alleine...es sei denn, sein Spieler versteckt sich irgendwo."

"Das ist hier doch keine Verschwörung."

Doch Jonouchi lächelte sie an. "Man merkt, dass du noch nicht lange im Geschäft bist. Je abstruser es wird, umso mehr haben wir es mit dem echten DuelMonsters zu tun. Und sieh' mal", er zeigte auf Zigfrieds wahnwitziges Lächeln. Dieser schwenkte mit dem rechten Arm: "Ich habe dir sogar eine kleine Überraschung mitgebracht. Wie du dir denken kannst, bin ich nicht der einzige, der noch eine offene Rechnung mit dir zu begleichen hat."

"Du musst dich schon präziser ausdrücken", entgegnete Kaiba und stellte sich nun aufrecht hin. Aus einem der Backstagebereiche kam ein weiterer, ungebetener Gast. Ein junger Mann mit blonden, mittellangen Haaren stellte sich neben Zigfried von Schroeder. Rin erkannte den Duellanten.

"Hiro Hachurui", sagte Kaiba trocken als überraschte ihn seine Anwesenheit nicht, "dass du ausgerechnet Zigfried aufgesucht hast beweist nur, dass meine Entscheidung von damals die richtige war."

"Nach diesem Duell", entgegnete Angesprochener und starrte den jungen Firmenchef voller Hass an, "werden Sie nicht mehr so große Töne spucken."

"Ach wirklich", die herablassende Arroganz war nicht mehr zu überbieten, "Zigfried, du schaffst es auch immer wieder eine Blamage noch grauenhafter zu gestalten. Schleppst du schon benutztes Material von mir an."

Benutztes Material Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken als was Kaiba sie bezeichnete.

"Nun, Kaiba", Zigfried schaltete seine DuelDisc ein und nickte dem mächtigen CEO zu, "nimmst du nun meine Herausforderung an, oder nicht?"

"Wenn du mich dann ein für alle mal in Ruhe lässt", Kaiba bewegte sich auf die Mitte zu.

"Ich verspreche, das wird das letzte Mal sein", er grinste diabolisch.

"Dann wirst du sicher nichts dagegen haben, wenn ich mir ebenfalls meinen Joker wähle."

"Seto Kaiba und ein Doppelduell?", Zigfried sah ihn überrascht an, "ich dachte, du verabscheust Teamarbeit?"

"So wie ich das sehe", Kaiba zeigte nach oben zu den Kameras, die verdächtig zu blinken begonnen hatten, "willst du, dass die ganze Welt diesem Spiel beiwohnt. Warum sonst hättest du dir ausgerechnet diesen Tag aussuchen sollen, wo alle Sender und Bildschirme der Stadt diesen Augenblick mitverfolgen. Du scheinst dir ja sehr sicher zu sein...oder einfach nur dumm, wie bei all deinen Entscheidungen. Aber wenn du schon eine große Nummer abziehen willst - gönnen wir den Zuschauern ein wenig Unterhaltung. Schließlich bin ich bei einem Nullspiel dazu verpflichtet, einen weiteren Spieler auszuwählen." Er drehte seinen Kopf zu den Sitzplätzen. "Rin?!"

Rin

Der Name klingelte ihr in den Ohren.

Ich muss mich verhört haben...nein, Moment, er sieht mich an. Oh Gott, das kann nicht sein ernst sein.

In ihrer Brust zog sich alles zusammen.

"Wa-?!", machte zu allem Übel auch noch ihr Sitznachbar, dass ihr die Galle hochkommen wollte, "wie krass ist das denn?! Dass ich das noch Mal erleben darf: dass sich Kaiba freiwillig auf ein Vierer-Duell einlässt...also quasi freiwillig. Aber, Mann ey, mit dir!"

Ungeduldig sahen die Leute aus allen Richtungen zu Rin - allen voran Seto Kaiba, dessen Blicke eindringlicher wurden. Er machte den Eindruck als wartete er auf etwas - als wartete er auf sie.

Du träumst, Rin. Eindeutig. Das kann nur einer deiner bescheuerten Träume sein. Wenn du jetzt einfach mitspielst, wachst du gleich wieder in deinem Federbettchen auf-

Das harte Holz unter ihrem Gesäß schien sie regelrecht weiter in den Stuhl hineinziehen zu wollen. Das hier war eindeutig kein Federbett, schon gar nicht die Matratze von Zuhause, nach der sie sich seit Tagen sehnte.

"I-ich", starrte nun Rin auf Jonouchi, weil ihr nichts Besseres einfiel, um diesen eiskalten Augen zu entkommen, "ich habe meine DuelDisc nicht dabei. Ich meine, wie hätt' ich...wozu-" Sie konnte nicht einmal blinzeln, so sehr war die Verwandlung in eine Eissäule bereits fortgeschritten.

"Echt?", verdutzt sah Jonouchi sie an, blinzelte mehrmals als blinzelte er für sie mit, "na dann", er streifte sich seine eigene vom Handgelenk, "dann leih' ich dir meine. Diesen Anblick kann ich mir doch nicht entgehen lassen", er zwinkerte ihr zu, "das Baby hier ist nicht mehr die Jüngste. Also sicher nicht der Luxus, den du gewohnt bist - aber sie hat mir immer Glück gebracht und in echt brenzligen Lagen den Arsch gerettet. Pass' gut auf sie auf, okay? Und gib' sie mir nach dem Duell einfach wieder." Er nickte aufmunternd, obwohl sie sich dadurch keinen Deut besser fühlte. Mit diesem Angebot war es unmöglich, sich aus dieser Situation noch irgendwie heraus zu winden - obwohl sie tief in ihrem Innersten wusste, dass dieser Zug ab dem Moment abgefahren war als Seto Kaiba ihren Namen genannt hatte.

Wie im Zeitraffer nahm sie die DuelDisc entgegen. Sie konnte einfach nicht glauben, was da gerade passierte. So war das nicht geplant gewesen! Wo war das ruhige Ende einer Woche, die verdiente Verschnaufpause?

Wie dämlich konnte ich sein, zu glauben, dass dieser Tag normal würde

Zigfrieds höhnende Stimme riss sie aus ihrer Lethargie: "Hat deine Spielerin etwa weiche Knie bekommen? Die Kleine scheint mir etwas überfordert."

Kleine?!

Wie zu einem Startsignal erhob sich die junge Frau. Rins Kopf drehte sich zu ihrem Firmenboss, der seinen Blick von ihr abwandte. Stattdessen richtete er eine ordentliche Portion Überlegenheit an seine Gegenüber und konterte: "Wieder einmal überschätzt du deine eigenen Kompetenzen, Zigfried. Hat dir Yamamori nicht bereits bewiesen, dass sie deine Feenstaub-Prinzessinnen problemlos schlagen kann? Es ist doch eindeutig, dass du gegen die Macht der Kaiba Corporation nichts entgegen zu setzen hast. Aber", schloss er lächelnd die Augen, "wem erzähle ich das."

"Diesmal", knurrte Zigfried, "wird nach ganz neuen Regeln gespielt. Danach wird sich zeigen, wer zuletzt lacht. Glaub' mir, Seto...Kaiba." Doch Kaiba winkte dessen Drohung lediglich ab und schaltete einfach seine DuelDisc ein, dass sich Rin ganz automatisch in Bewegung setzte. Sie streifte sich das geborgte Modell um den rechten Arm. Die junge Frau hatte bereits vergessen, wie schwer die DuelDisc's der ersten Generation gewesen waren. In wenigen Minuten würde ihr Arm in eine Art Not-Schockstarre veharren, die sie tagelang zu spüren bekäme. Wieso Jonouchi an diesem Klotz hing, konnte sie wirklich nicht begreifen, aber um darüber ernsthaft nachzudenken blieb keine Zeit. Sie musste sich auf das vor ihr Liegende konzentrieren. Auf Seto Kaiba, der nur noch auf sie zu warten schien; auf Zigfried von Schroeder, der sie von oben herab betrachtete, mit einem schmalzigen Grinsen, dass sie ihren Blick sofort zu dessen Mitverschwörer lenkte, dessen Augen auf seinen ehemaligen Boss gerichtet waren. Hiro Hachurui. In Gedanken rief sie sich seine Strategien ins Gedächtnis. Ein längst vergessenes Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf.

Wenn er sich noch wie damals duelliert-

Rin zog das Band aus ihrem Kragen heraus.

Nur die Ruhe, Rin. Du packst das...irgendwie

Beide Hände umfassten ihre lange Mähne zu einem hohen Zopf. Provisorisch wickelte sie das Band zu einer Schleife, dass ein Hauch von Mädchen ihre strengen Gesichtszüge umspielte. Mehr aber auch nicht. Rin hatte ihren Duell-Modus wiedergefunden, dass lediglich ihre Aufmachung an die vergangene Naivität und Unschuld zurück erinnerte. Nicht einmal das Kleid kam gegen die geballte Macht des Ehrgeizes heran, die sich nur noch auf's Siegen konzentrierte. Es war die Zeit gekommen, diese falsche Rin, das hilflose Mädchen von Nebenan, von ihrem Thron zu stürzen. Dies war eindeutig der richtige Zeitpunkt dafür. Giftig funkelten ihre Seelenspiegel zu dem gegnerischen Team, das gegensätzlicher nicht hätte sein können. Hachuruis Karten waren ein extremer Kontrast zu Schroeders Feen-Kombo. Ihre Strategien konträrer als die zwischen Katsuya Jonouchi und ihrem Firmenchef.

Da hab ich ja mehr Gemeinsamkeiten mit Kaiba-

Wie vom Blitz getroffen riss sie die Augen auf. Der Blick ging durch ihre Gegner hindurch. Leere umhüllte sie für wenige Sekunden.

"Rin", hörte sie die eisige Stimme Seto Kaibas sagen, "hast du dein Deck dabei?" Seine Stimme drang durch ihre Ohren wie ein Echo.

Langsam drehte sie ihren Kopf in seine Richtung. Jeder ihrer weiteren Schritte war ein krampfhafter Zwang, die Selbstbeherrschung zu erhalten. Auf keinen Fall durfte sie jetzt stehen bleiben - dafür zweifelte Rin zu sehr daran, dass sie danach noch einen Fuß vor den anderen setzen könnte.

"Wie mir scheint", setzte Zigfried an und behielt dabei sein widerliches Grinsen, "ist dein Schoßhündchen auf diesen Augenblick nicht vorbereitet." Abschätzend sah er zu der DuelDisc, an der bereits einige Schrammen und Brandflecke sichtbar waren. Rin tat es dem jungen Firmenchef gleich und ignorierte ihn. Sie hatte wichtigeres zu tun. Wie ihr Deck aus der Halterung zu ziehen ohne sich die Blöße zu geben. Weil sie keine Tasche bei sich tragen wollte, hatte Rin die Karten in ihrer speziellen Aufbewahrungsbox verstaut, die sich einfach um den Oberschenkel wickeln ließ. Jetzt bewegte sich ihre linke Hand zu dem Saum ihres Kleides. So unauffällig wie möglich und mit viel Fingerspitzengefühl ertastete sie die fest sitzende Box. Es genügte ein vorsichtiges Anheben des feinen Stoffes, dass sie den Verschluss fand und mit einem sanften Druck löste. Innerlich klopfte sie sich auf die Schulter - so viel Fingerfertigkeit hatte sie sich selbst nicht zugetraut, und das ohne Millionen von Zuschauern den Blick auf ihre Unterwäsche zu offenbaren.

Allmählich hatte sie auch die Tribüne erreicht. Noch nie war ihr ein Weg so weit vorgekommen. Eine Strecke, die lediglich einige Meter betrug, war für Rin wie der Pfad zu ihrer eigenen Hinrichtung, der einfach nicht zu enden schien. Neben Kaiba platziert spürte sie keinen Anflug von Erleichterung - wenigstens durfte sie jetzt stehen. Mit diesen Absätzen konnte sie froh sein, nicht während ihres Marsches irgendwo ausgerutscht zu sein - und sie musste ihr Glück nicht weiter als nötig ausreizen.

Sie nickte Kaiba zu, welchem sie noch eine Antwort schuldig geblieben war: "Ich habe immer ein Deck bei mir", sagte sie und versuchte die Worte so zu betonen, dass sie Kaiba womöglich richtig zu interpretieren wusste. Schließlich ging sie nie ohne ihre besonderen Karten nach draußen, und wenn sich der junge Firmenchef an das Simulationsduell erinnerte, wusste er, dass eine geballte Ladung blauäugiger Drachen auf sie wartete. Doch Rin war sich nicht sicher, ob ihm die Präsenz von drei weiteren weißen Drachen mit eiskaltem Blick tatsächlich gefallen würde. Mit diesem Wissen wäre Rin wohl eine der letzten gewesen, mit denen er ein Viererduell bestritten hätte.

"Bevor du etwas falsch verstehst", sagte Kaiba zu Rin, während diese ihre Karten in das vorgesehene Fach verstaute, "ich spiele nicht im Team. Das habe ich noch nie und werde ich auch nie. Teamwork ist etwas für Schwächlinge und Kindergartenkinder. Also will ich, dass du-"

"Ich weiß", hob Rin ihren freien Arm und erwiderte seinen strengen Blick, "keine Sorge, ich habe auch nicht erwartet, dass wir miteinander spielen", sie wandte sich an die gegnerische Mannschaft, die ihre Decks zu mischen begann, "du willst deine Angelegenheiten selbst klären - schon verstanden. Das hier ist nicht mein erstes Viererduell - du brauchst dir um mich keine Gedanken machen. Ich werde solange darauf aufpassen, dass Hachurui nicht übermütig wird."

"Kennst du seine Methoden?"

"Ich kenne ihn", murmelte sie -auch wenn er sich nicht an mich zu erinnern scheint- , "es sollte kein Problem sein, ihn zu besiegen."

"Gut."

"Na", hob Zigfried lächelnd die Arme in die Höhe, "habt ihr euer kleines Pläuschchen beendet? Wenn ihr vorhattet euch zu verabreden", dabei musterte er einmal genau ihr luftiges Sommerkleid, "dann muss ich euch leider sagen, dass es dafür zu spät ist."

"Fertig", zischte Rin und fuhr die DuelDisc aus. Ein kurzes, zuckendes Stechen schoss durch ihren Arm. Hatte ihr die DuelDisc gerade eine gescheuert?

Jonouchi sollte sich dringend eine neue zulegen.
 

"Nun denn", fuchtelte Zigfried erneut mit den Händen, dass er wie ein überkanditelter Schauspieler aus dem 19. Jahrhundert erschien, "im Interesse aller Parteien, schlage ich die klassische Variante eines Vierduells vor: in der ersten Runde setzt jeder Duellant seine Karten. Erst in der zweiten Runde dürfen dann Monster angegriffen und Fallen- und Zauberkarten aktiviert werden."

"Wir alle kennen die Regeln, Zigfried", raunte Kaiba, dem es nicht schnell genug zu gehen schien. Rin konnte sich sehr gut vorstellen, dass er dieses Duell binnen drei Runden beendet sehen wollte. Bei allem, was sie über ihre Gegner wusste, war dieser Gedanke nicht einmal so abwegig.

"Ich wollte nur einmal die Fronten klären", lächelte der Mann mit den rosafarbenen Haaren und tat eine leichte Verbeugung, "wir wollen doch nicht, dass du dich ungerecht behandelt fühlst."

"Genug geredet", Kaiba zog seine Karten, "fang' endlich an. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."

"Warum denn so eilig?", säuselte Zigfried und betrachtete die ersten fünf Karten in seiner Hand, "Es gibt bisher keinen Grund, die Nerven zu verlieren."

Dieser Kerl redet echt zu viel um den heißen Brei

Auch Rin hatte ihre Karten zur Hand und musterte den Scherbenhaufen von einem Deck. Diese Aufbewahrung ihrer liebsten Schätze war nie dafür vorgesehen, gespielt zu werden. Auf den ersten Blick war Rin froh, keiner Vollkatastrophe gegenüber zu stehen. Sie hatte durchaus Karten, mit denen sich etwas anfangen ließ - wenn auch das ein oder andere Monster völlig deplatziert schien.

Ich kann doch unmöglich meine Blauäugigen setzen , sie sah zu Kaiba, der sein übliches Pokerface aufgesetzt hatte. Aber wie soll ich dieses Deck spielen, ohne meine stärksten Monster zu benutzen?

Sie konnte ja schlecht in der ersten Runde passen. Egal, ob sie bloß das Anhängsel eines widerwilligen Viererduells geworden war - sie musste ein gutes Bild abgeben. Schon deswegen weil keiner dieser Firmenriesen Bescheidenheit auf seinem Logo stehen hatte, würde wohl wieder einmal das halbe Land dem Spektakel zusehen; inklusive neugieriger Passanten und diejenigen, die eigentlich nichts davon verstanden. Sie durfte sich einfach nicht die Blöße geben.
 

"Ich lasse meinem Partner den Vortritt!", klopfte der Chef von Schroeder Corp. seinem Mitspieler auf die Schulter. Dieser nickte - dies war der Start des Duells.
 

"Mein Zug", knurrte Hachurui, der den Eindruck erweckte, als hätte er bloß auf diesen Moment hingearbeitet. Seine Augen fixierten die frisch gezogene Karte: "Ich spiele drei Karten verdeckt", nacheinander leuchteten die entsprechenden Felder auf, "und ich beschwöre Ballonechse im Angriffsmodus. Das wär's für's erste."

"Natürlich", lächelte Kaiba träge, "zwei Jahre und immer noch nichts dazu gelernt."

Er spielt also mit seinen Reptilien-Monstern. Dann ist klar, welche Karten er darunter versteckt. Ballonechse hat läppische 500 Angriffspunkte. Das riecht geradezu nach einem Trick.

"Dann führe ich das Werk meines Partners fort", süffelte Zigfried und wedelte mit einer Karte in seiner Hand herum, "ich setze ebenfalls zwei Karten verdeckt und spiele Minerva, Gelehrte des Himmels." Die gesamte Tribüne wurde in grelles Licht getaucht, das selbst die Scheinwerfer blenden konnte. Minerva erschien in ihrer imposanten Erscheinung, ein grün geflügelter Stab in ihrer rechten Hand deutete auf Rin und Kaiba. Mit 1700 Atk war sie weitaus stärker als deren reptilischer Gefährte, was die junge Frau für den Anfang unbeeindruckt ließ. Denn Rin versuchte mehr aus Zigfrieds Gesichtsausdruck schlau zu werden. Dieser sah zu ihr als erwartete er eine Reaktion ihrerseits. Sein intensiver Blick bereitete ihr Kopfschmerzen, dass sie sich an den jungen Firmenchef wandte, der jetzt am Zug war.

"Schluss mit dem Rumeiern", seine rechte Hand zog eine Karte aus dem Stapel als wollte er jemanden damit bewerfen, "es ist Zeit, diesen Schwachsinn schnell zu beenden: Ich spiele Topf der Gier. Mit dieser Karte kann ich zwei weitere Karten ziehen...Nun denn, ich spiele königlicher Herr der Drachen. Seine besondere Fähigkeit erlaubt es mir, eine Drachenrufflöte vom Deck zu nehmen, wenn ich dafür eine andere Zauberkarte auf den Friedhof lege." Sofort stattete Kaiba sein Hexermonster mit eine Flöte aus. "Aber ich habe nicht nur eine Drachenrufflöte", eine zweite legte sich in die leere Hand seines Monsters, "ich denke, du weißt, was jetzt kommt", sprach er direkt Zigfried von Schroeder an, der ihm lediglich seine Schneidezähne präsentierte.

"Wie überaus einfallsreich, Kaiba", entgegnete Zigfried und zuckte mit den Schultern.

"Dasselbe wollte ich gerade von dir sagen", konterte Kaiba und ließ das Offensichtliche Wirklichkeit werden: Drei weiße Drachen mit eiskaltem Blick eröffneten das Viererduell, wie es nur Seto Kaiba im Stande war. Die stärksten und berühmtesten Drachen in DuelMonsters bauten sich vor ihrem Meister auf - hungrig, ihre nächsten Befehle entgegen zu nehmen. Ehrfurchtsvoll sah die junge Frau zu den Kreaturen hinauf, die ihr noch heute eine Gänsehaut bereiten konnten - auch wenn sie diese schon hunderte von Male beschworen hatte. Doch noch nie hatte Rin gleich in der ersten Runde alle drei Monster auf dem Spielfeld, dass sie für den jungen Firmenchef Bewunderung empfand. Mit diesem Zug machte er deutlich, dass er keine Hilfe benötigte, dieses Duell binnen weniger Züge zu beenden. Bei dem Tempo, das Kaiba hinlegte, zielte er wohl auf seinen nächsten Zug ab, mit dem er das gesamte Spiel für sich entscheiden wollte.

Nun, da sie selbst an der Reihe war, überlegte sie, wie nun ihre Taktik auszusehen hatte. Es lief alles darauf hinaus, dass dieses Duell eine weitere Schmach für die von Schroeder Corp. bedeutete, bei der sie nichts beisteuern musste. Noch dazu waren Hachuruis Absichten genauso offensichtlich wie ein Blick durch ein Schaufenster.

Und was mache ich jetzt mit dir?

Sie sah zu ihrem eigenen Blauäugigen. Zum ersten Mal fühlte er sich in ihrer Hand völlig nutzlos an.

"Ich rufe blauer Drachenbeschwörer", rief Rin und holte ihr mittelklassiges Monster aufs Feld, "da blauer Drachenbeschwörer ein Hexer ist, kann ich ihn automatisch aufs Feld holen: Ranryu." Ein Kupfer-grün gestreifter Drache wirbelte in seiner selbst erschaffenen Staubwolke, kreischte einmal laut auf und schwebte neben seinen großen Brüdern, die ihn um das Doppelte überragten. Ebenso in ihrer Angriffs-Power.

"Und ich spiele noch eine Karte verdeckt. Damit beende ich meinen Zug-" Ihre Mundwinkel begannen zu zucken. Sie wusste nicht wieso, aber irgendwie fühlte sie sich seltsam. Dieser Kopfschmerz von eben - er gab ihr ein mulmiges Gefühl. Etwas, das sie nicht einzuordnen wusste. Rin hätte nicht gedacht, dass sie das Duell derart aus der Bahn bringen konnte.

Cool bleiben, Rin

Ihr passte es gar nicht, dass Zigfried sie so anstarrte. Erst Hacharuis Stimme brachte sie wieder auf andere Gedanken: "Ich setze zwei weitere Karten verdeckt."

"Wie mir scheint", rief Kaiba und schüttelte den Kopf, "hast du vergessen, wie dieses Spiel gespielt wird, Hacharui. Oder muss ich dir noch die Regeln erklären?"

"Oh, ich weiß sehr wohl, was ich hier tue", zischte der Blonde und biss sich auf die Lippen.

"Hör ganz genau hin, Rin Yamamori", mischte sich Zigfried ein und nickte der jungen Frau zu, "nicht mehr lange und dasselbe Schicksal wird dir zuteil."

Sie hätte gerne etwas gesagt, doch dieses mulmige Gefühl lenkte sie zu sehr ab, dass sie lediglich zur Seite sah. Dabei bemerkte sie Hacharuis zitternde Hand, die er nun ausstreckte. "Ich aktiviere meine Falle: verborgene Sprengladung." Explosionen ertönten, ohne dass der Grund sichtbar wurde. "Was ist los?!", fuhr er fort, "noch nie was von verborgene Sprengladung gehört? Diese Karte raubt meinem Gegner 300 Lebenspunkte für jede Karte, die er auf dem Spielfeld hat. Das gilt zwar nur für einen von euch, aber in dem Fall ist es keine schwere Entscheidung." Eine weitere Explosion tat sich direkt vor Seto Kaiba auf, dass dieser kurz in der stickigen Wolke untertauchte. 1200 Lebenspunkte sanken von seiner Anzeige. Seto Kaiba selbst, von dem sich der Rauch allmählich ablöste, schien davon unbeeindruckt. Dass er lediglich 2800 Lebenspunkte vorzuweisen hatte, schien ihn so sehr zu interessieren, wie Hacharuis hasserfüllten Blick abzubekommen. Im Gegenteil, er wirkte noch ungeduldiger als zuvor. Rin sah die Selbstsicherheit in seinen Augen - er zweifelte keine Sekunde an seinem Sieg.

"Außerdem setze ich meine Ballonechse in den Verteidigungsmodus. Das sollte für's erste genügen", rief Hacharui und sah zu seinem Teamkollegen herüber. Erst jetzt wandte er sich von ihr ab - leider änderte es nichts an Rins benommenen Zustand.

"Ich denke", erhob Zigfried seine Stimme, "wir tun Kaiba den Gefallen und legen einen Zahn zu, meinst du nicht auch?" Damit zog er eine Karte. "Fortuna scheint mir heute hold zu sein", er drehte die Karte um, dass die Zauberkarte Landformen sichtbar wurde, "damit kann ich jeden beliebigen Feldzauber auf meine Hand nehmen. Oh, das wird ein Spaß." Sie konnte förmlich hören, wie neben ihr die Augen verleiert wurden.

Was kommt denn jetzt?

Doch statt einer Antwort, begann der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren. Es folgte ein Grollen, die Tribüne riss hinter ihren Gegnern auseinander. Aus dem losen Gestein erhob sich ein Berg, darauf die Ruinen einer längst vergangenen Zeit. Die junge Frau musste zweimal blinzeln: "Was ist das? Das Schloss von Stromberg? Unmöglich!"

"Nein", knurrte Kaiba und beobachtete skeptisch das Spektakel, "die Karte wurde von der Liste verbannt - von Pegasus persönlich. Außerdem", er deutete auf die antiken Bauten, "war das Schloss von Stromberg golden. Was auch immer das ist - es scheint etwas völlig Neues zu sein."

"Wir wollen doch nicht", lächelte Zigfried und betrachtete sein Werk, "dass sich der große Seto Kaiba langweilt." Er lachte, dass es mehrfach in Rin widerhallte.

Schon wieder dieser seltsame Kopfschmerz

Flüchtig berührte sie ihre Schläfe.

"Und was genau soll das sein?", fragte Kaiba, ohne einen Hauch von Emotionen hineinzulegen.

"Das hier, mein lieber Kaiba, ist meine wundervolle Karte 'Zuflucht im Himmel'. Sie ist perfekt für meine Rache."

"Rache? Wofür? Dass ich dir vor Augen geführt habe, dass du ein selbstgefälliger Verlierer bist?", Kaiba funkelte ihn an, "du solltest mir eher dafür danken."

"Nenn' es, wie du willst", schüttelte sein Gegenüber mit dem Kopf, "am Ende bekommt jeder, was er verdient", kurz verdunkelte sich seine Stimme, bevor er in seiner gewohnt hochnäsigen Art fortfuhr, "machen wir also weiter: ich beschwöre noch meine Dritte Walküre und genieße vorerst nur den malerischen Anblick. Du bist dran, Kaiba." Seine Walküre war noch schwächer als Minerva. Mit 1000 Atk musste sie etwas in der Hinterhand haben, dass er sie so schutzlos aufs Feld platziert hatte.

"Das war ein Fehler, Zigfried", Kaiba zog gerade eine Karte als Hacharui dazwischen funkte.

"Ich decke meine Falle auf: Boden einer anderen Dimension!" Über dem Spielfeld zog eine dunkle Wolken heran. "Jede Karte, die in diesem Spielzug auf den Friedhof gelegt wird, wird stattdessen verbannt."

"Das spielt auch keine Rolle mehr", meinte der junge Firmenchef bloß und zeigte auf eine seiner drei Bestien, "meine Weißen werden Zigfrieds Punkte so tief fallen lassen, dass er sich nach dem Duell in der Hölle wiederfinden wird." Er lächelte träge. "Und wie mir scheint, Hacharui, hast du die besondere Fähigkeit meines Herren der Drachen vergessen: Er schützt meine Monster vor sämtlichen Karteneffekten. Also, mein Weißer, greif' Zigfrieds Walküre an! Lichtblitzattacke!" Das Maul des äußeren Drachen tat sich auf, eine weiße Lichtkugel entstand.

"Ich decke meine zweite Falle auf: Macht des Spiegels!" Rin verstand nicht, was gerade passierte. Hacharui hatte eine weitere Falle gespielt, die Kaibas Herr der Drachen problemlos von seinen Weißen abhalten konnte.

"Dann ist es jetzt Zeit für meine Falle!", Zigfried offenbarte seine erste verdeckte Karte, "göttliche Bestrafung!"

Die junge Frau riss die Augen auf.

Mit dieser Karte kann er den Effekt von Kaibas Monster annullieren. Ich muss etwas unternehmen.

Sie sah auf ihr Kartenzone. Auch wenn der junge Firmenchef ihr klar gemacht hatte, dass er niemandes Hilfe benötigte, konnte sie nicht einfach so zusehen. Kaiba hatte keine einzige verdeckte Karte. Wenn sie jetzt nicht einschritt-

"Nicht so voreilig!", Rin hob ihren linken Arm, "ich habe auch noch eine hübsche Karte: finstere Bestechung. Damit kann ich deine göttliche Bestrafung aufhalten."

"Ach, meinst du?", entgegnete der Blonde, "dann sieh' dir das mal an!" Er deckte seine dritte Karte auf, "Diese Karte nennt sich Fallenfalle - sie stoppt den lächerlichen Versuch, deinen Boss zu retten." Damit war das Schicksal der weißen Drachen besiegelt. Sämtliche Monster auf Kaibas Seite explodierten vor seinen ungläubigen Augen.

Der mächtige CEO knirschte mit den Zähnen.

"Das sind nicht Hacharuis Karten", sagte er als spräche er zu sich selbst. Seine kalten Augen blickten noch immer auf die leere Monsterzone vor sich.

"Was ist denn los, Kaiba", feixte Zigfried und grinste in sich hinein, "vielleicht müssen wir dich in Sachen Viererduell aufklären. Im Gegensatz zu dir, arbeiten mein Partner und ich als Team. Davon solltest du dir eine Scheibe abschneiden, wenn du noch den Hauch einer Chance haben willst."

"Ihr und ein Team?", entgegnete Kaiba, "dein sogenannter Partner ist doch nur wieder einer deiner naiven Handlanger, die dazu da sind, deinen Arsch zu retten."

"Warum denn auf einmal so übellaunig", provozierte Zigfried ihn weiter.

"Mit deinen zweitklassigen Tricks wirst du nicht ewig durchkommen, Zigfried." Kaiba legte zwei Karten verdeckt auf's Feld und beendete seinen Zug. Wie in Trance beobachtete Rin die beiden Karten. Was war ihre Aufgabe noch mal? Ach ja, sie war an der Reihe.

"Weil in diesem Spielzug mehrere Monster verbannt wurden, ist es mir erlaubt, meinen Überflussdrachen automatisch auf's Feld zu holen. Und weil es mehr als ein Monster war, kann ich eine weitere Spielmarke mit demselben Grundtyp dazu beschwören" Zwei Maschinen ähnliche Drachen mit Null Angriffspunkten und ohne Verteidigung stellten sich in Verteidigungsposition. Sie wusste noch nicht, wie ihr diese Monstersammlung nützen würde (wenn sie keinen ihrer weißen Drachen spiele wollte), aber bei dem gefährlichen Duo, dem sie gegenüberstanden, musste sie sich gut wappnen. Sie zog eine Karte. Ein Stich bohrte sich direkt in ihren Kopf.

"Ich-", sie betrachtete ihr Ritualmonster, als ein weiteres Stechen durch sie hindurch stieß. Rin fasste sich an die Schläfen. Der Schmerz durchzuckte sie derart, dass sich ihr Oberkörper leicht nach vorne beugte.

"Was...ist...das?", presste sie hervor und versuchte diesen Schmerz auszublenden.

"Was ist los", hörte sie Kaibas Stimme neben sich. Doch die junge Frau war nicht in der Lage zu antworten.

"Endlich", sprach eine weitere Stimme. Es war Zigfried, der ein breites Grinsen aufgesetzt hatte.

"Es scheint zu wirken.

Mein Virus."

Was hatte Zigfried gerade gesagt?

Sie blickte zu ihm herüber. Sein schmieriges Grinsen ging ihm über beide Ohren. Der Anblick hatte etwas Wahnsinniges. Der Boden begann unter ihren Füßen zu beben.

"Was soll der Schwachsinn, Zigfried?", es war Seto Kaiba, der als erster das Wort ergriff. Er wirkte ernst, und schlechter gelaunt als zuvor - aber keineswegs überrascht.

"Oh, das ich kein Schwachsinn", entgegnete Zigfried und deutete mit einem Nicken auf Rin, die ihre Hand nicht von dem Kopf lassen konnte,"ich habe mir erlaubt, einige nette... Sonderleistungen in das Spiel einzubauen. Zum Beispiel in dem ich dein virtuelles System mit einem Virus ausgestattet habe."

"Unmöglich", erwiderte Kaiba, "um das System der Kaiba Corporation zu infizieren, hättest du dich in den Zentralrechner hacken müssen. Bei den Sicherheitsmodulen, die laufen, ist es selbst dir nicht möglich, durch die Schlüssel zu kommen."

"Wer unterschätzt hier wen, Kaiba?", wedelte Zigfried belehrend mit dem Finger, "in der Tat war es kniffelig durch das Sicherheitssystem zu kommen. Glücklicherweise war mir in letzter Sekunde noch ein Licht aufgegangen."

Die junge Frau sah mit offenem Mund zu Zigfried. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: "Der Stromausfall", hauchte sie und konnte nicht fassen, was sie sich gerade zusammen sponn, "in der Nacht vor den Rooftop-Battles. Da hat es einen kurzen Stromausfall gegeben - für genau zehn Sekunden", fassungslos schüttelte sie sich, "weil der Notstrom sofort geschalten hat, hatte es niemand mitbekommen."

"Du bist gut informiert", murmelte Seto Kaiba und schien das Gesagte zu verarbeiten, "ich kann mir schon denken, wer dir das erzählt hat...aber egal", setzte er fort und schien ernsthaft darüber nachzudenken: "In diesen zehn Sekunden sind die Gerätschaften sehr empfindlich - selbst mit Notstrom. Das würde bedeuten, Zigfried hat den Strom von Domino lahmgelegt, um sich in mein virtuelles System zu hacken. Die Millisekunden, bevor der Notstrom greift - es ist die einzige Chance, das Sicherheitssystem zu umgehen...das ist sehr wenig Zeit...aber nicht unmöglich." Er sah zu seinem Kontrahenten, der lediglich mit den Schultern zuckte: "Hat dich deine Vergangenheit nicht gelehrt, dass du meine Fähigkeiten nicht anzweifeln solltest? Doch für Reue ist es jetzt leider zu spät. Das Virus ist aktiv seit ihr eure DuelDisc's gestartet und euch in das System eingeloggt habt. Zuerst war ich etwas enttäuscht, als erst nichts passieren wollte. Wie mir scheint, kann dir der Virus nichts anhaben, Kaiba. Was wohl an deiner speziellen DuelDisc liegen wird. Aber dasselbe gilt nicht für sie."

Entsetzte Ausrufe erreichten ihre Ohren. Auf den Zuschauerreihen tauschten sich einige angeregt aus. Die Leute schienen die Nachrichten schneller zu verarbeiten als Rin.

"Hat er Yamamori mit einem virtuellen Virus infiziert?", sprach eine Stimme, die sie nicht zuzuordnen wusste.

"Was für eine kranke Scheiße ist das denn?!", hörte sie Jonouchi fluchen.

"Seto, du musst das Duell-", rief Mokuba, dessen Worte mitten im Satz untergegangen waren.

"Was hast du vor, Zigfried?", hörte sie nur noch Kaibas dominanten Tonfall.

"Die Frage sollte eher lauten: was habt ihr vor?" Am liebsten hätte sie ihm die Disc über seine schmierige Visage gezogen. Zigfried. Was ging bloß in seinem Kopf vor? Sein Grinsen widerte sie an. Was hatte dies noch mit einem Duell zu tun?

"Drück' dich deutlich aus", knurrte nun der junge Firmenchef als sich Zigfried eine theatralische Pause gönnte.

"Nun", antwortete der Chef von Schroeder Corp. schließlich, "nachdem das Virus auf deine Spielerin greift, ist sie nun unabdingbar mit dem Schicksal deiner Firma verbunden. Mit jedem weiteren Zug verbreitet sich das Virus auf dein System und in Yamamoris Kopf."

Nein! Niemals! Das ist bloß ein mieser Trick, mich zu verunsichern. So etwas kann es nicht geben. Das wäre-

"Wenn ihr das Duell verliert", erläuterte Zigfried weiter, dass Rin Schwierigkeiten hatte, dem Tempo zu folgen, "wird das Virus sämtliche Daten deines Rechners löschen. Du kannst dich schon mal von deinem Lebenswerk verabschieden, Kaiba. In wenigen Stunden wird von deiner Firma nichts weiter übrig bleiben als ein Haufen eingestaubter Erinnerungen - haha. Aber nicht nur das", er legte den Kopf schief, "auch Yamamoris Gehirn wird vollständig lahmgelegt."

"Hast du nun völlig den Verstand verloren?!", Kaiba sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

Es kann einfach nicht wahr sein. Das ist nicht die Wirklichkeit. Wie sollte das…? Aber warum reagiert Kaiba so-

"Du scheinst es endlich verstanden zu haben, Kaiba. Wenn du deine Firma retten willst, wirst du dieses Viererduell ernst nehmen müssen. Ich weiß, dir war es eigentlich egal, ob dein braunhaariger Anhängsel dieses Duell übersteht oder nicht. Wie sich doch die Dinge ändern können! Oh, und bevor ich's vergesse: an deiner Stelle würde ich mich beeilen. Da das Virus nun aktiv ist, bleiben Yamamori nur noch drei Runden, bis sie nicht einmal mehr wissen wird, wer sie ist - geschweige denn in der Lage sein wird, DuelMonsters zu spielen. Denn, auch wenn es sich um einen künstlichen Computervirus handelt, wird er solange auf Yamamori greifen, wie dieses Duell läuft - so als würde es sich um einen echten Virus handeln. Die einzige Chance, sich von dem Virus zu befreien, ist dieses Duell zu gewinnen - oder aufzugeben. Zweites würde jedoch nur Yamamoris Verstand retten, nicht aber deine Datensätze. Du siehst, die Entscheidung liegt nicht mehr bei dir. Wie fühlt es sich an, die Kontrolle zu verlieren?" Er sah zu Rin, die seine Worte stumm hingenommen hatte. Noch immer kämpfte ein Teil in ihr dagegen an, seinem Geschwätz einfach zu glauben. Sobald sie zu ihrem Nachbarn sah, wurden diese Zweifel endgültig ausradiert. Sie musste sich damit abfinden, dass diese kranke Realität tatsächlich existierte. Dass Zigfried imstande war, ihr Gehirn lahm zu legen, als steckten sie inmitten eines Science Fiction-Films. Doch der junge Firmenchef entsandte eine solch finstere Aura des Hasses, dass Zigfrieds Drohungen einfach wahr sein mussten.

Ein Schauer fuhr über ihren gesamten Körper, ließ kurz den Kopfschmerz vergessen, der sie zu betäuben versuchte.
 

"Was wird sie wohl tun", summte Zigfried, der Kaibas hasserfüllten Blick sichtlich genoss, "sie braucht nur ihre Hand auf das Deck legen und schon-", Zigfried sprach über sie als wäre Rin gar nicht mehr anwesend. Sie biss sich auf die Lippen. Wut kochte in ihr auf. Was glaubte diese Schmalzlocke eigentlich, wer er war?!

"Ich", setzte sie an und richtete sich langsam wieder auf, "ich bin immer noch am Zug."

Verblüfft sah er sie an. Dann folgte sein gewohnt schmieriger Blick. "Ist das nicht süß?! Die Kleine versucht doch ernsthaft Loyalität zu wahren. Wirklich schade um sie, dass sie niemals Dankbarkeit dafür erfahren wird. Aber entscheide nicht so vorschnell, Yamamori. Ich bin mir sicher, dass du bald nicht mehr so selbstsicher daherkommen wirst."

"Wenn du dann fertig bist", sagte Rin und versuchte das drückende Gefühl in sich abzustellen. Ihr Blick huschte zurück zu ihren Karten. Sie hatte eindeutig genug gehört. Es war an der Zeit das zu tun, weshalb sie hier war.

Okay, Rin, ganz ruhig. Das Duell läuft noch. Du darfst jetzt nicht schlapp machen. Zeig' dieser aufgeblasenen Rosenfresse, dass du nicht so einfach das Handtuch wirfst.

"Ich aktiviere die Zauberkarte Ende der Welt", ein vom Himmel entsandter Lichtstreif zog eine gerade Linie Richtung Rins Monsterkartenzone. Der blaue Drachenbeschwörer wie auch Ranryu wurden von dem Licht eingefangen, dass ein goldener Schimmer sie umgab.

"Indem ich meine beiden Monster opfere, kann ich sie beschwören: Ruin, Königin des Vergessens." Die Königin ragte aus dem Boden, stieg empor und richtete ihren gezackten Stab auf ihre Gegner. Das graue, lange Haar flatterte im seichten Wind der dunklen Aura, die sie umgab. Ihr Blick war kühl und doch majestätisch - einem Monster mit 2300 Angriffspunkten würdig. Es war das erste Mal, dass diese Karte die schützenden Wände ihrer Sammler-Box verlassen hatte. Nie hatte es eine Gelegenheit gegeben, diesen kleinen Schatz in ihr Deck zu integrieren. Für Rin geradezu schade, dass sie ausgerechnet heute die Chance bekam.

"Ruin", sie streckte ihre linke Hand aus, "greif' Hacharuis Ballonechse an: mit Klinge der Apokalypse." Ein dunkler Energieblitz schoss aus der Spitze des Stabes direkt auf Hacharuis Monster zu. Dieser setzte ein halbherziges Lächeln auf: "Du hast soeben seinen Effekt aktiviert: wenn Ballonechse durch Kampf zerstört wird, verliert mein Gegner 400 Lebenspunkte. Und da mein Monster im Verteidigungsmodus war, bleiben meine Lebenspunkte sicher." Als hätte ihr jemand zu fest auf den Rücken geklopft, geriet Rin ins Taumeln als der Effekt von Ballonechse ein Teil ihrer Lebenspunkte raubte. Der Verlust ihrer eigenen Punkte schmerzte stärker als sonst. Dabei wurde sie nicht einmal direkt angegriffen. War dies bereits die Wirkung des Virus'? Sie wusste es nicht. Mühselig rappelte sich Rin auf. Es fiel ihr schwer, Haltung zu bewahren. Die Kopfschmerzen setzten ihr zu, es gab keinen Weg, ihnen zu entkommen.

"Wenn Ruin ein Monster besiegt hat", fuhr sie fort und schluckte die Schmerzen so gut es ging hinunter, "kann sie einen weiteren Angriff starten." Nun richtete die Königin den Stab zu Zigfrieds Monstern.

"Was zum-", mit offenem Mund starrte Rin auf die beiden Kreaturen, von deren anfänglichen Schwäche nichts mehr übrig geblieben war. Die dritte Walküre hatte 800 Lebenspunkte hinzugewonnen und Minerva glänzte mit 3200 Atk als stärkstes Monster auf dem Feld.

"Tja", schmunzelte Zigfried", "während wir alle so hübsch unsere Fallenkarten aktiviert und Kaibas Drachentrio vom Feld geräumt haben, sind die Angriffspunkte meiner elfischen Grazien gestiegen."

"Na und", murrte Rin, "deine Walküre ist immer noch schwächer als meine Königin." Für einen Rückzieher war es längst zu spät. Die junge Frau erteilte Ruin den Befehl zum Angriff. Tatsächlich verschwand die Walküre - was man von Zigfrieds Lebenspunkten jedoch nicht behaupten konnte. Dabei hatte keiner ihrer Gegner eine Fallenkarte aktiviert. Rin verstand nichts mehr.

"Zigfrieds Feldzauber", schlussfolgerte Kaiba, der das riesige Gebäude hinter dem Rosahaarigen betrachtete. Der junge Firmenchef hatte recht, es schien als saugte der Bau sämtlichen Schaden von seinem Besitzer.

"Zuflucht im Himmel", freute sich dessen Beherrscher, "leitet jeden Schaden auf sich um, sobald ein Monster gegen ein Feen-Monster kämpft." Und wie sie ihn einschätzte, war sein Deck voller Feen.

"Zum Schluss", keuchte Rin, weil jedes ausgesprochene Wort Kraft kostete, "weil mein blauer Drachenbeschwörer auf dem Friedhof ist, darf ich ein beliebiges Drachemonster von meinem Deck auf die Hand nehmen." Ein zweiter weißer Drache gesellte sich zu dem ersten. "Damit ist mein Zug beendet." Schwer stieß sie die Luft aus.
 

Denk' nach, Rin: Hacharui hat noch eine verdeckte Karte, die er gleich zu Beginn gespielt hat. Die anderen beiden waren dazu da gewesen, Kaibas weiße Drachen vom Spiel zu entfernen. Also muss er-

Ein weiterer Schlag bohrte sich durch ihren Kopf. Für einen Moment war ihr Oberkörper wie gelähmt, dann begannen Abermillionen kleine Reize auf sie einzuwirken. Sie sah zu dem Spielgeschehen. Hiro Hachurui hatte eine Zauberkarte gespielt, die Kaiba weitere 1000 Lebenspunkte raubte. Dafür verlor Hachurui selbst 500 - was ihm jedoch gleich schien. Seine Mundwinkel zuckten, während er beiläufig Rins Blicke kreuzte.

Kaiba hat recht. Hacharuis Karten schützen nur Zigfrieds Lebenspunkte...Jetzt hat er noch eine Karte gesetzt ohne die andere Verdeckte gespielt zu haben...und wenn er darauf wartet, dass ich meinen weißen Nachtdrachen spiele? Das würde ja heißen, sie wussten von Anfang an, dass ich...dass ich-

Vor ihr ertönte Hufgetrappel. Die Laute drangen soweit in ihren Kopf, dass sie Zigfrieds Stimme gar nicht mehr hörte. Er bewegte die Lippen, lächelte und zeigte auf den Streitwagen, den er gerufen hatte. Wann hatte Hacharui seinen Zug beendet? Rin erinnerte sich nicht. Ihr Kopf hämmerte so stark, dass sie kaum mehr einen klaren Satz denken, geschweige denn sich konzentrieren konnte.

Das ist doch derselbe, wie ihn Wotan... Wotan...gegen mich eingesetzt hatte.

Sie sah zu Minerva, deren Angriffspunkte weiter angestiegen waren. Mit 3700 Punkten war sie kaum mehr zu schlagen. Ein weiterer Angriff auf Seto Kaiba und dieser konnte sich von dem Rest seiner Lebenspunkte verabschieden. Rin stand völlig neben sich. Wie durch eine dicke Glasscheibe sah sie dem Geschehen zu. Zigfried lachte auf - sein Lachen ließ sie taub werden.

Nein, ich darf nicht...darf nicht-

Sie biss die Zähne in ihre Unterlippe, bis der Blutstropfen ihr Kinn hinab rann. Das Blut ließ sie zur Besinnung kommen - vorerst.

"...Es ist vorbei!", rief Zigfried und zeigte auf ihren Boss, der mit stoischer Miene seinem Rivalen gegenüberstand. Minerva stellte sich auf den Streitwagen. Noch mehr Staub und noch mehr Hufgetrappel verwandelten die Tribüne in ein altertümliches Wagenrennen, wie es nur die holographische Technik von DuelMonsters zustande bringen konnte. Die Pferde schnaubten - mit derselben Angriffslust, wie ihnen Zigfried begegnete. Sie näherten sich dem jungen Firmenchef, der seinen Arm ausstreckte und dem Treiben ein Ende setzte: "Ich decke meine Fallenkarte auf: Ring der Zerstörung." Ein mit Feuer umrahmter Ring kam aus der Decke direkt auf Minerva zugeflogen, kesselte das Monster mitsamt des Streitwagens ein. "Dein Monster ist Geschichte!", rief Seto Kaiba, "Ring der Zerstörung befördert es nicht nur auf den Friedhof. Außerdem verlieren beide Spieler Lebenspunkte in Höhe seiner Atk."

"Ha", lachte sein Gegenüber auf, "das spielt jetzt auch keine Rolle mehr! Ganz gleich, wie viele Lebenspunkte ich verliere, du, mein lieber Kaiba, hast nicht mehr genug, um diesen Augenblick mitzuerleben."

"Ach wirklich?", entgegnete Kaiba mit einem Grinsen und deutete auf seine Seite des Feldes, "dann hast du wohl meine zweite verdeckte Karte vergessen!"

"Das kann nicht sein?!", rief Zigfried lauter als nötig. Wie Rin hätte dem Chef von Schroeder Corp. klar sein müssen, dass Kaibas Fallenkarte nur in Kombination mit Ring der Verteidigung funktionierte. Eine Kombination, die der junge Firmenchef nicht das erste Mal anwandte.

"Damit wären meine Lebenspunkte sicher. Was man von deinen nicht behaupten kann." Kaiba ließ den Arm sinken. Der grüne Ring, der vor dem Chef der Kaiba Corporation rotierte, hielt sämtlichen direkten Schaden von ihm ab. Zufrieden sah er auf die andere Seite des Spielfelds. Zigfried knirschte mit den Zähnen. "Dann decke ich ebenfalls eine Karte auf: Schrumpfen! Sie halbiert den Schaden meines Monsters." Nur langsam ratterte Zigfrieds Punkteanzeige nach unten. "Außerdem scheinst du den Effekt meines Streitwagens vergessen zu haben: indem ich ihn auf den Friedhof werfe, darf Minerva auf dem Spielfeld bleiben." Seto Kaiba verzog keine Miene, obwohl der Blick seines Gegenübers mehr als Spott für ihn bereit hielt. "Netter Versuch, Kaiba. Aber bei dem Tempo wirst du mich niemals besiegen können. Oder hast du etwa deine Partnerin vergessen?" Er grinste hämisch. Seine Augen wanderten zu Rin, die tief Luft holte, um der plötzlichen Übelkeit entgegenzuwirken.

"Alles klar, Rin?"

Wer hat das gesagt? Egal. Ich muss…ich muss-

"Ich lege eine Karte verdeckt und beende meinen Zug", verkündete Zigfried zufrieden und nickte seinem nächstgelegenen Kontrahenten zu. Seto Kaiba nahm eine Karte vom Stapel und fuhr im selben Tempo fort, wie er das Duell begonnen hatte. "Ich lege eine Karte verdeckt und spiele die X-Kopfkanone im Angriffsmodus…" Während Kaiba weiter sprach, hielt sich Rin den Bauch. Der letzte heftige Kater nach einer aus dem Ruder gelaufenen Party war nichts dagegen.

Nicht kotzen, Rin. Nicht Jetzt!

"Seht sie euch an! So tapfer." Es war Zigfrieds Stimme. Ihn - davon war sie überzeugt - würde sie auch noch heraushören können, wenn sie längst im Koma läge.

Das ist nicht der passende Augenblick für schwarzen Humor, Rin

Mühselig lenkte sie ihren Blick auf den Mann mit den rosanen Haaren, dessen Mund sich einfach weiter bewegte, dass Rin nur noch schemenhaft das Gespräch mitverfolgen konnte "...an der Zeit aufzugeben." Meinte er etwa sie? "Es ist ganz einfach", säuselte Zigfried, "du musst nur die Hand auf das Deck legen und dich geschlagen geben. Danach wird alles besser, das verspreche ich dir. Du wirst keine Schmerzen mehr spüren. Dein Gehirn wird unbeschadet davonkommen. Es wird so sein als wäre nichts gewesen. Na, wie wäre das?" Rin antwortete nicht. Sie musste sich zusammennehmen. Ihr war so unfassbar übel, dass nicht viel fehlte und sie einfach nur zusammenbrechen würde. "Komm' schon", stachelte sie der Chef von Schroeder Corp. weiter an, "oder möchtest du darauf warten, dass Kaiba das Spiel von selbst abbricht?"

"So ein Schwachsinn", raunte sie. Rins Stimme war kratzig, als hätte sie sich bereits mehrfach übergeben. Ihre Augen formten sich zu Schlitzen. "Denkst du", entgegnete sie, "denkst du, ich weiß nicht, dass Kaiba dieses Duell niemals beenden würde?" Schweigen. Oder Rin war bereits so benebelt, dass die Stimmen nur noch wie ein Windhauch an ihr vorüber wehten. Ganz gleich, wie, für Rin tat es nichts zur Sache. "Ich werde", langsam - aber nur sehr langsam - fand sie zu sich selbst, wenigstens die Übelkeit schien überwunden. Ihre zittrige Hand bewegte sich auf das Deck zu. "Ich werde niemals aufgeben." Sie zog eine Karte. "Mein Zug." Sie blinzelte mehrmals, schärfte die Augen, bis das Spielfeld nicht mehr verschwommen auf sie wirkte. Der dritte weiße Drache mit eiskaltem Blick vervollständigte die Sammlung. Wie oft hatte sie sich während der Schulzeit gewünscht, so viel Glück zu besitzen?
 

Ich muss durchhalten. Zigfried von Schroeder hat noch 2250 Lebenspunkte. Hacharui sogar noch über dreitausend. Was ist das?!"

Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre zwei Spielmarken verschwunden waren. Und ihre Lebenspunkte? Sie sah auf die Anzeige, die seit der letzten Runde kein Stück nach unten gewandert war. Wie hatte sie das nicht sehen können?

"Rin?" Jemand riss sie aus ihren Gedanken.

Ich muss…das Duell…Kaiba

Sie sah zu ihrem Boss, dessen eiskalter Blick auf Rin ruhte. Die junge Frau wusste nicht wieso, aber seine Augen kamen ihr auf einmal so tiefgründig und weise vor.

Genau. Ich muss ihm meinen Plan mitteilen, bevor es zu spät ist.

Sie zückte eine Zauberkarte: "Ich spiele Austausch."

"Lass' mich raten", entgegnete Zigfried abschätzend, "du möchtest sicherlich eine ganz bestimmte Karte mit mir tauschen." Die Provokation, die er in die Stimme legte, führte Rin geradezu in Versuchung, das Gesagte in die Tat umzusetzen. Aber sie durfte nicht auf seine Sticheleien eingehen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.

"Die Karte", setzte Rin fort, nachdem sie einen tiefen Atemzug getan hatte, "erlaubt es mir, eine Karte mit einem anderen Spieler zu tauschen. Aber das heißt nicht", ein zweites Mal holte sie tief Luft, so als bräuchte sie jeden Atemzug, den sie kriegen konnte, "ich will nicht deine Karte… sondern seine." Als sie zu ihrem Firmenchef herüber sah, war für eine Millisekunde zu sehen, wie ihm sämtliche Gesichtszüge entglitten. Wenn sie seinen Ausdruck deuten sollte, war er wohl mehr als nur ein wenig verstimmt, dass sie ihn erwählt hatte. Auf der anderen Seite klatschte von Schroeder in die Hände. "Fabelhaft. Einfach nur fabelhaft. Yamamori ist schon so verwirrt, dass sie ihrem eigenen Boss die Karten klaut."

"Rin", knurrte Kaiba, dass nur sie ihn hören konnte. Seine Stimme ging wie ein Glockenschlag zu ihr durch. Langsam setzte sie sich in Bewegung. Sie wusste nicht, wie lange sie noch dazu in der Lage sein würde. Bereits jetzt spürte sie, wie ihre Beine ihr kaum gehorchen wollten, wie jeder Schritt Kraft kostete, nicht auf der Stelle zusammen zu klappen.

"Vertrau mir", murmelte die junge Frau, die nicht wusste, ob die Worte überhaupt ihren Mund verlassen hatten. Sie stand nun direkt neben Kaiba, drehte ihre Karten um und hoffte, er würde ihren Plan verstehen.

Bitte, zieh' keinen meiner Weißen. Bitte zieh' keinen meiner Weißen. Zieh' keine-

Kaiba musterte die Karten. Seine Augen weiteten sich. Dies geschah so schnell, dass nur Rin es bemerkte. Dann nahm er eine Karte aus ihrer Hand. Rin atmete erleichtert auf und zog eine von Kaibas Karten. Mit einem Nicken ging sie zurück an ihren Platz.

"Außerdem…spiele ich", für einen Moment hatte die junge Frau vergessen, was sie tun wollte. Innerlich gab sie sich eine Ohrfeige, ballte die Hände zur Faust, dass sich die Fingernägel in ihre Haut bohrten. "Elegante Wohltäterin", sie legte die Karte auf die Zauberkartenzone.

Du schaffst das Rin. Atme einfach ganz ruhig, dann geht das schon

"Wenn ich zwei Karten abwerfe, kann ich drei neue ziehen. Also", sie legte zwei Karten ab und zog. "Dann lege ich noch zwei Karten verdeckt und beende meinen… ah", ein weiterer Stromschlag bohrte sich durch ihren Schädel. Schützend fasste sie sich an den Kopf, versuchte dabei das Fiepen aus ihren Ohren zu bekommen. Mit jedem weiteren Schlag wuchs der Schmerz, wuchs die Panik. Zigfrieds Worte wiederholten sich wie ein Echo in ihrem Kopf.

"Komm' ihr nicht zu nahe", mischte sich von Schroeders Stimme unter das Fiepen. "Hast du vergessen, dass der Abstand mindestens anderthalb Meter betragen muss? Andernfalls werdet ihr wegen Betrugs disqualifiziert." Lachen ertönte. "Das willst du doch nicht, oder Kaiba?" Keine Reaktion. Aber das war Rin egal. Sie bekam kaum noch mit, wie Hacharui seine Karten spielte. Der Duellant verschmolz mit dem Licht, das sich vor seinem Gesicht aufgebaut hatte.

Wer von ihnen war noch mal Zigfried von Schroeder?

Sie rieb sich die Augen, die wie Feuer zu brennen begonnen hatten. Zwei Tränen wischte sie sich heraus. Niemand sollte denken, dass sie anfangen würde zu weinen.

"...greif'...an!" Das war nicht Zigrfrieds Stimme. Also konnte es nur Hiro Hacharui sein. Rin legte die Hand auf eine ihrer verdeckten Karten. Jetzt funktionierte sie nur noch, egal wie sie das gerade anstellte. "Mystische Lebensbarriere", sagte sie nur, denn zu mehr reichte es nicht. Die Falle schnappte trotzdem zu, beendete, was auch immer Hacharui begonnen hatte. Langsam ließ sie die Hände sinken. Das Brennen war noch da, nur nicht mehr so stark, dass sie dem Geschehen weiter zusehen konnte. Alles passierte zu schnell für die junge Frau, dass sie kaum den Wechsel zwischen Hacharui und Zigfried mitbekam. Immer öfter fusionierten die beiden zu einer Person.

"Egal, was du vorhattest, Kaiba", sagte Zigfried und wedelte mit einer Karte in seiner Hand herum, "dein Monster wird dir nichts mehr nützen. Minerva ist immer noch stärker als diese Blechbüchse da. Und da der Effekt meines Streitwagens auch auf dem Friedhof gilt..." Er zeigte mit dem Finger auf sein Monster und ging in den Angriff über.

"Nicht so voreilig", erwiderte Kaiba, "ich decke meine Fallenkarte Angriff annulieren aus. Damit ist die Battlephase sofort beendet."

"Nicht, wenn ich die hier spiele", widersprach Zigfrieds Partner und deckte ebenfalls eine Karte auf. Erneut wurde ihr Blick von diesem grellen Licht geblendet. Rin bekam wieder einmal nichts mit.

Kaiba hat noch eine verdeckte Karte. Ich darf nicht zulassen, dass er sie jetzt schon ausspielt

"Promineses, Abwehr!", rief sie lauter als sie glaubte, noch im Stande gewesen zu sein. Ein schwarzer von Flammen durchtränkter Drache warf sich vor Kaibas Maschinemonster. Ein Knall und der Drache hatte seinen kurzen Auftritt hinter sich.

"Wie ist das möglich?!" Zigfrieds Ärger klang zum ersten Mal an diesem Tag glaubwürdig. Seine hellblauen Augen sahen zu der jungen Frau, deren rechter Arm noch immer ausgestreckt war.

"Wachdrache Promineses besondere Fähigkeit", keuchte Rin, "sie erlaubt es mir, ihn aus dem Friedhof zu beschwören."

"Und wie?", rief Zigfried, "wann soll dieser Drache denn auf den Friedhof gelandet sein?"

"Hast du nicht aufgepasst?", nur zu gern hätte sie ihn angelächelt, doch ihr Kopf verpasste ihr eine Abfuhr. "Als ich mystische Lebensbarriere gespielt habe, musste ich eine Karte auf den Friedhof legen. Diese schien mir passend."

"Du-", Zigfried ballte die Hände zur Faust, "das ist sinnlose Zeitschinderei - nichts weiter." Zumindest hatte sie damit seinen Zug beendet. Mehr wollte Rin vorerst nicht.

"Wieso?", schallte es plötzlich durch ihre Ohren. Es war Hacharui. Seine Augen wanderten über Rins kränkliche Erscheinung, während sein eigenes Gesicht immer blasser wurde. Bevor sie in der Lage gewesenen wäre, ihm eine Antwort zu geben, hatte Kaiba die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er war nun wieder am Zug.

"Die Luft wird dünner, Kaiba", säuselte Zigfried mit hochfrequenter Stimme. Seine anfängliche gute Laune hatte er wiederfinden können. Er streckte Zeige- und Mittelfinger wie zum Zeichen des Friedens aus. "Nur noch zwei Züge, bis das Hirn der Kleinen nur noch Brei sein wird. Wie wird deine Firma bloß dastehen, wenn die Welt erfährt, dass du Yamamori für deinen Egoismus geopfert hast?" Er zeigte auf eine der unzähligen Kameras und lächelte. "Endlich erfährt die Welt, was du wirklich bist. Du bist geliefert!" Der Chef der Kaiba Corporation gab keinen Konter. Er war überraschend ruhig. Wenn Rin es nicht besser wüsste, könnte man meinen, er dachte über das Gesagte nach. Doch die junge Frau hielt es für wahrscheinlicher, dass er einfach nur mit Ignoranz antwortete, statt weiterhin auf Zigfrieds Provokationen einzugehen, die dem jungen Firmenchef doch bloß den letzten Nerv rauben sollten. Dafür war Seto Kaiba viel zu abgeklärt. Besonders in den letzten beiden Runden war er zu jener Professionalität zurückgekehrt, die ihn als CEO der Kaiba Corporation auszeichnete. Zwischen wackeligen Bildern (da Rin sich kaum mehr aufrecht halten konnte) sah sie seinen stoischen Blick, der ganz auf seine Karten fokussiert war. Er hielt die Gezogene vor seinen Augen. "Wenn du dann endlich fertig mit rumlabern bist", sagte er und legte gleichzeitig die Karte aufs Feld, "ich aktiveren diese Karte: Riryoku."

"Und?", erwiderte Zigfried, der anscheinend wirklich nicht wusste, wozu diese Zauberkarte in der Lage war. Dafür blieb er viel zu gelassen.

"Du scheinst dich nicht sehr gut auszukennen. Mit dieser Karte werde ich dein Monster ein für allemal vernichten." Das Letzte Wort kam als Knurren. "Riryoku lässt mich ein Monster auf dem Spielfeld wählen, dessen Angriffspunkte um die Hälfte abgezogen werden. Die Punkte, die dein Monster verloren hat, gehen dann auf das Konto meiner X-Kopfkanone." Mit aufgerissenen Augen starrte Zigfried auf Minerva, deren Atk auf 1600 herunter gefallen war. Kaibas Monster hingegen machte sich für den Angriff bereit. Die Kanone zielte genau auf die gegnerische Seite. Eine Kugel traf Zigfrieds Monster. Knall und Explosionen rissen Minerva in tausend Einzelteile. "Und wieder einmal beschützen mich die starken Gemäuer meiner Feldzauberkarte."

"Du meinst, solange du Monster auf deiner Seite hast", entgegnete Seto trocken.

Stimmt. Zigfried…er hat keine Monster, die ihn beschützen können…das wäre…meine Chance.

Rin sah zu ihrem eigenen Monster. Die starke Königin schien nur auf einen Befehl Seitens ihrer Besitzerin zu warten. "Ruin", sie musste diese Chance einfach nutzen. Sie hatte keine Zeit um nachzudenken. Zudem verdrängten ihre Kopfschmerzen sämtliche Bedenken. "Greif' Zigfrieds Lebenspunkte direkt an! Klinge der Apokalypse!" Die Königin hob ihren Stab. Mit einem Sprung näherte sie sich Zigfried, der sich nicht vom Fleck bewegte.

"Vergiss' es", rief neben ihm Hiro Hacharui. Seine Hand zitterte, während er seine Falle aktivierte. Rin erstarrte als sie die Karte erkannte - Dimensionsmauer. "Nein!"

"Oh doch", Hacharuis Stimme ließ Zigfried schmunzeln, "sämtlicher Schaden wird auf dich zurückgeworfen." Mit voller Wucht prallte der Angriff zurück. Eine unsichtbare Kraft drückte sich auf ihren Brustkorb. Sie öffnete den Mund, ohne einen Laut von sich zu geben. Um sie herum breitete sich Nebel aus. Allmählich wünschte sie sich, dass es einfach nur aufhörte - die Schmerzen, das Stimmengewirr, einfach alles.

"Ich…", Rin konnte sich kaum mehr sammeln.

"Bitte", jemand redete ihr dazwischen. Hacharui. Der Blonde sah zu Rin, die seinen Blick kaum mehr erwidern konnte, "das muss aufhören", seine Stimme war gebrochen, "das kann es doch nicht wert sein! Du musst dieses Duell beenden! Bevor es zu spät ist-"

"Hör auf zu heulen", Rin fasste sich an die Stirn, "du hast überhaupt kein Recht dazu. Schließlich wusstest du, worauf du dich eingelassen hast, als du dich mit dem da zusammengetan hast. Oder hattest du ernsthaft geglaubt, ich würde vor euch auf die Knie gehen? Im Gegensatz zu dir, weiß ich sehr wohl, was ich hier tue. Also reiß' dich zusammen und beende dieses Duell wie ein Mann…und nicht wie der Schlappschwanz für den er dich hält…inklusive mir." Perplex starrte er sie an. Er biss sich auf die Lippen, das Gesicht feuerrot. "Wenn du es nicht anders haben willst", seine Stimme dominierte den Saal, "es wird euch noch leid tun, mich unterschätzt zu haben. Mein Zug! Ich opfere meine beiden Monster", er zeigte auf die schwache Verteidigung vor sich, "um meine stärkste Bestie aufs Feld zu rufen. Zeige dich, reptilianische Vaskii!" Aus dem Boden kroch eine Göttin mit vier Armen, und Beinen, die zweier Schlangen glichen. Jede ihrer vier Hände bewegte sich hypnotisch vor ihrem Gesicht. "Als erstes", Hacharuis Stimme zitterte, wie die Hand, die er ausgestreckt hatte, "aktiviere ich ihre besondere Fähigkeit. Reptilianische Vaskii zerstört einmal pro Spielzug ein beliebiges Monster. Und ich wähle", er zeigte auf Kaibas X-Kopfkanone. Sofort löste sich diese in Luft auf.

"Halte dich an den Plan, Hacharui", sprach Zigfried ganz ruhig zu seinem Partner.

"Natürlich", nickte Angesprochener, "Reptilianische Vaskii! Greif' Yamamoris Monster an!" Die Hände ausgestreckt entsandte sie mehrere kleine Lichtkugeln. Direkt auf Ruin, die genau um dreihundert Punkte schwächer war als ihre Gegnerin. Stumm löste sie sich in einer nebelartigen Staubwolke auf.

"Aber?!", Hacharui ging einen Schritt zurück, "deine Lebenspunkte, wieso…?!"

"Weißt du denn nicht", entgegnete Rin, "dass…dass Ruin…eine Fee…und Zuflucht im Himmel...sie alle beschützt?" Sowohl Hacharui als auch sein Nachbar sahen ungläubig zu ihr herüber. Doch Rin konnte es nicht mehr sehen. Der Raum begann sich zu drehen. Sie sah doppelt. Noch dazu die dumpfen Laute der anderen, dass sie keinen richtigen Satz verstehen konnte. Die junge Frau merkte nicht, wie ihr Oberkörper immer wieder nach vorne kippte. Leise stöhnte sie. Ihr Kopf hatte aufgehört zu schmerzen. An seiner Stelle wurde alles taub.

"Die letzte Runde", rief Zigfried, "wie mir scheint setzen allmählich ihre kognitiven Fähigkeiten aus. Ihr müsste bereits das Denken unheimlich schwer fallen. Wenn diese Runde beendet ist, wird ihr Gehirn auf ein Minimun heruntergefahren. Sozusagen in einen Standby-Modus. Nur mit Mühe wird sie unserer Unterhaltung folgen…vielleicht hat sie auch schon aufgegeben-"

"Nie-niemals." Sogar Rin spürte, wie die letzten Reserven ausgeschöpft wurden. Dieses eine letzte Aufbäumen. Denn noch war sie nicht am Ende.

"Sieh' doch nur, wohin dich dein Boss getrieben hat", Zigfried zeigte auf Seto Kaiba, dessen Blick sie längst nicht mehr erkennen konnte.

"Du Mistkerl", flüsterte sie. Dann fand sie ihre Stimme wieder: "Denkst du, ich habe vergessen, wer mir dieses Virus angehängt hat?!" Sie machte eine Pause. Weniger aus Theatralik, denn als notwendiges Übel, um ihre Gedanken zu ordnen. Mit allem Hass den sie noch aufbringen konnte, blickte sie in die Richtung, in der sie Zigfrieds Visage vermutete. "Darum werde ich nicht zulassen, dass du dieses Duell gewinnst." Keuchend machte sie ihren letzten Zug. "Ich spiele Topf der Gier." Sie zog zwei Karten, versuchte die Augen nicht zu lange auf einen Punkt zu behalten. Das machte sie irgendwie schläfrig. "Wenn ich dieses Monster auf den Friedhof lege", Kindmodo-Drache verschwand aus ihrer Hand, "darf ich ein Drachemonster beschwören", eine grüne Lichtkugel besetzte das Feld. Daraus entsprang ein Drache. Laut kreischend verkündete er sein Erscheinen.

"Damit willst du mich besiegen?", höhnte der Chef von Schroeder Corp. "Etwa keine weißen Nachtdrachen zur Hand?"

Wusste ich's doch. Darauf…darauf wollte…wollte

"Nein", riss sich die junge Frau zusammen, "Nicht dich. Aber ihn."

Hacharui formte die Augen zu winzig kleinen Schlitzen, bevor er aufgeregt zu lachen begann. "Dein Monster hat nur 2000Atk, während meine reptilianische Vaskii 2600 hat."

"Dann schau' noch mal genauer hin." Mit einem Satz sprangen die Angriffspunkte ihres Drachen auf viertausend. "Wachdrache Andrake: sobald er von der Hand beschworen wurde, verdoppeln sich seine Angriffspunkte."

"Unmöglich!"

"Aber ich bin noch nicht fertig."

Noch nicht…ich darf noch nicht…

"Außerdem spiele ich diese Karte: Doppelangriff."

"Nein-"

"Doch. Doppelangriff lässt Andrake zweimal angreifen. Dafür brauche ich nur ein stärkeres Monster auf den Friedhof legen." Sie versuchte den Arm zu heben. Nur ein kleines Stück. "Es ist vorbei: Wachdrache Andrake", erteilte sie ihrem Monster den Befehl, "greif' seine reptilianische Vaskii an. Mach' ich ihn endgültig fertig! Windpeitschenschlag!" Der Drache breitete seine Flügel auf. Dunkle Energie schleuderte erst auf Hacharuis Monster, dann auf ihn selbst zu. Die Kraft des Angriffs brachte ihn zum taumeln. Hacharui verlor das Gleichgewicht, schlug mit dem Rücken an die nächstgelegene Wand und ließ sich dort im Schneidersitz nieder. Er legte die DuelDisc ab, nachdem keiner seiner Lebenspunkte übrig geblieben war.

Rin keuchte. "Ich bin noch nicht fertig." Obwohl alles in ihr danach schrie. Ihre Augen konnten kaum mehr die Informationen verarbeiten. Mit letzter Kraft sagte sie: "Ich…ich lege noch zwei Karten…ver-" Die Karten landeten auf ihrer Seite des Feldes.

"Rin?!"

Wer spricht zu mir?

Ihre Augen flatterten.

So…müde.

"Du darfst nicht die Augen schließen, hörst du." Die Stimme schien in weiter Ferne. Jemand befahl ihr, den rechten Arm zu heben. Sie wusste nicht, wieso, aber sie vertraute der Stimme. Dass es wichtig war, ihr zu vertrauen. Etwas berührte ihre Hand.

Das fühlt sich schön an. So warm.

Der letzte Gedanke, bevor sie schließlich die Dunkelheit packte.

"Rin?!"

Nur knapp landeten die Karten auf dem entsprechenden Feld, bevor Rin Yamamoris Hand an der DuelDisc entlang wischte, dabei knapp die beiden Verdeckten streifte, dass sie beinahe wieder heruntergefallen wären, um dann schlaff neben ihrem Körper neben her zu baumeln. Die Arena hielt den Atem an. Jedem Beteiligen wurde eines bewusst: Zigfried von Schroeder hatte nicht geblufft. Er würde dieses Spielchen bis zum bitteren Ende durchziehen. Der Letzte schien dies begriffen zu haben.

"Rin", Seto Kaiba war der einzige, der die Ruhe zu brechen wagte. Seine klare und feste Stimme hatte nur ein Ziel: "Du darfst nicht die Augen schließen, hörst du?" Er hörte ihre Atemzüge. Auf und ab bewegte sich der Brustkorb - mehr als Reflex, denn als natürliche Konsequenz, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen.

"Rin, kannst du den rechten Arm heben?"

Keine Antwort.

"Sieh' es ein", Zigfried musterte seine beiden Gegner und lächelte matt, "es hat keinen Sinn. Sie kann dich nicht mehr hören."

"Rin!"

Wieder nichts.

"Rin!!!"

Die junge Frau reagierte einfach nicht. Keuchte lediglich, dass Kaiba die Lippen zusammen presste.

Nein

Er würde es nicht so enden lassen. Es war noch nicht vorbei.

"RIN! HEB DEINEN ARM!"

Die junge Frau sagte nichts. Dafür zuckte die DuelDisc. Erst ein wenig, bis schließlich ihr Arm in seine Richtung zeigte. Ganz langsam, wie eine Maschine, die manuell angekurbelt wurde. Schnell, bevor sie wieder die Kräfte verließen, packte er ihre Hand. Rins Finger verhakten sich mit seinen. Ein seltsames Gefühl, befremdlich und neu, doch für Seto Kaiba war es die einzige Möglichkeit, dass Rin auf beiden Beinen stehen blieb. Er spürte, wie sein Arm das Gleichgewicht zwischen ihr und der Schwerkraft bildete, dass eine falsche Bewegung, sie zu Fall gebracht hätte. Ihr Körper war in eine Starre gefangen. Wie ein Roboter, der inmitten seiner Bewegungen ausgeschaltet worden war. So hatte Rin die Augen geöffnet - wenn sie auch auf den Boden gerichtet waren und völlig geistesabwesend ins Leere blickten. Nichts war von den stechenden Blicken, dem giftigen Grün ihrer Seelenspiegel übrig geblieben. Kraft- und machtlos war sie geworden, stand nur noch im Raum, ohne anwesend zu sein. Selbst Seto Kaiba schauderte es bei dem Gedanken. Nur ganz kurz, bevor er sich wieder auf das Eigentliche besinnte. Es brachte nichts, Panik zu schieben - wie ein paar Hampelmänner außerhalb der Tribüne, die mit ihrem Gestammel nur noch mehr Unruhe und noch mehr Hektik erzeugten. Dabei galt es jetzt, alle Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Auf diesen rosanen Möchtegernduellanten, der seelenruhig vor sich hin lächelte. Zigfried blickte zu dem Chef der Kaiba Corporation, als wäre das Spiel bereits entschieden. Auch wenn ihm Kaibas Einschreiten in letzter Sekunde (das keinen Verstoß gegen die Wettkampfverordnungen darstellte) sichtlich missfiel. Er hätte es wohl lieber gesehen, wenn Kaiba sie einfach fallen gelassen hätte. Amüsiert betrachtete er Kaibas Bemühungen, Rin festzuhalten. Sein Arm war wie der seiner Duellantin ausgestreckt, dass beide über anderthalb Metern Abstand trennten und lediglich Rins bevorzugte Spielseite als Linkshänderin ein Fortfahren überhaupt erst möglich machte. Die Enden der DuelDisc berührten sich, dass sie ein deformiertes X bildeten.

Der junge Firmenchef atmete tief durch, unterdrückte sämtliche Wut gegenüber dieses Mannes, der sich seiner eigenen Handlungen nicht mehr bewusst schien.

"Mann, Kaiba", rief Jonouchi aus der vordersten Reihe. Der Blonde hatte sich ganz nach vorne, direkt neben seinen jüngeren Bruder gestellt, der denselben geschockten Gesichtsausdruck hatte. "Sie braucht einen Arzt, verdammt! Du musst das Duell abbrechen."

Idiot. Hast du ihm nicht zugehört?

Er konnte die Technik nicht lahmlegen. Rin war mit ihr verbunden, von dem Zeitpunkt als dieses verrostete Ding von DuelDisc über ihren Arm gestreift worden war. Das virtuelle System auszuschalten, so als wollte man sämtliche Kabel aus einem laufenden Rechner herausziehen, konnte einen Systemabsturz zur Folge haben, der nicht nur die virtuellen Holos betraf. Wer weiß, was es mit Rin anstellte, wenn plötzlich alle Systeme stillgelegt würden. Geschweige denn, ob sich damit das Virus austricksen ließe. Schließlich war ein Virenprogramm nicht damit zu zerstören, in dem man das System einmal rauf- und runterfuhr. Und Zigfried hatte bereits selbst gesagt, dass das Virus bloß durch einen Sieg oder ein Aufgeben aus Rins Körper verschwinden würde. Kaibas Mund wurde zu einem einzigen geraden Strich. Es war zu riskant. Ein fremder Virus, noch dazu von einem verrückt gewordenen Egozentriker, durfte nicht unterschätzt werden. Zumal er bereits seine Informatiker auf das Problem angesetzt hatte, seit zu Beginn der Veranstaltung ein Fehler in der Software aufgetreten war. Solange keiner von ihnen das Signal gab, würde er gar nichts unternehmen. Sein Backup-system arbeitete in vollen Touren, jetzt galt es nur noch sich um das Virus zu kümmern. Aus dem Augenwinkel sah er zu der jungen Frau. Ihr Satz ließ ihn einfach nicht los…

Vergiss' es!

Kaiba musste sich jetzt ganz auf das Duell konzentrieren.

"Du wirst doch wohl nicht Mitleid bekommen, oder Kaiba?", Zigfried grinste ihn schief an, "das passt gar nicht zu dir. Aber vielleicht siehst du auch nur den guten Ruf deiner Firma schwinden. Da muss ich dir natürlich recht geben." Der Chef von Schroeder Corp. lachte auf, dass Seto klar wurde, dass dem Kerl nicht mehr zu helfen war.

"Seto", hörte er Mokubas flehende Stimme. Kaiba formte die Augen zu Schlitzen. "Hör' auf, Zeit zu schinden, Zigfried. Oder willst du unser Duell auf diese Weise beenden? Damit jeder sehen kann, dass du mich nur durch miese Tricks besiegen kannst - und nicht, weil du wirklich dazu in der Lage wärst. Erbärmlich."

"Von wegen. Du bist erledigt, Kaiba", fauchte Zigfried, dem das Lachen vergangen war, "ich gebe Yamamori noch maximal diese Runde. Danach kann sie ihren Geist nur noch in die Tonne kloppen." Er schüttelte den Kopf. "Mit nur einem Zug wird es dir nicht gelingen, mich zu besiegen. Sieh' doch nur mal hin, ich bin ganz klar im Vorteil. Das ist dein Ende."

"Du bist es, der erledigt ist", entgegnete Kaiba trocken, was seinen Gegenüber nur noch mehr anstachelte. Doch das interessierte den Chef der Kaiba Corporation nicht. Sein Fokus lag einzig auf den Karten.

Zigfried hat kein einziges Monster auf dem Feld…bis jetzt. Außerdem hat er eine verdeckte Karte. So wie er sich bisher duelliert hat, wird sie Zigfrieds Lebenspunkte nicht beschützen. Dafür hatte er schließlich Hacharui, diesen verblödeten Trottel.

Seit seiner Niederlage hatte sich Kaibas ehemaliger Duellant nicht von der Stelle bewegt. Er saß noch immer wie ein bedröppelter Pudel am Spielfeldrand, die Hände vors Gesicht geschlagen, um der Verantwortung aus dem Weg zu gehen. Um ihn würde sich Kaiba später kümmern. Sein Blick wanderte weiter über die Punkteanzeige.

Ich habe 1800 Lebenspunkte. Also mehr als genug um diesen aufgeblasenen Gockel fertig zu machen. Ganz egal, ob er 2250 oder 10.000 Lebenspunkte hat - ich werde ihn um jeden Preis schlagen.

Beide Männer fochten mit ihren Blicken einen stummen Kampf aus, der von Kaibas eiskalten Seelenspiegeln dominiert wurde.

"Mein Zug", verkündete Zigfried.
 

Es ging los. Der wahre Kampf hatte begonnen:
 

"Ich ziehe", er holte aus, streckte seinen Arm nach oben und betrachtete die Karte. "Auch eine weiße Rose wirft einen schwarzen Schatten, Kaiba", grinste der Chef von Schroeder Corp. und breitete die Arme aus. "Nichts wird mir mehr meinen Sieg nehmen. Pass' nur auf: Ich spiele Topf der Gier. Es ermöglicht mir, zwei weitere Karten zu ziehen." Dafür nahm er sich Zeit, zu viel Zeit für Kaiba, der sich darauf konzentrierte, seinen Arm weiterhin ausgestreckt zu lassen.

"Wundervoll", setzte Zigfried fort, "es wird Zeit, die Spielchen zu beenden und ernst zu machen." Seine Augen funkelten angriffslustig. "Denn ich habe sie: Walküre Sigrun", er wedelte mit der Monsterkarte vor seinem Gesicht, "wenn ich meinen Feldzauber abwerfe, darf ich Sigrun beschwören, ohne ein Opfer dafür zu nutzen. Also: hinfort Zuflucht des Himmels. Deine Dienste sind nicht länger von Nöten."

Endlich

Hinter Zigfried begann die altertümliche Festung einzureißen. Eine Staubwolke erinnerte an die einstige Kulturhochburg, an deren Stelle Walküre Sigrun das Feld betrat. Auf ihrem Schimmel erhob sich die Walküre. Ihre lilafarbene Rüstung reflektierte im Scheinwerferlicht. Sie hielt ihren Stab in die Höhe. Das Pferd schnaubte und bewegte sich auf der Stelle, nur um jeden Augenblick los zu galoppieren. Mit 2200 Angriffspunkten war sie ein Monster, das es locker mit Kaibas Lebenspunkten aufnehmen konnte.

"Und", Zigfried kam aus seinem Grinsen nicht mehr heraus, "kannst du dir schon denken, was gleich passiert?" Seine Stimme strotzte nur so vor Selbstgefälligkeit, dass Kaiba die Galle in den Hals kroch. Als Zigfried keine Antwort erwarten konnte, sprach er einfach weiter: "Wie mir scheint, muss ich dich über Sigruns zweite besondere Fähigkeit aufklären", er zuckte mit den Schultern, "sobald Sigrun auf dem Feld ist, kann ich eine weitere Walküre beschwören."

Kaiba weitete die Augen.

Doch nicht-

"Freu dich auf ein Wiedersehen", rief Zigfried, "denn wie es der Zufall so will, habe ich nicht irgendeine Walküre in meiner Hand", er legte ein zweites Monsters neben Sigrun, "erscheine, holde Kriegerin der Glorie. Erscheine, Walküre Brunhilde!" Kaiba glaubte, ein weiteres Dejavu zu erleben - und dass das letzte Mal gar nicht so weit zurücklag. Zwei der mächtigsten Walküren breiteten sich auf dem Spielfeld aus. Allen voran Brunhilde, die ihre Schwester anführte.

"Na, hast du sie vermisst?", höhnte dessen Besitzer.

"Ich vermisse es, endlich deine Visage nicht länger ertragen zu müssen", erwiderte Kaiba stoisch.

"Keine Sorge, es wird nicht mehr lange dauern. Aber lass' mich diesen Augenblick nur kurz auf mich wirken. Ich will schließlich meinen Sieg in vollen Zügen auskosten."

"In deinen Träumen vielleicht", Kaiba knirschte mit den Zähnen.

"Ein Traum, mag seint", süffelte sein Gegenüber, "aber dieser Traum wird endlich Wirklichkeit. Dein letztes Stündlein hat geschlagen. Seit du mich im Grand Championchip blamiert hast, habe ich nur auf diesen Moment hingearbeitet."

"Tut mir leid, dass ich dein einziger Lebensinhalt zu sein scheine." Kaiba schüttelte den Kopf. "Du hast sie doch nicht mehr alle. Mich gleich zweimal mit derselben Leier fertig machen zu wollen. Hat dir denn das erste Mal nicht gereicht?"

"Damals hattest du bloß Glück", Zigfried wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht, "hätte Yugi Muto meinen kleinen Bruder nicht besiegt, wäre dein Name schon längst aus den Köpfen der Menschen verbannt worden. Doch diesmal stehst du ganz alleine da", er deutete auf Rin, "die Kleine mag zwar meinen Partner geschlagen haben, aber ich hatte eh vor, diesen Schwächling loszuwerden. Immerhin ist das hier eine Angelegenheit zwischen dir und mir. Also Mann gegen Mann. Nicht wahr, Kaiba?" Der Chef der Kaiba Corporation schnaubte nur verächtlich. Zigfried fuhr fort: "Auch wenn ich zugeben muss, dass Yamamoris Treue dir gegenüber mir perfekt in die Karten spielt. Nur so kommt dein wahres Wesen ans Licht, das alle zu sehen bekommen sollen, damit am Ende nichts von dir und deiner Firma übrig bleiben. Wenn das geschehen ist - erst dann finde ich meinen Seelenfrieden." Er atmete tief ein, schloss kurz die Augen. Dann streckte er seine Hand aus, zeigte auf seinen Gegner. Nicht auf Kaiba, sondern auf Rin.

"Dieser Sieg soll ein absoluter sein", rief Zigfried aufgeregt, "und mit ihr mache ich den Anfang." Kaiba sah auf Rins Monsterzone. Ihr Wachdrache flog noch über dem Feld. Da eine neue Runde begonnen hatte, war Andrake sttatt der 4000 Angriffspunkte zurück auf seine 2000 geschrumpft.

"Walküre Brunhilde", erteilte er der ersten Walküre den Befehl zum Angriff.

Dieser-

"Greif' Wachdrache Andrake an!" Brunhilde stürmte mit ihrem Pferd nach vorne und zerteilte den Drachen mit ihrer Klinge. Dreihundert Lebenspunkte riss es von Rins Anzeige. Ein leichter Druck ging von ihrem Körper aus, den Kaiba mit seinem Griff abzufedern wusste. Nun stand Rin mit 900 Lebenspunkten ihrem Angreifer schutzlos gegenüber.

"Und jetzt", sagte Zigfried, "Walküre Sigrun: Greif' Yamamoris Lebenspunkte direkt an!" Die zweite Walküre ritt los.

"Yamamori kann sich von ihrem Hirn verabschieden", rief er entzückt, "sie…was?! Wie kann das sein?!" Seine Miene änderte sich schlagartig, als er ungläubig auf ihren Punktestand starrte. "Wieso hat sie keinen einzigen Lebenspunkt verloren?"

"Sieh' doch mal genauer hin", rief Seto Kaiba, der auf Rins Spielfeldseite deutete. "Während du bereits auf deinen Sieg angestoßen hast, habe ich diese nette Fallenkarte ausgespielt: sie nennt sich Klonen und erschlafft eine perfekte Kopie deiner Walküre. Ich musste nichts weiter tun, als sie in die Verteidigungsposition zu setzen. Und da deine Walküre mehr Verteidigungspunkte hat, verlierst du obendrein 400 Lebenspunkte."

"Das war ein Fehler, Kaiba", knurrte Zigfried, "hättest du Mal lieber deine Karten für dich behalten." Er fuchtelte mit dem rechten Arm. "Ich decke ebenfalls meine Karte auf: Streich der Zeitgöttin!"

Verdammt

"Wie ich deinem Gesicht entnehmen kann, weißt du was sie kann: Streich der Zeitgöttin erlaubt es mir, unmittelbar in die Battlephase meines nächsten Spielzuges zu gehen. Tja, Kaiba. Scheint so, als würdest du nicht mehr zu deinem Zug kommen. Wirklich schade für dich."

"Spar' dir den Mist", entgegnete Kaiba.

"Wie du willst. Meine Walküren werden dich so oder so vernichten. Und Sigrun macht den Anfang!"

"Das hättest du wohl gern", rief der junge Firmenchef und streckte seine freie Hand aus, "ich aktiviere eine weitere Fallenkarte: Schutz der Spionlinge!"

"Was soll das sein?"

"Schutz der Spionlinge lässt mich eines deiner Monster in die offene Verteidigungsposition setzen. Und ich wähle deine Walküre Sigrun."

"Na und", lachte Zigfried, "Brunhilde hat 2300 Angriffspunkte - also genau die Summe, die ich brauche, um deine Lebenspunkte auf Null zu bringen." Brunhilde stürmte los und schwang ihr Schwert.

"Irrtum", konterte Kaiba, "wenn du mich hättest ausreden lassen, wüsstet du, dass Schutz der Spionlinge noch eine weitere besondere Fähigkeit hat."

"Deine…", stotterte sein Gegenüber, "deine Lebenspunkte."

"Du hast es erfasst: der zweite Effekt meiner Fallenkarte lässt die Angriffspunkte deiner Walküre um 900 Punkte fallen. Tja, ich würde Mal sagen: Chance vertan."

"Du elender-", Zigfried brachte sich in Angriffsstellung, "es spielt sowieso keine Rolle mehr. Die nächste Runde ist meine. Ich beende meinen Zug." Er verbeugte sich. "Du bist dran, Kaiba." Angesprochener sah auf sein Deck.

Alles hängt von diesem Zug ab. Wenn ich nicht die richtige Karte ziehe…ganz ruhig, seit wann verlasse ich mich auf das Glück? Ich muss nur scharf nachdenken

Er sah herüber zu Rin.

Sie hat noch zwei verdeckte Karten. Möglich, dass sie sie in ihrem Zustand einfach wahllos gelegt hat…nein, Rin schien ganz genau zu wissen, was sie tat. Ich muss ihr wohl oder übel vertrauen…und mich an dieses Deck von damals erinnern.

Er hatte nicht viel Zeit zu überlegen.

"Ich ziehe", sagte er und nahm die oberste Karte vom Stapel. "Zigfried. Dein erster Fehler war es, mich zu einem Nullspiel herauszufordern", Kaiba sah von seiner Karte zu Zigfried, "dein zweiter, dich in mein System zu hacken. Und dein Dritter-", er legte eine Karte aufs Feld. "Ich spiele die Zauberkarte Kartenzerstörung. Wir legen unsere gesamte Hand ab und ziehen dieselbe Anzahl an Karten."

"Was willst du-?"

Doch Kaiba antwortete nicht. "Als nächstes", seine Stimme erhob sich, "verbanne ich ein Licht- und ein Finsternismonster aus meinem Friedhof, um ihn aufs Spielfeld zu holen - meinen Chaosimperator Drachen." Der Drache erschien auf dem Feld. Groß, mächtig, impulsiv. Genau wie einst.

"Was für eine Verschwendung", säuselte Zigfried, "dein Monster kann nichts-"

"Ich bin noch nicht fertig", redete Kaiba ihm dazwischen. Wenn er etwas hasste, dann in seinem Zug unterbrochen zu werden. "Diesmal kommst du mir nicht davon, Zigfried. Wenn du die Spielchen von damals spielen willst, werde ich mit Freuden mitspielen." Er riss die Augen auf. "Ich decke Rins linke verdeckte Karte auf."

"Das kannst du nicht-"

"Ich kann sehr wohl. Das ist ein Viererduell. Die Karten meines Partners sind auch meine Karten."

"Du weißt doch noch nicht einmal, was sie gespielt hat."

"Doch, das weiß ich", die Karte erschien auf dem Spielfeld. Ein riesiger Spiegel tauchte auf der Tribüne auf. "Die Zauberkarte: Spiegel des Drachen!"

"Diese Karte", rief Zigfried entsetzt, "sie kann den blauäugigen ultimaten Drachen beschwören. Aber das ist unmöglich! Dafür müssen alle blauäugigen weißen Drachen auf dem Friedhof liegen. Ich habe deine Weißen verbannt. Gleich zu Beginn des Duells."

Jetzt lächelte Kaiba. "Wer redet denn von meinen weißen Drachen?"

"Wa-?!"

Damit sind wir quitt, Rin

Auf der anderen DuelDisc begann der Friedhof aufzuleuchten.

"Voll krass", hörte er Jonouchi rufen, "sie hat-" Die Worte gingen unter dem Schrei dreier vereinter, weißer Drachen mit eiskaltem Blick unter. Das ultimative Fusionsmonster nahm die gesamte Bühne in Beschlag. Mit schwingenden Flügeln erhob er sich und schwebte direkt zwischen Kaiba und Rin. Die geballte Power der drei berühmtesten Drachen stand Zigfried von Schroeder gegenüber. Mit 4500 Atk war er das stärkste Monster auf dem Feld. Jeder, der schon einmal gegen ihn gekämpft hatte, wusste, dass wenn er einmal beschworen wurde, es kein entkommen vor ihm gab. Schon gar nicht, wenn man Seto Kaiba hieß, und mit diesen Drachen zur lebenden Legende geworden war.

"Genauso wolltest du es doch, oder Zigrfried?"

"Kaiba", Zigfrieds Lippen begannen zu beben, "und wenn dein Drache noch so stark ist, wirst du mich nicht besiegen."

"Das Spiel ist aus, Zigfried. Hast du es denn noch immer nicht verstanden?"

"Du bist derjenige, der es nicht verstanden hat, Kaiba. Oder-"

"Chaosimperator Drache", Kaiba zeigte auf dem Drachen, "greif' Walküre Sigrun an!"

"Mach' doch", schrie dessen Besitzer, "solange ich Brunhilde auf meiner Seite habe, kannst du keinen meiner Walküren etwas anhaben. Oder hast du ihre besondere Fähigkeit bereits vergessen? Walküre Brunhilde kann jeden deiner Angriffe mit dem Schild abwehren. Ich brauche ihr nur den Befehl zu erteilen-" Doch Kaiba ließ keinen Zweifel offen. Seine Augen machten keinen Rückzieher. Der finstere Drache griff an.

"Du Dummkopf", lachte Zigfried, "ich aktiviere Brunhildes Spezialeffekt. Brunhilde, wehr' seinen Angriff ab!" Ein riesiger Feuerstrahl feuerte aus dem Maul Maul des Monsters. Rauchschwaden bedeckten das gesamte Feld. Inmitten der Schwaden stach Seto Kaiba Lächeln hervor. Als der Nebel sich lichtete, erschien Zigfried von Schroeders langes Gesicht.

"Aber…Sigrun…sie", stammelte er. Als die letzten Schwaden verklungen waren, machten sie die Sicht auf Kaibas Spielfeldseite frei. Eine Fallenkarte schwebte über dem Boden.

"Du konntest es einfach nicht lassen", sagte Kaiba, "als du den Spezialeffekt deiner Walküre aktiviert hast, konnte ich diese Karte spielen: Feierlicher Schlag. Diese Falle macht Brunhildes Effekt ungültig. Dafür musste ich lediglich 1500 Lebenspunkte zahlen.."

"Nein", zischte sein Gegenüber, "du hattest nur noch 900 Lebenspunkte. Die Falle hätte gar nicht zuschnappen dürfen."

"Und schon wieder hast du nicht richtig hingesehen." Kaibas Punktestand war auf 1800 zurück geschnellt, bevor der Tribut von Feierlicher Schlag ihn zurück auf 300 Lebenspunkte beförderte. Zigfried ließ hektisch den Blick wandern. "Das kann nicht wahr sein?!" Er sah zu Rin, vor der die mystische Elfe ihr Gebet beendete.

"Bevor ich Feierlicher Schlag aktiviert habe, habe Rins zweite verdeckte Karte gespielt - Gabe der mystischen Elfe. Für jedes Monster auf unserer Spielfeldseite gab es 300 Lebenspunkte extra. Zwei Monster auf meiner und der Klon auf ihrer Seite machen 900 Lebenspunkte."

"Verflucht seist du, Seto Kaiba!"

"Ach ja, und bevor ich's vergesse", der junge Firmenchef nickte in Richtung Brunhilde", obendrein vernichtet Feierlicher Schlag dein Monster."

Der Chef von Schroeder Corp. riss die Augen auf. "Das darf nicht wahr sein", wimmerte er, zwei Schritte zurück taumelnd, "ich kann nicht verlieren. Das ist unmöglich."

"Zigfried", Kaiba schüttelte den Kopf, "ein Versager bleibt ein Versager. Egal was du unternimmst, du wirst mich niemals besiegen können." Seine Arme spannten sich an. Er spürte wie der Druck auf seine DuelDisc überging, wie sein Geist sich mit dem virtuellen System koppelte. Nicht wie bei einem Virusprogramm. Kaibas Gehirn, dass mit der virtuelle Technik verbunden war, reagierte auf die Reize, die sein Geist auslösten. Diese Reize verwandelten sich in Energie. Energie, die auf den blauäugigen ultimaten Drachen überging, dass dieser ein Leuchten umhüllte, das starke Ähnlichkeit mit Kaibas Duel Disc hatte.

"Dieser Angriff", rief der Chef der Kaiba Corporation, "wird dein letzter sein! Blauäugiger Ultradrache! Lass' diesen kleinen Wurm deinen gewaltigen Zorn zu spüren bekommen! Neutronenblitz!"

"Nein?", kreischte Zigfried. Die Weißen vereinten ihre Kräfte. Drei weiß-blaue Lichtkugeln schoben sich aus ihren Mäulern. Das Licht traf Zigfried, dass 4500 Atk auf ihn einschlugen. Mit voller Härte schleuderte die virtuelle Technik den Rosahaarigen vom Feld, dass er seitwärts zu Boden fiel. Mühsam rappelte er sich auf. "Wie konnte das passieren?", redete er zu sich selbst. Er starrte auf seine Hände. "Ich hatte doch alles genau berechnet. Mein Plan war perfekt. Wie konnte-" Das virtuelle System schaltete sich ab. Die Lichter gingen aus, die Monster verschwanden. Rin löste sich aus ihrer Starre. Die Augen verleiert verlor sie den Halt. Zwei Arme packten sich, bevor der Körper zu Boden fallen konnte. Seto Kaiba hob die junge Frau hob, streifte die DuelDisc von ihrem Arm und feuerte sie in Richtung der Zuschauerränge, dass sie von Jonouchi im letzten Moment abgefangen wurde. Dann drehte er sich zu Zigfried. Dieser hatte sich von seinen Händen gelöst - Verzweiflung spiegelte sich in dessen Seelenspiegeln wider, die Seto Kaiba völlig kalt ließen.

"Zigfried", raunte Kaiba, "wenn du ihr noch einmal zu nahe kommst, werde ich dir mehr als nur dein Gehirn wegpusten." Damit wandte er sich ab und sprang von der Tribüne.

"Seto, hier", rief Mokuba, der ein halbes dutzend Sanitäter inklusive Trage angeschleppt hatte. Vorsichtig legte er die junge Frau ab und lief zu den schwarz gekleideten Männern am Eingangsbereich. "Kümmert euch um die beiden."

"Ja, Master Kaiba", riefen sie ihm Chor und steuerten die Tribüne an. Mit zügigen Schritten entfernte sich Kaiba von der Masse, dass nur noch sein Mantel an der Tür aufblitzte.

Es war ein Vogel, der an eine Fensterscheibe klopfte, der sie wieder die Augen aufschlagen ließ. Ein wolkiger Himmel verdeckte die Sonne, dass nur schwach das Licht durch das Glas schimmerte. Rin rieb sich die Augen. Das hatte sie zuletzt als Kind getan, wenn sie ihre Mutter für die Vorschule geweckt hatte. Tief atmete sie ein. Sie fasste sich an den Kopf. Ihr Schädel fühlte sich an als wollte er jeden Augenblick wie ein zu stark aufgepumpter Luftballon platzen.

Wo bin ich?

Sie kannte dieses Bett nicht, ebensowenig diesen Tisch oder den Fernseher, der an der Wand hing.

Moment

Den Blick auf das Fenster gerichtet, ließ den kleinen Piepmatz von dannen ziehen. Der Ausblick war ihr fremd, und doch wusste sie ganz genau, wo sie war - im Domino Memorial Hospital. Jetzt erkannte sie auch das sterile Mobiliar, das verstellbare Bett mit der grau-weiß gestreiften Bettwäsche. Als Kind war sie einmal wegen einer Lungenentzündung hier gewesen. Damals hatte alles auf sie viel riesiger gewirkt - richtig unheimlich. In ihren Erinnerungen waren die Schwestern weniger freundlich und der Arzt ein richtiger Stinkstiefel gewesen. Dafür hatte sie sich ganz prima mit ihren beiden Bettnachbarinnen verstanden, von denen die eine ebenfalls ein großer Cyber-Punk-Fan gewesen war. In diesem Zimmer schien sie die einzige Patientin zu sein. Ihr Bett stand genau in der Mitte des Zimmers, dass sich zwei große Lücken zu beiden Seiten befanden. Auf der rechten Seite hatte sich ein schwarzes Knäuel direkt am Bettrand aufgebauscht. Leise Atemzüge drangen zu ihr durch. Rin lächelte - auch wenn ihr Kopf sie wieder daran erinnerte, dass sie möglichst keine Gesichtsmuskeln anstrengen sollte. Ihre beste Freundin zu sehen tat gut. Lumina musste sich einen der Stühle geschnappt und an Rins Bett gestellt haben. Während sie darauf gewartet haben musste, dass Rin aufwachte, musste die Schwarzhaarige wohl selbst eingenickt sein. Vorsichtig stupste sie ihren Lieblingswuschel an die Schulter. Die Mähne wackelte, bis sie ihren Kopf anhob und Luminas Gesicht zwischen einzelnen wirren Haarsträhnen hervorlugte. Erst gähnte sie laut, bevor sie sich Rins Blicke bewusst wurde und die Augen aufriss.

"Na", begrüßte Rin ihre Freundin.

"Was heißt denn hier, na?!", brüllte Lumina zurück und ballte die Hände zur Faust, "ich bin fast gestorben vor Angst und dir fällt nicht Besseres ein als >na<?!"

Rin biss sich auf die Lippen. Jedes von Luminas Worten war wie ein Schlag in ihre Gehörgänge. "Entschuldige, Lumina, ich-" Die Schwarzhaarige warf sich auf sie und zog sie in eine feste Umarmung. Die junge Frau schloss die Augen und legte die Arme um den kleinen Wuschel.

"Jag' mir nie wieder so einen Schrecken ein", murmelte Lumina in Rins zerwühlte, lange Haare.

"Mir geht's gut", antwortete Rin, weil sie nicht wusste, ob sie dieses Versprechen halten konnte. Wie vom Blitz getroffen erinnerte sie sich an das letzte Duell. Sie riss sich von Luminas Umarmung, legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie durchdringend an: "Haben wir gewonnen?!"

Lumina seufzte. "Du bist einem Leben mit Sabberlätzchen und Rollstuhl entkommen und fragst mich als erstes das?!"

"Bitte nicht so laut", knirschte Rin mit den Zähne, die sich daran zu erinnern versuchte, wann sie jemals einen Kater hatte, der schlimmer war als dieser Zustand.

Ihre beste Freundin grummelte etwas Unverständliches vor sich hin, bevor sie etwas leiser fortfuhr: "Na was wohl", Lumina sah zur Seite, "dieser arrogante Penner hat diesen Schroeder natürlich fertig gemacht."

Rin machte große Augen.

"Und ja", verleierte die Schwarzhaarige ihre eigenen "er hat deine Weißen gespielt. Die halbe Welt fragt sich, wie er deine beiden verdeckten Karten erraten konnte. Wenn du mich fragst, sind die alle doch nicht mehr ganz sauber in der Birne. Anstatt sie sich mal fragen, was das für 'ne kranke Show war, glauben die Leute lieber diesen Schwachsinn, den die Presse ihnen weisgemacht hat."

"Aber die Kameras haben doch das Duell aufgezeichnet. Damit es alle sehen sollten." Rin war sich ganz sicher. Lumina grinste. Ein Grinsen, das die junge Frau sofort als Zynismus erkannte.

"Oh und ob dieses Duell aufgezeichnet wurde. Überall. Sogar auf dem Kampus. Ich dachte erst, ich seh's nicht, als du neben Seto Kaiba gestanden hast - mitten in diesem Duellwahnsinn. Was hat dich nur dazu geritten, dich auf diesen Mist einzulassen?"

"Woher sollte ich denn wissen, dass Zigfried versuchen würde, mein Gehirn lahm zu legen?!", verteidigte sich Rin und verschränkte die Arme vor der Brust. Luminas lilane Seelenspiegel sahen sie durchdringend an. "Das meine ich nicht, Rin", ihre Augen bohrten sich durch Rins eigenen Blick, der noch etwas geschwächt war, "das, was du getan hast…du weißt, was ich meine."

Verdutzt sah die junge Frau zu ihrer Freundin. Matt lächelte sie - die Schmerzen ignorierend. "So ein Quatsch", winkte sie ab, "ich habe mich nur duelliert, nichts weiter. Das ist doch schließlich mein Job-"

"Nein", Luminas Stimme wurde harscher. Schnell fing sie sich wieder und setzte sich zurück auf den Stuhl. "Tu es nicht ab, als wär's eine Lapalie. Es war verdammt knapp. Du weißt, es hätte auch anders laufen können. Das ist es einfach nicht wert." Ihr letzter Satz erinnerte Rin an etwas.

Genau, Hacharui. Er hat so etwas ähnliches gesagt. Was wohl aus ihm geworden ist? Wenn meine Erinnerung mich nicht trübt, müsste ich ihn mit einem meiner Wachdrachen besiegt haben

"Weißt du, was mit Zigfried und seinem Partner passiert ist?" Aber Lumina zuckte nur mit den Schultern: "Wie gesagt, es wurde so abgetan, als wäre das Duell nur eine Show für Publicityzwecke gewesen." Lumina nahm ihre Zigarette vom Ohr und begann damit herum zu spielen. "Aber dieser von Schroeder wird sicher massig Kohle haben. So einer wie der wird nicht bestraft. Maximal wird dem auf die Finger geklopft. Wirst du sehen. In ein paar Wochen wird er seelenruhig durch die Gegend spazieren.

Naja, wohl nicht gerade durch die Gegend-

"Vermutlich hast du recht." Rin ließ den Blick schweifen. Ihr brannte eine Frage auf den Lippen. Sie krallte die Hände in die Decke. "Sag' mal", obwohl Lumina ihre beste Freundin war, zögerte die junge Frau. "Ist sonst noch etwas passiert, das ich wissen sollte?"

Ich kann sie nicht nach ihm fragen. Lumina würde mir den Kopf abreißen

Luminas Blick verfinsterte sich. "Nein", sagte sie mechanisch und hörte auf, die Zigarette um den Mittelfinger zu drehen. Bevor Rin weiter nachhaken konnte (so wirklich glaubte sie ihrer Freundin nämlich nicht), klopfte es an der Zimmertür. Eine blonde Frau mit weißer Haube stellte sich an die Tür. "Wie schön, Sie sind aufgewacht, Frau Yamamori", die Schwester lächelte, dass Rin nichts Falsches an ihrem Lächeln erkennen konnte. "Wie geht es Ihnen?"

"Ganz gut, danke", antwortete Rin und nickte, "ein wenig geschafft, aber seitdem ich wach geworden bin, ist es schon viel besser geworden."

"Das freut mich", die Krankenschwester kam auf sie zu. Sie maß ihren Puls, kontrollierte die Temperatur und nahm noch etwas Blut ab. "Ich werde dem Chefarzt Bescheid geben, dass sie endlich aufgewacht sind. Er wird sich sicherlich umgehend bei Ihnen melden." Mit diesen Worten tat sie eine tiefe Verbeugung und verließ das Zimmer - nur, um wenig später mit zwei Riesentabletts zu erscheinen, dass die beiden Frauen gleichzeitig den Mund aufrissen.

"Ist das hier ein Krankenhaus oder ein fünf Sterne Hotel?", Lumina sah der Krankenschwester hinterher, die beide Tabletts auf den ausziehbaren Beistelltisch stellte.

"Für unsere Patientin nur das Beste", entgegnete sie mit strahlendem Gesicht und verabschiedete sich.

"Wahnsinn!" Jetzt konnte auch Rin nicht in sich halten. Ihre Augen begannen bei all den Köstlichkeiten zu leuchten. "Yakitori, Tonkotsu Ramen, Sashimi, Omelette", ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Neben Rin hatte sich Lumina vorgebeugt und grinste breit. "Das willst du doch nicht alles alleine essen!"

"Bis wann soll ich denn essen? Bis Weihnachten?" Die junge Frau schüttelte den Kopf. So hatte sie einen Krankenhausaufenthalt nun wirklich nicht in Erinnerung.

Ich frag' mich, wen man alles dafür bestechen muss, um das hier zu bekommen…am Ende gehört Kaiba auch das Krankenhaus…nein, das wäre…obwohl-

Bevor Rin weiter darüber nachdenken konnte, hatte ihre beste Freundin den Tisch aufgeklappt, dass die Tabletts genau vor Rins Nase lagen. Der Duft verschiedenster Spezialitäten kroch ihr in die Nase, dass ihr kurzzeitig übel wurde. Vielleicht war es doch noch zu früh für Essen. So ganz schien sie sich doch noch nicht erholt zu haben, auch wenn sie das niemandem sagen wollte. Eigentlich schade um das Essen

Wenigstens langte die Schwarzhaarige zu. Ohne Rins Kocheinlagen, war Lumina in puncto Essen vollkommen aufgeschmissen - abgesehen von ein paar Tütensuppen, die sie noch aufzuwärmen wusste. Soweit sich Rin erinnerte, konnte ihre Cousine noch bescheidener kochen als die Schwarzhaarige selbst.

Still beobachtete sie ihren Lieblingswuschel dabei, wie sie die Stäbchen auftrennte und ihre Entscheidung - ob Reis oder doch die Ramen zuerst - abwägte. Nachdem sie von allem etwas probiert hatte, zerteilte sie auch die zweite Stäbchenpackung. "Du musst auch etwas essen", nuschelte Lumina, während eine Nudel in ihrem Mund verschwand, "oder soll ich dich etwa füttern?" Sie hob die Augenbrauen an, während Rin ihre zusammenzog, bevor beide zu grinsen begannen.

"Geht's?", fragte die Schwarzhaarige, nachdem Rin scharf die Luft eingezogen hatte und sich den Kopf halten musste. Mit zusammengekniffenen Augen nickte sie.

"Geht schon, ich darf nur nicht lachen."

"Das wird hart."

"Ich weiß." Langsam nahm sie einen Bissen von dem Fleisch.

Meine Mutter hätte es nicht besser hinbekommen können…apropos-

"Wer weiß eigentlich noch, dass ich im Krankenhaus bin?"

Lumina nahm eine Serviette zur Hand und entgegnete: "So ziemlich niemand. Das heißt, ich kann es dir nicht genau sagen. Als das Duell beendet war, habe ich sofort alle Krankenhäuser in Domino abgeklappert. Ich hab seitdem mit keinem gesprochen. Bei meinem Handy ist mir gestern auch der Akku flöten gegangen."

"Ich hoffe, meine Mutter kriegt davon nichts mit", auch Rin stellte ihre Stäbchen beiseite, "sie würde ausflippen."

"Verständlich", Lumina kümmerte sich derweil um das restliche Essen. Sorgfältig drapierte sie die Reste auf einen großen Teller und fuhr den Beistelltisch wieder ein. "Aber ich denke, du bist safe. Wenn sie von dem Duell gehört hat, dann wird sie dasselbe denken wie alle anderen."

"Ich hoffe es", murmelte Rin, die seit ihrem Streit am Telefon nichts mehr von ihr gehört hatte. Ihr Vater hatte recht. Sie musste sich bald bei ihr melden, bevor ihre Mutter auf die Idee käme, Rin mit einem Anstandsbesuch zu überraschen. Yukiko Yamamori hatte das Talent, zu den unpassendsten Zeitpunkten aufzutauchen. Wie vor anderthalb Jahren, als Lumina ein paar Freunde zu sich eingeladen hatte, und einer von ihnen in Rins Bett gefallen war, weil er im betrunkenen Zustand den Weg von der Toilette zurück ins Wohnzimmer nicht gefunden hatte. Natürlich hatte ihre Mutter einen Riesenaufstand gemacht, dass eine lange Rede über Moral und Sittlichkeit den Morgen zunichte gemacht hatte. Besonders Yukikos Ansichten über Luminas Freunde und deren schlechter Umgang für die junge Frau waren eine Leier, die sich Rin seit ihrer Teenagerzeit anzuhören hatte. Nach diesem Vorfall hatte ihre Mutter zumindest gelernt, anzuklopfen, bevor sie Rins Zimmer betrat.

Nein, sie musste verhindern, dass ihre Mutter einfach bei ihr hereinschneien würde, wenn sie es am wenigsten gebrauchen konnte. Gerade jetzt, wo sie sich auf andere Dinge konzentrieren musste. Zumal ihre Wohnung ein inoffizielles Sperrgebiet war und die Frage nach Rins Ausweichmöglichkeiten nur noch mehr unangenehme Gespräche zur Folge hätte.

"Es ist besser so", sagte Rin, mehr zu sich selbst, dass ihre beste Freundin nichts erwiderte - wenn es auch nicht die Chance dafür gab. Ein zaghaftes Klopfen ließ beide aufschrecken. Die Tür öffnete sich und ein weiterer schwarzer Wuschelkopf lugte hervor.

"Mokuba?!", rief Rin völlig überrascht. Den jüngeren der Kaiba Brüder hatte sie nun wirklich nicht erwartet.

"Stör' ich?", mit einem breiten Grinsen kratzte er sich an den Kopf.

"Nein, überhaupt nicht", entgegnete Rin und sah vorsichtig zu Lumina, die lediglich mit den Schultern zuckte.

"Weißt du", stammelte Mokuba, "ich bin nicht alleine hier, musst du wissen."

Rin wurde ganz mulmig.

Mach' dich doch nicht lächerlich!

Der Jüngere schob die Tür noch ein Stück weiter auf, dass sich drei weitere Gesichter hinter dem Schwarzhaarigen stellten. "Nachdem sie erfahren haben, dass ich zu dir will, haben sie darauf bestanden, mitzukommen."

"Makoto, Yamato…und Jonouchi, du auch?"

"Na klar", antwortete der Blonde und winkte, "weil ich dich ja quasi mit meiner DuelDisc dazu genötigt habe…irgendwie fühl' ich mich ein wenig verantwortlich und…da wollte ich mal nach dem Rechten sehen." Die Neuankömmlinge lächelten verlegen.

"Wir mussten uns doch vergewissern, dass es dir gut geht", sprach Makoto, die vor sich eine Kuchenglocke baumeln hatte, "wir waren ganz zufällig zur selben Zeit am Empfangstresen der Kaiba Corporation als uns Mokuba über den Weg lief."

"Wir wollten von dir persönlich hören, wie es dir geht", fuhr Yamato fort, "keiner wollte so richtig mit der Sprache rausrücken, was nun mit dir los ist."

"Schön, dass du wieder wach bist", sagte schließlich Mokuba, wenn er auch so leise sprach, dass Rin seine Worte von den Lippen ablesen musste.

"Ich freue mich, dass ihr alle da seid." Es war schön, sie alle zu sehen, wenn es sich auch neu für Rin anfühlte, so viele Menschen gleichzeitig um sich herum zu haben. Dass sie alle wegen ihr gekommen waren, sich um sie sorgten, damit wusste sie nicht so richtig umzugehen.

Sie winkte die kleine Gruppe in ihr Zimmer und fummelte an dem Beistelltisch herum. Schließlich kamen ihr Yamato und Jonouchi zur Hilfe, beschafften noch vier weitere Stühle, die sie um das Krankenbett verteilten. Makoto schnitt derweil den Kuchen an und erzählte von ihrem Schockmoment als im Café die Liveübertragungen losgegangen waren. "Weil du mich am Montag nicht besucht hast, wusste ich, dass da was nicht stimmt. Da konnten die Medien sonst was erzählen. Du hättest niemals freiwillig den Mousse-au-Chocolate-Montag verpasst." Sie fuchtelte energisch mit dem Messer, dass Yamato den Kopf einzog. Den Blick des Schwarzhaarigen wusste sie nicht so recht zu deuten. Er wirkte anders als sonst, nicht so offen und warmherzig - aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. Sie fühlte sich noch nicht ganz klar im Kopf, dass sie ihrem Gefühl nicht trauen wollte.

"Hier", Yamato hatte eine Tasche um die Schulter hängen, aus welcher er Rins Sachen heraus kramte. "Ich hoffe, das kommt jetzt nicht makaber rüber", er hielt ihr die DuelDisc hin, "aber ich hatte das Gefühl, dass du sie haben wollen würdest…und… naja, für die nächsten Duelle."

Rin riss die Augen auf. Bei den verrückten Spinnern am Sonntag hatte sie doch glatt die Endrunden vergessen! Mokuba schien ihren Blick gedeutet zu haben und entgegnete: "Keine Sorge, dein erstes Duell findet erst am Freitag statt."

"Und in welcher Gruppe bin ich?"

"Rot", antwortete Mokuba.

"Isch bin Blau", meldete sich Jonouchi zu Wort, der bereits das zweite Stück Torte herunter würgte. "Du weischt, wasch dasch heischt", er schluckte den letzten Brocken hinunter und zeigte mit der leeren Gabel auf sie, "wir müssen die Endrunden gewinnen, um gegeneinander antreten zu können. Und wehe, du vergeigst es."

"Schon verstanden", Rin beobachtete den Blonden, wie er bereits das dritte Stück ins Visier nahm. Makotos Verlobter hatte wohl einen neuen Fan dazu gewonnen.

"Wer sind dann meine Gegner?" In dem Moment kramte Mokuba einen Zettel aus der Hosentasche. Darauf waren sämtliche Gruppen mit den dazugehörigen Teilnehmern aufgelistet, sowie die Reihenfolge, in denen sie sich duellieren sollten. Daneben standen in sehr kleiner Schrift Datum, Uhrzeit und Schauplatz des Duells. Der junge Kaiba begann laut vorzulesen: "Du startest mit Vivian Wong."

Wong also. Der würde ich nur zu gerne zeigen, wie der Hase läuft.

"...als nächstes wäre dann Masato Kaeji." Also einer aus der Sponsorengruppe. Mit ihm würde sie schon irgendwie fertig werden. Seine Ungeheuer-Krieger-Taktik würde sie noch durchschauen. Mokuba machte eine kurze Pause. "Da wäre noch… Hii Yuta." Die junge Frau presste die Lippen zusammen. "Perfekt", flüsterte Rin, die nur darauf gewartet hatte, sich für ihr erstes Duell zu revanchieren.

"Das wird eine harte Nuss", murmelte Jonouchi, "Paradius' Spieler machen sich gerade erst warm." Seine Augen schweiften ab. Er schien mehr zu wissen, jedoch deutete sein Blick daraufhin, dass er nicht wirklich darüber reden wollte. Also schwieg Rin.

"Und der letzte Gegner", seufzte Mokuba, "wie soll ich es sagen…es ist Yoshi."

"Was?!" Auf der anderen Seite begannen Lumina und Jonouchi gleichzeitig zu prusten.

"Zwei von Kaibas Duellanten in einer Gruppe?!" Der Blonde schüttelte den Kopf. Ganz beiläufig ging seine Gabel über eines der letzten Kuchenstücke. "Ich kann mir sein Gesicht richtig vorstellen", grinste er wie ein Honigkuchenpferd, "er wird sowas von abgekackt haben." Auch Lumina unterdrückte sich einen Lacher.

Schön, dass ihr euren Spaß habt. War ja klar, dass er und Lumina auf denselben Nenner kommen. Ich sollte aufpassen, dass ich die beiden nicht zu oft zusammenstecke.

Rin versuchte ihre Gedanken telepathisch an ihre Freundin weiterzugeben, doch die erwiderte ihren Blick lediglich mit einem fetten Grinsen, bevor sie ihr eigenes Stück Kuchen in den Mund schob.

"Nein", sagte schließlich Mokuba, der entschuldigend zu Rin herüber blickte, "er war nicht wirklich begeistert. Schließlich senkt das die Chancen, dass es einer von euch in die finalen Spiele schafft…ich meine", er schüttelte seine Mähne, "ich hoffe natürlich, dass du es schaffst. Diesem aufgeblasenen Typen gönne ich diesen Triumph nicht."

"Keine Sorge", entgegnete Rin, "ich finde, es hätte nicht besser laufen können. Yoshi prahlt doch schon lange damit, dass er mich mit Leichtigkeit schlagen könnte. Ich will sehen, wie selbstbewusst er ist, wenn ich ihn in die Ecke gedrängt habe."

"Und da haben wir unsere Rin zurück", Lumina schüttelte lächelnd den Kopf - wenn ihr Lächeln auch etwas blass war.

"Das wird auf alle Fälle lustig", nickte Jonouchi und legte seinen Teller beiseite, "wenn es passt, werde ich mir das nicht entgehen lassen."

"Kannst du", entgegnete Mokuba, der seinen Zettel wieder eingesteckt hatte, "Die Duelle werden sich nicht überschneiden. Und Rins Spiel gegen Yoshi wird sogar das Abschlusssduell sein."

Na toll

Rin lehnte sich zurück. Das letzte Duell bedeutete immer die spektakulärste Show der gesamten Veranstaltung. Ein paar Mal hatte sie es im Fernsehen gesehen; wie das Publikum derart angestachelt wurde, dass sie während des Duells vollkommen verrückt spielten. Die Duellübertragung fände Weltweit zur selben Zeit statt - es war schon immer das Spiel mit den meisten Einschaltquoten. Am Ende würden alle drei Duellanten auf die Bühne treten, um sich dem feierwütigen Publikum zu stellen. Und ausgerechnet sie sollte sich an dem Tag mit Yoshi duellieren? Ihre Gedanken drifteten ab, dass sie den Gespräch der anderen nur schwer folgen konnte.

Ich hätte die Auswahl meiner Gegner nicht besser treffen können.

Endlich konnte sie es denjenigen zeigen, die ihr zuvor mit Spott und Überheblichkeit begegnet waren. Am liebsten hätte sie sich schon jetzt auf ihr Duell gegen Hii Yuta vorbereitet. Ihre DuelDisc mitsamt ihres Spielerdecks hatte sie ja jetzt wieder. Ein Stechen im vorderen Kopfbereich ermahnte sie, nichts zu überstürzen. Also versuchte sie sich lieber an den Gesprächen zu beteiligen. Die kleine Gruppe war wirklich eine lustige Mischung. Allen voran Jonouchis freundlich-verpeilte Art ließ ihn mit jedem sympathisieren, dass sogar Lumina ein paar offene Worte mit ihm wechselte. Zusammen mit Yamato, der sich in jedes Gespräch einbringen konnte und Makoto, die immer ein paar wärmende Worte parat hatte, waren sie genau die richtige Konstellation, die Rin nach einem Wochenende wie diesem gebrauchen konnte.
 

Nachdem alle zusammen gelacht und allerhand Zeugs erzählt hatten, dass so viel Normalität ausstrahlte, dass sich Rin wieder daran erinnerte, wie sich so etwas anfühlte, meldete sich die Krankenschwester, dass der Chefarzt in wenigen Minuten erscheinen würde. Daraufhin gab es ein lautes Durcheinander von Stühlen und klapperndem Geschirr, dass Rin sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

"Wir lassen dich jetzt besser alleine", Makoto gab ihr einen Schmatzer auf die Wange, "Kaito wird sicherlich schon auf mich warten. Ich hoffe, er war ohne mich nicht allzu überfordert." Die Braunhaarige kicherte.

"Dein Liebster wird das schon hinbekommen. Du weißt doch", entgegnete Rin, "montags bleibt es doch recht überschaubar."

"Montag?", blinzelte Makoto verdutzt.

"Äh, Rin?", tippte sie ihre beste Freundin von hinten an, "wir haben Mittwoch."

"Was?!", Rin riss die Decke vom Bett. "Ist das ein Scherz?! Wie lange soll ich denn geschlafen haben?"

Mokuba räusperte sich. "Fast drei Tage."

Die junge Frau starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere. Wie war das denn nur möglich?

"Und ich dachte", stammelte sie, "ich hätte nur-"

"Nur keine Panik", klopfte ihr Lumina auf die Schulter.

"Du hast gut reden", Rin beugte sich zu ihrem Smartphone herüber, "ich habe übermorgen ein Duell. Da kann ich hier doch nicht in aller Seelenruhe-" Die Versuche aus dem Bett zu springen, wurden von Yamato und Lumina verhindert, welche die junge Frau mit mehrmaligem Schieben und Zureden zurück aufs Bett beförderten.

"Du wartest erst einmal, was der Doktor sagt", Lumina wedelte belehrend mit dem Zeigefinger. Dann nahm sie ihr Feuerzeug aus der Hosentasche und zeigte damit auf Rin.

"Lumina hat recht", bestätigte Yamato und stemmte die Hände in die Hüften. Er sah sie streng an. Das hatte er noch nie. Rin seufzte. Es brachte nichts dagegen zu protestieren. Wenn sie jemanden davon überzeugen musste, dass sie wieder ganz die Alte war, dann den Chefarzt. Sie streckte wieder die Beine aus und legte das Handy neben ihr Kopfkissen ab.

"Braves Mädchen", Lumina streichelte ihr über den Schopf, weil sie ganz genau wusste, dass es Rin wahnsinnig machte, dann nahm sie die Jacke vom Stuhl und warf sie sich provisorisch über. "Ich muss leider auch los", sagte sie, "bis zu Sakura brauche ich 'ne knappe Stunde, und der Bus fährt bald nur noch alle vierzig Minuten."

"Heißt das, unser Haus wird immer noch belagert?"

"Seit dem Duell am Sonntag hat sich die Zahl der Pressehainis sogar verdoppelt."

"Die Presse belästigt euch?", schaltete sich Mokuba ein. Die beiden Frauen nickten. "Und wie lange schon?"

"Schon die ganze letzte Woche", entgegnete Rin.

"Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?!" Mokuba schüttelte seine Mähne. "Also echt! Ich werd's an Isono weiter leiten. Er wird sich umgehend darum kümmern. Bis heute Abend ist die Meute weg."

"Danke", Rin lächelte - wenn sie es ganz vorsichtig tat, schmerzte es auch nicht so sehr. Auch der junge Kaiba strahlte - nur kurz, bevor er etwas betreten zur Seite sah. "Könnte ich noch kurz mit dir reden?" Die anderen schienen den Wink verstanden zu haben und setzten ebenfalls zum Abschied an. Lumina war die Letzte, die sich von ihrer Freundin trennte. Langsam schloss sie die Tür. Nur noch Rin und Mokuba saßen im Raum.

"Alles in Ordnung?", fragte Rin, nachdem das Zimmer so still geworden war und Mokuba sich nicht durch zu ringen schien, das Gespräch zu beginnen. Überrascht sah er sie an. Er wirkte als wäre er in Gedanken gewesen und Rin diejenige, die ihn davon rausgerissen hatte.

"Mir geht's gut", entgegnete der Schwarzhaarige, "immerhin wurde ich nicht von diesem Spinner mit einem Cybervirus infiziert." Seine großen braunen Augen blickten trüb zu der jungen Frau.

"Ach, Mokuba", setzte Rin an und wurde augenblicklich von Mokuba unterbrochen.

"Das, was da am Sonntag passiert ist…es…es tut mir leid. Wirklich."

"Das ist doch nicht deine Schuld! Dieser Zigfried von Schroeder war es, der mir das angetan hat. Niemand sonst trifft die Schuld, am wenigsten dich."

"Trotzdem. Wir hätten vorsichtiger sein sollen. Irgendwie lag schon vorher etwas in der Luft…dass natürlich sowas passiert-" Der junge Kaiba brach mitten im Satz ab. Er legte die Hände auf den Schoß, knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen zusammen. "Das so ein kranker Mist auch immer nur bei uns passieren muss. Die letzten Male hatte es uns wenigstens selbst erwischt. Aber jetzt…das ist unverzeihlich!"

"Wovon redest du?", Rin traute sich fast nicht zu fragen. Geduldig wartete sie ab, bis Mokuba sich gesammelt hatte. Seine Augen aufgeschlagen fuhr er fort: "Zigfried von Schroeder hat schon einmal versucht, die Firma mit einem Virus zu zerstören. Vor fünf Jahren waren aber noch keine Menschenleben aufs Spiel gesetzt worden. Zigfried war noch einer der wenigen gewesen, die es nur auf Setos Firma allein abgesehen hatten. Damals ist… Vieles passiert, dass ich lieber vergessen hätte. Aber immer wieder kommen solche Typen wie Zigfried und machen alles kaputt. Ich glaube, wir werden nie ein normales Leben führen können."

"Dann", flüsterte Rin, die es allmählich begriffen hatte, "dann sind all diese schrägen Dinge, die in früheren Turnieren passiert sind, nicht bloß Show gewesen. Man hat es nur so verkauft…wie das Nullspiel am Sonntag."

"Genau", Mokuba nickte. Er öffnete die Augen. "Seto tut alles dafür, dass die Turniere keinen Schaden nehmen. Wenn die Menschen wüssten, wie krank DuelMonsters eigentlich sein kann, würde es Vielen das Herz brechen. Da geht es nicht nur darum, gute Verkaufszahlen zu schreiben - auch wenn das natürlich immer eine Rolle spielt. Aber in Wahrheit sollen doch die Kinder, die gespannt vor den Fernsehern sitzen, nicht mitbekommen, wie verschroben unsere Welt eigentlich ist. Sie sollen noch Träume haben und Spaß an der Sache…deshalb…. deshalb", er sah ihr fest in die Augen. "Deshalb musst du mir auch glauben, dass mein Bruder dich nicht geopfert hätte."

"Mokuba", Rins Stimme wurde kratzig.

"Bitte, Rin. Seto ist kein so schlechter Mensch."

"Mach dir keinen Kopf", sie bemühte sich um ein Lächeln, "das weiß ich doch. Also", schüttelte sie ihren anfänglichen Gedanken beiseite, "ich meine damit, dass er mich nicht einfach weiter an das System gekoppelt hätte, wenn es Ernst geworden wäre. Schon allein wegen der Firma. Darum ging es von Schroeder schließlich. Dass Kaiba mich fallen lässt und alle Welt dabei zusieht. Selbst dein Bruder hätte sich nicht rechtfertigen können, wenn ich einfach nicht mehr aufgewacht wäre."

"Das stimmt schon", Mokuba seufzte, "aber…"

"Mokuba", sie hatte sich soweit an die Seite geschoben, dass sie dem Jüngeren die Hand auf die Schulter legte, "es ist alles gut. Ich habe Kaiba vertraut." Sie nickte ihm aufmunternd zu, "sonst hätte ich ihm nie meine weißen Drachen mit eiskaltem Blick überlassen."

"Danke", nuschelte der Schwarzhaarige und lächelte nun ebenfalls. "Hast du…hast du denn etwas von dem Duell noch mitbekommen können?"

"Nachdem ich Hacharui besiegt hatte, nein. Ich kann mich an nichts erinnern." Von den Gefühlen, die sie danach hatte, wollte sie Mokuba nichts erzählen. Das hatte sich sicher nur ihr Hirn zusammen gesponnen. Darum würde sie jeden weiteren Gedanken darüber tief in sich verschließen.

Der Blick aus dem Apartment eines zwölfstöckigen Hochhauses war für Seto Kaiba nichts Spektakuläres mehr, trotzdem richteten sich seine eiskalten Seelenspiegel auf das Panoramafenster. Die Beine übereinandergeschlagen, einen Drink zu seiner Linken, dass er den Ellenbogen in die Sofalehne drückte, dachte er darüber nach, warum er eigentlich hierher gekommen war. Zwei schlanke Fesseln, die sich in sein Sichtfeld schoben, erinnerten den jungen Firmenchef daran.

Heute trug sie ein kurzes Spitzenkleid, das nur knapp ihr Hinterteil verdeckte, dass er ihn bei jeder ihrer Bewegungen aufblitzen sah. Dabei hätte sie nicht wissen können, dass er sie besuchen würde. Diesmal war er einfach so mit dem Auto unterwegs gewesen und irgendwann, weil es ihm nach einer Weile zu dumm wurde, sinnlos durch die Gegend zu fahren, war er hier gelandet. Warum nicht, hatte er sich gedacht. Es war schon eine Weile her, dass er Mina einen Besuch abgestattet hatte, und er konnte jetzt etwas Ablenkung gebrauchen. Die letzten Male hatte es auch ganz gut funktioniert, dass er von seinem Arbeitsstress herunterkommen war. Nur heute wollte es ihm nicht so wirklich gelingen. Dabei hatte er schon sein zweites Glas Whisky herunter gespült - wo er sonst nie Alkohol brauchte.
 

Wie eine Katze pirschte sich die Blondhaarige an ihn heran. Sie lächelte verwegen, dass ihr Lächeln von ihren kirschroten Lippen unterstrichen wurde.

"Ich hätte nie gedacht, dass du so ein spontaner Typ bist." Das war er auch nicht, und das wurde ihm immer schmerzlicher bewusst.

"Muss wohl ein anstrengender Tag gewesen sein." Es war immer ein anstrengender Tag. Auf das Offensichtliche brauchte er nicht zu antworten. Mina schien sich an seinem Schweigen nicht zu stören. "Es freut mich, dass ich diejenige sein kann, die dich auf andere Gedanken bringen darf." Warum musste diese Frau auch immerzu reden?! Es zerstörte das Bild, das ihr perfektes Aussehen zusammen mit ihrem perfekten Körper erschufen. Sie hatte langes blondes Haar, das sich zu großen Wellen über ihre Schultern ergoss, offene blaue Augen, die mit Schmetterlingshaften Wimpern versehen waren und eine Figur, für die sie mit der Liebesgöttin Venus verglichen werden könnte. Eben ein Unterwäschemodel durch und durch.

Mina war Anfang des Jahres durchgestartet. Laufstege und Modeketten rissen sich um die Nachwuchsschönheit, dass sie bereits in vielen Werbespots und -plakaten zu sehen gewesen war. Da war es nur verständlich, dass ein so begehrtes Model wie sie auf Veranstaltungen herum wandelte, die auch Seto Kaiba ab und an zu besuchen hatte. Einige Male im Jahr ließ sich der Chef der Kaiba Corporation zu Charity- und Bankettveranstaltungen herab, die seine Stellung nun einmal von ihm verlangte, und zudem eine der schnellsten und einfachsten Methoden für ihn war, Frauen kennen zu lernen.

Ihre Erscheinung war damals selbst dem mächtigen CEO nicht entgangen, dass er es nicht abgelehnt hatte, als die blonde Schönheit versucht hatte, ihn um den Finger zu wickeln. Seitdem trafen sie sich hin und wieder in Minas Apartment oder auf Hotelzimmern, nach diversen Veranstaltungen. Hauptsächlich, wenn Kaiba in Stimmung war. Dies wurde immer weniger der Fall, da der junge Firmenchef schnell das Interesse verlor - selbst bei so heißen Blondinen wie Mina. Immer wieder zeigte sich, dass Frauen wie sie nur oberflächliche Reize besaßen, die sich mit der Zeit jedoch abnutzten, dass am Ende nichts mehr übrig blieb, das ihn irgendwie noch spannend erscheinen könnte. Mina war anstrengend, redete nur unwichtiges Zeug und hatte kein ausgeprägtes empathisches Empfinden, dass sie nie merkte, wie sie dem jungen Firmenchef mit ihrem Gequatsche den letzten Nerv raubte. Im Bett waren ihre Talente auch nur mittelmäßig. Nicht zum ersten Mal war Seto Kaiba aufgefallen, dass so attraktive Frauen eher prüde und langweilig waren, nicht fähig, mehr als nur die üblichen, tristen Abläufe zu beherrschen. Noch einer der Gründe, weshalb er sich schnell ihrer entledigte, auch wenn die meisten der Frauen sich mehr erhofften als nur eine lockere Affäre zu bleiben. Schließlich war er Seto Kaiba, der so viel Geld und Macht besaß, dass es sich schon einmal lohnte, um seine Aufmerksamkeit zu buhlen und so vielleicht einen festen Platz in der feinen Gesellschaft zu ergattern. Dabei machte der junge Firmenchef nie ein Geheimnis daraus, dass er für mehr einfach nicht zu haben war.
 

Kaiba ließ den Blick wandern, versuchte sich auf ihren Körper zu konzentrieren, dabei möglichst die Stimme auszuschalten, bei der er am liebsten die Augen verleiern wollte. Mina war nun direkt vor ihm. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, während sie sich zu ihm hinunter beugte. Sie roch nach Blütenshampoo und einem rauchig süßem Parfüm. Ihr Mund legte sich auf seinen. Wenn der Anblick etwas Reizvolles hatte, konnte er den Geschmack von Lippenstift überhaupt nicht ausstehen. Irgendwie störte es ihn beim Küssen. Dabei hatte sie von Natur aus dunkle, volle Lippen, die sich weich und sinnlich anfühlten. Ihre Zunge schob sich dazwischen und Kaiba ließ sie ihren gewohnten Tanz vollführen. Dabei lächelte Mina - das konnte er sehen, weil er im Gegensatz zu ihr die Augen geöffnet hatte. So konnte er sein Augenmerk auf diese Hammer Figur lenken, die vollen Brüste, die aus ihrem Ausschnitt fast heraus zu springen drohten. Etwas billig für seinen Geschmack, aber sie waren unter sich, dass er dämlich wäre, sich daran zu stören. Es ließ ihn zumindest fokussiert bleiben.

Langsam wanderte eine Hand seinen Oberkörper hinab. Sie ertastete seine Muskeln, zog Kreise als wollte sie ihm Zeichen auf die Brust malen. Ihre Bemühungen ließen ihn kalt - trotz ihrer warmen Hände, die selbst durch seinen Rollkragenpullover spürbar waren. Er wusste, wie sich ihre Finger anfühlten, kannte die Bewegungsabläufe, die Festigkeit mit der sie zupacken konnte. Gerade weil er es wusste, hatte es jeglichen Reiz verloren, und das störte ihn ungemein. Es war geradezu frustrierend, wie gefühllos sein Körper auf ihre Liebkosungen reagierte. Ebenso auf ihre Lippen, denen er kaum etwas abgewinnen konnte.

Scheiße

Als ihre Hand die Gürtelschnalle erreicht hatte, packte er ihr Handgelenk. Mina öffnete die Augen, blinzelte, weil sie nichts verstand und richtete sich auf.

"Ich bin nicht in Stimmung", raunte er und schob sie von sich. Wenn er keinen Sex mit ihr hatte, wollte er auch nicht ihre Nähe haben. Er konnte niemandes Nähe leiden - abgesehen von Mokubas. Sie warf ihre Haare nach hinten. An ihrem Gesicht war abzulesen, dass sie noch nie abgeblitzt worden war.

"Du kannst nicht abschalten, oder?" Jetzt schwang schon fast etwas wie Mitleid in ihrer Stimme mit. Davon wurde Kaiba nur noch genervter.

"So viel wie du um die Ohren hast", sagte sie, dass es fast wie ein Stöhnen klang (vielleicht versuchte sie ihn damit in Stimmung zu bringen), "da ist es kein Wunder, wenn du zu verkopft bist."
 

Der junge Firmenchef konnte sich nicht erinnern, wann er jemals zu verkopft gewesen wäre. Die Hände in das Lenkrad gekrallt steuerte er missmutig die Kaiba Villa an.

Ja, er war ein Workaholic, der kaum an etwas anderes als an seine Firma denken konnte. Und trotzdem: Er hatte bisher nie Probleme gehabt, abzuschalten. In der Hinsicht war er doch nur ein Mann, der auf die oberflächlichsten Reize ansprang. Es gelang ihm sogar recht gut, sich von dem Arbeitsstress ablenken lassen, wenn ihm auch nicht ständig nach Ablenkungen dieser Art gelüstete. Umso frustrierender war die Tatsache, dass er jetzt damit anfangen musste, verkrampft zu werden. Er trat aufs Gaspedal, nachdem er dem Zentrum Domino Citys den Rücken gekehrt hatte. Die Straße war frei, es war weit nach Mitternacht und kaum jemand nutzte die Strecke, wenn er nicht gerade direkt neben der Familie Kaiba hauste.

Warum konnte er einfach nicht seinen Kopf frei bekommen? Letzte Woche war es ihm doch auch nicht schwer gefallen, sich mit einer Frau einzulassen. Noch dazu mit seiner Duellantin, inmitten des Kernstücks seiner Arbeit. Da war er auch nicht verkrampft oder gar verkopft gewesen. Eher im Gegenteil: in seinen Erinnerungen war es sogar recht einfach gewesen, ihre Lippen auf seinen hatten genügt, dass er sofort einen Steifen bekommen hatte. Sie hatte auch weiche Lippen, die seine Küsse ebenso gierig erwidert hatten. Wenn er daran dachte, wie sie ihre langen Beine um seine Hüften geschlungen hatte und dann noch so zügellos in sein Ohr gestöhnt-

Na klasse

Nein, es lag definitiv nicht daran, dass er zu verkopft wäre. Kaiba machte ein paar tiefe Atemzüge, verdrängte die Bilder aus seinem Kopf und wählte auf dem Display der Mittelkonsole die Nummer seines engsten Untergebenen.

"Isono", sprach er. Dabei klang der junge Firmenchef wieder so kühl und abgeklärt wie eh. "Gibt es schon was Neues?"

"Master Kaiba", kam es aus der Freisprechanlage, "unsere Informatiker arbeiten noch mit den Leuten von der IT zusammen. Bisher wurde kein Schaden in Ihrem System gefunden." Soweit war er bereits selbst gekommen. Sein Sicherheitsprogramm war dreimal durchgelaufen - ohne Ergebnis. Von Schroeders Virus war nicht in die Software durchgedrungen. Wie auch immer er es einschleusen konnte, es war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war. Die Frage, die ihn wirklich interessierte-

"Was ist mit dem Virus? Dieser aufgeblasene Wichtigtuer wird doch sicherlich einen Abdruck hinterlassen haben."

"Das Team arbeitet vierundzwanzig Stunden Nonstop daran, einen Hinweis zu finden."

Also nicht

Kaiba drosselte das Tempo.

"Es muss doch irgendeine Spur geben. Zigfried ist nicht der Typ, der einen so kurzlebigen Virus programmiert."

Nein, es muss noch mehr dahinter stecken.

"Eventuell", entgegnete sein Angestellter nach einer überzogenen Pause.

"Raus damit, Isono!"

"Nun, ich habe diese Information aus keiner verlässlichen Quelle, dass ich nicht für deren Richtigkeit bürgen kann. Aber es geht das Gerücht, dass Zigfried von Schroeder eine Kopie seines Virenprogramms an einen Dritten verkauft haben soll."

Der Chef der Kaiba Corporation kniff die Augen zusammen. "Wir wissen bereits, dass dieses Virus nur mit dem virtuellen System der Kaiba Corporation gekoppelt werden kann. Sprich: damit es aktiv wird, braucht es mein Programm. Was will ein Außenstehender mit einem Virus, das er nicht benutzen kann?" Er dachte darüber nach und seine Schlussfolgerungen gefielen ihm überhaupt nicht. "Möglich ist, dass derjenige, der eine Kopie von dem Virus besitzt, lediglich mit meinem Basisprogramm auskommt, um es für sich nutzen zu können.

Verdammt, wenn das wahr ist

"Isono", Kaiba fuhr an die Seite, "es kommen nur drei Leute in frage, die Zigfried dieses Virus abgekauft haben könnten." Sein paranoider Stiefbruder Noa Kaiba, dessen Realität nur noch im Cyberspace stattfand. Dann Pegasus J. Crawford, der schon einmal mit hilfe von Kaibas Technologie, die Toten zum Leben erwecken wollte. Ihm war zuzutrauen, dass er dieses verschrobene Projekt noch nicht ad Acta gelegt hatte. Und, nicht zu vergessen, der Firmeninhaber von Paradius Inc. - Dartz - dessen Ziele der junge Firmenchef noch nicht kannte. Alle drei waren potentielle Kandidaten, die ein Interesse an solch einem zerstörerischen Virus haben könnten und einen tiefen Groll gegen den Chef der Kaiba Corporation oder dessen Firma hegten - oder (wie in Pegasus' Fall) einfach nur zu viel Freizeit und Langeweile besaßen.

"Wir müssen herausfinden, wer von ihnen diese besagte Kopie besitzt. Wenn von Schroeder nicht selbst reden will…"

Der Chef von Schroeder Corp. war nach dessen Niederlage von der Bildfläche verschwunden. Es hatte eine Anhörung gegeben, doch Zigfried hatte seine Kontakte spielen lassen, dass seine Handlungen nicht strafrechtlich verfolgt würden, und Kaiba machte sich nicht die Mühe, einem solchen Versager noch weitere Aufmerksamkeiten zukommen zu lassen. Mit Pegasus J. Crawford's Strafe, nämlich einer lebenslänglichen Verbannung von der DuelMonsters Branche, hatte er diese rosane Schmalzlocke endgültig vom Feld gepustet. Es gab keine größere Schmach als von sämtlichen Duellen und Veranstaltungen ausgeschlossen zu werden. Damit war Zigfried erledigt. Dass er sich irgendwo ins Ausland abgesetzt hatte, war die beste Entscheidung, die er hätte fällen können. Er sollte nur nie auf die Idee kommen, zurückzukehren. Dann würde sich Seto Kaiba persönlich um ihn kümmern.

"Ich werde mich sofort an die Arbeit machen, Herr Kaiba", antwortete Isono.

Kaiba schaltete den Wagen aus. "Ein paar Leute vom Geheimdienst sind mir noch eine Gefälligkeit schuldig. Am besten, du kommst auf sie zurück, bevor sie vergessen, wem sie ihr technologisches Equipment zu verdanken haben."

"Selbstverständlich."

"Und eines noch", Kaiba sah auf das Display, als könnte er darauf etwas Wichtiges erkennen. Seine Muskeln spannten sich an. "Geht für morgen alles klar?" Kurzes Schweigen. Ein Rascheln ließ den jungen Firmenchef vermuten, dass Isono in seinen Papieren nachblätterte.

Wann steigt der Kerl endlich mal auf digital um

"Laut den Unterlagen soll Frau Yamamori morgen entlassen werden. Der Chefarzt hat für Donnerstag noch eine zweite Sonographie angesetzt. Nur zur Sicherheit. Die Untersuchungen waren laut Bericht unauffällig. Im Körper wurde kein Nachweis auf das Virus gefunden, sämtliche Gehirnregionen arbeiten ordnungsgemäß. Frau Yamamori zeigt lediglich Symptome einer leichten Gehirnerschütterung, aber laut der Ärzte sollte sie in ein zwei Tagen wieder fit zum Duellieren sein."

"Das sollte sie auch", raunte Seto Kaiba. Schließlich fand das nächste Spiel schon übermorgen statt. "Die Ärzte sollen sich morgen ranhalten", damit startete er den Motor, "sämtliche Maßnahmen, die nötig sind, um Yamamori duellfähig für Freitag zu machen, sollen umgehend ergriffen werden. Hast du mich verstanden?"

"Natürlich, Master Kaiba. Ich werde noch einmal mit dem Chefarzt reden."

"Noch heute Nacht. Erinnere ihn daran, wessen Gelder das Krankenhaus finanzieren und dass ich keine Verzögerungen dulde."

"Ich werde ihn sofort anrufen."

"Gut", damit legte der Chef der Kaiba Corporation auf. Er sah zurück auf die Straße, die nur noch schlecht beleuchtet war. Hier und da leuchtete eine Laterne den Weg, bis er das Villenviertel am Rande der Stadt erreicht hätte. Bis dahin hatte er Zeit, seinen Gemütszustand herunter zu fahren. Mokuba würde ihm sonst wieder was erzählen, wenn er am einzigen Tag der Woche mies gelaunt Heim kehrte. Doch sobald er seine Gedanken zu sammeln versuchte, drängte sich ihm ein Satz immer wieder aufs Neue auf.

"Denkst du, ich weiß nicht, dass Kaiba dieses Duell niemals beenden würde?"

Seitdem die Worte ausgesprochen waren, bekam er sie nicht mehr aus seinem Kopf. Es machte ihn sauer. Dachte sie wirklich, er hätte bis zum Schluss einfach nur zugesehen? Dass es ihm egal gewesen wäre, wenn sie Hirntod gemacht worden wäre? Seine Hände hatten das Lenkrad so fest im Griff, dass das Weiß seiner Knöchel heraustrat. Am meisten ärgerte es ihn, dass sie in allen anderen Situationen vielleicht sogar recht gehabt hätte. Ihm war schon immer herzlich egal gewesen, was mit anderen passierte. Sie waren für ihr Schicksal selbst verantwortlich, da mischte er sich nicht in andere Belange. Er hatte gelernt, dass man sich auf niemanden verlassen und nur auf sich selbst fokussiert sein sollte. Genauso handhabte es Seto Kaiba schon seit vielen Jahren und bisher hatte es ihn immer dorthin gebracht, wohin er wollte.

Vergiss', was sie gesagt hat. Es spielt keine Rolle

Aber Denken und Umsetzen waren zwei völlig verschiedene Dinge, dass der junge Firmenchef die Lippen zusammenpresste. Er würde noch irgendwann dahinter steigen, weshalb sich plötzlich sein Gewissen bei ihm meldete. Nur nicht heute. Heute Abend würde er keinen freien Kopf mehr bekommen - und er machte sie dafür verantwortlich.

Sie konnte einfach nicht einschlafen. Nachdem der Himmel sich aufgeklärt hatte, war ein wundervoller, sichelförmiger Mond erschienen, der genau vor Rins Fenster schwebte. Aus dem Bett geklettert öffnete sie es und stieg auf den entsprechenden Sims. Windstill war es, und doch fröstelte der jungen Frau, die das letzte Duell einfach nicht vergessen konnte. Lumina hatte ihr noch geschrieben, sie solle sich mit einem Film ablenken lassen. Nachdem nur Liebesdramen, Science-Fiction-Streifen und ein Live-Duell auf dem Programm standen, hatte Rin es aufgegeben. Scheinbar gönnte ihr jemand da oben keine Ablenkung - die auch nur kurzweilig gewesen wäre. Wie könnte sie auch vergessen, nur knapp einem Hirntod entkommen zu sein? Natürlich speiste sie das Ganze nicht als Lappalie ab! Sie wusste selbst, wie knapp es gewesen sein musste, nachdem nur noch eine Runde über ihr Schicksal entschieden hatte; wenn Kaiba doch nicht Rins Karten gewusst hätte.

Ausgeschlossen

Dass er das hatte, davon war sie überzeugt. Da brauchte sie auch keine Aufnahme, die ihr das bestätigte. Sie traute ihm ein derart ausgefeiltes Gedächtnis und eine gute Kombinationsgabe zu. Es war schön, dass er ihr wohl vertraut hatte - wenn auch nur für diesen Moment.

Komm' schon, Rin. Er hat dir nicht vertraut, sondern einfach nur die Chance ergriffen, das Duell für sich zu entscheiden.

Gerne hätte sie sich das Ende des Duells einmal angesehen, doch es war auf sämtlichen Plattformen nicht auffindbar gewesen; es gab nicht einmal einen Artikel darüber. Dabei konnte sich Rin sehr gut vorstellen, wie Presse und Fernsehen sich um die Story gerissen hätten. Normalerweise nutzte die Werbeabteilung von DuelMonsters sämtliche Publicity, die sie kriegen konnte - und ein Viererduell, in dem Seto Kaiba involviert war, also der Mann, der seit dem ersten, ursprünglichen Battle-City-Turnier nicht mehr aktiv beteiligt gewesen war, konnte unmöglich die Medien kalt gelassen haben. Da stellte sich die Frage, wie es der junge Firmenchef geschafft hatte, das ganze Geschehen mundtot zu machen. Und - was noch viel wichtiger war - warum? Darüber grübelte sie schon den ganzen Abend. Warum sollte niemand darüber sprechen dürfen, wenn es doch laut den anderen so abgetan wurde, dass alles nur Show gewesen war? War es wegen Rin? Weil man bis dahin noch nicht wissen konnte, wie es um die junge Frau stand? Oder weil ihr damit selbst die Möglichkeit genommen wurde, darüber zu reden? Obwohl dies das Letzte wäre, worauf Rin Lust hätte - sich zu erklären. Im Grunde konnte es nur ein Vorteil für sie sein, wenn niemand außerhalb des Turniers darüber Bescheid wusste. Nur wollte es die junge Frau einfach nicht loslassen. Weil sich immer wieder eine weitere Möglichkeit ihr aufdrängte.

Nein, das ist Quatsch.

Rin zog die Beine zu sich heran, legte das Kinn auf die Knie und drehte den Kopf, dass sie nach draußen blickte. Es wäre schön gewesen, wenn dies ein normaler Sonntag mit einer normalen Verlosung gewesen wäre. Da konnte sie Mokuba schon verstehen. Wenn sie sich vorstellte, dass er seit seiner Kindheit mit diesem Wahnsinn zu kämpfen hatte, tat er ihr richtig leid. Es stimmte schon: kein Kind sollte mit so einer Realität konfrontiert werden.

Die Augen über die Spitze des Mondes wandernd schweiften ihre Gedanken zu den Turnieren der vergangenen Jahre ab. Wie das ungewöhnliche Viererduell in Battle-City, als sich Yugi Muto und Seto Kaiba zusammengetan hatten. Schon damals war es ihr seltsam vorgekommen, dass ausgerechnet die beiden ein Team gebildet hatten. Wer weiß, in was für ein Chaos sie hineingerutscht waren, dass zwei Feinde zusammen arbeiteten. Rin konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was während des Duells passiert war. Wie alle anderen hatte sie nur dem Spiel mitgefiebert. Die junge Frau kam sich plötzlich sehr dumm vor. Dass sie so naiv gewesen sein konnte. Aber wer glaubte auch schon daran, dass Weltherrschaft und Apokalypse nicht nur leere Drohungen und Verkaufsstrategien waren, um - wie so oft betont wurde - das Herz der Karten aufleben zu lassen.

Sie schlang die Arme um die Beine, versuchte das Frösteln von ihrer Haut zu vertreiben. Natürlich könnte sie sich ins Bett legen und versuchen einzuschlafen. Es hätte nur nichts gebracht, denn das probierte sie bereits seit Stunden, und nachdem die Uhr unter dem Fernsehbildschirm Mitternacht angezeigt hatte, hatte sie es nicht mehr im Bett aushalten können. Zu viel Unruhe und Aufregung drückten sich aus den Tiefen ihres Innersten an die Oberfläche. Nicht nur wegen des Duells. Das wurde ihr immer bewusster, je länger sie auf ihre DuelDisc starrte, die sie aufs Fenstersims abgestellt hatte. Rin vermisste das Gefühl ihrer Waffe um ihr Handgelenk; wenn das virtuelle System sich einschaltete, sie von Wärme durchflutet wurde.

Wärme

Als sie das Bewusstsein verloren hatte, war es das einzige Empfinden, das noch existent gewesen war. Schön war's gewesen. Sie hatte sich sicher und beschützt gefühlt.

Wahrscheinlich nur eine Begleiterscheinung des Virus'

Wenn sie ihre DuelDisc ansah, stieg in ihr ein ähnliches Gefühl hoch. Kaum zu beschreiben für die junge Frau, drängte sich ihr das Bedürfnis auf, sie einfach um das Handgelenk zu legen. Wie ein Junkie, der sich nach dem nächsten Schuss sehnte. Rin schüttelte den Kopf. Es war einfach nur daneben. Nach allem, was passiert war, dachte sie nur daran, weiter zu machen.

Wie nach dieser seltsamen, virtuellen Session

Rin erinnerte sich, wie dieser Drang sie schon einmal beherrscht hatte. Das geschah wohl, wenn sie die DuelDisc länger nicht um den Arm hatte.

Lumina würde mich auslachen, wenn ich ihr davon erzähle und mich ein Leben lang >Holo-Suchti< oder ähnliches nennen...oder Kaiba die Schuld dafür geben. Dass er mir irgendein Mittel verabreicht hat, um mich von ihm abhängig zu machen-

Vielleicht hätte ihre Freundin gar nicht so unrecht damit, dass sie schon völlig in die DuelMonsters-Welt abgetaucht war. Es war doch Mokuba gewesen, der ihr erst neulich davon erzählt hatte - dass dies das wahre DuelMonsters wäre. Lumina würde ihr jedes weitere Duell ausreden wollen, wenn sie davon erfahren würde.

Sie seufzte, nahm die DuelDisc zur Hand und schloss das Fenster. Zurück in ihrem Krankenbett setzte sie das Gerät auf ihrem Schoß ab und entsandte stumme Signale, als könnte es ihr die Entscheidung abnehmen. Der Drang siegte, ihre Hand nahm die Disc, schob sie ums andere Handgelenk, dass sie sogleich einrastete. Eine leichte Handbewegung genügte und die DuelDisc fuhr aus. Das vertraute blaue Licht legte sich um ihren Arm, hüllte sie mit Wärme ein, dass sie lächeln musste. Seitdem der Arzt ihr diverse Kopfschmerztabletten verabreicht hatte und Rin brav eine nach der anderen geschluckt hatte, fühlte sie sich schon deutlich besser. Womöglich lag es auch an der Tatsache, dass man ihr versicherte, dass ihr Gehirn von dem Virus keinen Schaden genommen hatte. Diese Worte waren wie ein Befreiungsschlag gewesen. Der Chefarzt war es auch, der ihr versichert hatte, dass für die kommenden Duelle nichts im Wege stünde. Sehr zum Ärger ihrer besten Freundin, die auf Rins Nachricht weniger begeistert reagiert hatte. "Übertreib' es nicht wieder, Rin!", hatte in ihrer letzten Chat-Nachricht gestanden, gleich hinter dem Foto von Lumina und der Satinbettwäsche - in ihrer Wohnung. Die Schwarzhaarige hatte ein breites Lächeln und Rin freute sich, dass sie wieder ihr altes Zuhause hatten. Dafür würde sie Mokuba morgen noch danken. Rin gönnte es ihrer besten Freundin, dass sie endlich wieder Zuhause war, und auch die junge Frau konnte es kaum erwarten, morgen in ihre gewohnten vier Wände zurückkehren zu dürfen.
 

Einmal über das warme Metall gefasst ließ es sie endlich abschalten. Lieber sollte sie an die positiven Dinge denken. Zum Beispiel, dass ihre Freunde gekommen waren, weil sie sich um sie gesorgt hatten. Selbst Jonouchi, der ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, dass Rin ihm mehrfach bestätigen musste, dass er sich nichts daraus machen sollte. Natürlich hatte Lumina die Chance genutzt, und Rin vorhin noch eine Nachricht zukommen lassen, in der sie betonte, dass sie sich schnellstmöglich mit ihm anfreunden sollte.

Die will doch nur an Ryuji Otogi herankommen. Von dem schwärmt sie schon seit der Mittelschule

Mit immer kleiner werdenden Augen legte sie ihr Smartphone auf den Beistelltisch ab. Sie atmete erleichtert, als endlich die Müdigkeit einsetzte. Den Körper zur Seite gedreht, dass die DuelDisc direkt vor ihrem Gesicht lag, schloss sie die Augen und war in wenigen Minuten eingeschlafen.
 

Es war wieder so ein seltsamer Traum, den sie nicht einzuordnen wusste genau wie der Letzte. Sie war von völliger Dunkelheit umgeben. Nur den jungem Mann vor sich sah sie klar und deutlich. Seto Kaibas jüngeres Ich hatte Rin in seine Arme geschlungen. Er hatte einen so festen Griff, der kein Entkommen zuließ. Sein Duft stieg ihr in die Nase - fast so wie damals als sie den echten Kaiba näher gekommen war, nur ohne das Aftershave. Der Gedanke war so klar, dass es sie schaudern ließ.

Die Art, wie er sie festhielt, hatte kaum etwas mit einer gewöhnlichen Umarmung gemein. Es war mehr so als wollte er sie mit seinen Armen zerquetschen. Ihre Knochen knackten, ein leichter Schmerz stellte sich ein, dass Rin sich mehrmals zu erinnern versuchte, ob man Schmerzen in Träumen spüren sollte.

Erinnere dich einfach an das letzte Mal

Diesmal hatte sie keine Angst zu sterben. Panik machte sich nicht breit - wenn, dann war ihr nur etwas mulmig, sonst nichts. Wie er sie so festhielt - wie ein Jäger seine Beute, bevor er sie auseinander nehmen würde. Aber sie wollte keine Beute sein. Sie war noch immer felsenfest davon überzeugt, dass sie nur träumte - egal, was ihr dieser Seto Kaiba weiszumachen versuchte. Nein, sie war Herr ihres Traumes, und weil sie sich dessen bewusst war, würde sie sich nicht von ihm beherrschen lassen. Sie wollte lieber selbst die Arme um ihn legen, denn das war es, dass sie seit einiger Zeit vermisste: einfach in jemandes starke Arme fallen - und wenn es Seto Kaiba in ihren Träumen wäre. Irgendwie traurig, wie sie feststellen musste. Noch dazu ihre eigene Schuld. Rin hätte sich nur auf Yamato einlassen müssen, schon hätte sie die Nähe, nach der sie sich seit einigen Jahren sehnte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Behutsam bewegte sie die Arme, wie es ihr unter dem Klammergriff möglich war. Als ihre Hände auf seinem Rücken lagen, die Arme um den Körper geschlungen (dieser Kaiba war schmächtiger als sein gegenwärtiges Ich), hörte sie ihn scharf die Luft einziehen und einen undefinierbaren Laut ausstoßen. Sein Griff lockerte sich. Sie spürte, wie ihre Berührungen ihm Angst machten, dass er sie nicht kommen gesehen hatte.

Woher weiß ich das alles?

Auch Rin atmete tief ein, als seine Hände hinab wanderten und sich kurz vor ihrem Gesäß ineinander verhakten, dass sein metallener Koffer immer wieder ihr Hinterteil berührte. Ein kühler Lufthauch ließ sie aufsehen. Um sie herum begann eine Umgebung zu entstehen. Sie musste mehrmals blinzeln, bis sich die Bilder scharf einstellten. Abrupt hielt sie den Atem an, als sich hinter ihr ein Abgrund abzeichnete. Sie und Kaiba standen auf einer Erhöhung, die zu der Festung einer Burg oder eines Schlosses gehörte. Nur ein Schritt und beide würden mehrere Meter in die Tiefe stürzen. Bei Rin genügte es bloß, dass Kaiba sie losließe.

Wenn er mich nicht so festhalten würde, wäre ich längst zu Mus verarbeitet worden.

Ihr wurde schwindlig bei der Höhe. Es ließ sich nicht abstellen, dabei wusste sie doch, dass sie nur träumte und dass sie sich vor einem Sturz nicht fürchten brauchte. Aber warum schlotterten ihr dann die Knie?

"Warum sind wir hier?", hauchte sie. Sein anfänglicher, schneller Herzschlag hatte sich wieder beruhigt, dass sie sich ganz darauf konzentrierte.

"Weil ich keine andere Wahl hatte", antwortete er. Sie spürte seinen Blick über sich und sah hinauf. Wieder waren da diese ruhelosen Seelenspiegel, die vielleicht seinem Alter geschuldet waren.

Obwohl…ich kann mir nicht vorstellen, dass Kaiba jemals 'jung' gewesen sein soll.

"Kann ich", Rin versuchte seinen Blick zu ergründen, ihr wurde jedoch so heiß im Gesicht, dass sie sich wieder abwandte. Sie versuchte es mit dem Sprechen erneut: "Kann ich etwas für dich tun?"

"Fall' nicht wieder", entgegnete er ohne Umschweife, dass Rin die Augen aufriss, "ich kann dich da oben nicht festhalten."

"Da oben?" Aber Seto Kaiba gab ihr keine Antwort.

"Und du? Wirst du fallen?" Sein indigoblauer Mantel flatterte so heftig, das Rin einen Blick über seine Schultern warf: der Eingangsbereich, der von einer schweren doppelseitigen Flügeltür beschützt wurde, bestand aus eine Art Vorhof, wie sie manche Schlösser besaßen. Staub wurde aufgewirbelt. Sie hörte Hufgetrappel, dass sie unwillkürlich an Zigfrieds Streitwagen denken musste. Es fehlte lediglich das Schnauben von Pferden oder der Kampfschrei seiner Walküre. Dafür tauchte ein grelles Licht auf. Es hatte gewaltige Ähnlichkeit mit der Lichtblitzattacke des weißen Drachen mit eiskaltem Blick. Aber sie sah keines ihrer geliebten Kreaturen. Dafür erlosch das Licht. Die Szene wurde wieder freigemacht für die Lokalität, von der sie überzeugt war, sie schon einmal gesehen zu haben. Dabei ähnelte es keinem der Schlösser, das sie auf einer der Schulexkursionen besucht hatte. Anstatt sie weiter darüber nachdachte (sie würde ja doch nicht darauf kommen), legte sie den Kopf auf seine Brust ab. Sie war so unglaublich erschöpft - und erleichtert. Wovon, wusste sie nicht. Rin glaubte, dass es etwas mit diesem Seto Kaiba zu tun haben musste. Aber sie wollte sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Sie hätte es auch nicht gekonnt. Zu abgelenkt war sie von der Person vor sich. Dass er so nahe war, fühlte sich viel zu vertraut an. Und warum musste sie ihm auch so nahe kommen?

Na, weil es ein Traum ist, du Idiot!

Gerade weil es ein Traum war, begriff sie nicht, warum sie derart nervös wurde. Ganz zu schweigen von ihrem Kopf, der wohl bald zu dampfen anfinge.

Ach scheiß drauf. Das ist schließlich nicht der Echte. Der hätte mich schon längst über die Schultern geworfen, und in die nächste Ecke befördert. Darauf könnte ich wetten!

Über ihr hörte sie es schnaufen. Seto Kaiba lächelte, wenn seine Augen auch irgendwo in die Ferne blickten.

Ob er meine Gedanken lesen kann?... Und wenn schon. Das ist ein Traum, schon vergessen? Er ist, wie der Rest, aus meinen Gedanken, meiner Phantasie, entsprungen…warum auch immer es dieser jüngere Seto Kaiba sein muss. Den anderen kann ich mir bildlich viel besser vorstellen…jetzt denke ich schon total gequirlten Mist. Hör' auf, Rin!

"Ähm, sag' mal", nuschelte sie schließlich vor sich hin. Ihr brannte auf einmal eine ganze bestimmte Frage auf den Lippen.

"Wer bist du?" So offensichtlich es war, so unsicher war sie sich. Sie hörte ihn tief die Luft einatmen. "Wer ich bin", wiederholte er mit rauer Stimme. Dabei nahm er eine Hand von ihrem Rücken, ließ sie über ihr Kinn wandern. Dann hob er es an, beugte sich zu ihr herunter, dass sein Atem ihr Gesicht streifte.

"Ich bin…"

Ein schwarzer Wagen mit getönten Scheiben - Mokuba hatte nicht zu viel versprochen, als er meinte, er würde Rin möglichst unauffällig aus dem Krankenhaus bringen lassen.

Naja, über unauffällig lässt sich streiten.

Einer der Security Männer der Kaiba Corporation hatte an ihre Zimmertür geklopft und schließlich nach draußen begleitet, nachdem die Entlassungspapiere unterzeichnet worden waren.
 

Mit einem unterdrückten Gähner stieg sie in den Wagen. Der Mann stieg hinzu und startete den Motor. Auf dem Beifahrersitz wollte Rin nur noch eines: die Augen schließen.
 

Nachdem man sie an der spannendsten Stelle des Traumes aufgeweckt hatte, wurde sie sogleich zu sämtlichen Untersuchungen gebracht. Der Chefarzt persönlich hatte die junge Frau begleitet und einige Test mit ihr durchgeführt, die sie allesamt bestanden hatte. Zumindest hatte er genickt und gemeint, dass sie gleich am frühen Morgen entlassen werden könnte. Rin war wieder einmal verblüfft, wie Seto Kaibas Stellung den Prozess beschleunigt haben musste. Welcher Chefarzt tanzte schon mitten in der Nacht bei einer Patientin an, die sich obendrein bester Gesundheit erfreute? Aber Rin wollte sich nicht beklagen. Sie war froh, dass man sie schnellstmöglich entlassen wollte. Die junge Frau hatte noch einiges zu erledigen, bevor das nächste Duell starten sollte - was bereits morgen der Fall war.
 

Durch die verdunkelten Scheiben sah Rin nur schwach die Sonnenstrahlen, dass sie sich auf die umliegenden Häuser konzentrierte. Auch wenn sie wollte, sie durfte jetzt nicht die Augen schließen. Sie würde sofort einnicken und konnte es nicht leiden, so kurz nach dem Einschlafen geweckt zu werden. Um sich abzulenken ging sie im Geiste ihren Plan durch. Sie wollte zu Kaiba, - noch heute - etwas Wichtiges mit ihm besprechen, noch vor Beginn des Duells. Wenn sie vor zehn bei der Kaiba Corporation auftauchte, würde sie es vor den ersten Meetings und Besprechungen schaffen. Zwar kannte sie seinen Terminplan nicht, aber anhand der wochenlangen Erfahrung wusste sie in etwa, wann, welcher Mitarbeiter zu ihrem Chef zitiert wurde und zwischen welchen Zeiten er nicht gestört werden wollte.

Einmal kurz durch die Haare gefasst (es hatte keine Zeit gegeben, sie zu kämmen), zückte sie ihr Smartphone aus der Tasche und ging ihre E-Mails durch. Mehrere ungelesene Nachrichten von ihren Vorgesetzten blinkten auf. Rin entschied sich, sie vorerst zu ignorieren. Sobald sie die Firma betreten hätte, würde man schon auf sie zukommen.

Sie wischte weiter über die Textnachrichten ihrer Freunde. Noch mitten in der Nacht hatte sie Lumina darüber informiert, dass sie schon bald nach Hause käme. Nach einer Minute hatte der schwarzhaarige Wuschel zurückgeschrieben. Vermutlich war sie wieder einmal neben ihrem Handy eingeschlafen und hatte vergessen, es auf lautlos zu stellen.

Arme Lumina

Ihre Prüfung fand am kommenden Montag statt, dass sie keine Zeit hätte, bei dem Duell dabei zu sein, das - zu Rins Erstaunen - im Hafen Domino Citys ausgetragen werden sollte. Als Schauplatz hatte man den Ort ausgewählt, an dem die Container der Frachtschiffe gelagert wurden. Zunächst hatte sie keine Vorstellung, wie in so einer Kulisse ein Duell gespielt werden sollte - noch dazu, wenn tausende Zuschauer anwesend waren. Dann hatte sie an Kaibas System gedacht und auf einmal kam ihr der Gedanke gar nicht mehr so abwegig vor. Daraufhin hatte sie Mokuba eine Nachricht geschickt und ihn nach Details gefragt, zu denen er befugt wäre, zu antworten, (und, die nicht offensichtlich machten, dass sie in Kaibas neues Projekt eingeweiht worden war). Wie Rin es sich gedacht hatte, würde Kaiba das Potential seiner neuen Technologie nutzen, dass sie ein Geistesblitz erfasst hatte, den sie noch nachher mit dem jungen Firmenchef besprechen wollte. Da er Rin als sein Versuchsobjekt Nummer eins erwählt hatte, würde er sicher Gefallen an ihrer Idee finden - davon war sie überzeugt.
 

Allmählich näherten sie sich dem Viertel, das Rin wie ihre Westentasche kannte. Sie begann zu grinsen. Zum Glück waren die Kopfschmerzen verschwunden, dass ihr Lumina keine Predigt abhalten würde. Das Handy zurück in die Tasche gesteckt sah sie noch ein wenig verträumt aus dem Fenster, als schließlich ihr Wohnhaus auf der linken Straßenseite auftauchte. Der Fahrer parkte den Wagen und informierte sie, dass er auf sie warten würde.

"Anordnung von ganz oben", entgegnete der schwarze gekleidete Riese mit emotionsloser Miene. Rin sah ihn nur verdutzt an. "Okay", sagte sie lediglich und öffnete die Beifahrertür. Die Luft war frischer als erwartet. Obwohl nur vier Tage vergangen waren, spürte sie, wie der Herbst allmählich näher rückte.

Schnell schlüpfte sie in ihr Wohnhaus. Auch wenn keiner auf der Straße nach einem Journalisten oder einem Fernsehreporter aussah, ging die junge Frau lieber auf Nummer sicher.

Ich werde mir erst einmal eine heiße Dusche gönnen

Rin grinste in sich hinein und drehte den Schlüssel herum. Es klickte, die Tür öffnete sich. Ein lauter Knall ertönte, der Rin das Herz in die Hose rutschen lieẞ.

"Willkommen Zuhause!", rief Lumina, die eine Konfettikanone in den Händen hielt, die halb so groß war wie die Schwarzhaarige selbst. Tausende kleine Schnipsel flatterten über Rins Kopf.

"Was, zum Henker, war das?!" Rin hatte noch immer die Augen aufgerissen. Sie sah zu ihrer Freundin, die sie breit angrinste.

"Na, was wohl? Das sollte eine ehrenvolle Begrüßung werden! Ich wollte dich halt überraschen."

"Das ist dir gelungen", entgegnete Rin, die sich die Schuhe abstreifte und die Wohnung betrat. Nie hätte sie gedacht, dass es sich so gut anfühlen würde, endlich ihr eigenes Bett wieder zu haben. "Mich wundert's, dass du so früh munter bist." Rin umarmte ihre Freundin, bevor sie ihre Sachen ablegte und sich für ein paar Minuten auf der Couch niederließ.

"Nachdem du mich mit deiner Nachricht geweckt hattest, konnte ich nicht mehr einschlafen." Lumina setzte sich im Schneidersitz vor die junge Frau. "Außerdem hab ich noch allerhand zu lernen." Sie seufzte. "Als ich zu Sakura bin, hatte ich doch glatt eines meiner Lehrbücher hier vergessen. Ausgerechnet das Exemplar, das in der Unibibo ständig vergriffen ist. Naja, was soll's. Und du? Was steht bei dir an? Ich hoffe, du verschwindest nicht gleich wieder in den Tiefen der Hölle."

"Du meinst die Firma?", Rin hob eine Augenbraue, "leider, ja. Du wirst es nicht glauben, aber so einer von diesen bulligen Typen wartet im Wagen auf mich. Mokuba meinte, dass ich vorerst lieber nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren soll." Sie streckte sich. "Zwar hat er die Presse aus unserem Wohnblock vertreiben können, aber angeblich sollen nicht nur die Medien hinter mir her sein." Die junge Frau schüttelte den Kopf. "Kannst du dir das vorstellen? Da soll es einen richtigen Ansturm von Fans geben. Wegen mir! Von der Innenstadt soll ich mich jetzt ganz fern halten."

"Ist vielleicht besser so", nickte Lumina und verschränkte die Arme vor der Brust. "An der Uni quatschen mich die Leute auch schon an. Ein paar meiner Kommilitonen müssen den anderen gesteckt haben, dass wir miteinander befreundet sind."

"Nicht nur bei dir", Rin schnappte sich Luminas Kaffeetasse, die auf dem Couchtisch stand. Sie nahm einen Schluck. Wenigstens einen kleinen. Der Arzt hatte ihr den Kaffeekonsum für die nächste Woche untersagt. Eine Qual für die junge Frau, die nicht wusste, wie sie ohne das schwarze Gold heute über den Tag kommen sollte. Sie stellte die Tasse zurück auf den Tisch. "Yu hat mir geschrieben."

"Was?!", Lumina starrte sie perplex an, "Yuichiro - dein Ex?"

"Genau der. Scheinbar ist die Presse auch auf ihn zugekommen. Irgendjemand muss denen wohl verraten haben, dass wir mal zusammen waren." Jetzt verstand sie auch, warum Kaibas Social-Media-Experte sie damals über alles ausgequetscht hatte.

"Woher hat der Kerl deine Nummer?"

"Von meiner Cousine", entgegnete Rin, "er hat Kazuha auf irgendeiner Plattform gefunden und angeschrieben. Eigentlich war es ganz nett gewesen, wieder mal von ihm zu hören. Er fragte, wie es mir ginge und erzählte mir, dass die Leute von der Presse nach mir gefragt hätten."

"Und?"

"Wie Yu halt so ist. Er hat knapp auf die Fragen geantwortet und nichts Persönliches erzählt." Etwas anderes hatte sie von ihrer ersten großen Liebe auch nicht erwartet. Yuichiro war schon immer ein ruhiger, bodenständiger Typ, der einzig auf seine Kendo-Karriere fokussiert gewesen war. Als diesjähriger Landesmeister musste es der Presse nicht schwer gefallen sein, an Rins ersten festen Freund heran zu treten. Als Rin die Nachricht heute früh gelesen hatte, musste sie ein wenig schmunzeln. So viel Zeit lag zwischen ihnen, dass es ihr gar nicht seltsam vorgekommen war, als er sich plötzlich bei ihr gemeldet hatte. Irgendwie konnte sie sich den Grund schon denken. Nach einigen kurzen Nachrichten verblieben die beiden bis auf Weiteres im lockeren Kontakt zu bleiben. Sie hatte Yu alles Gute für die weiteren Turniere gewünscht, von dem das nächste Große Ende des Monats stattfände und Yu hatte dasselbe getan.

"Ob er dich neulich im Fernsehen gesehen und gedacht hat: warum haben wir nochmal Schluss gemacht?" Lumina lächelte verräterisch.

"So ein Quatsch", winkte Rin ab und erhob sich. "Vergiss' nicht, dass wir beide damals entschieden hatten, dass es besser wäre, eigene Wege zu gehen. Und Yu ziemlich schnell darüber hinweggekomen ist. Außerdem", sie hielt sich die Hand vor dem Mund und kniff die Augen zusammen (es war so verdammt schwer, nicht müde zu sein), "wäre Yu heute gar nicht mehr mein Typ."

"Du meinst, dass er kein so großes Arschloch ist."

"Wie lange willst du mich noch damit aufziehen?!"

"Ach, Schätzchen, die Nummer werde ich dir ein Leben lang vorhalten." Die Schwarzhaarige hauchte einen Kuss in ihre Richtung, doch Rin stampfte einfach nur ins Badezimmer. Sie wollte wenigstens schnell unter die Dusche hüpfen, bevor die Security dort unten Wurzeln schlüge. Einmal warmes Wasser über den Körper geprasselt, dazu die Haare mit einer Spange locker an den Seiten festgemacht, fühlte sie sich ein wenig erholter. Aus ihrem Zimmer kramte sie die schwarze Lederhose, dazu eine locker sitzende Bluse, die sie sich in die Hose stopfte und darüber den Trenchcoat, falls sie bis abends unterwegs sein sollte. Als Letztes schnappte sie sich ihre Sonnenbrille vom Fensterbrett.

"Wohin des Weges, Miss Yamamori? Etwa zu einem neuen gefährlichen Fall?", witzelte Lumina und hob beim Anblick der Lederhose die Augenbrauen hoch. Warum sie ihre Freundin immer mit einer Agentin vergleichen musste, sobald sie das Gestell übergezogen hatte? Als Antwort gab ihr Rin einen Luftkuss, dann nahm sie einen Keks aus der Dose über dem Küchenregal und verabschiedete sich. "Wart' nicht auf mich, Honey. Es wird spät werden", versuchte Rin so ernst wie möglich herüber zu bringen, und seit sie diese herablassende Seite an sich geübt hatte, gelang es ihr sonderlich gut. Lumina kicherte und wünschte ihr viel Vergnügen. Wobei sie das Vergnügen besonders betonte.
 

Der Fahrer wartete bereits ungeduldig auf die junge Frau. Am Wagen gelehnt rauchte er seine Zigarette aus und zerdrückte sie auf dem Gehsteig, auf dem sich bereits ein kleiner Haufen benutzter Kippen gesammelt hatte. Sie stiegen zurück in den Wagen und der Mann sauste los. Noch nie war Rin so schnell auf Arbeit gewesen. Da waren Luminas Stunts mit dem Moped lausige Kindergartentricks. Der Wagen rauschte durch die Innenstadt, vorbei an Polizisten, die einfach darüber hinwegsahen. Innerlich musste die junge Frau mit dem Kopf schütteln.

Vor der Kaiba Corporation blieb der Wagen stehen, Rin bedankte sich fürs Mitnehmen, obwohl sie glaubte, dass er keinen Dank von ihr hören wollte und machte sich daran, so schnell es ging hier raus zu kommen. Die Wagentür zugeschlagen sah sie hinauf zu dem Wolkenkratzer. Das Gebäude hatte sich seit ihrem ersten Tag stark verändert. Es gab ihr nicht mehr das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein. Rin war ein Teil davon geworden, auch wenn sie sich mit dem restlichen Klientel nicht identifizierte. Das brauchte sie auch nicht. Sie konnte so sein, wie sie war, und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie (abgesehen von Luminas und ihrem Zuhause) bisher nirgendwo so sein konnte, wie sie war. Der Gedanke ließ sie lächeln. Die Sonnenbrille auf den Kopf gestülpt betrat sie die Drehtür. Hunderte Augenpaare starrten zu der jungen Frau hinüber, die einfach den Empfangstresen ansteuerte. Mit großen Augen wurde sie begrüßt.

"Frau Yamamori", krächzte die Empfangsdame, "wie schön Sie zu sehen."

Ja, du mich auch

"Was kann ich für Sie tun?" Ein Lächeln hätte nicht gespielter sein können, aber Rin hatte bereits so viele falsche Gesichter gesehen, dass sie sich nicht mehr daran störte.

"Machen Sie mir einen Termin bei Seto Kaiba. Noch heute." Ihre direkte Anweisung überforderte die blonde Frau.

"Ähm, Herr Kaiba?", sie tippte mit ihren langen Nägeln auf die Tastatur. Ihre Augen wanderten unruhig über den Bildschirm. Jemand wie Rin, der sich mit Büroarbeiten auskannte, wusste, dass die Empfangsdame nur bluffte. Auf dem Bildschirm war höchstens der Bildschirmhintergrund zu sehen - darauf ging Rin jede Wette ein. Aber sie spielte dieses Spielchen mit und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf dem Tresen. "Nun, was ist?" Die junge Frau spürte die Blicke in ihrem Rücken.

"Also, Herr Kaiba ist derzeit in einer Besprechung. Ich kann Ihnen leider nicht genau sagen, bis wann. Danach", sie bewegte ein bisschen die Maus hin und her, "ist er bis zum Ende des Tages mit Meetings beschäftigt."

"Aha", Rin verschränkte die Arme vor der Brust.

Will die mich für dumm verkaufen?

"Sagen Sie Hernn Kaiba, dass, wenn er Zeit hat, ich ihn umgehend sprechen möchte."

"Ich werde es an seine Sekretärin weiterleiten." Sie nickte, ohne mit lächeln aufzuhören, dass Rin sich einfach nur abwandte und sich entfernte.

Toll, und was jetzt?

So schnell würde die junge Frau nicht aufgeben. Sie steuerte den Fahrstuhl an. Wenn sie mit Senjin sprechen könnte. Er würde sicher wissen, wann Kaiba Zeit für sie hätte. Mit ihm war sowieso noch eine Besprechung angesetzt. Also warum das Treffen nicht einfach nach vorne verlegen?

"Rin!" Jemand näherte sich ihr von der Seite. Vor den Fahrstühlen blieb die junge Frau stehen und drehte sich um. Die Hände in die Knie gedrückt rang Maki Kamizake nach Luft. Der Imagedesigner lächelte matt, atmete ein paar Mal tief ein und richtete sich schließlich auf.

"Gut, dass ich dich gefunden habe", hechelte er, "man sagte mir, dass du erst gegen Mittag in der Firma sein würdest."

"Was gibt es denn?"

"Es geht um dein Outfit für das morgige Duell." Er fuhr sich durchs Haar und lächelte siegessicher.

"Ich hab doch schon meinen Mantel", erwiderte Rin, die sich schon wieder in blonden Haare sah.

"Ich weiß", sein Lächeln wurde breiter, "aber ich habe eine Idee, die dich umhauen wird."

Umhauen bestimmt…

Er kramte aus seiner Hosentasche einen zerknüllten Zettel. "Ich habe mich mit Nagawa zusammengesetzt. Wir sind deinen Lebenslauf ein wenig durchgegangen."

Oh Gott, wo führt das jetzt hin?!

"Das bin ich auf ein interessantes Detail gestoßen."

"Okay", entgegnete Rin stoisch.

"Du warst doch damals im Kendo-Club, richtig?"

"Ja."

"Hast du noch die Kleidung von damals?"

"In meiner Wohnung, ja", Rin war völlig verwirrt, versuchte aber sich nichts anmerken zu lassen. Maki wedelte mit dem zerknüllten Papier vor ihr Gesicht. "Ich hatte vorgestern Nacht einen Geistesblitz: die ehemalige KungFu Meisterin Vivian Wong gegen die amtierende Prinzessin des Kendo Rin Yamamori." Er machte theatralische Bewegungen mit seinen Händen. Rin versuchte ihm zu folgen.

"Von der Muse geküsst hatte ich ein Bild von einem Mantel vor Augen. Aber nicht irgendeinem Mantel." Er öffnete das Papier und präsentierte Rin seinen Entwurf. "Wie wäre es, wenn wir dein roten Mantel mit dem Hakama und Gi kombinieren? Ich müsste hier und da ein paar Details abnehmen, etwas herum schnippeln und kürzen. Aber es lohnt sich, versprochen. Ich kann natürlich auch eine beliebige Kendo-Uniform benutzen, aber die original benutzte Kleidung kommt besser - und verleiht dem Outfit den nötigen Spirit. Verstehst du?" In groben Zügen erläuterte er ihr seinen Plan. Rin betrachtete seine Zeichnungen. Ihren geliebten Mantel zerschneiden? Ein Unding - wenn Makis Plan nicht so grandios wäre. Die Zeichnungen sahen fantastisch aus, dass Rin einfach zustimmen musste.

"Kann ich mir die Sachen bei dir abholen lassen? Wenn ich mich sofort an die Arbeit mache, hast du das Schätzchen vor dem Duell wieder."

Rin nickte und Maki griff ihre Hände. "Ausgezeichnet. Ich seh' dich dann morgen-"

"Warte", rief sie, bevor der Imagedesigner davon stürmen konnte. "Weißt du, wie lange Kaiba heute in der Besprechung steckt?"

Ihr Gegenüber zuckte mit den Schultern. "Meines Wissens ist der Boss die Tage nicht zu sprechen. Keine Ahnung, ob er überhaupt da ist." Ähnliches sollte sie noch mehrmals zu hören bekommen. Egal, wen sie fragte, jeder erzählte eine andere Geschichte. Manchmal sollte Seto Kaiba im Büro in einer Telefonkonferenz feststecken. Ein anderes Mal hatte er ein Geschäftsessen in der Stadt und würde erst morgen wieder das Büro aufsuchen. Am Ende war Rin so genervt von all den Ausreden, dass sie wütend das Firmengebäude verließ. Geradewegs ihr Lieblingscafé ansteuernd kamen ihr ein dutzend Geschäftsmänner entgegen. Kurz begegneten Rins feurige Seelenspiegel die neugierigen Blicke der Männer. Nicht zum ersten Mal wanderten die Augen einmal ihre langen Beine hinab. Die Hose saß aber auch verdammt eng, dass sie einen knackigem Hintern darin hatte. Die Tür zum Café aufgerissen wandte sie sich von der Meute an Gaffern ab und betrat das Lokal.

"Na sieh' mal einer an, wer wieder da ist." Makoto lächelte. Das erste ehrliche Lächeln an diesem Tag, dass Rin zurück lächelte. Die Kassiererin wirkte erschöpft. Sie hatte ein Geschirrhandtuch über die Schultern geworfen und ihr Pony hing wirr zur Seite.

"Alles gut bei dir?", erkundigte sich Rin bei ihr. Daraufhin wischte sich Makoto einen Schweißtropfen von der Stirn. "War ein stressiger Tag. Ab heute beginnen die Schülerpraktika, um die Mittagszeit war hier richtiger Betrieb und ausgrechnet am ersten Tag fiel Kaito wegen eines abgebrochenen Zahnes aus."

"Und du warst die ganze Zeit allein?"

"So schnell konnte ich keine Aushilfe auftreiben. Außerdem ist es nicht das erste Mal, dass ich eine Horde Teenager stemmen musste. An sich macht es mir nichts aus, aber es gruselt mich, wenn ich an den Abwaschberg da hinten denke."

"Kann ich helfen?"

Makoto sah sie verdutzt an. Sie schüttelte mit dem Kopf. "Entschuldige, so habe ich das nicht gemeint. Ich werde heute Abend ein-"

"Kommt nicht in Frage", fiel ihr Rin ins Wort, "ich weiß, du hast heute Abend schon genug um die Ohren. Lass' mich den Abwasch schnell erledigen", sie nickte in Richtung Küche, "so oft wie ich bei dir den Kuchen umsonst bekommen habe, ist so was locker drin."

"Aber", erwiderte Makoto, doch Rin ignorierte sie und lief hinter den Tresen Richtung Küchenbereich.

"Nichts aber. Du lässt mich jetzt machen." Rin krämpelte die Ärmel hoch. Den Berg an Abwasch vor Augen machte sie sich an die Arbeit.
 

"Meine Güte, bist du schnell", staunte Makoto als sie in die Küche kam, um nach dem Rechten zu sehen. Rin war bereits mit dem Abwasch fertig und polierte nur noch die Gläser.

"Meine Stunden als Aushilfskellnerin machen sich nun doch bezahlt", lächelte Rin ihr zu.

"Welchen Job hast du eigentlich noch nicht gemacht?" Da musste Rin ersteimal überlegen.

Als das Geschirr zurück in den Schrank geräumt worden war, faltete Makoto die Hände vor die Brust und bedankte sich mehrmals bei Rin, die lediglich abwinkte.

"Es war nicht ganz uneigennützig", gestand die junge Frau, "ich hatte eh vor, den restlichen Tag hier zu sitzen und zu warten. Da war der Abwasch genau der richtige Zeitvertreib." Sie lief um den Tresen und stellte sich dicht neben die Kaffeemaschine, das sie deren Duft in sich aufnehmen konnte.

"Worauf wartest du denn?", fragte Makoto, die einen Teller mit Vanilleparfait vorbereitete.

"Kaiba", antwortete Rin und setzte sich an den Tresen.

"Wieso wartest du auf den Boss?"

"Weil es die einzige Möglichkeit ist, an ihn heranzukommen", seufzte Rin und sah auf die Uhr, "ich muss zu ihm, aber niemand lässt mich mit ihm sprechen." Sie hatte alles ausprobiert - bis auf den direkten Weg ins Chefbüro. Doch das kam selbst ihr zu aufdringlich vor. Vor allem, wenn die Mitarbeiter von Seto Kaiba persönlich dazu angehalten worden waren, Rin von ihm fern zu halten. Dieser Gedanke machte die junge Frau nur noch rasender. Sie konnte es nicht abstellen.

"Manchmal macht er doch sechzehn Uhr eine Pause und kommt in das Café", sie sah auf die Uhr; es war viertel vor vier. "Wenn ich Glück habe, erwische ich ihn - und wenn ich hier bis Ladenschluss sitzen muss." So einfach würde sie sich nicht abwimmeln lassen.

"Du hast recht", entgegente Makoto und legte die Hand ans Kinn. "Das macht er tatsächlich jetzt öfter. Ich hatte mich erst gewundert als er von einem Tag auf dem anderen sich dazu entschieden hatte, sich ins Café zu setzen. Ich sag's dir, ich hatte mich richtig erschreckt als er einen Platz angesteuert hat."

"Du meinst, er hat das früher nicht gemacht?"

"Natürlich nicht! Er kam auch nie regelmäßig oder um eine bestimmte Uhrzeit. Das hat er sich erst seit ein paar Wochen angewöhnt."

"Ich wüsste echt gerne, was ihn dazu bewogen hat", Rin versuchte darüber nachzudenken. Scheiterte jedoch, wie fast immer, wenn sie den jungen Firmenchef zu ergründen versuchte.

"Vielleicht-" Weiter kam die Kassiererin nicht. Sie verstummte augenblicklich, richtete sich auf und stellte die Kaffeemaschine um. Zum ersten Mal beobachtete Rin, wie Makoto den Mahlgrad veränderte. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihr aus als die Tür zum Café aufgeschoben wurde. Sie musste nicht hinsehen, um sich seiner Präsenz sicher zu sehen. Nicht nur, dass Makotos Haltung Bände sprach. Rin krallte die Hände in den Tresen als er wortlos an ihr vorbei schritt, dabei den Kaffee und das Baguette entgegennahm und sich an seinen Stammplatz setzte.

So einfach entkommst du mir nicht…Seto Kaiba.

Rin erhob sich.

"Hast du wirklich vor-?", flüsterte Makoto.

"Natürlich", ihre Augen begannen zu funkeln, "denkst du, ich habe jetzt noch Angst vor ihm?"

Gaaaaanz sicher! Darum schlägt ja auch dein Herz wie wild

Aber sie würde keinen Rückzieher machen. Das war sie der Rin schuldig, die wochenlang an ihr Selbstbewusstsein gearbeitet hatte. Und so lief sie auf den jungen Firmenchef zu.
 

Eigentlich hatte sie sich eine Reihe Entschuldigungen zurechtgelegt, die sie anbringen wollte, sobald sie vor dem mächtigen CEO stünde. Diese warf sie allesamt über Bord als sie tatsächlich vor ihm stand und zu ihm hinunter blickte. Noch nie hatte ihr Blick sicherer gewirkt als in diesem Moment. Der junge Firmenchef sah von seiner Tasse auf, dass seine eiskalten Seelenspiegel auf ihre jadegrünen Augen trafen. Rin redete einfach drauf los: "Ich weiß, dass du gerade in deiner Pause bist und ich störe dich wirklich nur ungern, aber, da mich deine Mitarbeiter um jeden Preis von dir fernhalten sollten, blieb mir keine andere Wahl."

Kaiba verschränkte die Arme vor der Brust, ohne ihren Blicken auszuweichen. "Warum denkst du, dass sie dich von mir fernhalten sollen?"

"Weil sie genau das getan haben."

Er verzog keine Miene, aber etwas blitzte in seinen Augen auf, das Rin sofort auffiel.

"Ich weiß nicht, was sie dachten, worüber ich mit dir reden will", fuhr sie ungehindert fort, "aber es geht mir nur um das Duell morgen."

"Das Duell", wiederholte er, als würde er den Zusammenhang zwischen ihm und dem morgigen Spiel nicht begreifen.

"Besser gesagt um die Location und den…Features. Ich würde dir gerne zeigen, wie ich mein Potential einbringen kann." Schweigen. Sie sahen einander an, und Rin dachte nicht im Traum daran, klein beizugeben.

Apropos Traum…

Wärme stieg in ihr auf. Sie konnte von Glück reden, dass sie nicht ihre Wangen erreichte. Schließlich lehnte sich Kaiba zurück und deutete mit einem Wink seiner Finger an, dass sie sich setzen sollte. Also setzte sich Rin - Kaiba gegenüber. Sie war froh, sitzen zu dürfen. Noch etwas länger und ihre Beine wären von dem vielen Stehen zu Pudding geworden.

"Nun", Kaiba nahm einen Schluck seines Kaffees, das Rin Mühe hatte, nicht auf seine Finger zu starren, "ich höre."

Daraufhin zog Rin ihren Trenchcoat aus und holte aus der Seitentasche einen Zettel hervor, den sie sorgfältig auseinander faltete. Sie hatte alles bis aufs kleinste Detail durchdacht, hatte in der Nacht noch eine Skizze angefertigt, dass sie nicht wie ein dummer Anfänger dastünde. Wie einen Businessplan legte sie ihm ihre Ideen offen, sprach dabei ruhig und sachlich, in kurzen, bündigen Sätzen. Das hatte sie sich einmal als Assistenzkraft in einem Finanzbüro abgeschaut. Langsam machten sich all die Jobs, die sie nur notdürftig hatte verrichten müssen, ein wenig bezahlt. Die junge Frau war stolz auf sich. Vor allem da sie spürte, dass er ihr zuhörte. Er wirkte kein einziges Mal genervt oder missmutig, dass Rins Selbstbewusstsein stieg und sie sogar noch einen Schritt weitergehen ließ. Am Ende schob sich Seto Kaiba die Skizze zu sich heran. Er betrachtete die Zeichnungen, die Rin nur notdürftig dorthin gekritzelt hatte. Zeichnungen waren noch nie ihre Stärke. Sein Blick blieb so undurchschaubar wie eh. Dass er sich auch noch Zeit ließ etwas zu erwidern, machte die junge Frau wahnsinnig. Auf einmal wurde sie sich der Nähe dieses Mannes sehr stark bewusst. Zusammen mit ihrem Lieblingsgetränk, das vor seiner Nase lag, war es ein ungewohnt intimer Moment für Rin. Sie begriff, was es bedeutete, dass sie ihn in seiner Pause gestört hatte. Hoffentlich würde sie es nicht bereuen.

Seine Hand ließ von dem Papier. Der Blick ging herüber zu Rin, die nicht mehr die Kraft hatte, dagegen zu halten.

"Bist du dir sicher, dass du dafür schon wieder bereit bist?"

Sie sah ihn an als wüsste sie nicht, wovon er sprach. "Es ist alles in bester Ordnung", versicherte sie, "ich vertrage das System so gut wie immer." Erst vor wenigen Stunden hatte sie es bei einer virtuellen Runde DuelMonsters ausprobiert. Sie war erleichtert, nachdem keines der gegnerischen Angriffe ihr etwas anhaben konnte und ihr Kopf jede Attacke unbeschadet zugelassen hatte. Sicher hätte es auch ganz anders laufen können.

"Wenn das so ist." Kaiba verschränkte die Arme vor der Brust.

"Also ist es möglich?", Rin konnte sich ein Lächeln nicht unterdrücken. Auch Kaiba lächelte, wenn es auch nicht mit seinen Augen zusammen passte. "Alles ist möglich. Das sollte dir bereits klar sein."

"Erst, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe", konterte Rin, die es sich einfach nicht verkneifen konnte. Sein Blick sprach Bände. Vermutlich bekam er nicht oft solche Widerworte zu hören, dass er sich nicht entscheiden konnte, wie er darauf reagieren sollte. Schließlich gab er ein leises Schnauben von sich. Das Lächeln behielt er weiterhin. "Wir machen es so, wie du es mir vorgeschlagen hast - aber unter meinen Bedingungen, und nur, wenn du in der Lage bist, es selbst umzusetzen."

Rin machte große Augen. Er meinte es also ernst.

"In Ordnung", sie nickte. Dass es so einfach würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Zumindest hätte sie Zweifel seinerseits erwartet. Schon allein auf Grund der Tatsache, dass sie ihm in seinen eigenen Plänen reinredete.

Bevor sie die Chance hatte, nach der weiteren Vorgehensweise zu fragen, erhob sich der junge Firmenchef. "Achtzehn Uhr - in meinem Büro." Mehr sagte er nicht. Ohne ihre Antwort abzuwarten wandte er sich ab und verließ das Café. Zurück blieb Rin, die nicht wusste, ob sie glücklich oder verwirrt sein sollte.

Der Geruch der ersten Tasse frisch aufgebrühten Kaffees kroch ihr in die Nase, dass sie davon wach wurde. Rin öffnete die Augen. Da stand Lumina vor ihrem Bett, breit grinsend mit einem Frühstückstablett in den Händen. Darauf waren eine Waffel und die Tasse Kaffee. Die junge Frau, welche noch nicht ganz in der Realität angekommen war, lächelte und setzte sich langsam auf.

"Du bist ja schon wach", murmelte Rin und wollte ganz automatisch zu dem Kaffee greifen als ihr die Stimme des Doktors in den Ohren klingelte.

"Korrekt sollte es heißen", entgegnete die Schwarzhaarige und stellte das Tablett auf Rins Oberschenkel ab, "endlich bist du wach."

"Wie spät ist es?"

"Gleich halb elf."

"Mist", Rin fasste sich ins Gesicht und seufzte.

"War wieder 'ne lange Nacht, hä", fragte ihre beste Freundin, wobei der Unterton ihrer Stimme etwas Raues annahm.

"Länger als erwartet", antwortete Rin, ohne auf die Provokation einzugehen. Dafür war es definitiv zu früh und Rin noch viel zu müde.
 

Sie war noch Stunden mit Kaiba in seinen geheimen Anlagen zugegen gewesen. Es hatte bis weit nach Mitternacht gedauert, als sie endlich mit dem Ergebnis zufrieden waren. Der junge Firmenchef war ein Perfektionist, dem man es nur schwer recht machen konnte. Auch wenn er an sich nichts an Rins Werk auszusetzen hatte, gab es doch immer Veränderungsvorschläge von der Firmenleitung, die Rin allesamt hatte umsetzen müssen. Hätte es nicht solchen Spaß gemacht, die neue Technologie nach Kaibas Vorstellungen anzuwenden, wäre die Zeit deutlich langsamer vergangen. Rin war richtig erschrocken gewesen, dass die Uhr zwei Uhr nachts angezeigt hatte. Seto Kaiba hatte daraufhin die letzten kleinen Mängel auf sich beruhen lassen und Rin einen seiner Wachmänner übergeben, welcher die junge Frau nach Hause bringen sollte.
 

Sie nahm einen zaghaften Schluck, bevor sie sich beherrschte und an der Waffel zu knabbern begann.

"Tut mir leid, wenn du meinetwegen so lange wach geblieben bist", sagte Rin.

"Solange ich mir keine Sorgen machen muss", seufzte Lumina, dass ein wenig Ärger in ihrer Stimme mit klang. Rin gab der Kleineren einen Stups. "Hör' auf, dir ständig Sorgen zu machen. Ich mach' schon keine Dummheiten."

"Naja…Der Vorfall am Sonntag reicht auch für den Rest deines Lebens", murrte die Schwarzhaarige und schnappte sich die Tasse. "Ich bin nicht die einzige, die so denkt. Glaub's mir."

"Meinst du Yamato?" Auf der Heimfahrt hatte sie seine Nachricht gelesen. Er hatte ihr für morgen viel Glück gewünscht und von seiner Woche erzählt. Aus den Zeilen war herauszulesen, dass er es bedauerte, heute nicht dabei sein zu können. Yamato hatte so viel Arbeit nachzuholen, dass er bis Ende der Woche in Überstunden festsäße. In seiner Nachricht war er so gut gelaunt und offen wie immer, dass Rin erleichtert war. Kurz hatte sie geglaubt, er hätte es sich nach ihrer Aussprache doch noch anders überlegt.

"Du hättest ihn sehen sollen", Lumina schlürfte an der heißen Flüssigkeit. "Er war am Mittwoch richtig blass, nachdem wir draußen waren. Er hat sich verdammt große Sorgen um dich gemacht."

"Yamato hat das Duell auch gesehen, oder?"

"Wer nicht", murrte Lumina und krallte die Finger in die Tasse, "war echt nicht leicht gewesen, ihn zu beruhigen. Als wir aus dem Krankenhaus raus sind, dachte ich erst, er würde zurück in die Kaiba Corporation fahren und dem Großkotz eine aufs Maul hauen."

"Wirklich?!" So kannte Rin den Schwarzhaarigen gar nicht. Aber wer weiß, was für ein elendes Bild sie abgegeben haben musste, dass Yamato derart die Beherrschung verlor. Einerseits schon süß, wie er ihretwegen war, andererseits zeigte es nur zu deutlich, dass der Schwarzhaarige immer mehr von ihr wollen würde als Rin ihm wohl jemals erwidern konnte.

Vielleicht lag es bloß an dem extremen Duell. Yamato hat ja noch weniger eine Vorstellung wie es bei DuelMonsters zugeht.

Wenn sie doch nur die Aufzeichnungen sehen könnte!

"Keine Angst, ich habe ihn zur Vernunft bringen können. Ich glaube aber, dass er jetzt viel mehr ein Auge auf dich haben wird. Du bist ihm echt wichtig."

"Ich weiß", Rin sah betreten zur Seite. In ein paar Sätzen fasste sie das letzte Treffen mit Yamato zusammen; dass sich beide geeinigt hatten, Freunde zu bleiben, auch wenn Yamato kein Geheimnis aus seinen Absichten machte. Lumina schüttelte den Kopf. "Der Typ ist sowas von verschossen in dich, und du lässt ihn eiskalt abblitzen. Das ist mir einfach zu hoch, Rin. Aber egal." Sie erhob sich. "Ich bin eigentlich wegen dem hier gekommen." Lumina überreichte ihr den Umschlag mit ihrem Namen. "Der ist dir gestern aus der Tasche gefallen."

"Das ist der Brief von Pegasus J. Crawford."

"Was?!", rief Lumina, "vom Erfinder von DuelMonsters persönlich?"

"Das weiß ich noch nicht genau. Aber einer seiner Mitarbeiter hat ihn mir vor dem Treffen im Stadion ausgehändigt."

"Weißt du schon, was drin steht?"

"Ich habe keine Ahnung…grins' nicht so rum…mach' ihn schon auf. Ich seh' doch, dass du es tun willst."

Lumina hüpfte wie ein kleines Kind auf der Stelle. "Wenn du unbedingt darauf bestehst." Sie riss das Siegel auf und zog eine grau melierte Karte hervor.
 

Sehr geehrte Frau Rin Yamamori,

Ihre Duellfähigkeiten beim diesjährigen Worldcup haben mich neugierig gemacht. Es hat mir bisher sehr viel Freude bereitet, Ihnen beim Duellieren zusehen zu dürfen. Noch mehr würde es mich jedoch freuen, wenn Ihre Talente Industrial Illusions zugute kämen.

Alles Weitere bei einem persönlichen Essen.

Mit zutiefster Hochachtung

Pegasus J. Crawford
 

Lumina sah entgeistert von dem Schreiben auf. "Crawford will dich abwerben. Wie cool ist das denn?!"

Die junge Frau, die mit offenem Mund zugehört hatte, sprang vom Bett und entriss Lumina die Karte.

"Tatsächlich", sagte Rin, nachdem sie zweimal den Text durchgegangen war. Vielleicht interpretierte sie ihn auch falsch. Das konnte Crawford doch nicht ernst meinen!

"Und? Wirst du sein Angebot annehmen?", Lumina war völlig aufgedreht. Wie ein Flummi hibbelte sie auf der Stelle. Rins Miene blieb kühl. Sie legte die Karte aufs Bett und nahm stattdessen ihr Smartphone zur Hand. Seit einigen Tagen wurde sie des Öfteren mit einer fremden Nummer angerufen. Da Rin grundsätzlich nie ans Telefon ging, wenn sie den Anrufer nicht kannte, hatte sie sich nichts weiter dabei gedacht und das Ganze als dummen Streich abgetan. Zumal seit einiger Zeit Leute, die sie von der Schule oder von ehemaligen Arbeitsstätten her kannte, versuchten, wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Der jungen Frau kam es noch völlig irreal vor, dass diese Bekannten sie wegen ihrer plötzlichen Berühmtheit aufsuchten. Es wollte ihr einfach noch nicht in den Kopf, dass ihr Bekanntheitsgrad in den letzten Wochen von Null auf Hundert durch die Decke gesprungen war. Noch nicht einmal jetzt.
 

Kopfschüttelnd sah sie von ihrem Telefon auf.

"Ich kenne seine Angebot nicht", sagte Rin und klang wütender als sie beabsichtigt hatte, "und habe auch nicht vor, es mir anzuhören. Ich spiele bereits für eine große Firma."

"Du willst mich verarschen, oder?" Lumina deutete auf die Karte. "Ich meine, Industrial Illusions ist noch einmal eine völlig andere Nummer. Nicht nur, dass Crawford der Erfinder von DuelMonsters ist. Jeder seiner Duellanten hat es bisher zu was gebracht. Das sind alles weltberühmte Topspieler. Ich kann mir vorstellen, dass er ein wahnsinns Angebot unterbreiten wird. Und du wärst ziemlich dämlich, wenn du es dir nicht einmal anhören würdest."

"Ich kann mir schon denken, warum du so scharf darauf bist, dass ich das Team wechsle." Rin stemmte die Hände in die Hüften.

"Und ich, warum du es nicht willst." Sie sahen einander stumm in die Augen. Diesen Kampf konnte keine der beiden gewinnen. Lumina und Rin waren nicht sonderlich gut darin, miteinander zu streiten. Selbst Diskussionen führten meist in eine Sackgasse.

"Nein", entgegnete schließlich Rin, "so ist es nicht. Hast du mal darüber nachgedacht, dass mir alle erst hinterher rennen, seit ich an diesem Turnier teilnehme?" Sie wusste, dass dies nicht die erste Einladung für einen Spielerwechsel war. Bereits ausländische Firmen hatten ihr Interesse an der jungen Frau bekundet. Sie hatte es einmal auf dem Flur der Kaiba Corporation aufgeschnappt, als einer von der Personalabteilung nicht aufgepasst hatte.

"Industrial Illusions", meinte Rin und lief auf ihren Kleiderschrank zu, "hatte bereits mehrmals die Chance, mich in ihr Team aufzunehmen. Weißt du noch, wie viele Initiativbewerbungen ich abgeschickt habe? Mal ganz zu schweigen, dass Crawford mein Talent schon damals hätte bewundern können…"

"Du brauchst jetzt nicht auf beleidigt tun", Lumina nahm einen kräftigen Schluck aus der Tasse, "du weißt doch, wie die Branche tickt. Genauso wenig kannst du mir sagen, dass Kaiba Corp. dich aus ihrer Großzügigkeit heraus eingestellt hat. Die haben dich genauso zappeln lassen wie alle anderen. Du hast selbst gesagt, dass sie in letzter Sekunde noch jemanden einstellen mussten. Du hattest also nur verdammtes Glück."

"Und trotzdem", sie kramte nach ein paar dunklen Socken, "ich werde auf diese Einladung nicht eingehen. Ich hab einen Zweijahresvertrag, den ich nicht einfach so brechen kann."

"Aber danach bist du frei. Wirklich, Rin, überleg' es dir einfach. Ich glaube, dass das eine einmalige Chance für dich ist, die du dir nicht entgehen lassen solltest."

Oder ein mieser Trick, damit ich die Endrunde nicht gewinne

Bei so vielen Intrigen, die sie bereits miterlebt hatte, würde es sie nicht wundern, wenn Crawford genau diesen Plan verfolgte. Wenn er Rin erst zu ködern versuchte, um sie kurz vorher fallen zu lassen. Am Ende stünde die junge Frau ohne Titel und ohne Job da. Rin hätte diesen Brief nicht öffnen dürfen. So kurz vor ihrem Duell mit Wong. Sie konnte jetzt keine Ablenkung gebrauchen, schon gar keine so heikle. Wenn Kaiba davon Wind bekäme - er wäre, um es milde auszudrücken, sicher nicht begeistert. Dabei lief es gerade so gut mit ihm - aus beruflicher Sicht, wie Rin sich mehrmals zu erinnern versuchte.

"Ich werde darüber nachdenken", grummelte Rin, damit ihr die Schwarzhaarige nicht länger in den Ohren damit läge, "aber nicht heute."

"Mehr sollst du auch nicht", Lumina begann versöhnlich zu lächeln. Sie griff Rin von hinten in eine ungemütliche Umarmung und drückte den Kopf an ihre Wange.

"Schließlich bist du um Längen besser als diese KungFu Tante Wong. Gönn' dir einfach mal den Luxus, begehrt zu sein."

"Ich versuch's", murmelte Rin und lächelte ebenfalls.

"Ich werde dich von hier aus anfeuern."

"Aber nicht wieder mit deiner Konfettikanone! Nicht dass unser Nachbar noch die Polizei ruft."

"Na gut", stöhnte Lumina und grummelte noch ein >Spaßverderber< hinterher.
 

Die junge Frau begann sich fertig zu machen.

Eine dunkelblaue Röhrenjeans übergezogen; dazu eine passende blaue Bluse und schon war sie zum Abholen bereit. Bevor sie ihr Zimmer verließ, kramte sie aus einer der Duellboxen einen Anhänger hervor. Damit schlich sie sich zu Lumina, die in ihre Bücher vertieft war und dabei auf einem der kürzeren Bleistifte herumkaute. Vorsichtig legte sie ihrem schwarzhaarigen Wuschel den Glücksbringer auf das Buch. Lumina sah auf.

"Hast du den etwa selber gemacht?" Lumina betrachtete den kleinen Anhänger, an dem ein handgeschriebener Zettel baumelte.

"Ich weiß, ich bin echt unkreativ", Rin schüttelte den Kopf - zumindest waren die Schriftzeichen ordentlich verfasst. Die Schwarzhaarige nahm den Anhänger zwischen die Finger, dass er sich in der Luft drehte.

"Ich hab ihn extra zum Tempel mitgenommen, damit er auch wirkt."

"Wann warst du denn im Tempel?"

"Tja", Rin zwinkerte, "das bleibt ein Geheimnis."

"Wenn der nicht hilft", ihre beste Freundin begann über beide Ohren zu strahlen und stupste die rosane Spinne an, "ich glaube, du hast noch nie für mich gebastelt."

"Das hätte ich dir früher auch nie antun können."

"Ich werd' auf ihn aufpassen." Lumina drückte den Anhänger an sich, bevor er in ihrer Hosentasche verschwand. Dann drückte sie Rin - ganz fest.

"Verteidige unsere Ehre als Frauen! Mach' diese aufgeblasene Kuh fertig!"

"Alles klar." Sie lösten sich voneinander und Rin verließ die Wohnung. Vor fünf Minuten hatte bereits eine Nachricht auf ihrem Bildschirm aufgeleuchtet, dass der Wagen bereit stünde. Noch während sie die Treppe hinunterlief legte sie sich ihren Armschmuck um. Ihre Finger strichen über die Initialen, sie verdrängte Crawford's Brief und schritt aus der Tür. Keine zehn Meter von ihr entfernt parkte ein silberner Mercedes. Der Chauffeur wartete bereits hinter dem Lenkrad auf die junge Frau, dass Rin sofort einstieg. Sie hatte kaum Zeit über das Duell nachzudenken, als sie bereits vor dem Firmengebäude standen und Rin von zwei Security-Männern weiter gereicht wurde, die sie bis aufs Dach begleiteten. Im Fahrstuhl machte sich dann doch so etwas wie Nervosität bemerkbar. Die Endrunde würde nun offiziell für sie beginnen. Sie hatte die wenige Zeit, die ihr geblieben war, dafür genutzt, die bisherigen Duelle zu analysieren. Rin musste sich eingestehen, dass diese Runde um einiges härter als die Roof-top-battles war. Die Duellanten zeigten keine Gnade. Es wurde gespielt als ginge es bereits um den Titel. Dass dieser für alle in greifbare Nähe rückte, wurde ihr erst jetzt bewusst. Besonders die Spieler von Paradius Inc. setzten alles daran, die Endrunden für sich zu entscheiden. Mai Kujaku war gnadenlos gegenüber ihres Gegners, der aus Ryuji Otogis Gruppe noch übrig geblieben war. Mit Orichalcos als Trumpfkarte machte sie den Duellanten aus der ersten Profiliga fertig, dass wohl nicht viel gefehlt hätte und der Duellant zu heulen begonnen hätte. Die Blondine war schon immer eine eiserne Spielerin, aber diesmal setzte sie noch einen drauf. So kalt und berechenbar sie sich duellierte, wollte Rin sie nicht als ihre nächste Gegnerin wissen. Sie würde schon genug mit Hii Yuta zu kämpfen haben, der sich gestern seinen Sieg gegen seinen ersten Gegner eingeheimst hatte. In seinen Augen hatte sich derselbe Wahnsinn wie einst gezeigt, als er Rin eine Falle gestellt hatte. Das Gerede von >gerechter Strafe< und >notwendiges Übel für das große Ganze< jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Seitdem sie wusste, dass es tatsächlich Spinner gab, die DuelMonsters für ihre perversen Machtspielchen missbrauchten, nahm sie jedes seiner Worte ernst - egal, wie wenig sie von seiner Weltanschauung verstand.

Glaub' nicht, dass ich dich unterschätze

Sie streifte sich die DuelDisc über. Das vertraute Gefühl ihrer eigenen Disc ließ sich mit nichts auf der Welt missen.

Ob Jonouchis Disc noch läuft, nachdem sie infiziert worden war? Ich muss das bei nächster Gelegenheit herausfinden.

"Frau Yamamori", nachdem die Aufzugtüren sich öffneten, wurde sie von Isono und Maki begrüßt. Erster verbeugte sich und deutete auf die Mitte des Daches hin. Auf einer Plattform wirbelte ein Hubschrauber jede Menge Wind auf, dass der jungen Frau ihr Pferdeschwanz ins Gesicht schlug.

Sie folgte den beiden Männern zu dem Hubschrauber, der so viel Lärm verursachte, dass Rin nichts von dem Gespräch verstand, das die beiden Herren mit ihr zu führen versuchten.

"Warum sind wir schon so früh hier", schrie Rin, nachdem ihr bewusst wurde, dass sie sofort losfliegen würden.

"Herr Kaiba", antwortete Isono "wollte, dass wir Ihnen vorab die Location zeigen."

Er will wohl mit dem Ergebnis angeben

Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
 

Es war ihr erster Flug mit einem Hubschrauber - einem echten. Der Hubschrauber während der virtuellen Session fühlte sich genauso echt an, war aber am Ende doch nur eine Simulation, dessen sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen konnte. Zwar könnte sie sich einreden, dass sie nicht wirklich flog, nur brachte es ihr nichts, sobald sie an den eigentlichen Sinn dieses Fluges dachte.
 

Kaiba wollte sie aus dem Hubschrauber springen sehen. Vor aller Augen, mit einem Seil in der Hand, das ihr als einziger Halt genügen sollte. Zunächst hatte sie seine Idee für einen Scherz gehalten. Doch erstens stellte sich heraus, dass Kaiba niemals scherzte und zweitens, dass er Rin mit diesem Vorschlag provozieren wollte. Die junge Frau vermutete, dass sich der junge Firmenchef noch für ihre Dreistigkeit revanchieren wollte, mit der sie ihm einfach so ihre Ideen offengelegt hatte. Natürlich hatte er nichts in der Richtung gesagt, aber so langsam begann sie hinter dem mächtigen CEO dahinter zu steigen. Nachdem Kaiba ein so siegessicheres Lächeln auf den Lippen gehabt hatte, war sie auf seinen Vorschlag eingegangen - wofür sie sich jetzt schon hasste.

Einen Blick aus dem Fenster riskierend schaute sie über mehrere Meter in die Tiefe. Domino erschien ihr wie ein kleiner, unscheinbarer Fleck Erde, auf dem ein paar Holzklötze namens Häuser standen. Rin hatte keine Höhenangst, doch nach diesem Ausblick zusammen mit dem, was noch auf sie zukäme, würde sich das wohl bald ändern. Selbst das Roof-top-battle auf dem vermeintlichen Zeppelin war nicht halb so beeindruckend gewesen.

Hinter den nächst größeren Gebäuden tauchte aus der Ferne das Meer auf. Direkt davor erstreckte sich die Seele Domino Citys - der Hafen. Rin war überwältigt. Man hatte den Schauplatz exakt nach ihren Vorstellungen hergerichtet: Die Container stapelten sich nicht mehr zu mehreren, geordneten Reihen, sondern waren über das ganze Gelände verteilt, dass maximal zwei, drei Container übereinander lagen. Überall schimmerte das Licht des virtuellen Systems, das jeden Moment bereit sein würde.

"Okay", hörte sie Isono in sein Headset rufen, "ihr könnt es jetzt einschalten." Das blau-weiße Leuchten erlosch. Stattdessen wurden die Container in ein schummriges Licht eingehüllt, bis die Simulation die plumpen Frachten in atemberaubende LED-Spiegel verwandelte. Das Ergebnis ließ Rin staunend nach unten blicken. In ihren Vorstellungen hatte es nicht besser ausgesehen. Selbst die gestrige Session, als sie die Bilder aus ihrem Kopf in die virtuelle Simulation eingebracht hatte, kamen gegen dieses Ergebnis nicht an.

Dieser Angeber-

Rin grinste in sich hinein.

"Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Frau Yamamori?" Isonos Stimme brachte sie zurück ins Hier und Jetzt.

"Ja", hauchte die junge Frau, die sich von dem Bild nicht losreißen konnte. Ihr Herz schlug wie wild, Adrenalin schoss durch ihren Körper, dass sie glaubte, sich noch nie so gut gefühlt zu haben.

Kein Wunder, dass sich Kaiba allen anderen überlegen fühlt. Wenn man so etwas schaffen kann…ich muss doch immer wieder staunen.

Sie hätte die ganze Nacht hier sitzen und dem Spektakel von oben herab zusehen können, wenn sich nicht eine graue Wolkendecke direkt in ihr Sichtfeld geschoben hätte. Ausgerechnet an der Stelle, an der ihr Hubschrauber seine Kreise zog. Zufall? Daran glaubte sie schon lange nicht mehr. Nicht, seit sie mit dem Chef der Kaiba Corporation zusammenarbeitete. Er musste wohl absichtlich die Sicht auf die Flugmaschine versperrt haben. Nicht ihretwegen, sondern wegen der Meute, die sich langsam dort unten zusammen rottete. Aus hunderten wurden tausende Zuschauer, sie sich um den Duellschauplatz versammelten. Schließlich war die Sicht so stark eingeschränkt, dass ihre Augen nur noch den Nebel vor sich hatten, und irgendwie beruhigte es die junge Frau, dem Menschentrubel noch ein Weilchen entgehen zu können. Sie wandte sich von dem Fenster ab.

Ihr Imagedesigner hatte sich derweil vor sie postiert. Mit sämtlichen Utensilien inklusive ihres aufgeboosterten Mantels ausgestattet ließ er Rin auf einen extra angebrachten Drehstuhl Platz nehmen.

"Keine Angst", sagte Maki, als er seinen Schminkkoffer öffnete und Rin mit einem eisigen Blick darauf reagierte, "du wirst aussehen wie immer. Aber dort unten herrscht ein Chaos an künstlichem Licht - da brauchst du jede Menge Abdeckung, wenn du nicht wie die Todesfurcht in Person aussehen möchtest." Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte er sich ans Werk. Scheinbar hatten sie doch mehr Zeit verbraucht als Rin bewusst gewesen war.

"Noch fünfzehn Minuten", hörte sie Isono dem Piloten zurufen, bevor er sich Rin näherte, der man gerade die Haare neu zurecht machte. Straff kämmte Maki jede einzelne Strähne nach hinten, während Isono noch einmal die Einzelheiten mit ihr durchging. Obwohl sie wusste, was zu tun war, war es doch beängstigend, es von einem Außenstehenden noch einmal bestätigt zu bekommen.

"Alles soweit in Ordnung, Frau Yamamori?", fragte Kaibas rechte Hand, als er die Instruktionen beendet hatte. Wenn Maki nicht ganze Arbeit geleistet hätte, wäre Isono sicher ihr bleiches Gesicht aufgefallen. Ihr war auf einmal übel. Wie vor ihrer allerersten Achterbahnfahrt - nur um ein hundertfaches stärker. Schließlich war ein Sprung aus dieser Höhe nichts, womit sie es jeden Tag zu tun hatte.

Nur nicht die Nerven verlieren! Ich habe es gestern bis zum Erbrechen geübt. Kaiba hätte es nicht durchgewunken, wenn er es mir nicht zutrauen würde.

Er hatte sogar sehr akribisch darauf geachtet, dass Rin keinen Fehler machte und erst dann die Anweisungen weitergeleitet, als er sich ganz sicher war.

Denk' dran: ich kann nicht wirklich fallen. Es ist nur eine Trick, nichts weiter.

Den Mantel umgelegt schloss Rin die Augen. Isono und ein weiterer Mitarbeiter machten sich daran, die Sicherheitsgurte anzubringen. Sie wollte ganz bewusst nicht hinsehen. Sobald man ihr das Signal erteilte, würde es auch für die junge Frau so aussehen als würde sie sich nur an einem Seil festhalten. Stattdessen versuchte sie in ruhigen Zügen zu atmen. Allmählich spürte sie wie es seine Wirkung entfaltete. Sie öffnete die Augen. Es war bereits so dunkel geworden, dass nur die holographischen Lichter die Nacht erhellten. Sobald sie die Duellbühne beträte, würde es für jeden Zuschauer so aussehen als befänden sich die Duellanten genau über dem Container, dem sie am nächsten standen. Dies gehörte zu Rins Einfällen - das Ganze mithilfe von optischer Täuschung und holographischer Tricks so wirken zu lassen als wären die Spieler aus jedem Winkel greifbar. Seto Kaiba würde es nie zugeben, aber etwas Besseres hätte selbst ihm nicht einfallen können. Darum war er auch nicht weiter darauf eingegangen und hatte die Idee einfach in sein Programm mit eingebaut - dessen war sich die junge Frau sicher.
 

"Noch fünf Minuten, Frau Yamamori", Isono stand genau hinter ihr. Er drückte auf einen Knopf, dass die Tür sich öffnete. Die Luft war kalt, starker Wind flog ihr um die Ohren. Der Lärm der Motoren war betäubend. Der zweite Mitarbeiter warf die Strickleiter hinaus.

Es ist alles gut. Du wirst das hinkriegen

Zwischen den Geräuschen des Helikopters drang Heijis Stimme zu ihr durch. Er kündigte soeben die erste Duellantin an. Einen Blick nach unten riskierend sah sie, wie ein gläserner roter Teppich erschien, der sich bis zu einem grauen Container zog. Darauf erschien niemand geringeres als Vivian Wong, die der Kommentator als zweifache KungFu-Meisterin, Model und Schauspielerin der besonderen Art vorstellte. Der Jubel, den sie einfuhr, kam bis zu Rin durch. Hauptsächlich waren es Männer, welche die gebürtige Chinesin anfeuerten. Kurz bevor sie den besagten Container erreichte, machte sie einen Satz, sprang in die Luft, zückte ihre beiden Fächer und ließ sie in ihren Händen rotieren. Wieder mit beiden Beinen auf dem Boden nahm sie die klassische Ausgangsstellung eines Kung-Fu-Meisters ein. Rin kräuselte die Lippen. Wenn Wong ihren Auftritt hin bekam, würde sie jetzt nicht den Schwanz einziehen.

"Noch sechzig Sekunden." Sie musste sich jetzt auf die unterste Stufe der Strickleiter stellen. Isono reichte ihr die Hand, die Rin dankend ablehnte. Gestern hatte ihr auch niemand geholfen, dass sie ihre eigene Technik entwickelt hatte, mit der sie sicher hinunter steigen konnte. Als beide Beine auf der untersten Stufe standen atmete sie tief aus. Die eine Hand auf der obersten Stufe, die andere umklammerte das Seil, welches sie mehrmals um ihr Handgelenk gewickelt hatte. Ihre Augen verschlangen die unzähligen, winzigen Menschen dort unten. Es waren noch mehr als sie erwartet hatte. Überall quetschen sich die Massen rein, wo sie noch Platz finden konnten. Die ersten entdeckten den Helikopter, machten ihre Nachbarn mit Handzeichen auf die Duellantin über ihnen aufmerksam. Eine ordentliche Portionen Adrenalin schob die Angst beiseite, sie konzentrierte sich auf Heijis Stimme, die Rin als nächstes ankündigte.

"Für viele schon jetzt die Newcomerin des Jahres. Mit einer Siegerquote von einhundert Prozent macht ihr keiner so schnell was vor. Begrüßt mit mir Kaiba Corporations Duellantin, Rin Yamamori!"

Und wie die Menge sie begrüßte. Aus der Perspektive der anderen musste es so aussehen als würde sie auf das Publikum herab sehen (was, wie sie sich eingestehen musste, praktisch gesehen auch zutraf). Es gab der jungen Frau zumindest genug Zeit, sich auf den Sprung vorzubereiten. Während die anderen glaubten, sie würde den Applaus genießen, konnte Rin ihren Countdown herunterzählen.

...eins - und los!

Wie bei ihrem ersten Sprung von einem zehn Meter Turm dachte sie nicht darüber nach - sie tat es einfach. Das Seil fest in der Hand, ließ sie glauben, dass es ihre Landung irgendwie abfedern könnte. Ihr Glaube wurde belohnt. Kurz bevor die Beine den Boden berührten, fühlte es sich so an als würde sie langsamer werden, dass sie eine Landung ganz wie im Bilderbuch vollführte - dicht neben ihrer Kontrahentin, die einen Satz zur Seite machte. Rins Stiefeletten bohrten sich in den Container, verursachten einen lauten Knall, der nur von dem Jubel aufgesogen werden konnte. Die Menge tobte nach Rins geglückten Sprung. Am liebsten hätte sie ein schiefes Lächeln aufgesetzt. Der Stunt war ihr besser als in den Proben geglückt.

Na, was sagst du nun Seto…Kaiba

Der Chef der Kaiba Corporation kam als Letzter hinzu, nachdem er sich auf einem benachbarten Container neben Pegasus J. Crawford eingefunden hatte. Aus dem Augenwinkel konnte Rin die schmachtenden Blicke ihrer Gegnerin ausmachen.

Ich glaub', ich kotz' gleich

"Für's Protokoll", kam Seto Kaiba ohne Umschweife auf den Punkt, "sollte dieses Duell die Endrunde entscheiden - sprich', wenn Gleichstand zwischen zwei Duellanten besteht - entscheiden Rang und Leistungen über den Endrundensieger. In dem Fall wird ein Sieg gegen den Championlegisten Vivian Wong höher angerechnet als gegen dessen Gegner." Rin kam kaum hinterher - Wongs breites Grinsen lenkte sie viel zu sehr ab.

Jetzt weiß ich, wie Lumina sich fühlen muss, wenn wir über Kaiba reden.

"Im Laufe der Endrunden kann sich das natürlich noch ändern." Er sah direkt zu Rin. "Auf Anordnung des Begründers von DuelMonsters wird Rin Yamamori von der zweiten in die erste Liga aufsteigen, sollte sie dieses Duell für sich entscheiden." Kaibas Worte erreichten die Zuschauer, die völlig aus dem Häuschen waren.

"Ich verstehe nicht", murmelte die junge Frau, "wann bin ich-"

"Eine Sonderregelung", sprach er lediglich zu Rin, dass nur sie ihn verstehen konnte, "bei drei Siegen in Folge gegen Duellanten aus der Champions-League, kann in besonderen Fällen einen Rangaufstieg begünstigen. In deiner Situation waren die Auswahlkriterien die gesonderte Stellung deiner Gegner."

Träum' ich…nein, Kaiba sieht noch genauso aus wie immer.

Ohne weiter Zeit zu verlieren, entfernte sich der junge Firmenchef, dass beide Frauen einander gegenüberstanden und Rin den Versuch aufgab, weiter darüber nachzudenken.

"Bild' dir bloß nichts darauf ein", keifte Wong, die ihr Deck aus der Disc zückte, um es mit dem ihrer Gegnerin zu tauschen. "Bisher hattest du nur Glück. Aber eines verspreche ich dir: diese Glückssträhne wird heute enden."

Sie mischten.

"Ich verlasse mich nie auf mein Glück", entgegnete Rin und nahm ihre Karten entgegen.

"Angeblich sollst du ja auch Kampfsport betrieben haben, aber ich vergleiche mich sicher nicht mit einer Stöckchenspielerin wie dir."

Als was hat die gerade meinen Kendounterricht bezeichnet?!

Rin presste die Zähne zusammen und marschierte bis ans eine Ende des Containers. Auch Wong positionierte sich. Sie sah nach unten und fing lauthals an zu kreischen.

"Oh mein Gott!", quiekte sie, "er ist tatsächlich wegen mir gekommen", sie drückte ihre Hände aneinander und strahlte, "das wird der schönste Tag meines Lebens. Er ist einfach der allergrößte. Mein Yugilein!"

Yugi…lein?

Auch Rin sah zu der Zuschauermenge. Den Duellanten mit der auffallenden Frisur erkannte die junge Frau trotz seiner unterdurchschnittlichen Körpergröße sofort. Der ehemalige König der Spiele sah zu den Spielerinnen hinauf. Heftig schüttelte er den Kopf und fuchtelte mit den Armen. Wong fühlte sich davon nicht angesprochen und machte weiter, in dem sie ihm zuwinkte und mehrmals seinen Namen rief.

Da kann man sich doch glatt fremdschämen.

"Lass' diesen armen Kerl in Ruhe und fang' endlich an deinen Job zu machen." Rin hatte Mühe, ihre Gefühle im Zaum zu halten. In Natura war ihre Gegnerin noch anstrengender als auf dem Bildschirm. Selbst die paar Minuten, die sie während der Dreharbeiten hatten zubringen müssen, hatte Rin nicht annähernd so nervtötend in Erinnerung. Sie fühlte sich heute aber auch extrem darauf angesprochen, dass sie sich selbst kaum wiedererkannte.

"Jemand wie du versteht sowieso nichts davon", blaffte Wong und rümpfte die Nase.

"Du hast recht", Rin warf ihren Pferdeschwanz nach hinten, "von Stalking verstehe ich wirklich nichts."

Als Antwort fauchte Wong und schaltete ihre DuelDisc ein, dass Rin es ihr gleich tat. Blaues Licht schoss aus der Disc, dass Rin darin gänzlich umhüllt wurde.

Was glaubt die eigentlich, wer sie ist
 

Auf das Signal des Kommentators riefen beide Frauen >Duell<

Ein für die Spieler unsichtbarer Zufallsgenerator hatte Rin für den ersten Zug erwählt.

Dein überhebliches Getue kannst du dir sparen - ich mach' dich fertig, egal was es kostet und dann siehst du, was du von deinem Gehabe hast.

"Ich ziehe", Rin nahm die oberste Karte vom Stapel, "hoffentlich hast du dich vorher nochmal frisch gemacht, denn ich werde dir sowas von Feuer unterm Hintern machen, dass dir nicht mal Zeit zum Denken bleibt."

"Das werden wir ja sehen", erwiderte Wong und lächelte in sich hinein.

Na warte

"Zieh' dich warm an!" Sie zeigte eine Monsterkarte vor. "Dieses nette Kerlchen nennt sich Nebeldrache."

"Na und", Wong schüttelte den Kopf, "wie ich sehe, ist das ein Achtsterne-Monster. Du kannst ihn nicht einfach beschwören, ohne dafür zwei andere Monster zu opfern. Oder willst du Drohungen aussprechen, die du nicht halten kannst?"

"Irrtum!", klärte Rin auf, "Nebeldraches besondere Fähigkeit erlaubt es mir, ihn ohne Tribut zu beschwören, gleich nachdem ich ihn vorgezeigt habe "

"Unmöglich!"

"Und nicht nur das: wenn ich ein weiteres Monster der Stufe acht in den Händen halte, darf ich es ebenfalls beschwören. Und sieh mal einer an, was ich hier habe." Sie präsentierte die zweite Karte. Ihre Gegnerin riss die Augen auf. "Der weiße Nachtdrache - wie kannst du ihn jetzt schon aufs Feld holen?"

"Weil ich es kann", Rin streckte die linke Hand nach oben aus. Unter ihren Füßen begann es zu vibrieren. Peitschender Wind schlug ihnen um die Ohren, als vier kräftige Schwingen hinauf schossen, sich formierten und zwei Drachen präsentierten, deren lautes Gekreische durch den gesamten Hafen schallte. Ein Raunen ging durch die Menge.

"Yamamori hat ihr stärkstes Monster aufs Feld beschworen!" Hörte sie Stimmen unter sich rufen.

"Ja, Mann, und das in der ersten Runde!"

"Und der andere Drache hat auch schon zweitausend Atk! Noch so ein Zug und Vivian Wong ist erledigt."

Rin stemmte die Hände in die Hüften. "Natürlich ist diese Spezialbeschwörung nicht ganz ohne. Meine Drachen bleiben in dieser Runde in Verteidigungsposition, aber das sollte soweit egal sein. Schließlich kann ich dich erst in der Nächsten angreifen." Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Weiße zu blinken begann. "Ein weiterer Preis, den meine Monster zahlen müssen: sie verlieren sämtliche besondere Fähigkeiten."

"Wie überaus praktisch", entgegnete Wong und spielte mit einer ihrer losen Strähnen, "ich glaube, ich sollte mich bei dir bedanken, Yamamori. Du ersparst mir damit eine Menge Arbeit."

"Soweit lasse ich es erst gar nicht kommen", sagte Rin ohne eine Miene zu verziehen. "Ich spiele noch zwei Karten verdeckt und beende meinen Zug."

"Na endlich", stöhnte ihr Gegenüber und zog eine Karte. "Es wird Zeit, den Anfängern ihren Platz zu zeigen! Ich beschwöre Bärenblocker im Angriffsmodus." Ein etwas zu groß geratener Teddy mit 1600 Atk stellte sich vor Vivian Wong. Seine Vorderpfoten zeigten auf Rin, dass sie zwei rot leuchtende Kreise darin entdecken konnte.

"Wie ich sehe, hat dein Nebeldrache keinen einzigen Verteidigungspunkt, dass er kein Gegner für meinen Bären ist: Bärenblocker", sie zeigte auf ihr Monster, "greif' ihren Nebeldrachen an!" Der Bär brüllte, rannte auf Rins Spielfeldseite zu. Die Kreise in seinen Handinnenflächen formierten sich zu Energiekugeln, die direkt auf den Drachen zuflogen.

"Nicht so hastig", rief Rin, "ich decke meine Fallenkarte auf: Angriff annullieren!" Ein roter Ring wirbelte vor ihrem Nebeldrachen, sog sämtlichen Schaden des Monsters auf und beendete Wongs Battlephase. Diese zuckte lediglich mit den Schultern. "Nichts, was ich nicht schon kenne", spottete sie und legte noch drei Karten verdeckt.

Dieses Monster: sie spielt es zum ersten Mal. Ich kenne ihr Deck. Diese Karte wäre mir aufgefallen. Was hat das zu bedeuten?

"Was ist denn los, Yamamori", ihre Gegnerin lachte laut auf, "überfordert, weil ich nicht nach deinen Regeln spiele?"

"Keineswegs", Rin war am Zug, "wäre doch langweilig…aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr." Sie zeigte auf ihre Drachen.

"Dein lächerlicher Tanzbär wird deine Lebenspunkte nicht schützen können. Ich setze meine Monster in den Angriffsmodus." Die Drachen machten sich bereit. Ihren Kampfeswillen spürte Rin bis zu den Fingerspitzen. Aber vielleicht rührte es daher, dass eigentlich sie es war, die kämpfen wollte. "Als erstes greift mein Nebeldrache deinen Bärenblocker an." Grelles Licht trat aus dem Drachen, direkt auf Wongs Monster.

"Ich decke meine Falle auf: Verstärkungen", die Mittlere der drei Karten leuchtete auf, "damit erhält mein Bär zusätzliche fünfhundert Angriffspunkte. Aber, was noch viel besser ist, er ist jetzt mit 2100 stärker als dein Monster. Also: bye bye, Drache Nummer eins." Sie winkte mit der linken Hand.

Ich habe auch noch eine verdeckte Karte, mit der ich ihren Triumph im Keim ersticken könnte. Aber es wäre nicht so clever, sie jetzt schon einzusetzen. Die hundert Lebenspunkte werde ich schon verkraften. Wäre ja auch zu schön gewesen, diese arrogante Pute nach nur zwei Zügen fertig machen zu können.

Zu tausenden von Splittern explodierte ihr Nebeldrache, dass sie sich ganz ihrem Weißen widmete. "Meinen Nebeldrachen magst du besiegt haben, aber mein Nachtdrache ist mit dreitausend Angriffspunkten um Längen stärker als dein Bär. Weißer Nachtdrache", erteilte sie ihrer geliebten Kreatur den Befehl, "puste ihren Kuschelbären vom Feld - mit Diamantenblitzattacke!" Der Weiße riss sein Maul auf.

"Perfekt", grinste ihr Gegenüber schief, "es wird Zeit für meine zweite Fallenkarte: Maßregelung."

"Was?!"

"Scheinbar hast du schon von dieser Karte gehört."

Der weiße Nachtdrache stoppte seinen Angriff. Eine unsichtbare Kraft machte ihn bewegungsunfähig. Das Werk von Wongs Fallenkarte.

"Dann wirst du sicher wissen, was gleich mit deinem Drachen passiert." Ihre Gegnerin hob ihre Stimme an. "Ich werde die Kontrolle über dein Lieblingsmonster übernehmen. Weißer Nachtdrache, Beifuß!"

"Das glaubst aber auch nur du", rief Rin und deckte ebenfalls eine Karte auf. "Wenn ich Kosmoszyklon spiele, kann ich deine Falle vernichten-"

"Falsch!" Ein lautes Brüllen ging von ihrem Bären aus. Er stürmte auf Rins Fallenkarte zu und zerfetzte sie in mehrere Einzelteile. "Bärenblockers Spezialfähigkeit", lächelte Wong schief, "solange er auf dem Feld ist, kannst du während deines Zuges keine meiner Zauber- oder Fallenkarten vernichten.

Das kann nicht wahr sein

Rin knirschte mit den Zähnen. Nicht nur, dass ihre stärkste Karte von ihrem Gegner kontrolliert wurde. Obendrein stand sie jetzt ohne Fallen- und Monsterkarte auf dem Feld. Wie war es bloß dazu gekommen?

Wenigstens verbietet ihr die Fallenkarte Maßregelung mich mit meinem Weißen anzugreifen, sonst wär's das für mich…Scheiße! Woher hat die Zicke diese Karten?

"Was schaust du denn so blöd aus der Wäsche?", feixte Wong und lachte, "sicher würdest du jetzt am liebsten rum heulen, weil du dachtest, ich würde mit meinem Standarddeck kämpfen. Tja", sie zuckte mit den Schultern, "da muss ich dich leider enttäuschen. Im Gegensatz zu den anderen Plinsen, habe ich deinen kleinen Trick durchschaut. Yamamori", sie zeigte auf Rin , "du konntest bisher nur gewinnen, weil du die Decks deiner Gegner kanntest und durch Glück ihre Karten erraten konntest. Aber ich werde auf deine billige Showeinlage nicht hereinfallen."

"Du hast extra wegen mir dein Deck verworfen?" Rin schüttelte den Kopf. "Soll ich mich jetzt etwa geschmeichelt fühlen?"

"Du solltest lieber vor mir auf die Knie gehen. Nicht mehr lange und deine kurze Karriere findet ihr jähes Ende. Ich ziehe."

Rin hätte nicht geglaubt, dass Wongs Lächeln noch diabolischer werden könnte.

"Du bist sowas von erledigt! Endlich kann ich dich zurück in die Gosse befördern. So jemandem wie dir steht es gar nicht zu, sich mit meinesgleichen abzugeben. Und das werde ich dir hier und jetzt beweisen", sie klatschte eine Karte aufs Feld, "ich decke meine Zauberkarte auf: Rüstung aus seltenem Gold. Wenn ich sie an deinen Nachtdrachen anhänge, darfst du keine anderen Monster außer ihn angreifen."

Auch das noch!

"Der Spaß fängt jetzt erst an", Wong brachte sich in Kampfposition, indem sie wie zu Beginn zum Sprung ansetzte und Arme und Beine in eine typische Kung Fu-Pose brachte. "Wenn du mich schlagen willst, müsstest du wohl meinem Bärenblocker vernichten. Aber da du ihn nicht angreifen darfst, wird es dir unmöglich sein, meine Fallenkarte Maßregelung zu zerstören. Außer du greifst dein eigenes Monster an, obwohl ich schwer bezweifle, dass es ein Monster in deinem Deck gibt, das es mit dem weißen Nachtdrachen aufnehmen könnte. Habe ich nicht recht?"

Diese verdammte-

"Yamamori", Wong riss die Augen auf, "mach ' dich auf deine erste Niederlage gefasst!"

Mit zusammengepressten Lippen starrte Rin zu ihrem Monster herüber, das Wongs absoluter Kontrolle unterlag. Sie spürte den Zorn der Bestie, hörte seinen Schrei, der dem verzweifelten Versuch seines Widerstandes entsprungen war. Gegen Wongs Fallenkarte war der Weiße machtlos - ebenso Rin, die keine Karte in ihrer Hand hatte, die etwas daran ändern konnte. Dass sie ihn im Angriffsmodus behielt, schürte nur noch mehr Hass gegenüber Industrial Illusions Duellantin, die sich ihres Sieges bereits sicher schien. Rins derzeitige Lage konnte dem nicht einmal widersprechen.

Ausgerechnet gegen sie

"Mal sehen, womit ich dich als nächstes quälen könnte", Wong sah zu den Karten in ihrer Hand, summte vergnügt und tippte jede einzelne von ihnen an, "ach, ich weiß. Hiermit!" Sie legte eine Karte aufs Feld. "Ich beschwöre Shafu, den fahrenden Mayakashi!"

"Mayakashi?!"

Wong hat tatsächlich ihr Deck umgebaut! Wie kann sie-

"Shafu", erklärte Wong, nachdem ein Rikschafahrer das Spielfeld betreten hatte, "erlaubt es mir, einen weiteren Mayakashi aus meinem Friedhof in Verteidigungsposition zu rufen. Oh ja, ganz recht, die Karte, die ich vorhin abgelegt habe, ist niemand geringeres als Hajun, der geflügelte Mayakashi!" Ein weiterer Unterweltler stieg aus dem Boden. Er streckte seinen Stab in Richtung gegnerischen Spielfeldes aus. Der Kampfschrei eines Kriegers ertönte, dann ging er in die Hocke, um in Verteidigungsposition zu gehen. "U-und", klatschte Wong in die Hand, "weißt du schon, was als nächstes kommt?"

"Du beschwörst ein weiteres Mayakashi-Monster."

"Du bist ja doch nicht so grün hinter den Ohren", feixte ihre Gegnerin und zeigte auf ihre DuelDisc, "sobald Hajun beschworen wurde, darf ich ein weiteres Monster von meinem Deck beschwören. Aller guten Dinge sind eben drei: komm' raus, Yuki Musume!" Ein kleines schwarzhaariges Mädchen rundete das Trio ab. "Und natürlich setze ich sie ebenfalls in den Verteidigungsmodus."

Natürlich. Yuki Musume hat ja auch keinen einzigen Angriffspunkt. Selbst du kannst nicht so dumm sein…naja, mal sehen-

"Na, was sagst du?", präsentierte die gebürtige Chinesin ihre Monstersammlung. Rin ließ der Anblick nur kopfschüttelnd zurück.

"Keine Ahnung, was du mit all diesem Kleinmist vorhast, aber so wirst du mich nie vernichten können."

"Ach wirklich. Du bist doch nur neidisch, weil ich ganze fünf Monster auf meiner Seite habe und du nicht einmal ein Läppisches, das deine Lebenspunkte verteidigen könnte."

"Hör' auf zu labern und mach' endlich", entgegnete Rin, die allmählich die Geduld verlor. Diesen Zustand konnte sie so nicht auf sich beruhen lassen.

"Du willst es ja nicht anders", Wong machte ihren Bärenblocker bereit. Seine Attacke richtete sich auf Rin, die sich die 1600 Angriffspunkte über sich ergehen lassen musste - selbst von einem so peinlichem Monsters wie diesem. Als dann noch Shafu mit seiner Rikscha voran stürmte und weitere 1200 Lebenspunkte raubte, hätte die Schmach kaum größer sein können.

Besiegt von einem Teddy und einem Männlein mit Rikscha - nein, Rin, so kannst du es nicht enden lassen!

Sie ballte die Hände zur Faust.

"Boah, Yamamori hat nur noch 1100 LP!" Dem Jungen, der das gesagt hatte, hätte sie nur zu gerne das Maul gestopft. Aber er hatte recht. Diese Tatsache ließ sich nicht leugnen.
 

"Im nächsten Zug mache ich dich fertig!", verkündete Wong, nachdem sie eine Karte verdeckt gelegt hatte. Ihre Worte klangen wie ein Versprechen. "Ich beende meinen Zug."

Komm' schon, Rin. Du hast früher schon in brenzligeren Situationen gesteckt.

Sie zog und betrachtete die Zauberkarte in ihrer Hand.

"Unzufrieden?", lächelte Wong, "du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut es sich anfühlt, jemanden wie dich auf den Boden der Tatsachen zu befördern."

"Jemanden wie mich?"

Ihr Gegenüber legte den Kopf schief. "Du und ich - wir liegen Welten auseinander. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Neben meinem Charme kannst du bloß abstinken."

Welchen Charme?

Sie zeigte mit ihren Karten auf Rin. "Dass jemand wie du die Kaiba Corporation präsentiert", sie biss sich auf die Unterlippe, "eine Schönheit wie ich hätte diejenige sein sollen, die an Kaibaleins Seite steht. Nicht so ein Schandfleck wie du."

Kaibalein? Die dreht ja völlig am Rad

Die junge Frau regte sich nicht. Ihr brannten so viele Kommentare auf den Lippen, die nicht im mindesten ihren Ärger hätten beschreiben können. Rin wäre bloß schwach rübergekommen, wenn sie ihrer Gegnerin Paroli geboten hätte - das konnte sie in ihrer Lage am wenigsten gebrauchen.

Diesen Triumph gönne ich dir nicht

Zumindest kannte sie jetzt den wahren Grund für Wongs Zickereien.

Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, Kaiba hat sie eiskalt abblitzen lassen

Das wiederum entlockte ihr innerlich ein Schmunzeln.

Von außen verzog Rin jedoch keine Miene, sie war zur Eissäule erstarrt. Die DuelDisc sandte ein Kribbeln in ihren Arm aus. Sie sah von ihrer Karte direkt zu Wong. Ihre Augen jagten einen Giftpfeil nach dem nächsten. "Und trotzdem", sagte die junge Frau, nachdem sie im Geiste tief eingeatmet hatte, "stehe ich hier - und nicht du. Was hälst du davon, wenn du dein hübsches Köpfchen mal ein wenig anstrengst. Dann erkennst du den wahren Unterschied zwischen uns beiden."

"Was willst du damit sagen?"

"Das wirst du früher oder später selbst erkennen. Aber genug Zeit verschwendet. Ich lasse lieber die Karten für mich sprechen: Ich spiele Hüter der Drachenmagie - im Angriffsmodus." Die Gestalt eines Kriegers in Drachenrüstung erschien auf ihrer Seite des Feldes. Die scharfe Spitze seines Speeres reckte er in die Höhe. Mit 1800Atk kein so übles Monster, wenn sie denn jemand anderes als ihren Nachtdrachen angreifen dürfte.

"Das Monster wird dir nichts nützen", schüttelte ihre Gegnerin müde lächelnd den Kopf.

"Das werden wir sehen", raunte Rin, die sich ganz auf ihr Duell zu konzentrieren versuchte, "scheinbar kennst du seine besonderen Fähigkeiten nicht: Zunächst werfe ich eine Karte ab", die Entscheidung fiel ihr nicht schwer, "dann darf ich ein Fusionskarte aus meinem Deck ziehen." Ihr Gegenüber kniff die Augen zusammen.

"Als nächstes", Rin machte einfach weiter, "wenn ich ein Fusionsmonster besitze, darf ich eines der dafür benötigten Monster direkt von meinem Friedhof auf das Feld setzen." Ihre Monsterzone blinkte auf. Die Karte erschien verdeckt in Verteidigungsposition. Wong kräuselte die Lippen. "Du wirst doch nicht-?"

Die junge Frau blieb völlig gelassen. "Was ist denn los", säuselte sie, "du wirst doch nicht etwa Angst haben, was ich darunter versteckt haben könnte? Ich dachte, ich kann dir nichts mehr vormachen."

"Du", knurrte Wong, "ich weiß, dass du drei weiße Drachen mit eiskaltem Blick besitzt. Aber du wirst es nicht wagen, sie in den Endrunden einzusetzen."

"Lassen wir uns überraschen." Rin lächelte, nicht gerade ehrlich, dafür umso selbstsicherer. Wongs Unsicherheit war der Anstoß für ihr Ego, den sie gebraucht hatte.

"Davon lasse ich mich nicht einschüchtern."

"Das würde ich dir auch raten, wenn du noch gewinnen willst. Ich beende meinen Zug."

"Ich bin dran." Als Wong ihre Karte zog, stellte sich ein schallendes Gelächter ein. "Einfach nur fabelhaft", rief sie entzückt, "das ist genau das Richtige, um meinen Sieg gebührend zu feiern. Stell' dich schonmal auf eine entwürdigende Niederlage ein."

"Noch peinlicher als dein Lachen kann es wohl kaum noch kommen."

"Red' du nur. Aber du wirst schon sehen, was ich meine: Es ist Zeit, Yuki Musume und Hajun zu opfern."

Welches Mayakashi-Monster will sie denn beschwören? Von ihnen gibt es keine fünf Sterne Monster oder höher…

Zwischen den Feldern, in denen Wong ihre Monster opferte, bildete sich ein schwarzer Strudel. "Ich denke, du wirst sie kennen", Wong hätte sich nicht ungenauer ausdrücken können. Dafür sprach das Monster für sich selbst. Sobald ein Stöhnen über das Feld ging, zuckte Rin zusammen.

Das kann nicht…sie hat nicht wirklich…

Aber sie hatte. Die Gestalt des schwarzen Magiermädchens war unverkennbar, ihre Karte mindestens so berüchtigt wie die ihres männlichen Gegenstücks. Rin erinnerte sich nicht, wann sie das letzte Mal auf der gegnerischen Seite gestanden hatte, und in diesem Moment war es ihr auch herzlich egal. Der Anblick der Magierin im knappen Outfit, wie sie schwebend vor ihrer Besitzerin in Position ging, ließ Rin Erinnerungen aufleben, die sie eigentlich vergessen wollte.

"Siehst du das, mein süßer Yugilein?!", Wongs schrille Stimme holte Rin zurück in die Gegenwart. Wie ein Groupie rief sie dem jungen Mann unter ihnen zu, der fast genauso geschockt schien wie Rin. Sichtlich irritiert sah Yugi Muto zwischen dem schwarzen Magiermädchen und den restlichen Monstern hin und her. Die junge Frau ahnte, was in seinem Kopf vorging und stimmte ihm absolut zu.

"Na, was sagst du jetzt?" Wong hatte es geschafft, sich von dem Anblick ihres Idols loszureißen und lächelte nun Rin breit an. Diese reagierte nicht auf sie. Dafür war sie noch viel zu geschockt von dem, was sich hier abzuzeichnen schien.

"Hat es dir so die Sprache verschlagen? Ich dachte, ich überrasche meinen Yugilein - als Zeichen meiner tiefsten Verehrung." Ihr entfleuchte ein Seufzer, der jedoch nicht mit dem ihres Monsters mithalten konnte. Rin standen die Nackenhaare zu Berge.

"Dass du es wagst-", murmelte Rin, die nicht gemerkt hatte, dass sie ihre Gedanken gerade laut ausgesprochen hatte.

"Ich kann deinen Ärger schon verstehen; schließlich sieht man nicht alle Tage seinem Untergang entgegen."

"Du verstehst gar nichts", Rin spürte, wie der Ärger sich an die Oberfläche zu graben versuchte - und sie wusste nicht, ob sie noch länger dagegen halten wollte.

"Nur keine Sorge", sagte Wong und beugte sich leicht nach vorne, "sie wird nur Zuschauerin sein. Damit ich weiß, dass Yugi im Herzen immer bei mir ist. Denn ich brauche nur meinen Bärenblocker, um dich ein für allemal vom Feld zu pusten."

"Und wie? Dein dicker Bär ist schwächer als mein Hüter."

"Nicht mehr lange", Wongs verdeckte Karte kam ins Spiel. Rin ging einen Schritt zurück, mehr konnte sie auch nicht machen, sonst wäre sie in die Zuschauermenge gestürzt.

"Zeit für den Schneemanneffekt", verkündete ihre Gegnerin und breitete die Arme wie zur Umarmung aus, "jetzt bekommt mein Bär die vereinte Macht meiner Monster!" Ihre verbliebenen Monster falteten die Hände wie zum Gebet. Die Häupter gesenkt übertrugen sie ihre Angriffspunkte auf den Bärenblocker, der mit 4800 Atk eines der stärksten Kreaturen war, denen Rin jemals gegenübergestand. Der jungen Frau lief ein Schweißtropfen die Schläfe hinab. Hüter der Drachenmagie hatte keine Chance gegen den Bären.

"Bärenblocker", Wong zeigte auf ihr stärkstes Monster, "greif' Yamamoris offenes Monster an. Mach' sie alle!"

"Nein!", rief Rin, welche die Augen aufgerissen hatte.

"Zu spät. Es ist vorbei für dich." Der Bär stürmte auf seinen Gegner zu, breitete die Arme aus und formte zwei Energiekugeln. Vor dem Hüter der Drachenmagie stehend, hielt er abrupt inne. Er ließ die Arme sinken, ging stattdessen auf die Knie.

"Was soll das?", Wong starrte entsetzt auf ihren Bärenblocker, "wieso hat mein Monster seinen Angriff gestoppt?"

Als Antwort zeigte Rin ihre Karte vor: Feindkontrolle.

"Das ist unmöglich! Du kannst nicht einfach die Kontrolle über mein Monster übernehmen! Dafür hättest du erst eines deiner Monster opfern müssen."

"Hast du auch mal die Karte bis zu Ende gelesen?" Rin schüttelte den Kopf. "Dann wüsstest du nämlich, dass Feindkontrolle eine weitere Option offen hält", sie zeigte auf Wongs Bärenblocker, der zurück auf seinen Platz gegangen war, "und zwar den Wechsel in den Verteidigungsmodus!"

"Nein."

"Tja, das war wohl nichts mit deiner Fallenkarte."

"Ich bin noch nicht fertig, du überhebliches Großmaul! Mein schwarzes Magiermädchen war noch nicht am Zug." Ihre Gegnerin deutete auf Rins verdecktes Monster.

"Bist du sicher, dass du ihn angreifen willst?" Rin lächelte gelassen - sehr zum Ärger ihrer Kontrahentin.

"Auf deinen Bluff falle ich nicht herein. Niemals hast du den weißen Drachen auf deiner Seite. Schwarzes Magiermädchen, greif' Yamamoris verdeckte Karte an - schwarze Magie-Attacke!" Das Magiermädchen wedelte mit ihrem Stab und schickte ihre dunklen Kräfte in Richtung ihres Monsters. Als die schwarze Magie die Karte berührte, offenbarte sich die Kreatur. Wasser spritzte von allen Seiten, streifte Rins linken Arm, dass sie kurz glaubte, dessen Kälte zu spüren. Aus eben diesem Wasser tauchte der Wasserdrache auf, spritzte noch mehr Flüssigkeit in die Luft, dass einzelne Tropfen über ihren Köpfen schwebten.

"Was ist das?" Wong schien nicht zu verstehen, weshalb Rins Monster noch immer auf ihrer Seite stand.

"Hast du es denn nicht begriffen", säuselte Rin und verschränkte die Arme vor der Brust, "mein Wasserdrache hat 2600 Verteidigungspunkte, schwarzes Magiermädchen zweitausend. Möchtest du, dass ich dir die Differenz ausrechne?"

"Nein", knirschte ihre Kontrahentin mit den Zähnen als ihr Lebenspunktestand um sechshundert leichter wurde.

"Ich sagte doch, dass du meine verdeckte Karte nicht angreifen sollst. Du wolltest ja nicht hören."

"Halt die Klappe", blaffte Wong, bevor sie zu ihrem Monsterfeld herüber sah und zu lachen begann. "Egal, was du auch versuchst, du bleibst mir unterlegen. Dein Drache mag in Angriffsposition stark sein, aber nichts schlägt deinen weißen Nachtdrachen. Solange du ihn nicht besiegen kannst, bist du zum scheitern verurteilt. Gib' doch einfach zu, dass ich dir eine Nummer zu groß bin und erspare dir dieses peinliche Ende - für euch beide." Lächelnd deutete sie auf den gegenüberliegenden Container. Rin brauchte nicht hinzusehen, um Seto Kaibas Blicke von der Seite zu spüren. Dieses Gefühl war seit dem Verlust ihres stärksten Drachen präsent. Dass der junge Firmenchef wohl wenig erfreut über diese Wendung sein musste - dafür brauchte Rin nicht einmal telepathische Fähigkeiten.

Kaiba…wenn du mir auch nur eine Sekunde vertraut hast…was red' ich denn da schon wieder-

"Mach' endlich deinen letzten Zug!" rief Wong, dass Rin sich wieder ganz ihrer Gegnerin widmete.

"Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich von zwei billigen Flittchen fertig machen lasse!" Das schwarze Magiermädchen vor Augen nahm Rin eine Karte vom Stapel. "Ich setze meinen Hüter in den Verteidigungsmodus."

"Wer hat denn da Angst um seine Lebenspunkte?"

"Dann lege ich eine Karte verdeckt und beende meinen Zug", Rin ignorierte Wong, die sich kaum noch vor Lachen halten konnte.

"Mehr hast du nicht drauf? Scheinbar willst du wirklich um jeden Preis verlieren. Na schön, wenn du dich nicht geschlagen geben willst, werde ich dir den Gefallen tun und dir deine letzten Lebenspunkte ausquetschen."

Rin schüttelte den Kopf: "Du redest die ganze Zeit davon mich auszuschalten. Wieso tust du uns nicht allen den Gefallen und hörst mit dem Reden auf", ein Wassertropfen landete auf ihrer Nasenspitze, diesmal war sie sich sicher, dass er nicht von ihrem Drachen stammte. "Wenn du mich wirklich schlagen kannst, dann beweise es mir!"

Weniger ihre Worte als Rins Ton ließen Wong zusammenzucken. Ihre eigenen Mundwinkel bebten, sie schien nach dem passenden Konter zu suchen. "Dafür, dass ich dich in die Enge getrieben habe, nimmst du den Mund noch ganz schön voll. Oder denkst du etwa, du könntest mir mit deiner verdeckten Karte Angst einjagen?" Wong stemmte die Hände in die Hüften. "Hast du etwa vergessen, dass Bärenblocker meine Fallen- und Zauberkarten beschützt? Nicht zu vergessen, dass Rüstung aus seltenem Gold auf dem Spielfeld liegt und mein Monster damit unantastbar werden lässt."

"Du bist diejenige, die etwas Entscheidendes vergessen hat!" Rin zeigte auf ihre Gegnerin.

"Und was soll das sein?"

"Du hast es hier mit meinem Deck zu tun. Ich für meinen Teil vertraue jeder meiner Karten!"

"Was soll das heißen, hä?" Die Schwarzhaarige wischte sich ebenfalls einen Tropfen aus dem Gesicht. "Willst du etwa sagen, dass du mit diesem jämmerlichen Haufen gegen meine unbesiegbare Kombo bestehen könntest?"

"Nicht nur das, ich sage dir, dass ich dafür nur diese eine Karte brauche."

"Schwachsinn! Deine Psycho-Spielchen ziehen bei mir nicht, klar?!" Schließlich murmelte Wong noch ein paar Sätze, die durch die tobende Menge untergingen und machte sich für ihren Zug bereit. "Ich ziehe!" Wong grinste die Karte in ihrer Hand an und rief: "Ich spiele Topf der Gier! Sie erlaubt es mir, zwei weitere Karten zu ziehen…und sieh ' mal einer an, was ich gefunden habe: eine hübsche Zauberkarte namens erweiterte dunkle Magie!" Ein roter Schleier umhüllte das Magiermädchen mit einem grell leuchtenden Licht. "Damit bekommt sie einen einmaligen Powerschub von eintausend Angriffspunkten! Na, was sagst du nun?!" Das schwarze Magiermädchen sog sämtliches Licht in sich auf, dass ihre Werte auf dreitausend angestiegen waren. Stumm verfolgte Rin den überraschten Ausdruck, den das Magiermädchen aufgesetzt hatte, nachdem es mit dem weißen Nachtdrachen zum stärksten Monster auf dem Feld gekürt worden war. Die junge Frau blieb davon unbeeindruckt, dass sie nicht einmal ihre Miene verzog. Wie oft hatte sie eine ähnliche Taktik bei ihrer besten Freundin erleben dürfen. Nur war Lumina im Gegensatz zu ihrer jetzigen Gegnerin ein Profi in Sachen Magierdeck, dass Wongs Zug lediglich wie ein schlecht abgepauschtes Bild aussah.

"Dir scheint wohl nicht klar zu sein, dass ich dich ganz leicht platt machen kann!", rief Wong ihr zu und verschränkte die Arme vor der Brust. Seit Beginn ihres Zuges schien die Temperatur um einige Grad nach unten gegangen zu sein. Eine kühle Brise wehte Rins Wangen entlang, bevor ein Donnerschlag ihre Kontrahentin zusammenzucken ließ. Nicht mehr lange und ein Gewitter würde sich zusammenbrauen. Ebenso wie die aufkommende Regenfront ließen sie Wongs Worte kalt: "Dein Magiermädchen mag jetzt dreitausend Lebenspunkte haben, aber das gilt nur für diesen einen Zug. Danach ist sie wieder nur ein schwaches, kleines Ding…genau wie du."

"Und wenn schon", winkte Wong ab, "nach dieser Runde ist es sowieso für dich gelaufen. Ich habe drei Monster - du nur zwei. Sobald ich alle deine Monster vom Feld gepustet habe, wird mein Mayakashi deine restlichen Lebenspunkte auslöschen! Geh' lieber ein Stück nach vorne, es könnte gleich sehr ungemütlich für dich werden."

Rin blickte über ihre Schultern. Die fünf Meter, die es nach unten ging, entlockten ihr nicht einmal ein Schulterzucken. Stattdessen ließ sie ihre Absätze über den Container schweben, dass sie nur noch mit den Schuhspitzen auf ihm stand.

"Was soll das werden?!", rief ihr Vivian Wong zu, wobei sie einen Satz zur Seite machte, als ein weiterer Donner ertönte. "Willst du mich hier emotional erpressen, oder was?! Glaubst du, ich würde meine Monster zurück pfeifen, wenn du einen auf Lebensmüde machst?!"

"Mach' dich nicht lächerlich", entgegnete Rin und fasste sich durch ihren Zopf, "ich werde nicht fallen. Ich sagte es dir bereits: ich vertraue meinen Karten."

Und meinen Fähigkeiten, das holographische System zu beherrschen.

Auch wenn sie darauf mehr Vertrauen setzte als ihr gut tat.

"Du spinnst doch!", Wong zögerte nicht länger und ließ ihr schwarzes Magiermädchen angreifen. Ihre Attacke richtete sie auf den Wasserdrachen, der in Abermillionen Tropfen zerfiel. Der Gegendruck, welcher dessen Zerstörung auslöste, sowie der Wind, der das nahende Gewitter prophezeite, waren stärker als Rin erwartet hatte. Nur mit Mühe behielt sie die Balance, dass sie nicht wie ein in der Luft rudernder Volltrottel aussah.

"Und jetzt", verkündete ihr Gegenüber und zeigte auf den Bärenblocker, der sich in Startposition brachte, "greif' ihren Hüter der Drachenmagie an!" Das Monster lud seine Energiekugeln auf.

"Der Sieg ist mein", jubelte Wong und streckte die Arme nach oben, "was zum-", sie hielt in der Bewegung inne, "was ist das für ein Geräusch?" Wong riss die Augen auf. Hinter Rin sprangen Stahlketten aus dem Nichts hervor. Wie Geschosse flogen sie auf die gegnerische Seite direkt auf Wongs Bärenblocker zu. Die Ketten legten sich um dessen Arme, Beine und den Hals. Der Bär brüllte und ging auf die Knie.

"Was ist passiert?", stotterte Wong und sah ungläubig zu ihrem Monster, "mein Bärenblocker-" Ihr Blick schweifte zu Rin. Mit offenem Mund sah sie auf ihre Seite des Feldes.

"Deine unbesiegbare Combo", erwiderte Rin und kam wieder einen Schritt nach vorne (so nahe am Rand zu stehen erinnerte sie dann doch zu sehr an ihren letzten Traum, dass sie nicht wusste, ob sie nur aus diesem Grund so reagiert hatte und nun doch ein schlechtes Gefühl bekam), "sie hat eine Schwachstelle: dein Bärenblocker mag zwar vor meinen Angriffen geschützt sein. Das gilt aber nicht für meine Fallenkarten."

"Was?!"

"Sobald dein Bär angriff, hat er meine Falle ausgelöst: teuflische Ketten. Er macht deinen Bären nicht nur kampfunfähig, nein!" Rin schüttelte den Kopf. "Obendrein verliert dein Monster seinen Spezialeffekt."

"Das kann nicht sein!"

"Wong", rief Rin ihr zu. Mehrere Tropfen landeten auf ihrem Gesicht, der Regen setzte ein - so heftig und schnell wie es nur in ihrer Heimatstadt vorkam. "Deine Taktik war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und das werde ich dir hier und jetzt beweisen!"

"Was redest du denn da für einen Unsinn!"

"Hast du es denn nicht kapiert", Rin kniff die Augen zusammen, "mit diesem sinnlosen Kartenhaufen von einem Deck kannst du mich nie besiegen", Rin spürte die Hitze in ihrem Gesicht aufsteigen. "Nicht genug, dass du dein eigenes Deck verraten hast", sie schnaubte mit aller Verachtung, die sie aufbringen konnte, "du beleidigst damit nicht nur mich, sondern jeden Duellanten, der auch nur einen Funken Ehre in seiner Brust trägt! Dessen Deck mit Stolz erfüllt ist - mit jeder einzelnen Karte, in die er sein Herzblut und seine Seele hineingesteckt hat." Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war ihr in diesem Moment sicher, obwohl Rin nur auf ihre Gegnerin konzentriert war und nichts von den ehrfurchtsvollen Blicken mitbekam. "Alles nur, weil du gegen mich nicht bestehen kannst - das ist einfach nur erbärmlich."

"Wen nennst du hier erbärmlich!? Als ob du noch irgendetwas ausrichten könntest."

"Ich habe immer noch meine Karten!"

"Pah", schnaubte Wong, "redest du etwa vom Herz der Karten? Diesen lächerlichen Aberglauben…?! Jeder weiß doch, dass Kaiba nicht daran glaubt-"

"Ich bin nicht Kaiba", Rin spürte ein warmes, vertrautes Gefühl. Es kam von der DuelDisc. Das blau-weiße Licht strahlte aus ihr heraus, verbreitete sich über ihren gesamten Körper, dass jeder es zu sehen bekam. Staunend blickte das Publikum zu der braunhaarigen Duellantin, deren Mantel in wilder Ekstase zu tanzen begann, dass Rins felsenfeste Stimme, sowie ihr eiserner Wille den Mittelpunkt des Geschehens bildeten. Die Seelenspiegel der jungen Frau begannen wie Edelsteine zu funkeln. Niemand würde ihre Worte anzweifeln: "Und ich glaube sehr wohl an das Herz der Karten."

Sie hatte einen Versuch. Alles hing von diesem Zug ab. Auf das Deck starrend näherte sich die Hand Rins oberster Karte.

Bitte. Alles was ich tun muss, ist ihr Kartenhaus zusammenfallen lassen. Ich weiß, dass es eine Karte in meinem Deck gibt, die das schaffen kann.

Sie zog, streckte den Arm zur Seite aus und ließ die Augen zu ihrer linken Hand wandern. Rin betrachtete sie ausgiebig.

"Es ist vorbei", ihre Stimme kämpfte gegen den Regenschauer an. Dominos plötzliches Gewitter durchnässte Rin innerhalb von Sekunden. Ebenso ihre Gegnerin, deren klägliche Versuche, ihr Gesicht mit der DuelDisc zu schützen, allesamt scheiterten.

"Diese Karte ist dein Untergang...aber zuerst setze ich meinen Hüter der Drachenmagie in den Angriffsmodus." Der Hüter gehorchte und bewegte seinen Stab in Richtung gegnerisches Feld.

"Was soll das werden-"

"Als nächstes", die junge Frau zeigte ihre Karte vor.

"Was ist das", Wong hatte sichtlich Schwierigkeiten, etwas durch die Regentropfen zu erkennen. Der Rest wurde von dem Kajal verwischt, der sich wie zwei unsaubere Linien untere ihre Augen zog. Sie kniff die Augen zusammen als ein grelles Licht inmitten des Spielfeldes erschien. Ein Meteoriten ähnlicher Einschlag ließ den Container erbeben. Splitter eines gläsernen Steines flogen in alle Himmelsrichtungen. Wong kniff die Augen zusammen. Das Licht blendete jeden in einem Umkreis von mehreren Metern. Als sich das Feld zu beruhigen schien, war es Rin, die das Wort ergriff: "Meine Zauberkarte: Magische Steinausgrabung", rief sie - entgegen der kalten Peitschenhiebe, die das Gewitter gesandt hatte. Die junge Frau genoss die kühlende Dusche - war sie eine wohltuende Abwechslung zu ihrem von Hitze durchfluteten Körper.

"Eine Zauberkarte? Du glaubst, mit einer billigen Zauberkarte gewinnen zu können?" Ihre Gegnerin hatte die Augen wieder aufgerissen.

"Eigentlich ist es sogar eine Ultra Rare, aber ich will nicht kleinlich sein. Wichtig ist nur, dass wenn ich zwei Karten abwerfe, ich eine Zauberkarte vom Friedhof zurück auf die Hand holen kann."

"Na und", in Wong begann es zu arbeiten, ihr Blick veränderte sich, "aber…aber… das kann nicht sein!", rief sie entsetzt als der Groschen zu fallen schien, "die Karte…aber-"

"Erinnerst du dich nicht mehr, welche Karte dein Teddybär in der zweiten Runde zerstört hat?", entgegnete Rin, "dann wollen wir mal deinem Gehirn auf die Sprünge helfen", sie legte die Karte aufs Feld, "ich aktiviere die Zauberkarte Kosmoszyklon. Für eintausend meiner Lebenspunkte kann ich eine Zauber- oder Fallenkarte zerstören."

"Tausend?", Wong starrte auf Rins DuelDisc, deren Lebenspunkteanzeige bei einhundert stehen geblieben war. Im Vergleich zu Wong, welche mit über 3400 LP glänzen konnte, schienen die beiden Frauen Welten voneinander entfernt.

"Und wenn nur ein Punkt übrig geblieben wäre", Rin hatte keinen Zweifel, "es reicht, um dich fertig zu machen." Sie zeigte auf Wongs Fallenkarte. Von einer Sekunde auf die andere explodierte Maßregelung und verschwand vom Feld.

"Damit ist der Drache wieder mein!" Der weiße Nachtdrache brüllte, löste sich von den unsichtbaren Ketten der Unterwerfung und flog zu seiner Meisterin, die ihn lächelnd in Empfang nahm. Noch nie hatte ihr Drache schöner ausgesehen, wie er so erhaben und hingebungsvoll zu Rin hinunterblickte - als wüsste er ganz genau, an wessen Seite er gehörte. Dieser Gedanke entlockte ihr einen wohligen Schauer. Das verbesserte holographische System gekoppelt mit der virtuellen Technologie an Rins Unterarm waren Auslöser für ihre tiefsten Empfindungen - das spürte die junge Frau stärker denn je, und es war ein verdammt gutes Gefühl, dass es fast schon an einen Sieg heranreichte; wenn auch nur fast.

"Da mein Weißer zu mir zurückgekehrt ist, wird deine Rüstung aus seltenem Gold automatisch vernichtet."

"Nein", Wong zog an ihren losen Strähnen, "meine perfekte Taktik-" Die letzte Zauberkarte verschwand von ihrer Spielfeldseite.

"Du hättest vorher deinen Kopf einschalten sollen, bevor du deine neue Taktik an mir ausprobierst. Aber nach unserem Duell wirst du viel Zeit haben, darüber nachzudenken."

"Wie kannst-"

"Ich bin noch nicht fertig mit dir", Rin legte eine weitere Karte aufs Feld.

"Was hast du vor?"

"Ich bringe es zu Ende: ich aktiviere Monsterreinkarnation und hole mir meinen Wasserdrachen zurück auf die Hand. Aber nicht genug - wenn ich die hier spiele", sie legte Fusion zusammen mit ihrem Wasserdrachen und Aleister, einem Hexermonster, ab, "kann ich ihn aufs Feld holen." Aus den Wasserstrahlen des geopferten Drachen erschien dessen mächtiger Nachfahre. Durch die Adern der Kreatur floss die Quelle aus der sie geschaffen worden war. Der Regen, der den Schauplatz beherrschte, schien eigens wegen ihm erzeugt worden zu sein. Der Drache stampfte, dass der Container wie ein Echo durch den Hafen widerhallte. Zufrieden betrachtete Rin ihren neuen Begleiter, der seit Ewigkeiten nicht mehr von ihr beschworen worden war. "Die Kreatur, die deinen Untergang einläuten wird", lächelte Rin, "Cocytus." Der Drache kreischte, dass dem Letzten seine Anwesenheit bewusst wurde. Dann senkte er sein Haupt und schlang die Flügel um seinen Oberkörper.

Drei Drachenmonster standen nun Wongs gemischtem Trio gegenüber. Die geballte Kraft ihres Decks war in diesem Spielfeld zusammengefasst. Das Staunen der Menschenmasse bestätigte Rin, dass ihre kleine Machtdemonstration Wirkung zeigte. Offene Münder starrten zu den Drachen, Zuschauer riefen - dem Platzregen zum Trotze - Jubelschreie aus. Niemand hatte einen Regenschirm aufgespannt - sie alle wollten den Kampfschauplatz ganz genau vor Augen haben. Auf dem benachbarten Container waren die Blicke der beiden mächtigen Firmenchefs greifbar geworden. Jeder schien in seinen eigenen Gedanken, welche nur die Männer selbst zu ergründen wussten. Langsam ließ Rin den Blick zu ihrer Gegnerin schweifen. Ihr Anblick ließ die junge Frau bereits jetzt schmunzeln. Vivian Wongs Kleider waren vollkommen durchnässt, die Frisur zwei einzige nasse Bälle. Ganz zu schweigen von ihrem Gesicht, das sich allmählich von ihr verabschiedete. Unter den Tonnen von Makeup kam Wongs wahre Erscheinung zum Vorschein.

"W-wie jetzt", Wong blickte verdutzt zu der Kreatur, "der Drache ist in den Verteidigungsmodus gegangen?"

"Unterschätze ihn nicht", Rin legte den Kopf schief, "Cocytus wird dem dummen Blondchen hier das Gehirn wegpusten."

"Niemals. Dein alberner Drache kann nichts gegen mein Magiermädchen ausrichten. Selbst wenn, dein Monster ist mit 1800 Angriffspunkten immer noch schwächer als meine Magierin-"

"Wollen wir doch mal sehen", erwiderte Rin und legte ihre letzte Karte von der Hand ab. "Deine Überheblichkeit wird dir das Genick brechen! Hier kommt meine letzte Zauberkarte!"

"Aber", Wong starrte entsetzt zu ihrer Gegnerin herüber, "das ist ja die Zauberkarte Schild und Schwert. Das kann nicht sein!"

"Oh doch. Unsere Monster tauschen die Angriffsstärke mit ihren Verteidigungspunkten." Nun war es Cocytus, welcher mit 2900 Atk das Feld dominierte.

"Du weißt sicher, was jetzt kommt", Rin zeigte auf Wongs Monster. Ihre Angriffszahl war auf das Minimum gesunken. Ein armseliges Bild im Vergleich zu Rins mächtigen Kreaturen, die nur noch auf den Befehl zum Angriff warteten.

"Nein", krächzte ihre Kontrahentin und schmiss ihre Fächer vor die Füße.

"Hast du es begriffen?", Rin blieb gelassen, obwohl sie ihrer Gegnerin gerne ihr gemeinstes Lächeln präsentiert hätte. Ihre ruhige Art hingegeben machte Wong nur noch rasender.

"Du warst so davon überzeugt, mich besiegt zu haben, dass du deine Verteidigung außer Acht gelassen hast. Ein großer Fehler. Jedes noch so schwache Monster von dir befindet sich in Angriffsposition, du hast keine Zauber- oder Fallenkarten, die dich noch beschützen könnten. Meine Monster können sich getrost auf deine Lebenspunkte stürzen."

"Nein, nein, nein…wie konnte das nur passieren", Wong biss in einen ihrer Daumen, "ich hatte doch schon fast gewonnen."

"Aber fast reicht eben nicht. Schon gar nicht in DuelMonsters. Ganz gleich, welche Karten man auch spielt, am Ende siegt der stärkere Duellant." Sie zeigte auf ihren Hüter, "wollen wir den Zuschauern nicht länger diesen Anblick zumuten. Hüter der Drachenmagie, greif' Shafu, den fahrenden Mayakashi an!" Der Hüter wirbelte den Stab in die Luft und sandte eine Welle weißer Magie auf den Unterweltler. Vierhundert Atk waren gegen die 1300 Angriffspunkte chancenlos. Ebenso Wongs Lebenspunkte, die einen nach dem anderen abgezogen wurden.

"Verlieren wir keine Zeit: Weiter geht es mit meinem zweiten Drachen - Cocutys!"

"Dein Drache ist im Verteidigungsmodus, er kann nicht angreifen."

"Meinst du?", säuselte Rin und deutete auf ihren Drachen. Die Augen der Kreatur begannen zu funkeln. Im nächsten Augenblick verschwand er unter einer riesigen Welle. Wo Cocytus noch vor seiner Herrin gestanden hatte, tauchte er plötzlich hinter dem schwarzen Magiermädchen auf. Dieses drehte sich erschrocken zu der Kreatur, als seine Krallen direkt durch ihren Körper hindurch gingen. Mit einem verzerrten Schrei, der niemals ihre Ohren erreichte, löste sich das dunkle Magiermädchen auf, sowie weitere 1200 Punkte von Wongs Lebensanzeige. Die gebürtige Chinesin knabberte aufgebracht an ihren Fingernägeln und schüttelte den Kopf, dass wirre Strähnen über ihr Gesicht hingen. "Wie hat er das gemacht? Sowas kann doch nicht sein!"

"Nun", erklärte Rin, "Cocytus' besondere Fähigkeit erlaubt es ihm nur anzugreifen, wenn er sich in Verteidigungsposition befindet."

"Was sind das denn für kranke Karten, die du da hast?! Das ist doch-"

"Tja, nichts geht über ein starkes Drachendeck. Und schau nur, welche meiner Bestien deine restlichen Lebenspunkte ausschalten wird." Der weiße Nachtdrache flog mehrere Meter in die Lüfte, zog Kreise um den Container und kreischte zwischen Blitz- und Donnerschlägen.

"Deine verfluchten Monster!", schrie Wong.

"Bedank' dich bei deinem Bären." Rin nickte in Richtung des Bärenblockers. Entsetzt folgte Wong ihrem Beispiel. "Aber", stotterte sie, "mein Bärenblocker hat keinen einzigen Verteidigungspunkt."

"Weißer Nachtdrache", Rin zeigte auf das Monster über sich, "greif' ihr letztes Monster an", ihre Stimme wurde ganz ruhig, "und ihre Lebenspunkte gleich mit." Der Drache öffnete sein Maul. Grelles Licht erhellte die Nacht. Es war kurz vor Mitternacht, der Regen hörte nicht auf, sich über die Stadt zu ergießen. Die Container waren rutschig geworden. Der Boden, auf dem die Zuschauer standen, eine einzige schmale Pfütze. Keiner der Anwesenden schien sich daran zu stören - außer eine. Vivian Wongs verzerrtes Gesicht war Mittelpunkt der Kameraeinstellung als die Diamantenblitzattacke von oben herab auf sie und ihr Monster losging. Nach vorne auf die Knie gehend schlug die gebürtige Chinesin auf das Blech ein. Keiner wusste, ob Vivian Wong Tränen vergoss. Der Regen hatte es unmöglich gemacht, das zu erkennen. Für Rin spielte es keine Rolle. Die Arme vor der Brust verschränkt sah sie zu ihrer Gegnerin hinab. Rin hatte sie genau da, wo sie sie haben wollte. Heijis Stimme, die aus dem Nichts aufgetaucht war und die Freudenschreie des Publikums zu übertönen versuchte, ließ das Duell offiziell beenden. Applaus schallte zwischen den Containern. Die Jubelrufe der Zuschauer erstickten die Töne der prasselnden Regentropfen im Keim.

"Du hast recht", sagte Rin in einer Lautstärke, die nur ihre Gegnerin verstehen konnte, "mit einer Schönheit wie dir will ich mich gar nicht vergleichen." Sie lächelte schief, weil sie nicht anders konnte.

"Ich hasse dich, Rin Yamamori", schrie Wong und rappelte sich auf.

"Hasst du mich oder mein Aussehen", feixte die junge Frau weiter. Im Vergleich zu ihrem Gegenüber schien der Regen ihr nichts auszumachen. Dass ihr Makeup aus ihrem Gesicht gewischt wurde, war kaum zu erkennen, und Makis Wunder-Eyeliner ließ Rins Augen im teuflisch perfekten Licht erscheinen.

Wong fluchte, wobei keines der Worte zu Rin durchdrang, bevor die Schwarzhaarige von einem kleinen Team aus Securitys weggebracht wurde, dass Rin auf der Mitte des Containers stand - wie eine Säule - und den Blick jenes Mannes erwiderte, dessen eiskalte Seelenspiegel für einen kurzen Moment aufzublitzen schienen.

"Dieses Bild sollten wir uns einrahmen", grinste Mokuba Kaiba als er den beiden Frauen das Titelblatt präsentierte. Der Jüngere der Kaiba Brüder war - wie er selbst gesagt hatte - eigentlich wegen etwas Geschäftlichem ins Café gekommen. Nachdem er Makoto an Rins Stammplatz entdeckt hatte, weil diese ihrer Freundin von den neuesten Kreationen vor schwärmen wollte, war der schwarzhaarige Wuschel an sie herangetreten und hatte eine druckfrische Zeitung auf den Tisch geknallt.

"Mokuba, ich wusste gar nicht, dass du ein Zeitungsleser bist", schmunzelte Rin, die dem jüngeren Kaiba einen Platz neben sich anbot.

"Ach Quatsch", lachte Mokuba auf und machte es sich auf dem Stuhl gemütlich, "mir war bloß langweilig und da wollte ich mir am Kiosk ein bisschen die Zeit totschlagen. Aber bei der Schlagzeile konnte ich einfach nicht vorbei."
 

Auf der ersten Seite der Tageszeitung war Rins finaler Schlag gegen Vivian Wong abgebildet. Im Zentrum der Schlagzeile - das desaströse Ende eines Duellantenmodels. Die Kamera hatte Wongs verschmiertes Gesicht perfekt aufgegriffen, ebenso ihren zerknirschten Gesichtsausdruck, nachdem sie Rin tausend Flüche an den Kopf geknallt hatte.
 

"Vielleicht sollten wir es irgendwo aufhängen, wo jeder es sehen kann", Mokuba kam kaum mehr aus dem Prusten heraus. Sogar Makoto verkniff sich ein Lachen. Rin versuchte derweil gelassen zu bleiben. "Du bist ja richtig diabolisch, Mokuba. Das sind doch wohl nicht die Gene, die da durchschlagen." Jetzt musste Rin doch grinsen.

"Das hat sie nicht anders verdient", antwortete der Jüngere und nickte wie zur eigenen Bestätigung. "Nur weil sie verzweifelt war, hätte sie nicht so austicken dürfen." Er rollte die Zeitung zusammen und stopfte sie zurück in seine Hosentasche. "Nach dieser Niederlage wird's das für sie gewesen sein", er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, "es kursiert schon seit einer Weile das Gerücht, dass Industrial Illusions seine Duellanten radikal aussortieren will. Vivian Wongs Karriere hing wohl von dem diesjährigen Worldcup ab. Naja, nachdem sie so eine Show abgezogen hat, wird Pegasus Crawford wohl kurzen Prozess mit ihr machen. Alles andere würde mich nur schwer wundern."

"Nicht zu vergessen, was sie alles während des Spiels gesagt hat", entgegnete Rin und blickte in die volle Tasse Kaffee, die sie direkt vor ihrer Nase abgestellt hatte. Wenn ihr schon verboten wurde, ihr Lebenselixier zu sich zu nehmen, wollte sie doch wenigstens dessen Duft um sich haben. Besonders dann, wenn Makoto frische Bohnen in die Maschine getan hatte, dass sich der Geruch frischen Kaffees durch den ganzen Raum zog. Seufzend blickte sie auf das schwarze Gold, das seine letzten heißen Dampfwolken ausstieß.

Eigentlich ist die Woche erst übermorgen rum…aber das wäre doch Verschwendung, oder?

Vorsichtig nippte Rin an ihrer Tasse. Ihr war bis dahin nie bewusst gewesen, wie abhängig sie von dem Zeug geworden war. Interessiert beobachtete ihr Sitznachbar sie bei ihrem kläglichen Versuch, ihrer Kaffeesucht zu trotzen. Er selbst hatte einen Eistee überreicht bekommen, nachdem Makoto schnell hinter dem Tresen verschwunden und Sekunden später mit einem langen schmalen Glas aufgetaucht war. Wie Rin erfahren hatte, konnte Mokuba überhaupt keinen Kaffee ausstehen. Er selbst hatte einmal gesagt, dass sein Bruder genug für sie beide trinken würde und Rin hatte ihm das sofort abgekauft.

Von wegen, ich hätte hier das Problem.. wer schon vier Uhr frühs damit anfangen muss-

Der Jüngere der Kaiba Brüder nahm einen kräftigen Zug aus seinem Strohhalm und nickte. "Vor ein paar Wochen meldete sich Wongs Duellagent."

"So etwas gibt es?" Rin hörte zum ersten Mal davon - obwohl ihr, wenn sie richtig darüber nachdachte, dieser Gedanken schon längst hätte kommen müssen.

"Viele Duellanten, die früher einmal selbstständig waren, haben einen Duellagenten. Mai Kujaku zum Beispiel", der Jüngere kratzte sich am Kinn, "obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ihr Agent empfohlen haben soll, zu Paradius Inc. zu wechseln."

"Wenn ein gutes Angebot winkt", überlegte Rin.

"Wohl kaum", der Jüngere begann mit dem Strohhalm im Glas herum zu rühren. "Von Aussteigern wissen wir, dass Dartz seine Spieler kaum bis gar nicht bezahlt."

"Was?!" Rin verschlug es die Sprache. "Sie bekommen kein Geld?"

"Selten, ja. Wie ich hörte werden sie mit allem Nötigen ausgestattet, was sie während des Turniers so brauchen. Inklusive Apartment, einem eigenen Wagen und kostenlosem Zutritt zu sämtlichen Clubs und Restaurants. Für Mai, die bereits alles davon hat, ist das ja kein wirklicher Anreiz, die Seiten zu wechseln. Schon gar nicht für ihren Agenten." Mokuba hielt inne und starrte auf sein halbleeres Glas. "Soweit ich weiß ist Industrial Illusions - in der Firmenbranche auch als I² bekannt - der beste Ansprechpartner, was die Bezahlung angeht. Die Löhne der Duellanten sollen abartig groß sein. Ganz zu schweigen von der Aufmerksamkeit, die ihre Spieler auf der ganzen Welt bekommen."

"Ich hörte davon", murmelte Rin, die bereits eine lange Liste an verpassten, unbekannten Anrufen hatte und sie sich seit dem Abhören ihrer Mailbox sicher sein konnte, dass nur einer dafür in Frage kam.

"Wenn I² Wong rauswirft, sieht es eng für sie aus. Nach China kann sie auch nicht mehr zurück. Zumindest nicht als Duellantin. Als Crawford sie von einem großen chinesischen Unternehmen abgeworben hatte, wurde sie praktisch aus ihrem Heimatland verbannt. Die dortige DuelMonsters-Branche nimmt so einen Verrat ziemlich ernst." Der Schwarzhaarige streckte die Beine aus. "Vorletzte Woche kam dann dieser Wisch zu Seto", Mokuba seufzte, "er war stinksauer, dass dieses Angebot die Geschäftsleitung erreicht hatte. Normalerweise kümmert sich die Personalabteilung um diesen ganzen Papierkram. Wahrscheinlich ist jetzt wieder ein armer Unwissender seinen Job losgeworden…naja…mein Bruder hat sich das Angebot nicht einmal durchlesen wollen. Er sagte sowas wie 'was denken die eigentlich, was wir sind. Eine Auffangstation für Obdachlose, oder was?!'" Rin sah Seto Kaiba klar vor sich. Der eiskalte Blick und der genervte Ton, weil er in seiner eigentlichen Arbeit gestört wurde.

"Seto", sprach Mokuba weiter, "hat dem Agenten nicht mal eine Absage zukommen lassen. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb Vivian Wong neulich persönlich bei uns aufgetaucht ist."

"Echt?!" Rin machte große Augen. Nur zu gerne wäre sie an dem Tag in der Firma gewesen. Irgendwie konnte sich die junge Frau bereits denken, was passiert war.

"Das war zu dem Zeitpunkt als du noch im Krankenhaus warst und niemand von außen wusste, was nun mit dir ist. Vielleicht hat sie gedacht, du wurdest disqualifiziert und hat ihre Chance kommen sehen. Von ein paar Mitarbeitern weiß ich, dass im Flur der Kaiba Corp. ein richtiger Aufstand verursacht worden war. Wong muss geschrien haben, dass sie ein Anrecht hätte, den Chef zu sehen - sowas eben. Seit dem Grand Championship ist sie hinter meinem Bruder her…oder die Firma, ich kann es nicht so genau sagen." Mokuba zuckte mit den Schultern. "Seto hat dann einen von unseren Wachmännern aufgefordert, Wong aus der Firma zu begleiten. Wie ich gehört habe, muss sie richtig ausgeflippt sein, weil mein Bruder sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, persönlich zu antworten." Er schnaubte. "Da sieht man, dass sie nichts über ihn weiß."

Rin nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Kaffee. Es war zu schwer, das Grinsen zu unterdrücken, dass sie nicht merkte, wie sie die ganze Tasse in einem Zug geleert hatte. "Ich sehe ihren Gesichtsausdruck richtig vor mir." Rin stellte die Tasse ab.

"Mir war klar, dass Seto sie nie einstellen würde. Schon allein, weil sie bereits für Industrial Illusions gespielt hat und er grundsätzlich keine Spieler von anderen Firmen aufkauft. Außerdem würde sie überhaupt nicht zu uns passen." Er lächelte. "Wir haben schließlich dich." Rin lächelte zurück. Dann wurde Mokuba wieder ernst. "Lass' dir von so einer nicht einreden, dass du unter ihr stehst."

Die junge Frau sah ihn verdutzt an. "Wie kommst du darauf?"

"Weil sie doch sagte, dass sie viel hübscher sei als du. Das finde ich überhaupt nicht-" Er geriet ins Stocken, riss die Augen auf und wurde schlagartig knallrot im Gesicht, "also…ähm, ich meine…nicht, dass ich auf dich stehen würde-" Er fuchtelte mit den Armen, warf dabei fast seinen Eistee um, "ich meine, nicht dass du nicht süß wärst oder so…aber…nein, nochmal von vorne", er schlug mit dem Kopf auf die Tischplatte ein, "du bist schließlich älter als ich…und da…oh Gott-"

"Mokuba", stupste ihn Rin vorsichtig an der Schulter an. Langsam schaute der schwarzhaarige Wuschel auf. Seine großen runden Augen sahen nie unschuldiger aus.

Wie die eines Kindes-

"Schon gut, ich habe dich verstanden", sie lächelte, "keine Angst, ich hatte auch nie das Gefühl, dass du auf mich stehst. Du bist eher wie ein jüngerer Bruder - oder ein nahestehender Verwandter, und das soll keine Beleidigung sein." Zudem hatte Rin vor einiger Zeit raushören können, dass der Jüngere der Kaiba Brüder in ein Mädchen aus seiner Klasse verschossen sein musste, und dass Mokuba sich nur nicht traute, sie um ein Treffen zu bitten, da er kaum Zeit in der Schule verbrachte und sich nie die passende Möglichkeit ergab, sie direkt darauf anzusprechen.

"Geht mir genauso", strahlte Mokuba zurück und richtete sich wieder auf. Er kratzte sich lachend den Kopf. "Und du stehst sicher eher auf ältere Typen wie Yamato, habe ich nicht recht?"

Das ist schon das zweite Mal, dass er sowas sagt

"Wie gesagt", winkte Rin ab, "Yamato und ich sind nur gute Freunde."

"Aber stehst du auf ihn?"

"Das ist ziemlich direkt für einen Sechzehnjährigen, Mokuba", Rin beäugte ihn skeptisch, "ich könnte sonst noch auf falsche Gedanken kommen."

Wieder lachte der Schwarzhaarige. "Tschuldige. Bin nur neugierig. In der Firma wird bereits heiß diskutiert, auf was für einen Typ Mann du stehst."

"Was?!" riefen Rin und - zu ihrer Überraschung - Makoto gleichzeitig. Die Kassiererin, welche vor ein paar Minuten zur Theke zurückgekehrt war, kam an den Tisch und beugte sich zu den beiden Gästen herunter.

Mokuba, der die Aufmerksamkeit der beiden sichtlich genoss, verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust. "Was denkst du denn! Die halbe männliche Belegschaft will dich zu einem Date einladen. Die meisten haben bloß Schiss dich anzusprechen. Die andere Hälfte denkt, du bist bereits in festen Händen, weil du auf keinen ihrer Flirtversuche anspringst."

"Flirtversuche?" Rin verstand gar nichts mehr. Krampfhaft versuchte sie sich daran zu erinnern, wann und vor allem wer sie angeflirtet haben könnte.

Der Kerl von der Buchhaltung macht ständig solche Andeutungen…aber so einer baggert jede an

Makoto stupste sie von der Seite an. "Du bist ja heiß begehrt."

"Ich weiß ja nicht", nuschelte Rin und hätte am liebsten eine weitere Tasse Kaffee, hinter welcher sie sich verstecken könnte. "Vermutlich haben die bloß meinen letzten Gehaltscheck gesehen." Die junge Frau schüttelte den Kopf. "Aber ja, es stimmt. Die Blicke der anderen sind mir auch schon aufgefallen. Aber ich hatte nie daran gedacht, dass ein paar von denen auf mich stehen könnten. Ich achte da ehrlich gesagt nicht so sehr darauf. Lumina meint auch immer, dass ich wie eine Blinde durch die Welt laufe." Sie geriet ins Grübeln. "Die meisten verhalten sich erst nach meinen Duell mit Wotan Arizu so seltsam, dass ich angenommen hatte, dass es eher damit zusammenhängt."

"Na wohl eher dein Outfit", zwinkerte ihr Makoto zu, worauf Rin zaghaft zu sich herunter sah. Die junge Frau trug seit einigen Tage die Haare offen, nachdem ihr hoher Pferdeschwanz zum Erkennungsmerkmal geworden war und jeder sofort auf sie aufmerksam wurde, sobald sie damit durch die Straßen Dominos schlenderte. Dazu hatte sie sich für einen etwas dezenteren Kleidungsstil als den imposanten Mantel, den Maki ihr kreiert hatte und sie wie eine Kriegerin einer Phantasiewelt aussehen ließ, entschieden. Zumindest hatte die junge Frau geglaubt, dezent herüber zu kommen. Heute hatte sie sich ein knielanges, dunkelblaues Kleid ausgesucht, wodurch ihr silberner Armschmuck besonders gut zur Geltung kam, und nur draußen von ihrem Trenchcoat verdeckt wurde, dass nicht dem erstbesten ihre Zugehörigkeit auffiel. Das Kleid war eng um ihre Hüften geschnitten und mit einem breiten Gürtel versehen, der ihre Taille noch schmaler erscheinen ließ. Sicher nicht das unauffälligste Kleidungsstück, aber Rin war es weniger provokativ erscheinen als ihre viel zu knappe Lederhose, die tatsächlich eine beachtliche Menge an männlicher Aufmerksamkeit auf sich zog. Dabei fielen ihr immer wieder Luminas Kommentare dazu ein, die Rin am liebsten mit dieser Hose und einer dazu passenden Peitsche ablichten wollte.
 

Noch während sie versuchte, den heutigen Tag in Erinnerung zu rufen, sowie die womöglich verpassten Blicke ihrer Kollegen, vibrierte ihr Telefon. Das Smartphone, welches die ganze Zeit neben ihrer Tasse gestanden hatte, zeigte wieder einmal die unbekannte Nummer an. Lumina hatte sie bereits gefragt, wie lange sie die Anrufe ignorieren wollte, und Rin hatte auch schon in Erwägung gezogen, sich eine neue Nummer zu zulegen (wobei sie diesen Gedanken schnell verwarf, da sie sich sicher war, dass Crawford auch an diese Nummer heran käme).

"Kannst ruhig ran gehen", sagte Mokuba und lächelte, "ich wollte mit Makoto eh noch die Gebäckliste für kommenden Herbst durchgehen."

"Schon gut", winkte Rin ab und drückte den roten Knopf, "ist nur nerviger Spam."

"Wenn unsere Leute von der IT mal drüber schauen sollen-"

"Nein, nicht nötig."

Der Jüngere kramte sein eigenes Handy aus der Umhängetasche, die er neben seinem Stuhl liegen hatte. "Obwohl, bevor ich mich an die Arbeit machen…eine Sache würde mich doch noch brennend interessieren." Er wischte kurz über den Bildschirm, checkte seinen eigenen Berg an Nachrichten, bevor er das Telefon wieder weg legte und zu Rin sah. "Warum warst du eigentlich so sauer als Wong das Magiermädchen beschworen hat? Ich meine, klar, sie hat nicht mit ihrem Deck gespielt, aber du scheinst allgemein ein Problem mit diesem Monster zu haben." Verräterisch grinste er sie an. "Das liegt doch nicht etwa daran, dass sie eine von Yugis Karten ist. Du weißt schon: Hexer- vs. Drachendeck."

"Nein, damit hat es wirklich nichts zu tun", Rin schob ihre leere Tasse zur Seite. "Ich kann sie einfach nicht leiden."

"Einfach so…schon klar", Mokuba hob die Augenbrauen. Er ließ einfach nicht locker, dass Rin gar nicht erst versuchte, sich herauszureden. Dafür war ihr die Sache nicht so wichtig und Mokuba schon fast sowas wie ein guter Freund, dass sie einfach zu erzählen begann: "Es hat etwas damit zu tun, wie ich meine weißen Drachen mit eiskaltem Blick bekommen habe. Schon damals gab es nur wenige Geschäfte, die ihn verkauften und während des ersten Battle-City-Turniers war diese Karte auf das doppelte ihres Werts gestiegen. Deshalb habe ich damals in einem Maidcafé gearbeitet. Anfangs haben Lumina und ich heimlich gejobbt. Wir waren noch minderjährig und das Café stellte ausschließlich über Achtzehnjährige ein. Dass Lumina an ihrem Alter getrickst hatte, flog leider schon in der zweiten Woche auf. Der Besitzer kam zu Besuch und machte seinen Stellvertreter zur Schnecke, weil Lumina niemals als Volljährige hätte durchgehen dürfen. Ich glaube, der Kerl, der den Boss vertrat, stand insgeheim auf sie-"

"Moment mal", unterbrach Mokuba sie, "du hast in einem Maidcafé gearbeitet!?" Er schüttelte den Kopf, wobei sichtlich die Ohren zu glühen anfingen. "Das glaube ich nicht."

"Doch, wirklich. Zuhause habe ich sogar noch Beweise. Glaub' mir, ich habe es gehasst. Aber der Job brachte gutes Geld; mehr als ich beim Zeitungen Austragen hätte verdienen können. Außerdem hatte ich eine Deadline. Der Besitzer des Spieleladens hat mir die Karten für genau drei Monate beiseite gelegt."

"Diese Beweise will ich unbedingt sehen", grinste Mokuba.

"Mal sehen", entgegnete Rin, die im Geiste die Geschehnisse zurück lief.

"Und was hat das jetzt mit dem Magiermädchen zu tun?"

"Wie gesagt: zu dem Zeitpunkt war das Battle-City-Turnier im vollem Gang und das Magiermädchen voll angesagt, dass die Betreiber des Cafés ein extra Thema bereit gestellt hatten."

"Oh Gott, ich weiß, was jetzt kommt", Mokuba konnte sich vor Lachen kaum mehr halten.

"Es gab", knirschte Rin mit den Zähnen, "mehrere Ausgaben von Magierinnen. Die Beliebteste war natürlich das schwarze Magiermädchen. Also musste ich eine blonde Perücke aufsetzen, mein knappes Kleidchen überziehen und mit der Stimme eines naiven kleinen Mädchens die Gäste begrüßen. Nicht zu vergessen, die berühmte Pose auflegen, sobald ein Kunde den Raum betritt und dabei immer schön lächeln als wäre mein Gestöhne das Unschuldigste der Welt."

Mokuba drückte sich den Mund zu. Tränen rannen aus seinen Augen. Daraufhin packte sie die Haare des Jüngeren, zog ihn zu sich heran und wedelte belehrend mit dem Zeigefinger. Dabei lächelte sie. Wie früher, wenn Lumina mit ihren Scherzen übertrieb. Wäre es nicht Mokuba, wäre sie wohl nicht so freundlich mit ihm umgesprungen. Es hatte kaum eine Zeit gegeben, in der sie sich so erniedrigt gefühlt hatte wie in diesen drei Monaten. Noch dazu waren alle begeistert gewesen, wenn Rin ihre blonde Perücke aufgesetzt hatte und mit einer fetten Schicht Makeup die Arbeit angegangen war.

"Deshalb", Rin ließ von dem Schwarzhaarigen, nachdem er sie entschuldigend angesehen und sich die Tränen vom Gesicht gewischt hatte, "deshalb hat es mir auch nichts ausgemacht, als Wong mich beleidigt hat. Ich wusste, dass ihr Aussehen nur Show ist. Jeder kann so aussehen, wenn er genug Schminke im Gesicht hat."

"Wolltest du deswegen nicht, dass Maki dir ein neues Aussehen verpasst?" Mokuba hatte wieder sein ernstes Gesicht aufgesetzt.

Rin tat einen tiefen Atemzug. "Ich wollte einfach nicht mehr jemanden darstellen, der ich nicht bin."

Fragend sah sie der Jüngere an.

"Das ist eine lange Geschichte, und eigentlich ist sie nicht besonders spannend", Rin bemühte sich zu lächeln, "die Hauptsache ist, dass ich sein kann, wer ich bin…obwohl ich mich manchmal schon frage, ob dieses Duell-Ich mein wahres Ich sein soll."

Dafür hatte Rin zu viel Zeit damit verbringen müssen, jemand zu sein, der den Erwartungen anderer gerecht wurde, dass sie sich manchmal nicht sicher war, ob diese Seite ihrem wahren Charakter entsprach. Es kam nicht das erste Mal vor, dass sie sich gefragt hatte, wer sie wirklich war und nicht, wer sie zu sein hatte.

"Wäre das so schlimm für dich?", fragte sie schließlich Mokuba und riss sie aus ihren Gedanken raus.

"Naja", entgegnete Rin, "diese Seite an mir ist ja nicht gerade die Netteste", sie schüttelte lächelnd den Kopf als sie sich an etwas erinnerte, "es gab da so ein Erlebnis: meine Cousine hat mir als Teenager zum ersten Mal gezeigt, wie Spiele gespielt werden."

"Dein Ernst?! Du hast vorher noch nie gespielt?"

"Nur Shogi - aber auch bloß, weil mir mein Großvater gezeigt hatte, wie es geht. Ich weiß noch, dass ich mit ihr in einer Spielhalle war. Da gab es dieses eine Spiel - Space Invaders. Der Automat stand ganz hinten in einer Ecke, weil es schon so alt war. Meine Cousine erklärte mir, wie die Knöpfe gingen und von da an, war ich gar nicht mehr davon weg zu kriegen. Ich glaube, ich hab' damals sogar den Rekord gebrochen. Meine Cousine meinte, dass ich einen ganz anderen Blick drauf hätte, wenn ich spiele. Als wäre ich besessen-"

"Vom Spieleteufel", sagte Mokuba wie in Trance und starrte durch sein leeres Glas hindurch. Dann schien er sich bewusst, wo er sich befand und sah wieder zu Rin. "Sorry, ich musste gerade an etwas denken. Nicht so wichtig."

"Bist du sicher?", Rin glaubte, den Schwarzhaarigen langsam ein wenig durchschaut zu haben. Es kam immer wieder vor, dass Mokuba etwas melancholisch wurde. Den Grund hatte Rin noch nicht herausfinden können.

"Schon gut", winkte der junge Kaiba wie jedes Mal ab, "das ist längst Vergangenheit. Ich will mich lieber auf die Gegenwart konzentrieren."

"Da stimme ich dir zu", entgegnete Rin und wollte etwas hinzufügen als ihr Handy ein weiteres Mal vibrierte.

"Du bist echt gefragt, was?" Mokuba schüttelte den Kopf. "Von woher kenne ich das nur…"

Der lässt einfach nicht locker

Doch es war kein Anruf. Rechts oben blinkte eine neue Nachricht aus ihrem Mailpostfach auf:
 

[13:48] von: Kaiba Seto, CEO Kaiba Corp.
 

Rin musste zweimal den Adressat lesen, bevor sie sich absolut sicher war, sich nicht verlesen zu haben.

Kaiba hat mir bisher nur einmal geschrieben…ah, nein! Weg mit diesen Bildern!

"Rin?"

Sie öffnete die Nachricht.
 

Einmaliger Ausrutscher oder hast du noch mehr Ideen auf Lager?
 

Die junge Frau starrte auf den Text.

Er will mich wohl wieder provozieren. Als ob ich nicht mehr drauf hätte als ein paar Container anzuleuchten.

Sie biss sich auf die Unterlippe.

Aber was du kannst, kann ich schon lange
 

[13:51] von: Yamamori Rin, Mitarbeiter ID: 569

Was denkst du?
 

Schnell drückte sie auf senden, bevor sie es sich noch anders überlegte. Kaum wollte sie ihr Handy weglegen, kam auch schon seine Antwort.
 

Ich denke, dass ich mich selbst davon überzeugen muss

Wie immer
 

Sie wusste, dass er damit auf die Uhrzeit anspielte. Der junge Firmenchef bevorzugte es, kurz nach achtzehn Uhr das Geschäftliche niederzulegen und mit seinem Projekt fortzufahren - was zwar im Grunde genommen ein Teil seiner Arbeit darstellte, doch in Rins Augen mehr als das für ihn bedeutete. Aber vielleicht dachte sie das auch nur, weil Kaibas Lebenssinn in dessen Arbeit zu bestehen schien. Laut seinem kleinen Bruder gab es für den Älteren nichts Wichtigeres als die Kaiba Corporation - und tatsächlich konnte sie sich Seto Kaiba ohne seine Firma überhaupt nicht vorstellen.

Schnell tippte sie ein >in Ordnung< in das Antwortfeld ein und verschickte es.

"Entschuldige, Mokuba", sie steckte ihr Smartphone in die Tasche, "was hattest du nochmal gesagt…huch?" Verwirrt starrte sie auf den leeren Platz neben sich. Den Kopf gedreht entdeckte sie den schwarzhaarigen Wuschel, wie er mit Makoto die Bestellungen durchging. Als ihre Blicke sich kreuzten, fingen ihre beiden Freunde zu grinsen an. Wie sie die Köpfe zusammen steckten machten sie den Eindruck als seien sie zwei eingeschworene Komplizen. Nur für was, das wusste Rin nicht.

[13:56] von: Yamamori Rin, Mitarbeiter ID: 569

In Ordnung
 

Der junge Firmenchef steckte sein Smartphone zurück in die Hosentasche und wandte sich dem vor ihm liegenden Pult zu.
 

Er hatte für heute sämtliche Termine verschoben, dass er früher als sonst die geheimen Anlagen der Kaiba Corporation aufsuchen konnte. Auf seinem Planer hatten eh nur Pressemitteilungen und diverse Mitarbeitergespräche angestanden, die Kaiba getrost an einem anderen Tag erledigen konnte, dass ihm die Entscheidung nicht schwer gefallen war. Wenn er ehrlich zu sich war, konnte er die Tage sowieso kaum noch an etwas anderes denken, dass er sich neulich selbst dabei erwischt hatte, wie er den Gesprächen seiner Geschäftspartner nur mäßig folgen konnte. Es war lediglich Kaibas von Natur aus abweisender Art zu verdanken, dass dieser Fauxpas kaum weiter aufgefallen war.
 

"Irgendetwas Neues?", fragte Seto Kaiba seine KI, nachdem er sämtliche Schritte zur geistigen Entkopplung in die Wege geleitet hatte. Seit dem Viererduell ging er noch sorgsamer mit den Gerätschaften um, geradezu penibel checkte er sämtliche Systeme auf deren Funktionstüchtigkeit, und selbst die Dateien waren von Kaiba persönlich nach Sicherheitslücken durchsucht worden.

"Negativ", entgegnete seine KI,"das Programm konnte nach mehrmaligem Durchlaufen keinen Virus finden."

Das konnte nur bedeuten, dass sein System sauber war. Wenn das best entwickelte Virenprogramm nicht fündig wurde, konnte er sich sicher sein, dass Zigfrieds irrsinniger Plan wirklich gescheitert war. Dank seines Backups, das rund um die Uhr am Laufen war und der fortschrittlichsten Software, mit dem sich eine Firma rühmen konnte, würden nicht einmal Fanatiker wie Zigfried von Schroeder seinem System etwas anhaben können. Nur eines ließ ihn nicht los: der versteckte Raum inmitten seines Programms. Das Haus, das sich seit Rins erster Session bei ihm eingeschleust hatte. Wenn er keinen hundertprozentigen Zugriff darauf hatte, konnte er nicht ausschließen, dass seinem Virenprogramm ebenfalls der Zutritt verwehrt geblieben war. Um sich also absolut sicher zu sein, musste er zu jenem Haus zurückkehren. Wenn er an die letzten Male dachte, waren seine Versuche, sich durch die verschlüsselten Dateien durchzuarbeiten, fast vollständig gescheitert. Noch heute bereitete ihm diese Erkenntnis schlechte Laune; solange ihm Rins virtuelles Unterbewusstsein nicht erlaubte, sich uneingeschränkt im Haus bewegen zu dürfen, würde er sich wohl oder übel noch in Geduld üben müssen. Nicht gerade seine Stärke, aber wenn die Notwendigkeit es verlangte, würde er ausharren. Zumindest solange, bis sein System das Geheimnis dahinter entschlüsselte oder Kaiba sich selbst mit hilfe von DuelMonsters-Karten einen Weg bahnen würde. Zwischen dem Ärger, dem ihm diese Anomalie bereitete, musste er doch darüber schmunzeln, wie Rins Unterbewusstsein ihre Daten schützte. Ihm selbst wäre wohl eine ähnliche Idee gekommen, wenn er seine eigenen heiklen Informationen hätte verschlüsseln müssen. Der junge Firmenchef zog die Stirn kraus. Das eine Mal, in dem sie in Kaibas Erinnerungen vorgedrungen war, hatte er nicht vergessen. Egal, wieviel sie gesehen hatte - jede winzige Kleinigkeit war bereits zu viel und bedeutete einen Kratzer an seiner unantastbaren Festung der eisernen Stärke. Was auch immer die Gründe für die Verzerrungen seines virtuellen Raumes gewesen waren - es durfte kein weiteres Mal passieren. Wenn sich solche Fehler in der Endfassung seiner virtuellen Technologie wiederfinden würden, wäre das katastrophal - ganz zu schweigen von all den verdrängten Erinnerungen, die niemanden etwas anzugehen hatten und zu weitaus größeren Schwierigkeiten führen könnten, gelangten sie in die falschen Hände.
 

Den Helm aufgesetzt startete er das System. Er wollte keine weitere Zeit mit sinnlosen Überlegungen verschwenden, wenn er ohnehin zu keinem schlüssigen Punkt käme. Er ließ die Gedanken hinter sich und konzentrierte sich einzig auf den Countdown.
 

Sobald Kaiba wieder vor jener Hütte stand, überkam ihn dieses Gefühl des langsam voranschreitenden Kontrollverlustes. Dies hatte seit Jahren keiner mehr geschafft. Die Arme vor der Brust verschränkt, ließ er die DuelDisc an seinem linken Handgelenk erscheinen. Kaibas finsterer Blick richtete sich nach oben. Diesmal aus Vorsicht, denn aus dem Wissen, dass er seit seinem letzten Besuch nicht einen Schritt weiter gekommen war. Um sich daran zu stören, bliebe noch genug Zeit.

"Irgendwelche Anomalien?" Der junge Firmenchef sah zu dem Fenster, hinter welchem der braune Schopf Rin Yamamoris auftauchte. Wie die letzten Male schien die junge Frau wie angewurzelt auf dem Sofa zu sitzen, dass die Vermutung nahe lag, dass es sich um den selbsternannten Administrator handelte, der diesen Dungeon als sein Territorium abgesteckt hatte. Seine eiskalten Blicke liefen ins Leere.

"Soweit meine Informationen stimmen", antwortete seine KI, dass er sich ganz auf das Wesentliche konzentrierte, "scheinen keine Veränderungen innerhalb des Raumes stattgefunden zu haben."

"Ziemlich vage für eine KI, aber ich verstehe deine Bedenken", Kaiba sah auf die Tür. Dieselben Zeichen waren in das Holz geritzt, er musste also nur noch die richtige Karte ziehen und der Zutritt wäre ihm sicher. Kaiba hielt inne, bevor er langsam ein paar Schritte ging und schließlich direkt vor der Tür stehen blieb. Vorsichtig legte sich seine Hand um die Klinke. Er wusste zu hundert Prozent, dass es vorher keine gegeben hatte. Also wieso jetzt? Der junge Firmenchef kniff die Augen zusammen. Gerade noch hatte Mika ihm bestätigt, dass der Raum sauber geblieben war. Gleich zu Beginn auf einen möglichen Fehler zu stoßen, gefiel dem jungen Firmenchef überhaupt nicht. Wenn überhaupt hatte Kaiba damit gerechnet, erst im Haus fündig zu werden. Die Ausgangslage versetzte ihn in Alarmbereitschaft.

Vielleicht eine Falle. Habe ich etwa einen entscheidenden Punkt übersehen…? Nein, denk' nach. Wenn das Virus Rins virtuellen Raum eingenommen hätte, würden die Spuren anders aussehen.

"Mika", sprach Seto Kaiba und drehte sich um, als würde jeden Augenblick seine KI in Form einer menschlichen Gestalt hinter ihm erscheinen, "hat sich der Schlüssel für das Knacken der versteckten Codes geändert?"

"Negativ."

"Was ist mit nicht autorisierten Zugriffen?"

"In diesem Raum sind Sie, Seto Kaiba, der einzige mit nicht autorisiertem Zugriff."

Nicht die Antwort, die er hören wollte, aber er ging nicht weiter darauf ein. Schließlich war es seiner KI ausschließlich gestattet, korrekt auf seine Fragen zu antworten. Auf Kaibas Gefühle nahm sie keine Rücksicht. Obwohl er an jedem anderen Tag froh darüber war, wenn er nicht ständig mit Samthandschuhen behandelt wurde, hätte er diesmal auf ihre Direktheit verzichten können. Eigentlich erledigten diese Parts seine Untergebenen. Mit voller Inbrunst, dass es fast schon abartig war. Nicht selten übertrieben es die Angestellten, aus Angst, ihren Job verlieren zu können, dass sie jeden seiner Vorschläge in den Himmel lobten statt ihre eigenen Köpfe anzustrengen. Das ging sogar so weit, dass Kaiba den ein oder anderen deswegen schon gefeuert hatte, weil er dessen Geschleime nicht mehr ertragen konnte. Schließlich sollten seine Angestellten in der Lage sein, selbst zu denken. Wo bliebe denn sonst die Notwendigkeit, überhaupt jemanden für sich arbeiten zu lassen? Kaiba konnte nicht noch das Denken für hunderte von unselbständigen Volltrotteln übernehmen.
 

Mit einem Schnauben drückte er schließlich die Klinke herunter. Er hatte keine Wahl. Wenn er Antworten haben wollte, musste er das Risiko eingehen. Außerdem fürchtete sich der junge Firmenchef nicht vor einem Virus, das von einem dahergelaufenen Schnösel mit schlechtem Modegeschmack und noch schlechterer Frisur entwickelt worden war. Dass jemand seine Technologie zu sabotieren oder gar einzunehmen versuchte, war ja bereits ein alter Hut und würde ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten, sollte seine Technik weiterhin die Nummer eins bleiben (wovon der junge Firmenchef einfach ausging).
 

Ohne zu zögern riss er die Tür auf. Einen kurzen Blick in den Flur erhascht, dabei flüchtig die Details im Kopf durchgegangen, trat er schließlich ein. Noch immer traute er der Hütte nicht. Aber das hatte er schon bei seinem ersten Besuch nicht getan, dass er nicht wusste, wie er sein Misstrauen einordnen sollte.

Nichts deutet auf eine Veränderung hin. Die angewandte Grafik scheint noch mit 4K Raytracing zu arbeiten, das System läuft mit 240 FPS weiter...

Sobald er die eine Richtung einschlug, begegnete ihm die überragende Gestalt des schwarzen Magiers, dass ihm die Tatsache sogar ein müdes Lächeln entlockte.

Ich werde schon noch herausfinden, wie ich dich besiegen muss. Mir machst du nichts vor. Jemand wie Rin würde wohl kaum einen schwarzen Magier verschonen… selbst wenn dieses Monster für ihre Freunde steht

Er wandte sich der gegenüberliegenden Tür zu und steuerte den Wohnbereich an. Ein Knacksen ließ ihn innehalten. Es kam eindeutig aus dem oberen Stockwerk, dass er auf halbem Wege kehrt machte und stattdessen gleich auf die Treppe zulief. Die Vermutung lag nahe, das Rins optischer Double hier irgendwo herum streunte. Seit ihrer letzten Begegnung versuchte der junge Firmenchef näheres über sie in Erfahrung zu bringen, doch wie bei dem Rest des Dungeons reichten die Informationen nicht aus, um die gesamte Komplexität dahinter erfassen zu können.
 

Die Treppenstufen knackten - Schritt für Schritt - als drohten sie jeden Augenblick durchzubrechen. Auf der höchsten Stufe stehend blickte er in den menschenleeren Flur.

Wo hast du dich versteckt.

Seine Augen wanderten zu den Türen. Eine der Vorderen ließ ihn schief lächeln. Nur einen Spalt breit geöffnet war sie der einzige Eingang, der nicht verschlossen war. Kaiba brauchte erst gar nicht die anderen Türen zu probieren, um sich absolut sicher zu sein. Stattdessen steuerte er die zweite Tür von links an. Anders als die restlichen Türen war das darüber liegende Zeichen für >nein< von einer arabischen eins ersetzt worden. Zu deren Linken war ein Kreis eingeritzt, rechts daneben ein Dreieck. Der junge Firmenchef fasste zusammen:

Wenn die Antwort immer mit DuelMonsters in Verbindung steht, müssen die Zeichen für eine Karte stehen. Bisher hatte jede Karte eine Bedeutung.

Unter seinen Augen entstanden tiefe Schatten.

Verdammt! Die Tür, die sich beim letzten Mal öffnen ließ...

Er versuchte sie unter den zahllosen anderen Türen zu entdecken, nur konnte er sich einfach nicht erinnern, welche es gewesen war. Alle Türen sahen identisch aus. Wie konnte er nur einen derart fahrlässigen Fehler begehen?

Ich habe keine Karte vorgezeigt…und trotzdem…

"Wer von uns beiden spielt hier die Spielchen", Kaibas Stimme war ein leises Knurren als er zunächst nur durch die schmale Öffnung blickte. Der Raum - oder was auch immer sich dort verbarg - war so dunkel wie Kaibas selbst entwickelter Zwischenraum, der die Entkopplung zwischen Körper und Geist steuerte. Aber er war nicht mehr in seinem Bereich. Egal, wie sehr ihn die Tatsache Kopfschmerzen bereitete, er musste sich vorerst damit abfinden. In diesem Teil des virtuellen Raumes galten andere Regeln - weniger logisch und rational, wie Kaiba es gewohnt war.

Was würdest du tun?

Er hielt inne. Es gefiel ihm nicht, so viel über die junge Frau nachzudenken, noch dazu mit solch einer Selbstverständlichkeit.

Die Lippen gekräuselt riss er einfach die Tür auf und schritt hindurch. Zunächst lief er eine Weile ins Leere. Das erste, das ihm in den Sinn kam, war eine Flasche Wasser zwischen den Lippen. Kaiba wusste erst nicht warum, als er seine trockene Kehle spürte. Das Gefühl war so stark, dass er kaum richtig schlucken konnte. Er fasste sich an den Hals. Sein Mund öffnete sich. Ein Stöhnen drang aus ihm. Der junge Firmenchef blieb stehen, schnappte nach Luft und beugte den Oberkörper nach vorne. So stark war er schon lange nicht mehr aus der Puste gewesen. Das letzte Mal in der Oberschule. Den Grund ließ er in einer abgestaubten Kiste im tiefsten Fach seines Unterbewusstseins. Jetzt über Vergangenes nachzudenken, führte zu sich.
 

Es dauert etwas, bis ihm bewusst wurde, dass er sich längst nicht mehr in der Dunkelheit befand. Unter seinen Füßen sammelte sich Kies, der aus einer löchrigen Tonne heraus rieselte. Kaiba richtete sich auf. Er war in einer Seitenstraße. Irgendwo in Domino City. Das erkannte er an dem rotbraunen Hochhaus, das in südlicher Richtung zwischen weiteren Blockhäusern hervorlugte.

Was hatte er hier zu suchen? Nur widerwillig setzten sich seine Beine in Bewegung. Nicht Kaiba war es, der nicht weitergehen wollte. Dieses fremde Gefühl in ihm, das sich dem mächtigen CEO erneut aufzudrängen versuchte, ließ ihn mühsam vorwärts kommen. Nicht, weil er hier stehen bleiben sollte. Es war etwas anderes. Unsicherheit. Kein Empfinden, das für gewöhnlich in dem jungen Firmenchef innewohnte.

Wen haben wir denn hier?" Kaiba kannte die männliche Stimme nicht, aber sie kam aus einer anderen Seitengasse, nicht weit von ihm. Endlich setzen sich seine Beine in Bewegung. Durch die Seitenstraße in Richtung einer weit abgelegenen Gasse. Obwohl es mitten am Tage schien, drangen zu ihr kaum Sonnenstrahlen durch. Um die kleine Gruppe, die am anderen Ende der Gasse versammelt war, zu bemerken, brauchte es kein Licht. Langsam näherte er sich der Gruppe. Da er der einzig Echte in diesem virtuellen Raum war, brauchte er sich auch nicht zurückhalten. Niemand würde ihn sehen können, niemand sich an seiner Präsenz stören. Er war Zuschauer eines verworrenen Traumes - anders ließ sich das Gefühl nicht beschreiben.

Auf halber Strecke hielt er inne. Wegen des schwarzen Wuschels, der von den Männern in die Enge getrieben worden war.

"Mokuba?!" Er konnte nicht anders. Sein Verstand setzte aus, sobald das Bild seines kleinen Bruder vor seinem geistigen Auge erschien. Ohne nachzudenken rannte er los; auf die Gruppe zu.

"Was hat das zu bedeuten-" Der junge Firmenchef blinzelte. Sein Geist hatte ihm einen Streich gespielt. Das war nicht Mokuba. Der schwarzhaarige Schopf gehörte einer jungen Frau. Oder wohl eher einem Mädchen, wie Kaiba auf den zweiten Blick feststellen musste. Je länger er in die lilanen Augen sah, umso sicherer war er sich, dass sie Rins Mitbewohnerin war. Deutlich jünger und kleiner, wobei Zweites auch nur eine optische Täuschung sein könnte. Die Kerle, die sie eingekesselt hatten, waren allesamt groß und muskulös. Sechs ausgewachsene Männer, die das Mädchen belagerten. Es war klar, dass sie sich nicht freiwillig zu einem Plausch getroffen hatten. Das Mädchen hatte sich so klein gemacht, dass ihr zitternder Körper wie ein zusammengekauertes Knäuel an die Wand gedrückt wurde.

Na, Schnecke, von wo kommst du denn her?"

"Seht euch mal die Haut an." Jemand fasste nach ihrem Gesicht. Die Schwarzhaarige ließ es über sich ergehen. Sie schien wie erstarrt. In Kaiba verkrampfte sich alles. Ihm war das Mädchen egal, aber sein Innerstes sagte ihm etwas anderes. Angst und Zorn vermischten sich. Er kannte dieses Gefühl, wusste, was es hieß, jemanden, der einem etwas bedeutete, beschützen zu wollen. So wie sie sich zusammenrotteten - genau wie die großen Jungs damals, die Mokuba drangsaliert hatten; ganz zu Anfang als sie in das Waisenhaus gekommen waren. Seine Augen wurden zu gefährlichen Schlitzen. Daran erinnert zu werden, war das letzte, was er wollte. Aber er konnte es nicht verhindern. Die schwarzhaarige Gestalt vor ihm ließ ihn immer wieder an seinen kleinen Bruder denken.

Das muss an diesem Gefühl liegen…Rin, was geht gerade in deinem Kopf vor!?

Er fasste sich an die Schläfe.

"Magst du uns nicht ein bisschen mehr von deiner Haut zeigen?" Einer von ihnen begann an den Knöpfen ihrer Bluse zu spielen, dass die bebenden Lippen der Kleinen sich krampfhaft zusammenpressten.

"Nicht so schüchtern," säuselte ein anderer, dass die Kerle zu lachen begannen.

"Komm' schon, zeig' uns deinen hübschen Körper"

"Das reicht" murmelte jemand in Seto Kaibas Ohr.

Diese Stimme

Der junge Firmenchef drehte seinen Kopf als bereits eine Schultasche an ihm vorbeiflog und einen der Kerle an der Schläfe erwischte.

"Hey! Lasst sie in Ruhe!", brüllte die jüngere Version Rin Yamamoris. Er hörte ihr Zittern heraus, die Augen flackerten aufgebracht. Mit zur Faust geballten Händen stand sie mehrere Meter von der Gruppe entfernt. Die Kerle drehten sich um, nahmen das Mädchen nicht ernst. Warum auch? Zwar lag Rins Körpergröße über den weiblichen Durchschnitt, doch nichtsdestotrotz war sie bloß eine Schülerin von fünfzehn oder sechzehn Jahren. In den Augen der Männer war abzulesen, dass sie Rin nur als weiteres gefundenes Fressen sahen.

"Deine Freundin?", fragte einer von ihnen und setzte ein breites Lächeln auf.

"Lasst sie gehen", sie atmete flach. Vielleicht war sie eine Weile ziellos umhergeirrt, hatte nach ihrer Freundin Ausschau gehalten und war schließlich los gerannt, als ihr klar wurde, dass etwas passiert sein musste. Ob sich ihre Kehle auch so trocken anfühlte?

"Willst du uns etwa drohen?" Die Männer drehten sich von der Wand weg, dass die zierliche Gestalt aus dem Fokus der Menge genommen wurde.

Das war sicher ihr Plan.

Rin hatte die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe.

"Wenn ihr euch mit jemanden anlegen wollt", etwas erwachte in ihr, der Blick veränderte sich, "dann mit mir". Das Funkeln ihrer Augen war jenes, das Gegner in die Knie zwingen konnte. Stünde sie nicht in ihrer braven Schuluniform, ohne DuelDisc vor den Männern, die sich über ihr loses Mundwerk zu amüsieren schienen, hätte sie sicherlich Respekt eingeflößt.

Was hast du vor, Yamamori?

Langsam griff ihre rechte Hand nach einem langen, schmalen Gegenstand. Sobald die einzelnen Finger es umklammerten, war der Metallstab deutlich zu erkennen. Jetzt sah Kaiba die restlichen Stäbe, die sich zu hunderten am Wegesrand gestapelt hatten. Seine Augen traf die Erkenntnis wie einen Blitzschlag.

Sie wird doch nicht...

Das Mädel will also ernst machen?, der erste nahm sich einen Stab. "Sollst du haben!"

Daraufhin brachte sich Rin in Position. Die Waffe nach vorne ausgestreckt, beide Füße parallel zum Gegner, dass der Linke ein Stück weit hinter ihm lag, hatte sich Rin in die Grundstellung begeben.

Und wie sie ernst macht

Ihr Blick sagte alles. Sie war zum Kampf bereit - körperlich wie mental. Nur die Idioten vor ihr begriffen nichts.

"Wer nicht hören will-" Der Kerl stürmte einfach drauf los - den Stab wie ein Neandertaler die Keule schwingend. Kurz bevor er das Mädchen erreichte, bewegte Rin den Stab, dass er auf Augenhöhe war. Ein schneller, präziser Schlag traf die linke Schulter. Rin sprang zurück und befand sich wieder in ihrer Ausgangsposition, während ihr Gegner in Richtung Wand taumelte, dabei zu brüllen begann, dass die Mauern unnatürlich zu scheppern begannen.

"So ein Miststück", er klappte nach links weg, hielt sich die Schulter und unterdrückte jeden weiteren Schmerzensschrei. Das Lachen der anderen verstummte. Die Nächsten griffen nach den Waffen und näherten sich Rin, die ihre Gegner ins Visier nahm. Ein Gleitschritt, dabei Stab und Körper leicht nach rechts gedreht, schlug sie erneut zu. Ihre Bewegungen waren schnell, dass der Stab mit ihren Händen verschmolz. Die Schläge hart und kontrolliert, wie es nur einem geübten Geist vergönnt war. Einen erwischte es am Handgelenk, der andere kam mit einem Schlag an der Schulter davon. Der junge Firmenchef war sich sicher: wenn Rin wirklich ernst machen wollte, hätte sie ihre Köpfe getroffen, statt nur knapp daran vorbei zu zielen. Es war offensichtlich, dass sie sich beherrschte - ganz dem Kodex des Kampfsports verschrieben.

Großer Fehler, Yamamori. Mit Barmherzigkeit kommst du nicht weit.

Der erste schaffte es, Rins Schlägen auszuweichen. Ein Weiterer parierte den Stab, während sein Kamerad sich hinter sie gepirscht hatte und mit voller Wucht auf ihren Rücken einschlug. Rins Kopf ging in den Nacken, sichtlich rang sie nach Atem. Dass sie nach solch einem Treffer noch auf den Beinen stand, konnte nur bedeuten, dass es sich bei dem Material der Stangen nicht um Eisen handeln konnte. Vielleicht hartes Plaste. Umso erstaunlicher, dass Rin mit einer Spielzeugwaffe solche Schläge austeilen konnte.

Derselbe Kerl packte Rin am Kragen, dass sein Vordermann leichtes Spiel hatte und das Mädchen entwaffnete. Die Spitze des Stabes rammte er in ihren Magen. Rin krümmte sich, biss die Zähne zusammen um nicht aufzuschreien. Zwei dicke Tränen kullerten die Wangen entlang. Wie weich und kindlich das Gesicht auf einmal wirkte. Für den jungen Firmenchef eigenartig, sie so zu erleben. Andererseits konnte er den Blick nicht von ihr abwenden. Trotz all der Schmerzen versuchte sie ihre Würde zu bewahren, dass Kaiba leichte Bewunderung für sie empfand. Selbst die meisten Kerle, die er kannte, wären heulend zu Boden gegangen. Die junge Frau war also schon damals nicht kleinzukriegen gewesen. Nun, da sie es war, die von den Kerlen, die noch stehen konnten, umzingelt wurde, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Niederlage hinzunehmen.

"Das hast du davon, wenn du dich so aufspielen musst." Der Hintere zog an ihren Haaren.

Kaiba merkte nicht, wie er die Hände zur Faust ballte.

Rin biss sich auf die Unterlippe. Nicht mehr lange und die Männer würden sie brechen, das sah er ihrem Blick an.

"Du wirst jetzt brav den Platz deiner Freundin einnehmen," grinste sie ein anderer von vorne an, "die hat nämlich schön die Fliege gemacht. Solltest beim nächsten Mal zweimal überlegen, ob du für sie den Kopf hinhalten willst." Er schob den Stab unter ihrem Rock. Rin starrte zu ihrem Gegenüber. Das Feuer in ihren Augen war noch nicht ganz erloschen. In Seelenruhe machte sich der Kerl daran, ihren Rock weiter anzuheben, als sich Schritte näherten. Kaiba blickte in die Richtung, aus der sie kamen. Zwei Polizisten, sowie das schwarzhaarige Mädchen kamen herbeigeeilt. Abrupt ließen die Kerle von Rin. Diejenigen, die noch laufen konnten, flohen. Weit würden sie wohl nicht kommen. Einer der Polizisten nahm sofort die Verfolgung auf, der andere rief Verstärkung und knöpfte sich die Restlichen vor. Die Szene verschwamm vor Kaibas Augen. Es rauschte in seinen Ohren. Punkte tanzten vor seinem Gesicht. Straßenlärm von allen Seiten machten jedes weitere Wort zu einem kreischenden Durcheinander.

"Warum?, hörte er Rins Freundin durch all das Chaos hindurch. Allmählich konnte er wieder klar sehen. Die beiden Mädchen saßen am Straßenrand, in der Seitenstraße, in die Kaiba zu Beginn geführt worden war. Rin hatte Mühe zu lächeln. Leicht gekrümmt stupste Rin die Schwarzhaarige von der Seite an. Daraufhin drückte diese die Hände vors Gesicht und begann lauthals zu schluchzen. Wie ihr Gesicht gänzlich unter dem schwarzen Schopf verschwand, von dem sich Strähne für Strähne nach vorne geschoben hatte, sah Kaiba wieder seinen kleinen Bruder vor sich. Wie er sich wimmernd an den Älteren geklammert hatte, nachdem die bösen Jungs reißaus genommen hatten. Anfangs war auch Seto gegen eine Bande von überlegenen Mistkerlen angetreten, die ihn ordentlich vermöbelt hatten. Nie waren ihnen Erwachsenen zur Hilfe gekommen, der junge Firmenchef hatte sich immer nur auf sich selbst verlassen müssen.

Warum zeigst du mir das alles?

Er sah zu den Mädchen hinab. Seine Augen durchbohrten Rin, die der Schwarzhaarigen über die Schultern strich.

"Warum hast du das getan?", schluchzte die Kleine und schüttelte den Kopf,

"das war viel zu gefährlich, die Kerle hätten dich…" Sie brach ab, wollte wohl die Tatsache verdrängen, dass sie nur knapp einem ernsten Trauma entkommen waren.

"Lumina", murmelte Rin. Ihre Stimme klang gedrückt, sie atmete schwer. "Du bist meine beste Freundin. Ich lass' dich nicht im Stich. Egal, was passiert."

Ihre Sitznachbarin sah auf. Ihr Tränen verschmiertes Gesicht drehte sie zu Rin. Die Gesichter lösten sich auf, die Umgebung folgte, bis er schließlich vor der offenen Tür stand.

Der junge Firmenchef schnaubte. Wenn Kaiba etwas nicht ausstehen konnte, dann eine Predigt über Freundschaft ertragen zu müssen. Kaum vorstellbar, dass Rin ihm etwas über die Macht der Freundschaft - wie er diesen Spruch hasste! - beibringen wollte. Sie machte doch sonst kein Spektakel um ihre Freunde; den bekannte Kindergarten-Cheerleader-Club hatte sie ihm glücklicherweise erspart.

"Mika", rief er. Keine Antwort. Kaiba hatte nicht bedacht, dass seinem System innerhalb der Hütte keinen Zugang gewährt wurde - einschließlich seiner KI, die er sonst immer um sich hatte.

Er stampfte die Treppenstufen herunter. Es war genug für heute. Der Tripp durch Rins Vergangenheit hatte ihn zu viel Kraft gekostet, dass er seinen Geist nicht weiter strapazieren wollte. Aus dem Haus geschritten rief er erneut nach seiner KI, dessen Präsenz erst außerhalb der vier Wände wieder spürbar wurde.

"Ist Rin Yamamoris DuelDisc zurzeit in das System der Kaiba Corporation eingeloggt?"

"Negativ. Der letzte Login fand sieben Uhr dreiundvierzig statt."

"Ich hätte schwören können, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Login und diesen Bildern gibt", sprach er zu sich selbst und ging in Gedanken die letzten Ereignisse durch.

Hinter jeder verschlossenen Tür werden sich Teile ihrer Vergangenheit befinden. Aus irgendeinem Grund erhalte ich eingeschränkten Zugriff auf die Daten. Ob das von Rin selbst beeinflusst wird? Eigentlich unmöglich, wenn sie nicht wenigstens mit dem System der Kaiba Corporation verbunden ist. Dafür müsste schon ihr Gehirn in den virtuellen Raum kopiert werden-

"Ich brauche sämtliche Verläufe, in denen Yamamori in das System eingeloggt war. Wir müssen schleunigst einen Zusammenhang zwischen ihren Aktivitäten und denen des virtuellen Raumes finden. Es kann nicht sein, dass das System macht, was es will."

"Verstanden", antwortete seine KI, "ein Verlaufsprotokoll wird erstellt. Möchten Sie, dass ich es Ihnen über Ihren Hauptrechner schicke?"

"Ja. Und kümmere dich um das Problem mit den Verschlüsselungen."

"Das Programm zur Entschlüsselung arbeitet bereits daran."

"Gut", sagte er, obwohl er alles andere davon überzeugt war

Kaum war sie in den Fahrstuhl gestiegen, klingelte ihr Telefon. Sie war gerade auf dem Weg ins Chefbüro, nachdem Kaiba zweimal den Termin geändert hatte (das macht er doch mit Absicht!) und Rin deshalb den ganzen Tag über in der Firma zubringen musste, dass ihre Laune nicht gerade auf dem besten Stand war als das Handy bereits zum zehnten Mal zu klingeln begann. Grummelnd nahm sie es aus der Hosentasche.

Wie lange will mich Industrial Illusions noch auf die Palme bringen?

Gestern hätte sie beinahe abgenommen. Aber auch nur fast, und nur, weil sie denjenigen auf der anderen Leitung gehörig die Meinung sagen wollte. Wer rief schon sechs Uhr morgens an und erwartete auch noch, dass der Angerufene ans Telefon ging? Rin, die gerade von einem weniger verworrenen Traum geweckt worden war und panisch das Bett nach ihrem Smartphone abgesucht hatte, da sie glaubte, es wäre etwas Schlimmes passiert, hätte beinahe ihr Handy an die Wand geknallt, nachdem das Zeichen für >unbekannte Nummer< erschienen war.
 

Bereits den Daumen auf den roten Knopf gelegt, hielt sie inne. Das war keine unbekannte Nummer. >Mutter< stand überdeutlich auf dem Bildschirm, dass Rin den Daumen vom Display weg bewegte. Sie hatte genau zwei Möglichkeiten: entweder ignorierte sie den Anruf und wartete, bis ihre Mutter tatsächlich vor ihrer Tür erscheinen würde oder sie biss jetzt in den sauren Apfel. Wenn das Gespräch in eine unangenehme Richtung abdriftete, hatte Rin immer noch die Ausrede, dass sie noch arbeitete und könnte das Telefonat vorzeitig beenden. Tief eingeatmet drückte sie auf annehmen. Ihr wurde jetzt erst so richtig bewusst, dass sie den Anruf viel zu lange hinausgezögert hatte. Vielleicht war es doch keine gute Idee, ausgerechnet heute mit ihrer Mutter zu telefonieren. Yukiko Yamamori war nicht gerade die Art von Gesprächspartner, die man sich nach einem zehnstündigen Arbeitstag voller unterqualifizierter Duellstatistiker und eingebildeter Analysten wünschte. Allen voran stand morgen ihr nächstes Duell gegen Masato Kaeji an, das sie auf keinen Fall vermasseln durfte. Wong und Kaeji hatten bisher keinen einzigen Sieg einfahren können, dass Rin in die engere Auswahl um das finale Ticket gekommen war. Wenn sie alles so umsetzen konnte, wie sie geplant hatte, würde nach diesem Duell niemand mehr die junge Frau unterschätzen. Dann konnte sie sich ganz auf Hii Yuta konzentrieren, der bisher jeden seiner Gegner ausgemerzt hatte. Seine letzten Worte, nachdem er einen haushohen Sieg gegen Vivian Wong eingefahren hatte, waren direkt an Rin gerichtet gewesen: Diesmal würde er sich nicht zurücknehmen. Dabei hatte er nicht gelächelt, nur die Augen hatten stechend in die Kamera gefunkelt. Nein, jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um Diskussionen über die Zukunft zu führen. Rins und Yukiko Yamamoris Vorstellungen waren zu weit voneinander entfernt, dass es nur wieder zu hitzigen Streitereien käme, welche keine der beiden Frauen gebrauchen konnten.
 

Um ihre Meinung zu ändern, war es jedoch zu spät. Das Telefon ans Ohr gehalten, grüßte sie höflich - wobei ihre Lippen zu einem einzigen geraden Strich wurden, dass ihr ehemaliger Chef aus dem Callcenter wohl eine Predigt über Ausstrahlung am Telefon gehalten hätte.

Ein Glück liegen diese Zeiten hinter mir.

"Rin, Schatz, wie schön", drang die hohe Stimme ihrer Mutter aus der anderen Leitung. Sie schien den kühlen Unterton ihrer Tochter nicht gehört, und wenn, dann hatte sie ihn schlichtweg ignoriert. "Wie geht es dir? Die Tage schlägt wieder eine fiese Grippewelle zu, ich hoffe, du hast immer schön deinen Schal um-"

Erleichtert atmete Rin aus. Ihre Mutter klang fröhlich, das war immer ein gutes Zeichen. Die Fahrstuhltür öffnete sich und Rin betrat die Chefetage.

"Mach' dir keine Gedanken", entgegnete Rin - eine Standarderöffnung ihrerseits. Es schadete nie, ihre Mutter darauf aufmerksam zu machen, dass Rin auf sich aufpassen konnte. Zudem passte die Floskel in fast jeden Satz ihrer Mutter, dass die junge Frau gar nicht anders konnte als ihr immer wieder auf dieselbe Weise zu antworten. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, das sich augenblicklich auflöste, als das Büro in Sichtweite erschien. Sie war wieder einmal zu früh dran. Eine halbe Stunde, um genau zu sein. Es war keine Absicht, es passierte einfach, dass Rin schon selbst die Augen verleierte, wenn sie auf die Wanduhr gegenüber der Tür sah. Abgesehen davon, dass Kaiba nie früher als zur verabredeten Zeit die Bürotür öffnete. Er war pünktlich auf die Minute, dass Rin sich manchmal vorstellte, wie er mit verschränkten Armen vor der Brust einfach nur im Raum stand und den kleinen Zeiger der Wanduhr beobachtete, bis dieser auf die Sechs umschwenkte. So etwas kam dabei heraus, wenn Rin nicht wusste, womit sie sich die Zeit totschlagen sollte.

Den Blick abgewandt steuerte sie eines der Seitenfenster an. Die Glasscheiben reichten vom Boden bis an die Decke, dass man eine perfekte Aussicht auf die Innenstadt hatte.

"Ich hoffe, ich störe dich nicht", sagte Yukiko ihren klassischen Spruch, der das Gespräch nicht selten in unangenehmere Richtungen lenkte. Diesmal jedoch war ihre Stimme weich, weniger anklagend als sonst.

"Ehrlich gesagt", entgegnete Rin und fuhr sich durch die offenen Haare, "bin ich noch auf Arbeit. Zurzeit ist es etwas stressig-"

"Achso", ihre Mutter machte eine längere Pause, "obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was an deinem Job so anstrengend sein soll."

Da ist sie wieder. Mutter wie sie leibt und lebt.

Rin hatte sich schon gefragt, wann die alte Leier ihrer Mutter wieder losginge. Jetzt brauchte sie nur noch darauf warten, dass Yukiko um die alten Zeiten trauerte - als Rin noch brav und gehorsam gewesen war und aus ihr sicher eine Ärztin oder Anwältin hätte werden können.

"Aber ich will dich nicht lange stören, Rin."

Wie jetzt?

Yukikos Stimme klang versöhnlich, geradezu schüchtern, als meinte sie, was sie gesagt hatte. "Ich würde mich gerne mit dir in Ruhe unterhalten. Aber nicht am Telefon. Irgendwann demnächst, wenn du Zeit hast. Du warst lange nicht mehr bei uns Essen. Vielleicht koche ich uns Sukiyaki, das gab's schon lange nicht mehr."

"Sobald ich Zeit habe, gerne", erwiderte Rin.

"Wie schön", Yukikos Stimme klang geradezu entzückt, "es gibt so Vieles zu bereden. Es wäre schön, wenn du bald Zeit fändest."
 

Nachdem Rin aufgelegt und das Smartphone zurück in die Hosentasche gesteckt hatte, ließ sie noch einmal den Blick über die einzigartige Aussicht schweifen. Vielleicht - aber nur vielleicht - wollte ihre Mutter nicht über Rins - in ihren Augen - verkorksten Lebensplan reden. Sie erinnerte sich an die Unterhaltung mit Makoto; die Braunhaarige hatte ihr von dem Artikel erzählt, der neulich in einem der Frauenmagazine erschienen war. Dort hieß es, dass Rins vermeintliche Affäre von damals als Betrüger und Erpresser entlarvt worden war. Scheinbar hatte es eine Reihe von Rückmeldungen gegeben - hauptsächlich von Frauen, die den besagten Mann identifizieren konnten. Neben Rin hatte es mehrere hunderte Opfer gegeben, die mit derselben Masche hereingelegt worden waren. Die junge Frau hatte keine Ahnung, wie der Kerl oder all diese unschuldigen Frauen ausfindig gemacht worden waren. Dabei hatte sich die PR-Abteilung der Kaiba Corporation daran gehalten und kein Wort über Rins Geschichte verloren. Der Täter selbst war es schließlich, der ein mehrseitiges Statement abgegeben hatte, indem er die Gerüchte über Rin und die vermeintlichen Nacktfotos als Lüge entlarvte. Rin konnte es nicht so wirklich glauben. Nach all den Jahren hatte dieser Mistkerl nun doch seine Strafe bekommen? Wie war es der Polizei überhaupt gelungen, diesen Mann aufzuspüren? Als Rin kurz vor dem Schulabschluss den Mut gefasst und mit Luminas Unterstützung Anzeige erstattet hatte, war sie von den Beamten bloß müde belächelt worden. Dass solche Betrügereien ständig passierten und Rin hätte vorsichtiger sein müssen - mehr hatten sie nicht zu sagen gehabt, dass Rin selbst einen Schlussstrich ziehen musste, ohne die Chance bekommen zu haben, jemals in Frieden damit abschließen zu können.
 

Die junge Frau lehnte sich an die Fensterscheibe. Das kühle Glas an ihrem Gesicht tat gut. Kaiba Corps. gesamtes Firmengebäude war von all den technischen Geräten und dem stetigen Menschentrubel so aufgeheizt, dass nicht einmal die Klimaanlagen etwas dagegen unternehmen konnten.
 

Möglicherweise waren die Meldungen zu ihrer Mutter durchgedrungen; Rin erschien dieser Gedanke nicht abwegig. Seitdem die junge Frau aus dem Haus war, verbrachte Yukiko viel Zeit damit, die gesamte Bandbreite an Magazinen und Zeitschriften durchzublättern.

Wenn selbst die Klatschpresse Rins Unschuld beteuerte, dann würde ihre Mutter nicht länger dagegen steuern können. Vielleicht hatte sie ein schlechtes Gewissen, wollte die Anschuldigungen der letzten Jahre bereinigen. So sanft hatte Yukiko schon lange nicht mehr mit ihrer Tochter gesprochen, und Rin gefiel der Gedanke, dieses Kapitel ihrer Vergangenheit endgültig begraben zu können. Es hatte stets wie ein Damoklesschwert über den beiden gehangen. Nach dem ganzen Trubel rund um den Worldcup würde sich Rin mit ihrer Mutter zusammensetzen - das nahm sie sich fest vor.

Langsam wandte sie sich vom Fenster ab. Noch hatte sie Zeit, bis der junge Firmenchef aus seiner Festung heraus marschiert käme. Bei dem Gedanken überkam sie ein leichtes Schmunzeln. Sie stützte sich von der Glasscheibe ab und ließ sich im Wartebereich nieder. Sie war die einzige im Flur. Nicht einmal die Sekretärin passte sie mehr ab. Nur noch sie und eine handvoll Mitarbeiter, die zur Spätschicht verdonnert worden waren und sich lediglich in ihrem Arbeitsbereich aufhielten, dass Rin sie nie zu Gesicht bekäme. Geradezu verlassen wirkte die Kaiba Corporation. Nur die milchigen Glasscheiben auf der gegenüberliegenden Seite ließen sie immer wieder vergegenwärtigen, dass Rin nicht alleine war - wenn sie auch felsenfest davon überzeugt war, dass er ihr keine Sekunde Beachtung schenkte.

Ist es dir lieber zu denken, er würde dich die ganze Zeit anstarren?

Ohne es zu merken schüttelte Rin den Kopf und legte ihren Trenchcoat ab. Aus der Seitentasche zog sie ein kleines schmales Buch heraus, in dem sie das Foto aus ihren Zeiten im Maidcafé aufbewahrte. Sie hatte es wegen Mokuba mitgebracht, nach mehrmaligen Diskussionen darüber, dass er sich nicht vorstellen könnte, dass sich Rin jemals dazu herablassen würde. Gestern Abend war sie unter ihr Bett gekrochen und hatte das Foto aus einer ihrer Erinnerungskisten hervorgeholt. Sie hoffte, den Schwarzhaarigen damit zufriedenstellen zu können und das Thema endlich vom Tisch zu haben. Es war schon peinlich genug darüber zu reden. Das Bild auch noch den ganzen Tag in ihrem Trenchcoat mit herum zu schleppen und dabei ständig daran zurückdenken zu müssen, wie sie im extra knappen Kleidchen umher gehüpft war - es war eindeutig zu viel für Rin, die genug anderes um die Ohren hatte als sich über eine Monsterkarte aufzuregen. Zu allem Übel war der Jüngere der Kaiba Brüder zu einem Außeneinsatz gerufen worden, dass Rin ihn nicht zu sehen bekommen hatte. Jetzt hatte sie dieses dämliche Foto und fragte sich, weshalb sie sich das eigentlich hatte antun müssen.

Dann hat Mokuba eben Pech. Ich werde mir irgendwas einfallen lassen müssen, damit er mir damit nicht mehr in den Ohren hängt. Vielleicht muss ich nur-

"Dass du wirklich noch Zeit zum Lesen findest..." Die Stimme ließ sie hochfahren. Kaibas plötzliche Präsenz hatte sie so erschreckt, dass sie das Buch mitsamt Foto fallen ließ. Rin sah zu dem aufgeschlagenen Buch. Kurz bevor es den Boden erreicht hatte, war das Bild aus einer der Seiten hinaus geflattert.

Klasse. Das hatte mir gerade noch gefehlt

Sofort bückte sich die junge Frau herunter. Das Foto lag auf dem Rücken, dass nur das Datum der Aufnahme zu lesen war. Sie schnappte sich das Stück Papier. Ein Schatten bedeckte ihr Gesicht. Es war Kaiba. Er hatte sich ebenfalls herunter gebeugt und griff nach dem Buch. Seine Augen wanderten über den Titel. "Dem Glück auf der Spur. Dein Geschmack lässt zu wünschen übrig."

"Das ist nicht mein Buch."

Wieso rechtfertige ich mich?

"Du schienst mir sehr vertieft darin."

Ausgerechnet darüber wollte er mit ihr reden. Sonst war er nie der Typ für lockeren Smalltalk. Das Timing hätte nicht unpassender sein können.

"Ich-", Rin sah zu ihrer Hand herunter, "brauchte das Buch nur als sicheres Transportmittel."

"Für ein Foto."

"Mokuba wollte es unbedingt sehen."

Warum habe ich das gesagt?!

Sobald der Name seines kleinen Bruders gefallen war, bemerkte selbst Rin, wie etwas in dem jungen Firmenchef zu arbeiten begann. Wie er es als seine Pflicht sah, über sämtliche Belange des Jüngeren informiert sein zu müssen. Innerlich seufzend resignierte sie.

"Er war bloß neugierig, wie ich zu meinen weißen Drachen gekommen bin."

"Ich dachte, ich hätte ihm deutlich gemacht, dass er die Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken soll", der junge Firmenchef verschränkte die Arme vor der Brust.

"Schon in Ordnung", entgegnete Rin, die das Gefühl hatte, den Jüngeren stellvertretend in Schutz nehmen zu müssen, "wir haben uns bloß ein wenig unterhalten und sind dabei zufällig auf dieses Thema gestoßen."

"Er kann es einfach nicht lassen", murmelte Kaiba. Rin wusste, dass der junge Firmenchef es nicht gerne sah, wenn sich Mokuba mit den Angestellten seiner Firma verstand. Auch wenn er wohl bis zu einem gewissen Grad resigniert hatte, blieb das Thema ein strittiger Punkt, den Rin von beiden Seiten zu spüren bekam. Während Seto Kaiba durchsickern ließ, dass er keinen Kontakt zwischen seinen Duellanten und seinem schwarzhaarigen Wuschel wünschte, ließ sich der Jüngere der Kaiba Brüder öfter darüber aus, wie ernst sein großer Bruder das Verhältnis zwischen Mitarbeiter und Vorgesetzten nahm.

Wenn Mokuba wüsste-

"Mein kleiner Bruder hat dich ganz schön weich gekriegt", sagte der junge Firmenchef schließlich, wobei ihm die Worte ein schiefes Lächeln entlockten.

"Er weiß zumindest, wie man beharrlich ist. Ich kann es ihm nicht verübeln. Die Geschichte hat mir bisher keiner abgenommen." Rin musste schmunzeln. Kaibas Blick sprach Bände. Das umgedrehte Foto in der Hand hatte sein Interesse geweckt - und gerade versuchte er seinen Bruder als Ausrede vorzuschieben. Möglich, dass er sich schon mal gefragt hatte, wie Rin zu ihren Karten der Rarestufe zwei gekommen sein könnte. Schließlich wusste der mächtige CEO, dass Rin nicht zu den oberen Schichten zählte, die einfach so hunderttausende von Yen hinblättern konnten.

Sie kam nicht umhin, sich über den jungen Firmenchef zu amüsieren, dessen eiskalter Blick nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass sie ihn neugierig gemacht hatte. Allein die Vorstellung war so verlockend, dass ihr Ärger über das Foto verflog.

"Aber ich wollte diese Karten um jeden Preis."

"Das kann ich mir denken", entgegnete er in jenem überlegenen Ton, der so typisch für ihn war. Er hielt ihr das Buch hin. Als Rin es entgegen nahm, hatte sie Mühe, dabei ihrer beider Hände nicht zu berühren. Vorsichtig hielt sie es an dem Buchrücken fest; sie klappte das Buch auf.

"Dabei war es einfacher als die meisten denken. Mit Oberflächlichkeit lässt sich eben immer gutes Geld verdienen." Langsam ging das Fotos zurück in die Seiten. Ihre Worte kamen nur noch als leises Murmeln herüber. "Als ob es so schwer sei, gut auszusehen. Jeder kann mit zwei Tonnen Make Up als Fashionmodel auftreten." Sie wusste nicht, warum die Worte ihren Mund verlassen hatten. Noch dazu gegenüber ihres Bosses, den es wohl am wenigsten interessierte, was Rin zu sagen hatte. Das Fotos hineingelegt war das Bild einer sechzehnjährigen Rin zu sehen. Die blonde, wilde Mähne, dazu eine fette Schicht Schminke, ließen sie alles andere als kindlich aussehen. Die Aufnahme zeigte die junge Frau bis zu den Hüften, dass ihr Miniröckchen verborgen blieb. Natürlich hatte sie noch weitere Bilder, auf denen Rin in voller Magierinnenmontur abgelichtet worden war, aber das schien ihr gegenüber Mokuba nicht angebracht. Außerdem war der schwarzhaarige Wuschel noch eindeutig zu jung für solch aufreizende Fotos.

Ein völlig fremder Mensch begegnete ihr, sobald sie das Bild betrachtete. Man musste schon genau hinsehen, um Ähnlichkeiten zwischen ihrem eigentlichen Aussehen und dieser künstlich geschaffenen Maskerade zu finden.
 

Für Sekunden lag das Foto frei, - Sekunden, in denen sich die Augen des jungen Firmenchefs kaum merklich geweitet hatten - dann klappte Rin das Buch zu. Zurück in den Trenchcoat verstaut, nahm sie ihr Kleidungsstück vom Sofa.

"Leider ist das Ergebnis des Umkehreffekts nicht immer genauso zufriedenstellend." Kaibas Stimme brannte sich in ihren Kopf. Verdutzt richtete sich auf, doch der junge Firmenchef hatte sich bereits abgewandt und steuerte das Chefbüro an.

Wie meint er denn jetzt das?

Wortlos folgte sie ihm.

Soll das heißen, mein Aussehen lässt zu wünschen übrig? War ja klar, dass er wohl lieber auf solche Frauen steht. Männer sind alle gleich.

Ihr Blick schweifte nach unten. Die Hände zur Faust geballt hasste sie es, dass sie sich von so einem Satz aus der Bahn bringen ließ.

Wie alt bist du, Rin? Zwölf?! Fang' jetzt nicht deswegen an, Komplexe zu kriegen! Das wäre ja lächerlich.

Ohne Umschweife ging es in den Fahrstuhl. Rin lockerte die Fäuste.

Vielleicht meint er damit auch etwas anderes. Als ob Kaiba damit hinterm Berg halten würde, wenn er etwas an mir auszusetzen hätte…mal davon abgesehen, dass wir Sex hatten und er sicher nicht nötig haben wird, mit seinen Angestellten rumzuvögeln.

Kaiba war der Letzte, der sich in das Innere des Lifts hinein gezwängt hatte. Er drückte einen Knopf und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung.

Ich hab mich ihm schließlich nicht aufgedrängt

Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, keinen Gedanken mehr an jene Nacht zu verschwenden. Sobald die Fahrstuhltüren zu gingen und Rin von Kaibas Statur geradezu in Beschlag genommen wurde, kehrten die Bilder von ganz allein zu ihr zurück. Sein Körper so nahe an ihrem war nicht gut für ihre Nerven. Seinen Duft so intensiv um sich zu haben und keine Chance, dem zu entkommen, machten die Fahrtsuhlfahrt zu einer geistigen Folter. Ein leichter Hauch von Frische umwehte ihn, die Haare waren noch nicht ganz getrocknet, dass er wohl vorher unter der Dusche gewesen sein musste. Es war Dienstag und Seto Kaiba hatte sicher die Badeanstalten seiner Firma aufgesucht. Von Mokuba hatte sie den Grund erfahren, weshalb die Schwimmhalle Dienstags und Freitags zwischen zehn und vierzehn Uhr gesperrt wurde; anfangs war das Schwimmbecken eigens für die Familie Kaiba eingebaut worden - zum Abschalten und der sportlichen Betätigung. Nachdem der Jüngere der Kaiba Brüder die alleinige Nutzung als Verschwendung angesehen hatte, wurde die Halle erweitert und für einen ausgewählten Personenkreis freigegeben.

Rin hatte sich schon immer gefragt, wie der junge Firmenchef seinen durchtrainierten Körper aufrechterhalten konnte, wenn er von morgens bis abends nur in der Firma war. Die Vorstellung von Seto Kaiba, der mehrere Bahnen umrundete, dabei seinen Rücken durch streckte, die Schultern anspannte, die Oberarme durch das Wasser zog… nicht gerade die Vorstellung, die ihr gut tat; das wusste sie. Aber wenn kaum eine Hand zwischen die beiden passte, war es unmöglich, seine Gedanken unschuldig zu lassen.

Im Geiste atmete sie tief ein. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Kaiba gar nicht seinen weißen Mantel anhatte. Er trug ein dunkelblaues Hemd, von dem die obersten zwei Knöpfe ausgespart worden waren, dazu die schwarze Hose und einen passenden silbernen Gürtel. Rin wusste nicht, wieso, aber sie hatte eine Schwäche für Gürtel. Das Geräusch, das er auslöste, wenn er aus den Schlaufen gezogen wurde, liebte die junge Frau.

Schau bloß nicht auf seinen Gürtel.

Ihre Augen wanderten nach oben. Kaiba hatte sie bereits mit seinem eiskalten Blick ins Visier genommen. Ihre jadegrünen Seelenspiegel erwiderten ihn. Das passierte zuweilen öfter, wenn er und Rin mit dem Fahrstuhl fuhren. Möglich, dass ihre Augen seinen Fixpunkt bildeten. Wo hätte der junge Firmenchef auch sonst hinsschauen können? Genau wie Rin blieben dem mächtigen CEO nicht viele Optionen. Wie sie in seine tiefblauen Augen blickte, wurde ihr erstmals bewusst, dass sie einem Mann noch nie so lange in die Augen geblickt hatte wie Seto Kaiba. Sie war immer zu schüchtern gewesen - oder zu feige. Jetzt gerade in die Augen des Mannes zu sehen, dessen Blicke als angsteinflößend galten, grenzte für Rin schon fast an Ironie. Dabei ließen Kaibas Blicke sie nicht kalt. Sorgten eher dafür, dass Hitze sich in ihr ausbreitete. Ihr Magen zog sich zusammen.

Ob Sex im Fahrstuhl wirklich so geil ist, wie man es sich vorstellt…? Oh Mann, ich muss definitiv aufhören zu denken.

"Das letzte Duell", Kaibas Stimme brachte sie dazu, sich zu konzentrieren.

Rin konnte sich nicht erinnern, wann er sie jemals im Fahrstuhl angesprochen hatte. Bevor sie die geheimen Anlagen erreichten, bevorzugte es der junge Firmenchef zu schweigen. Dass er sie heute bereits zweimal angesprochen hatte, grenzte an ein Wunder. Obwohl beide in der Lage waren eine ordentliche Unterhaltung zu führen, sprachen sie nicht oft miteinander. Zumindest nicht über Themen, die nichts mit ihrer gemeinsamen Arbeit zu tun hatten.

Ohne seinen Blick von ihren Augen abzuwenden, sagte er: "Derart die Fassung zu verlieren…das sieht dir gar nicht ähnlich."

Sie blinzelte ihn an. "Ich habe mich etwas hinreißen lassen", erwiderte Rin, "das wird nicht wieder vorkommen."

"Und das alles wegen einer billigen Monsterkarte."

Jetzt fängt Kaiba auch noch damit an! Was ist denn hier nur los?

"Hast du etwa ein Problem mit Magierkarten?"

"Nein, überhaupt nicht. Die Karte an sich stört mich nicht, ich-" Sie hielt inne. Ihre Augen verengten sich, ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen (sie wusste noch nicht, wie sie ihr Lächeln einordnen sollte). "Kann es sein, dass du mich gerade ausfragst, und dass deine Fragen etwas mit deinem System zu tun haben?" Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. So abwegig dieser Gedanke war - dass er nur mit ihr Plaudern wollte, konnte er ihr nicht weismachen. Seine Mundwinkel begannen zu zucken. "Möglich", antwortete er lediglich.

Am liebsten hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt - wenn sie dabei nur nicht Kaibas Oberkörper streifen würde.

"Hm", Rin wagte sprichwörtlich einen Schritt nach vorne, "denkst du, ich verrate dir so einfach etwas über mein Privatleben?" Ihr Lächeln wurde breiter.

"Worauf willst du hinaus", entgegnete der Chef der Kaiba Corporation.

"So eine Unterhaltung sollte immer auf Gegenseitigkeit beruhen. Wenn du also etwas über mich wissen willst, möchte ich im Gegenzug auch eine Frage stellen."

"Ganz schön frech", Kaiba durchdrang sie mit seinen Augen. Dabei wirkte er nicht halb so gefährlich wie an manch anderen Tagen. "Wer sagt mir, dass deine Informationen mir von Nutzen sein werden?"

"Niemand. Darum geht es doch bei so einer Unterhaltung…oder hast du Angst, meine Frage könnte dich brüskieren?"

Rin ließ nicht von seinen Seelenspiegeln. So tobend wie das Meer, wurden sie für Rin zu einem immer stärker werdenden Magneten.

"Also schön", sagte er schließlich. Die junge Frau hätte nicht verblüffter sein können.

"Sei aber vorsichtig. Die falsche Frage könnte dich womöglich einiges kosten."

"Denkst du, ich würde eine derart persönliche Frage stellen?" Sie schüttelte den Kopf. "Ich verspreche dir, meine Frage ist deiner gleich gestellt."

"Gut."

"Warum hast du nach dem Battle-City-Turnier aufgehört dich zu duellieren?"

Sein Blick verriet keine Emotionen. Er tat einen tiefen Atemzug und drehte sein Gesicht zur Wand. "Das ist deine Frage?"

"Ich weiß, dass du im Viertelfinale gegen Yugi Muto verloren hast. Was ich nur nicht begreife, ist, warum du danach beschlossen hast, aufzuhören. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du jemand bist, der nach einer Niederlage einfach das Handtuch wirft."

Seine Mundwinkel wurden zu einem einzigen geraden Strich.

"Wer sagt, dass ich aufgehört habe, mich zu duellieren?"

Jetzt war es Rin, welche die Augen aufriss.

"Ich habe einfach keine Lust, mich mit diesem schwachen Gesindel von Duellantenabschaum abzugeben - von denen kann mir keiner das Wasser reichen. Es wäre pure Zeitverschwendung, selbst wenn ich noch so viele Titel einfahre." Sie hörte es knacken. Rin vermutete, dass er die Fäuste geballt hatte, traute sich nur nicht, den Blick von ihm abzuwenden und nachzusehen.

"Es gibt nur eine Person, die es Wert ist, gegen sie anzutreten…und sobald ich mein neues System an den Start gebracht habe, werde ich mich endlich für die Blamage von vor sechs Jahren rächen können." Er hatte so ruhig gesprochen, dass es seinen Worten zusätzlich Gewicht verlieh. Die junge Frau konnte sich vorstellen, was es bedeutete, von einer bestimmten Person besiegt worden zu sein. In Seto Kaibas Karriere war Yugi Muto der erste und einzige, der ihm einen Kratzer in seine ungeschlagenen Historie verpassen konnte. Für jemanden, der es gewohnt war, zu gewinnen, sicher eine der schwersten Lektionen, die er erteilt bekommen hatte.

Seine Worte beruhigten sie - auf unerklärliche Weise. Mit einem leichten Ruck kam der Fahrstuhl zum Stehen. Die Lider gesenkt unterdrückte Rin ein Lächeln. "Ich kann es nicht ausstehen, das schwarze Magiermädchen auf dem gegnerischen Feld zu sehen", sagte sie und wartete Kaibas nächsten Schritte ab, nachdem der Lift seine Türen geöffnet hatte, "nicht nur, dass sie mich an alte Zeiten erinnert, die ich gerne verdrängen möchte."

"Du sagtest, du siehst sie nicht gerne auf der gegnerischen Seite", erwiderte der junge Firmenchef, der Licht in den Flur gebracht hatte.

Ihm entgeht aber auch nichts

"Es ist schon eine Weile her, da gehörte mir diese Karte."

Ihr Vordermann hielt inne.

"Irgendein Pack von damals hatte das schwarze Magiermädchen in seiner Kartenliste", Rin erinnerte sich beim besten Willen nicht, welche.

"Was könntest du mit einer Karte wie dieser anfangen?"

"Naja", Rin setzte ein breites Grinsen auf, "wenn dein Gegner mit einem Magierdeck spielt, kann das eine sehr amüsante Sache sein."

"Inwiefern", entgegnete Kaiba, an dessen Tonfall herauszuhören war, dass >amüsieren< nicht in seinem Wortschatz zu finden war.

"Dann", antwortete Rin, "wenn ein weißer Drache mit eiskaltem Blick den ersten Magier erledigt hat. Auf einen schwarzen Magier folgt nicht selten ein zweiter", Rin hob Zeige- und Mittelfinger an, "der wiederum mithilfe einer Zauberkarte den weißen Drachen erledigt. Sobald der richtige Augenblick gekommen ist und dunkles Magiermädchen gegen den schwarzen Magier antritt, geht der Spaß erst richtig los."

"Ich kenne die besondere Fähigkeit des Monsters", Kaiba stand Rin direkt gegenüber. Seine Augen sahen auf sie hinab - funkelnd, wie ein Aquamarin, schoss es Rin durch den Kopf.

"Sie bekommt dreihundert Punkte für jeden schwarzen Magier auf dem Friedhof", sein herablassender Blick galt nicht ihr. Wieder einmal blieben ihr Kaibas Gedanken verschlossen. "Damit bleibt sie schwächer als der dunkle Magier, selbst mit einem Weiteren auf dem Friedhof."

"Du hast eine Sache außer acht gelassen", säuselte Rin, die sich an die Duelle mit ihrer Freundin erinnerte. Die Hasstiraden, sobald die junge Frau ihren Joker ausgespielt hatte. "Schwarzes Magiermädchen bekommt nicht nur für jeden schwarzen Magier zusätzliche Angriffspunkte. Da gäbe es noch den schwarzen Magier des Chaos."

Kaibas Augen weiteten sich. Dann schüttelte er den Kopf und lachte auf. "Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen." Seine Worte schienen an sich selbst gerichtet, bevor er sich wieder Rin zuwandte und die Hände in die Hüften stemmte. "Ich vergesse manchmal, wie boshaft du sein kannst."

Perplex sah sie ihn an. Seine Direktheit traf sie wie ein Schlag.

"Das war keine Beleidigung, Yamamori", fügte der junge Firmenchef hinzu und drehte sich um, "deine vielschichtigen Seiten verblüffen mich einfach immer wieder."

Sie vergaß beinahe weiterzulaufen, so sehr irritierten sie seine Worte. Dass er so von ihr dachte - womöglich, wenn Rin so darüber grübelte, hatte er wohl recht. Die junge Frau eilte ihm hinterher. Durch die große Tür, die in das Zentrum seiner geheimen Anlagen führte. Von da ging es weiter durch eine Nebentür, die weitere Räumlichkeiten mit komplexer Technik bereithielten. Sobald die Pforten von ihnen durchschritten waren, legte sich bei den beiden ein Schalter um. Rin, die soeben noch überrascht von Kaibas lockerer Art war, merkte nicht, wie sie ebenfalls die Hemmungen ablegte. Dieser Raum, der von der Außenwelt vollkommen abgeschottet war, stellte Rin fast auf dieselbe Stufe wie den jungen Firmenchef. Wenn Kaiba dieses >fast< auch überdeutlich zum Ausdruck brachte.
 

"Ich habe deiner Disc ein Update verpasst", sagte Kaiba, während Rin ihren Trenchcoat über den Schrank mit den diversen Ersatzteilen legte, "du hast jetzt Zugriff auf siebzig Prozent meines virtuellen Programms. Ich will sehen, was es mit dem System während eines Duells anstellt."

"Sagtest du nicht, dass fünfzig Prozent vollkommen ausreichen?"

"Ich habe meine Meinung geändert."

"Etwa wegen der gestrigen Duellsimulation?", säuselte Rin und lief langsam in Richtung des jungen Firmenchefs. Der mächtige CEO hatte einige Mikrochips in den Händen, die er in seine eigene DuelDisc steckte. Rin wusste nicht, wofür sie gut waren - Kaiba erklärte ihr lediglich das Nötigste. Dabei verstand ihn die junge Frau sehr gut. Vor einigen Tagen hatte er ihr erst eine Einführung in die Grundlagen seiner Arbeit gegeben. Rin hatte gespannt zugehört. Die vielen Begriffe, mit denen er um sich geworfen hatte, erinnerten sie an ihre liebsten Science-Fiction-Serien; als wären die Phantasien aus dem Anime direkt in Kaibas System eingeflossen. Ihre gierigen Blicke, die ihrer Bewunderung gegenüber dieser grenzenlosen Technologien galten, hatten dem Chef der Kaiba Corporation ein Lächeln entlockt. Dabei wollte sie ihm keine Bewunderung zukommen lassen, scheiterte jedoch immer wieder, sobald er von seinem Projekt zu sprechen begann.
 

Auf Rins Frage schwieg der junge Firmenchef. Die junge Frau hatte nichts anderes erwartet und lächelte breit. "Mit ist schon klar, dass du Einblick in meine Aktivitäten, die meine DuelDisc betreffen, hast…und sicher von Zeit zu Zeit herauszufinden versuchst, wie ich diese Effekte hinbekomme…mir machst du eben nichts vor." Den Blick an die Decke bemerkte sie nicht, wie Kaiba sich umgedreht hatte. Zwei starke Arme hatten Rin binnen Sekunden an die Wand gedrückt, dass die junge Frau keine Zeit zu reagieren hatte.

"Hm", Kaiba sah auf sie herab. Ihr Gesicht lag zwischen seinen Händen. Einzelne Strähnen seines Ponys berührten ihre Stirn. Rin hielt den Atem an. Seine Augen so herausfordernd über sich zu haben, ließen ihren eigenen Blick schwach werden. In Rin stieg ein Gedanke auf. Kaiba, dessen Atemzüge Rin dazu bewegten, ebenfalls wieder mit atmen anzufangen, ließ die Arme sinken. Sein Gesicht drehte er weg von ihr, dann lief er zurück in Richtung Tür. "Das werden wir ja sehen", sagte er abschließend, bevor er seine Arbeit fortsetzte als sei nichts gewesen.

Schon das zweite Mal, dass sich Rin eingebildet hatte, er würde sie küssen. Sie ärgerte sich, es auch nur für einen Moment angenommen zu haben. Alles, worüber sie nachdenken sollte, war die Arbeit und nicht irgendwelche Annahmen, die sie sich bei dem jungen Firmenchef doch eigentlich sparen konnte. Die Miene zu Eis erstarrt folgte sie Seto Kaiba - das einzig Richtige, das sie im Moment tun konnte.

Wie übergroße Blitzpfeile schossen die Lichtschwerter von Himmel, grell leuchtend kreisten sie Yamamori und ihre Karten ein, dass nicht mehr viel von der jungen Frau zu erkennen war. Nur der gleichgültige Blick, den erkannte Seto Kaiba, selbst aus zehn Metern Höhe - denn er würde wohl immer, aus jeder Entfernung zu erkennen sein.

Nicht einmal ein müdes Lächeln konnte ihr der Zug noch abgewinnen. Die junge Frau hatte es kommen sehen, ihre Augen drückten so viel Gelassenheit aus, dass sie dem Spektakel ihres Gegners keine weitere Beachtung schenkten. Dabei war seine akrobatische Darbietung während der Aktivierung von verräterische Schwerter ein extremer Blickfang gewesen, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Masato Kaeji war eben ein Profi durch und durch - zumindest was seine Selbstdarstellung anbelangte; diese beherrschte er kaum wie ein zweiter seit er damals vor drei Jahren als kleiner aufgedrehter Duellant startete, der als Spezialist für Ungeheuer-Krieger die DuelMonster-Szene aufmischen wollte. Die spielerische Leistung hingegen war so, wie sie Seto Kaiba von dem Duellanten der Sponsorengruppe gewohnt war. Es war für den jungen Firmenchef eine Selbstverständlichkeit, dass Yamamori das Duell bisher angeführt hatte. Dass sie es als Heimspiel betrachtete, war deutlich zu erkennen. Wie könnte es auch anders sein: jedes Detail, jeder Spezialeffekt des heutigen Duells war von der jungen Frau erschaffen und von Seto Kaiba abgesegnet worden. Er gab es nicht gerne zu, aber er begann Gefallen an ihren Ideen zu finden; sorgten diese ständig für Überraschungen, dass er sich nicht mehr mit derartigen Banalitäten herumschlagen musste. Diese überließ er nun Rin Yamamori, die sowohl qualifiziert als auch mit voller Inbrunst bei der Sache war. Mit einer Selbstverständlichkeit handhabte sie das System, dass Kulissen und Hintergrundbilder nicht mehr nur für die eigenen Duelle genutzt werden konnten, sondern auch Spieler der jeweils anderen Gruppen das Vergnügen des verbesserten holographischen Systems erhielten.

Nie hätte er gedacht, dass er sich jemals Arbeit abnehmen ließe.
 

Sein Blick wanderte von seiner Duellantin zurück zu den Lichtschwertern. Ihr Leuchten war so hell, dass sie nicht nur die Nacht zum Tage machten - sie zeigten zudem jede kleinste Falte, jeden noch so winzigen Schweißtropfen, der sich auf der Stirn ihres Gegners gebildet hatte.
 

Kaeji war ganz schön ins Schwitzen geraten als Rin ihren weißen Nachtdrachen in der ersten Runde beschworen hatte. Einer Kreatur wie dieser hatte man zu Beginn nur wenig entgegenzusetzen, dass die Lebenspunkte von Kaeji nur so gepurzelt waren. Zug um Zug hatte der extrovertierte Duellant ums Überleben gekämpft, hatte sich mit einer Zauberkarte nach der anderen durch die Runden gehangelt. Darin war Kaeji Meister. Ein richtiger Defensivspieler, wie sie die erste Profiliga zu Scharen ausspuckte. Solchen Typen konnte Kaiba nur wenig abgewinnen. Nervige Duellanten, die nichts als ihre Verteidigung zu bieten hatten, das Duell künstlich in die Länge zogen, weil sie Weicheier waren, nicht Manns genug, ihren Gegner frontal anzugreifen.

Dem Publikum schien es zu gefallen, die Zuschauer feuerten Kaeji und Yamamori im Wechsel an, dass die Bahnhofshalle erzitterte. Der Ungeheuer-Krieger-Duellant war weltbekannt, noch bekannter seine Auftritte, mit denen er sich in Szene zu setzen wusste, dass es seine Anhänger von überall angelockt hatte. Aber nicht nur sie. Der gesamte Hauptbahnhof war voller DuelMonsters-Fans und denjenigen, die sich eine gute Show nicht entgehen lassen wollten. Jeder kam auf seine Kosten, das System arbeitete mit der höchsten Auflösung, die es zum derzeitigen Zeitpunkt hergab. Mit Yamamoris DuelDisc, deren Leistung er auf siebzig Prozent angehoben hatte, waren die Effekte mehr als überzeugend und übertrafen die der anderen Teilnehmer um Längen, dass sogar Laien der Unterschied schon aufgefallen sein musste.
 

Zufrieden betrachtete der junge Firmenchef den weißen Nachtdrachen. Immer wieder fielen von seinen Schuppen winzige Diamantenkörner - so eine präzise Arbeit ließ sich sehen, dass Kaiba guter Dinge war, was die Zukunft anbelangte.

Die Arme vor der Brust verschränkt blickte er von seinem Logenplatz wieder zu seiner Duellantin herunter.
 

Kaiba, so wie eine kleine Gruppe von VIPs, hatte sich in dem Glasgebäude des ersten Stockwerkes eingefunden, welches üblicherweise als Wartebereich der Passagiere erster Klasse genutzt wurde. Dieser bot die beste Sicht auf die beiden Schnellzüge, auf denen sich die Spieler des heutigen Abends duellierten. Die Eröffnung, als die Duellanten auf dem Rücken des Zuges zum Bahnhof eingefahren kamen, hätte kaum eindrucksvoller sein können. Masato Kaeji in seinem blauen Latex-Jumpsuit, der sich wie eine Wildkatze an das Verdeck des Zuges gekrallt hatte, sorgte bereits für genug Aufsehen. Und Rin, die neben Kaeji beinahe schon bescheiden wirkte, strahlte durch ihren blau-rot schwingenden Mantel so viel Lässigkeit aus, dass man ihr einfach nur bewundernde Blicke zuwerfen musste. Wie sie ihren Gegner mit einer Gleichgültigkeit gegenüberstand, obwohl dieser sich alle Mühe gab, Rin aus dem Konzept zu bringen, war auf eine gewisse Weise beeindruckend. Kaiba wusste, dass Kaejis Stärke darin lag, die Gegner mit seinem teils skurrilen, teils aufgesetzten Verhalten zu verwirren - wobei er bei der jungen Frau immer noch auf Granit biss. Der blauhaarige Duellant konnte von Glück sagen, dass ihm die Lichtschwerter zur Hilfe geeilt waren. Sonst wäre er im nächsten Zug eiskalt abserviert worden. Durch seine Zauberkarte blieben ihm drei Runden, in denen er seine Monster versammeln konnte, ohne dass ihm Rins weißer Nachtdrache in die Quere käme. Die junge Frau hatte ihre Konterkarten bereits ausgespielt, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als in den drei Runden die Füße still zu halten.

Diese Lichtschwerter

Ein billiger Trick ihres Gegners, der seinen Zweck erfüllte. Drei seiner liebsten Monster reihten sich nacheinander vor dem blauhaarigen Profispieler. Kaiba hatte diese Art von Zauber schon immer verachtet. In seinen Augen zeugte es von Schwäche, sich derartiger Hilfsmittel bedienen zu müssen. Kaeji jedenfalls schien sich seiner Schwäche jedoch nicht bewusst. Er suhlte sich in der Aufmerksamkeit, die ihm seine Fans zukommen ließen. Viele fuhren auf seine Lunalicht-Monster ab; diese tierischen Ungeheuer-Krieger, mit denen sich Masato Kaeji zu identifizieren schien - oder warum fielen seine Haare wie spitze Katzenohren über seine Stirn?

Rin hätte die Location besser in einen Zoo verwandeln sollen
 

"Mein Zug", verkündete Rin, dass die Lautsprecher über den Bahngleisen ihre Worte zu dutzenden widerhallen ließen. Sie zog eine Karte. Die letzte Runde, in welcher ihr Drache nicht angreifen durfte, hatte begonnen.

Die junge Frau zeigte ihre gezogene Karte vor: "Ich spiele Topf der Gier, damit kann ich zwei Ka-"

"Nicht so voreilig, Dragongirl!" Kaeji schwenkte seinen rechten Arm als wollte er einen Scheibenwischer nachahmen. "Denn ich aktiviere meinen Schnellzauber - Krugräuber! Er annulliert den Effekt von Topf der Gier. Das war's dann mit deiner Geheimwaffe." Sein Grinsen ging ihm bis über beide Ohren.

"Meiner was-?! Ist das dein ernst?! Ein Zauber, der verhindern soll, dass ich zwei Karten ziehe?"

"Nicht irgendwelche Karten, Schätzchen. Ich hab nämlich deine kleine Taktik durchschaut: immer wenn du Topf der Gier spielst, sind deine Gegner im nächsten Zug im Arsch. Denkst du, ich lass' zu, dass du dieselben Spielchen mit mir abziehst?!" Er wedelte mit dem Zeigefinger. "Vergiss' den weißen Nachtdrachen - Topf der Gier ist deine Karte."

"Meint er das ernst, Seto?" Mokuba starrte entgeistert zu dem Profiduellanten der ersten Liga. Der Ältere würdigte dies keiner Antwort. Dafür entgegnete Rin: "Du scheinst da was miss zu verstehen, Blaulocke. Nicht die Karte schaltet meine Gegner aus. Das liegt bloß an ihrer absoluten Dummheit, dass sie nicht erkennen, wenn sie einer Niederlage entgegenblicken." Sie schüttelte den Kopf. "Dass du wirklich Schiss wegen einer einfachen Zauberkarte hast", die junge Frau lächelte schwach. Rin schien das Ganze zu amüsieren, hielt sich jedoch mit ihren Hetzereien weitestgehend zurück. Im Gegensatz zu ihren anderen Gegnern blieb sie Kaeji gegenüber relativ ruhig. Nicht, dass man ihr den Kampfeswillen nicht ansah - diesen hatte sie seit dem Duell gegen Hanabi und Kim wie einen zweiten Mantel um sich liegen. Stattdessen blieb sie entspannt und fokussiert, ließ die Karten für sie sprechen, die weitaus mehr zu sagen hatten als Kaejis alberne Floskeln.
 

"Was passiert dann erst, wenn ich ernst mache?", Rin legte den Kopf schief, ihre Stimme war scharf - genauso wie die Lederhose, die sie trug, "rennst du dann heulend wie ein Baby davon?"

"Wir werden sehen, wessen Tränen am Ende getrocknet werden müssen", erwidere Kaeji und riss die Augen auf, "oh und damit du es weißt: meine Zauberkarte lässt nun netterweise mich eine Karte ziehen."

"Die Karte bleibt trotzdem eine Luftnummer." Damit verschwand Topf der Gier auf dem Friedhof. Rin legte eine Karte verdeckt und beendete ihren Zug. Auf das Signal zerstörten sich zu tausenden von Splittern die Lichtschwerter und räumten das Feld frei für einen vernichtenden Angriff. Die plötzliche Veränderung der Lichtstärke, die mit ihrem Verschwinden einherging, ließ Mokuba die Augen zusammen kneifen. "Na endlich", stöhnte der Jüngere und rieb sich die Augen.

Dasselbe schien sich Kaeji gedacht zu haben. Er begann lauthals zu lachen, dass das eingearbeitete Schwänzchen an seinem Hinterteil zu wackeln begann. "Dann wollen wir die Show doch mal beginnen lassen!" Kaeji rieb sich vergnügt die Hände. "Dank deiner netten Zauberkarte konnte ich die Karte ziehen, die mir zu meinem ultimativen Sieg noch gefehlt hatte." Er drehte die äußerste Karte, dass seine Gegnerin sie sehen konnte.

"Mach' Bekanntschaft mit dem Monster deines Untergangs!"

"Wenn du wüsstest, wie viele das schon gesagt haben", entgegnete Rin trocken.

"Ha, du hast ja keine Ahnung, was meine Schätzchen so alles drauf haben! Nimm' dich in Acht, Dragongirl! Für drei meiner Lunalicht-Monster kann ich ein Fusionsmonster beschwören, dass dir die Socken ausziehen wird! Also, hinfort Lunalicht scharlachroter Fuchs, smaragdgrüner Vogel und grüner Marder!" Er wedelte mit den Armen als wollte er jeden Augenblick selbst abheben. Die Monster verschmolzen miteinander, eine bunte Masse entstand, die sich zu einer neuen Kreatur erhob. Halb Mensch halb Bestie schwebte vor Kaejis Gesicht. In jeder Hand ein Schwert ließ sie die Klingen aneinander reiben, dass ein ohrenbetäubender Laut freigesetzt wurde, dass der ein oder andere die Zähne zusammenbiss. Ihre Erscheinung war pompös, überragte sie Kaeji um das Doppelte, dass ihre Präsenz das gesamte Publikum in Beschlag nahm. Zufrieden blickte der Blauhaarige zu einem seiner stärksten Monster hinauf.

"Meine Lunalicht Schwerttänzerin ist nicht nur eine Augenweide", grinste der Profiduellant und nickte zu seiner Gegnerin herüber, deren Mimik kein Funken Emotionen erkennen ließ. "Es wird Zeit, dass du Bekanntschaft machst mit der wahren Macht meiner Lunalicht-Monster!"
 

"Verstehst du das, Seto?", Mokuba kratzte sich an den Kopf, "Kaejis Fusionsmonster ist doch genauso stark wie Rins weißer Nachtdrache. Was hat er denn vor?"

"Sieh' mal genauer hin, Mokuba", entgegnete der Ältere lediglich und deutete mit einem Nicken zu der Schwerttänzerin.

"A-aber", Mokuba riss die Augen auf. Der Blick wanderte zu der Monster-Anzeige - Lunalicht Schwerttänzerins Power hatte sich auf 3800 Atk erhöht.

"Es sind seine Monster", erwiderte Kaiba und starrte auf die Spielfeldzone, "für jedes Lunalicht-Monster, das auf dem Friedhof liegt, erhält seine Schwerttänzerin 200 zusätzliche Angriffspunkte."

"Waaaas?!" Dem Jüngeren der Kaiba Brüder fiel die Kinnlade herunter. "Der Kerl spielt doch nur mit Lunalicht-Monstern! Damit kann er die Power bis aufs Maximum ausschöpfen!" Er schaute auf die Duellantin ihrer Firma. "Rin muss doch noch irgendwas in der Hinterhand haben."

"So dumm wird sie nicht sein, dass sie jetzt eine Fallenkarte aktiviert."

"Wieso das nicht?"

"Schwerttänzerins zweiter Spezialeffekt schützt sie vor sämtlichen Effektschaden."

"Dann ist sie unangreifbar?"

"So weit würde ich nicht gehen. Aber für Yamamoris Drachen sieht es schlecht aus."

"Wenn sie ihn verliert-"

"Warten wir es ab", damit konzentrierte sich Kaiba wieder auf das Geschehen unter ihnen.

Kaeji, der die überragende Stärke seines Monsters genoss, zeigte auf jene Kreatur, die bereits die Säbel wetzte.

"Zieh' dich warm an, Dragongirl! Die Show hat gerade erst begonnen. Wollen wir doch mal sehen, wie dir diese kleine Zugabe gefällt." Er streckte seinen linken Arm aus. "Es wird Zeit für meine Zauberkarte - Mondlichtparfüm!" Eine blaue Dunstwolke wurde freigesetzt. Der junge Firmenchef war froh, hinter dem Glas zu stehen - der Geruch dieses exotischen Parfüms konnte über Tage in der Nase hängen bleiben. Sein System war eben in allem perfekt, dass es nicht immer zum Vorteil gereichte. Langsam ließ die Dunstwolke Kaejis Monsterfeld verschwinden.

"Mondlichtparfüm", erklärte dessen Besitzer währenddessen, "lässt mich eines meiner Lunalicht-Monster von meinem Friedhof beschwören. Und ich nehme", er drehte sich im Kreise, setzte dann zum raubtierartigen Sprung an und rief, "Lunalicht blaue Katze." Aus der Parfümwolke erhob sich ein weiteres Krieger-Ungeheuer. Es war nicht zu übersehen, zu welchem Monster Kaeji das männliche Gegenstück bildete. Blaue Katze pirschte von hinten heran, ging in die Hocke und ließ ihren blauen Schwanz hin und her wedeln. Das Erscheinen seines Lieblings ließ die Lunalicht-Fanrige aufkreischen.

Warum tue ich mir das eigentlich an?

Seine Antwort stand auf der anderen Seite des Feldes. Rin blickte ihm Wechsel zu Lunalicht Schwerttänzerin und ihrer deutlich schwächeren Nachbarin.

"Sieh' genau hin!", rief Kaeji und zwinkerte seiner Gegnerin zu, "wir bewegen uns langsam auf den Höhepunkt zu. Meine kleine Mieze ist nämlich nicht ohne Grund da. Lunalicht Schwerttänzerin verliert zwar 200 Angriffspunkte, weil blaue Katze nicht mehr auf dem Friedhof liegt, aber das soll uns nicht weiter stören. Schließlich liegt die Stärke meiner blauen Katze in ihrer Spezialbeschwörung."

Rin riss die Augen auf. "Deshalb hast du sie vorhin auf den Friedhof gelegt."

"Du hast es erfasst, Dragongirl. Erst wenn blaue Katze als Spezialbeschwörung aufs Feld gerufen wird, aktiviert sich ihr Effekt. Und wie ich an deinem Gesicht erkennen kann, weißt du, was jetzt kommt. Blaue Katze verdoppelt für eine Runde die Grundangriffskraft eines beliebigen Lunalicht-Monsters." Wie ein Wahnwitziger blickte er zu seinem Fusionsmonster hinauf, das ganze 6600 Angriffspunkte vorzuweisen hatte. Den Zuschauern verschlug es die Sprache.

"Was für eine krasse Scheiße?!",verlor Mokuba sämtliche Beherrschung und presste sich an die Fensterscheibe als könnte er sich durch sie hindurch quetschen.

"Entspann' dich", erwiderte der Ältere leicht gereizt.

"Schon gut", grummelte der Schwarzhaarige und verschränkte die Arme vor der Brust. "Aber du kannst doch auch nicht wollen, dass Rin verliert."

"Sagst du denn nicht ständig, dass man etwas mehr Vertrauen haben soll?"

Der Jüngere drehte sich ungläubig um. "Ähm, ja schon, aber-"

"Yamamori hat noch all ihre Lebenspunkte. Selbst wenn Schwerttänzerin den weißen Nachtdrachen besiegt, hat sie noch vierhundert Atk."

"Und was ist mit blaue Katze? Ein weiterer Angriff und das Duell ist gegessen."

Darauf erwiderte Seto nichts. Ihm kam es ohnehin schon absurd vor, mit seinem kleineren Bruder über solche Belanglosigkeiten zu diskutieren. Alles nur, weil Mokuba sich unbedingt mit seiner Duellantin anfreunden musste und jetzt wie eine Klette an jedem ihrer Duelle dran hing. Seit wann waren dem Schwarzhaarigen ihre Spieler so wichtig geworden? Seto hatte doch bereits deutlich gemacht, wie sehr ihm Mokubas Verhalten missfiel. Aber der Jüngere ließ sich nichts mehr von seinem großen Bruder sagen. Schon gar nicht seit die junge Frau in ihr Leben getreten war. Kaiba ballte die rechte Hand zur Faust. Warum ärgerte es ihn nur so sehr, dass die beiden sich verstanden? Mokuba hatte wohl noch nicht genug Aufgaben, dass er sich neuerdings als Cheerleader versuchte.

Was ist das nur mit dieser Frau?!

Er musste aufhören, sich weiter darüber Gedanken zu machen. Kopf und Geist zurück auf das Spielfeld gelenkt, machte sich Kaejis Fusionsmonster zum Angriff bereit. Die Schwerttänzerin flog mit ihren Klingen auf den weißen Nachtdrachen zu. Dieser schlug mit den Flügeln - vergebens. Die Schwerter bohrten sich mit voller Wucht in den Leib des Tieres, dass der Drache einen letzten Todesschrei ausstieß, um sich dann in abermillionen Diamantensplittern aufzulösen. Auch Rins Lebenspunkte verschwanden nacheinander von der Anzeige.

Wie ein Kind hüpfte Kaeji vergnügt auf einem Bein. "Der Nachtdrache ist erledigt!", jubelte er und klatschte in die Hände. "Machen wir weiter mit deinen restlichen Lebenspunkten." Er gab blaue Katze den Befehl zum Angriff. Das Ungeheuer stürmte geradewegs auf Rin zu, machte einen Satz und - Ratsch, die blauen langen Krallen teilte die Luft entzwei.

"Das kann nicht sein?!" Verdutzt starrte Kaeji auf seine Ungeheuer-Kriegerin. Blaue Katze war stehen geblieben. Aber nicht vor Rin. Einige Meter vor der jungen Frau hatte sich ein neues Monster eingefunden.

"Wann ist das passiert?" Kaeji pfiff sein Monster zurück.

"Du hast meine Fallenkarte vergessen", Rin deutete auf die aufgedeckte Karte, "als du meinen weißen Nachtdrachen zerstört hast, konnte ich meine Falle Schadenstor aktivieren. Sie erlaubte es mir ein Monster aus meinem Friedhof zu beschwören, dessen Atk kleiner oder gleich dem Schaden ist, den ich bekommen hatte."

"Und da kommst du mit sowas popeligem wie deiner Eisherrin?" Er sah auf ihre schwache Verteidigung.

"Sie steht doch noch, oder?"

"Noch", betonte ihr Gegner spöttisch. Er legte eine Karte aufs Feld. "Dann wollen wir doch blaue Katze wieder zurück zu ihren Freundinnen schicken." Er aktivierte Trank der Zerstörung. Blaue Katze wurde vom Feld gefegt, dass zweihundert Punkte zurück auf das Konto der Schwerttänzerin gingen. Zudem ratterte Kaejis eigene Punkteanzeige um weitere 1600 Punkte nach oben - genau die Angriffskraft, welche Lunalicht blaue Katze besaß. Jetzt hatte Kaeji 2600 Lebenspunkte - ein guter Tausch für das Verschwinden eines nutzlos gewordenen Monsters.

"Und zum Abschluss", Kaeji warf eine weitere Karte auf die Zauberzone, "Kartenzerstörung!" Der Ungeheuer-Krieger-Duellant warf die letzten zwei verbliebenen Karten von seiner Hand, ließ sein Fusionsmonster weitere 200Atk dazugewinnen. Mit 4000 Angriffspunkten war sie nicht nur das stärkste Monster auf dem Feld.

"Warum hat Rin nicht ihren weißen Nachtdrachen zurückgeholt?" Mokuba schüttelte seine Mähne, "Schadenstor hätte sie doch locker ein Monster mit 3000Atk beschwören lassen."

"Nur hätte ihr das nicht viel gebracht." Kaiba hatte genau aufgepasst. "Reese war die einzige Möglichkeit, dieses Duell nicht zu verlieren. Wie du selbst sagtest, hat ihr Drache 3000Atk - damit hat er keine Chance gegen Kaejis Monster."

"Aber sollte sie nicht noch ein Paar Geheimwaffen haben?"

"Du hast ihr Deck doch vor Beginn des Duells gesehen. Yamamori hat all ihre Karten, die ihren Nachtdrachen stärken könnten, bereits verbraucht. Außerdem ist keine ihrer Zauberkarten mächtig genug, um es mit Schwerttänzerins Power aufzunehmen. Nicht bei 4000Atk. Sie muss sich schon etwas anderes einfallen lassen."

Du wirst doch jetzt nicht schlapp machen, oder Yamamori? Ein Gegner wie Kaeji sollte keine Herausforderung mehr für dich sein.

Seine eiskalten Seelenspiegel blickten zu der letzten verdeckten Karte. Dann sah er zu der jungen Frau, die sich einzig auf ihr Deck konzentrierte. Rin war am Zug. Nachdem vierhundert Lebenspunkte übrig geblieben waren, lag es nun an ihr, Kaeji zu überholen.

"Ich lege eine Karte verdeckt", die Fallen- und Zauberzone blinkte auf. "Als nächstes spiele ich die hier", eine Fallenkarte deckte sich auf, "sie nennt sich tiefes Grab."

"Und was soll das sein? Etwa der Titel deines nächsten Buches, nachdem ich dich platt gemacht habe?"

"Tiefes Grab lässt mich ein Monster aus dem Friedhof auswählen und auf meine Seite beschwören. Aber nicht sofort."

"Ha, lächerlich", sagte Kaeji, noch bevor Rin ihre Karte zu ende erklärt hatte, "selbst wenn du deinen weißen Nachtdrachen beschwörst, wird er dir nicht viel nützen - oder welches Monster gedenkst du zurück zu holen? In deinem Deck gibt es kein einziges, dass gegen meine Schwerttänzerin ankäme."

"Lass' dich überraschen", entgegnete Rin, "in meinem nächsten Zug wirst du es wissen."

"Egal, was es ist, es wird dir eh nichts bringen", höhnte der Ungeheuer-Krieger-Duellant und zückte eine Karte. "Als erstes lege ich selbst eine Karte verdeckt. Dann aktiviere ich diese Zauberkarte: Opfer des linken Arms. Indem ich meine gesamte Hand aus dem Spiel entferne, kann ich eine Zauberkarte aus meinem Friedhof zurückholen." Er legte die Karte verdeckt auf seine Seite des Feldes. "In der nächsten Runde wirst du es sein, die ihr blaues Wunder erlebt."

"Na, wenn mein blaues Wunder nicht so endet wie bei dir-" Rin warf ihren Pferdeschwanz nach hinten.

"Na warte", grinste ihr Gegner diabolisch und brachte sich in Kampfstellung.

"Mann, ich hoffe, Rin hat einen Plan", Mokuba hatte sich wieder neben seinem älteren Bruder eingefunden. Die Fensterscheibe schien auf Dauer kein geeigneter Nachbar. "Nicht, dass das Ganze nur ein Bluff war."

Nein. Wie ihre kleine Freundin schon gesagt hat: Rin blufft nicht. Sie weiß genau, was Kaeji plant - eine seiner verdeckten Karten soll Rins Verteidigung durchbrechen. Mit der anderen holt er sich blaue Katze zurück aufs Feld und verdoppelt die Angriffskraft seiner Schwerttänzerin. Damit wäre sie mit 7000 Angriffspunkten nicht zu schlagen - ein Sieg wie er im Buche steht. Wenn er sich da mal nicht täuscht.

Kaiba ließ den Blick zu dem Jüngeren schweifen. Mokuba hatte zu grinsen begonnen, dass er wieder wie der kleine freche Junge von damals aussah.

"Sie kommt sicher wieder aus dem Schlamassel heraus. Schließlich reden wir hier von Rin, die lässt sich von so einem Typen nicht kleinkriegen. Sie ist immer für eine Überraschung gut", er schüttelte seinen Kopf, dass ihm die Strähnen in die Stirn fielen, "kaum zu glauben, als sie mir erzählte, sie hätte erst als Teeanger zum ersten Mal Spiele gespielt. Und dann ausgerechnet in der Spielhalle, in der du damals alle ersten Plätze abgeräumt hattest."

Ohne dass der Jüngere es bemerkte, hatte Mokuba die Aufmerksamkeit des Älteren erlangt. "In einem Videospiel hat sie dir sogar den Rang abspenstig gemacht-"

"In welchem?" kam es aus dem Älteren wie aus der Pistole geschossen.

"Space Invaders", sah der Schwarzhaarige verdutzt zu seinem großen Bruder hinauf. Doch dann setzte er ein schiefes Lächeln auf. "Hätte nicht gedacht, dass sie auf sowas abfährt. Sie wirkt gar nicht wie der Typ für solche Spiele."

Setos Mundwinkel begannen zu zucken: "Es erklärt eine ganze Menge, Mokuba."

"Wie meinst du das?"

"Ihre Art sich zu duellieren. Es ist dieselbe Taktik."

"Ich kapier's nicht, Bruder."

"Space Invaders ist ein Shooter - man steuert das Raumschiff und schießt so viele Aliens wie möglich ab, ohne dabei selbst angegriffen zu werden." Sein Blick bohrte sich durch das Glas direkt zu seiner Duellantin. "Man kann dieses Spiel auf eine simple Weise austricksen. Wenn man ganz bestimmte Knöpfe zur richtigen Zeit im richtigen Rhythmus benutzt, kann man dieses Spiel ewig spielen ohne einmal zu verlieren. Yamamori macht nichts anderes mit ihren Gegnern. Sie drückt die richtigen Knöpfe, damit sie dorthin kommt, wo sie hin will."

"Du meinst, sie bringt die Leute dazu, bestimmte Karten zu spielen!?" Mokuba riss den Mund auf. "Wie soll das denn gehen? Dafür müsste sie wissen, was ihr Gegner auf der Hand hat."

"Das ist nicht nötig. Sie muss nur dessen Deck kennen."

"Dann-"

"In einem Punkt hatte Wong recht: Yamamori kennt die Karten ihrer Gegner. Aber nicht, weil sie sie auswendig gelernt hat. Sondern durch simple Wahrscheinlichkeitsrechnung."

"Wahrscheinlichkeit?", der Schwarzhaarige schien gar nichts mehr zu verstehen.

"Sie braucht nur eine grobe Vorstellung von seinen Karten zu haben. Die meisten Spieler bedienen sich einem klassischen DuelMonsters-Thema, auf dem sie ihr Deck aufbauen. Hat man das einmal verstanden, kann man leicht vorhersehen, welche Karten als nächstes gespielt werden könnten. Rechnet man zusätzlich die passenden Booster und logischen Kombinationsmethoden mit ein, kann man das Duell zu seinen Gunsten entscheiden. Das ist ihr Geheimnis. Ohne, dass sie es merken, beeinflusst Yamamori ihre Gegner, damit sie nach ihrer Pfeife tanzen."

"Also provoziert sie, damit ihre Gegner die Karte spielen, die sie für ihren Sieg braucht", fasste der Jüngere der Kaiba Brüder zusammen, "bei den anderen versteh' ich's ja, aber Kaeji hat sie doch gar nicht provoziert."

"Bei Kaeji hätte es nichts gebracht, ihn weiter anzustacheln. Dafür ist er ohnehin schon viel zu aufgedreht."

"Du meinst-"

"Ganz richtig. Sie ist nur aus einem Grund so gelassen. Damit Kaeji denkt, sie nimmt ihn nicht ernst."

Obwohl ich es ihr nicht verübeln würde.

"Das klingt ja als wäre Rin eiskalt berechnend", der Jüngere kam ins Grübeln, "wenn ich mit ihr rede, scheint sie mir nicht so jemand zu sein, aber", er sah auf die Kulisse unter sich, "wenn sie sich duelliert kommt sie eh wie ein anderer Mensch rüber-" Seine Stimme brach ab, der Mund wurde ein einziger gerade Strich. "Sie spielt mit ihren Gegnern - das willst du damit sagen, oder? Rin weiß bereits, dass sie gewonnen hat."

"Wenn sie einen Plan hat, ja."

Den sollte sie lieber haben. Wenn sie dieses Duell verliert, wird sie keine Chance gegen Hii Yuta haben
 

Dartz' Spitzenduellant war als heimlicher Favorit in die Endrunden gegangen und machte seitdem seinem Ruf alle Ehre. Das letzte Duell gegen Kaibas zweiten Spieler, Yoshihiko Taba, hatte er ebenso für sich entschieden wie die Runden zuvor. Wenn das so weiterging, würden am Ende zwei Spieler des Firmenchefs von Paradius' Inc. für Domino an den Start gehen und die finalen Spiele in Kairo aufmischen. Dass Mai ihre Gegner einem nach dem anderen vom Feld fegte, hatte er bereits eingeplant. Im nächsten Spiel würde sie sich ihr Ticket sichern können. Wenn also noch Yuta den Sieg in der Gruppe einfuhr-

Dieser verdammte blauhaarige Bastard-

Dazu durfte es auf keinen Fall kommen!
 

Rin, beweise mir, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe

Als hätte sie seine Gedanken gehört, ging ihr Blick hinauf zu dem Glasfenster. Ihre Augen strahlten wie eh dieses Abgrundtiefe aus, dass er nicht anders konnte als ihren Blicken Paroli zu bieten. Die nächste Karte gezogen eröffnete die junge Frau ihren nächsten Zug: "Hier kommt die erste Karte deines Untergangs - Monsterreanimation!"

"Und damit willst du dieses Duell gewinnen? Dein weißer Nachtdrache kann es mit meiner Schwerttänzerin nicht aufnehmen!"

"Wer sagt, dass ich meinen weißen Nachtdrachen beschwöre", ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, "denn ich habe es auf eine deiner Karten abgesehen."

"Wie-?!

"Ich nehme mir deinen scharlachroten Fuchs!" Das Lunalicht-Monster stieg aus dem Boden empor "und ich setze ihn in den Angriffsmodus."

"Bist du verrückt geworden?!" Kaeji schüttelte den Kopf. Sein Blick verriet, dass er sein Monster nicht gerne auf der gegnerischen Seite sah, aber mit 1800Atk war das Krieger-Ungeheuer keine wirkliche Gefahr für seine Schwerttänzerin. Trotz der zweihundert Punkte, die sie einbüßen musste, blieb sie die Stärkere von beiden.

"Was soll das werden?" Der Ungeheuer-Krieger-Duellant beugte sich nach vorne. "Denkst du, ich würde zögern, meine eigenen Monster anzugreifen?"

"Nein", entgegnete Rin, "aber das wirst du auch gar nicht. Das werde netterweise ich für dich übernehmen."

"Du bist echt witzig, Dragongirl. Aber sobald du scharlachroter Fuchs angreifen lässt, schickst du euch beide in den Tod!"

"In den Tod?", Hohn klang in ihrer Stimme mit, "hast du denn schon Mal vor der Klippe des Todes gestanden?"

"Was soll denn die Frage?"

"Vergiss' es", Rin zückte eine Karte von ihrer Hand, "besser, du passt jetzt ganz genau auf: ich opfere meine Eisherrin, um diese nette Lady zu beschwören - Mystrick Huldra." Eine Finsternishexe betrat das Feld. Zwar waren ihre Verteidigungspunkte ganz passabel, doch mit 1500Atk war sie sogar noch schwächer als der scharlachrote Fuchs. Und Rin hatte sie in den Angriffsmodus versetzt.

"Deine Monster werden ja immer schwächer," lachte sie ihr Gegner aus. Die Zuschauer schienen dasselbe zu denken. Viele fragende Gesichter sahen zu Kaiba Corps. Duellantin hinauf. Die meisten hatten sich wohl ein glorreiches Comeback ihres weißen Nachtdrachen versprochen. Duel Madness - dies war immer noch der Standardspruch vor jeder ihrer Eröffnungen.

"Mystrick Huldra", sagte Rin, die sich nicht um den Spott der anderen scherte, "hat eine ganz besondere Fähigkeit: je nachdem, welche Karte ich von meiner Hand ablege, darf ich eine Zauber-, Fallen- oder Monsterkarte von meinem Friedhof zurückholen." Sie legte eine Fallenkarte ab, dass Wiedergeburt zurück auf ihre Hand kam."

"Und jetzt?", rief Kaeji ihr zu, "holst du dir noch eines meiner Lunalicht-Monster? Denn das werde ich zu verhindern wissen!"

"Nicht nötig", entgegnete Rin, "ich brauche nur noch diese Karte." Damit kehrte Denko Sekka zurück aufs Spielfeld. Mit dem Donnermonster, das Rin in der ersten Runde abgeworfen hatte, hatte wohl niemand mehr gerechnet. Kaiba hingegen begann langsam zu verstehen.

"Nun", säuselte Rin und setzte ein schiefes Grinsen auf - das erste an diesem Tag, "soll ich dir endlich zeigen, welches Monster ich mir in der letzten Runde ausgesucht habe?"

"Die Fallenkarte tiefes Grab", Kaeji riss die Augen auf.

"Hattest du sie etwa schon vergessen? Tiefes Grab ließ mich ein Monster aus dem Friedhof auswählen und in der nächsten Runde beschwören. Na, hast du so langsam eine Ahnung, welches Monster es sein könnte? Ich gebe dir einen Tipp: tiefes Grab sagt nicht, aus wessen Friedhof ich das Monster beschwören darf."

"Nein!", kreischte Kaeji, dem es langsam dämmerte, "du…du willst doch nicht etwas", er fing an zu fauchen, seine Stirn bekam tiefe Furchen, "meine blaue Katze bekommst du nicht!", schrie er. Rin achtete nicht auf ihn: "Zu spät, du hast eben nicht gut genug aufgepasst. Dir hätte auffallen müssen, dass deine DuelDisc immer noch aufleuchtet, obwohl ich deinen scharlachroten Fuchs längst auf meine Seite gezogen habe."

"Das lasse ich dir nicht durchgehen. Ich spiele…aber", die Aktivierung seiner Fallenkarte stoppte, die Zauber- und Fallenkartenzone bekam ein rotes, durchsichtiges Absperrband, dass Kaeji einen Schritt zurückging. "Was ist da los?!"

"Hast du endlich begriffen, weshalb ich mein Donnermonster zurück aufs Feld geholt habe?" Rin ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie ihre Überlegenheit genoss. Dafür konnte es Kaiba in ihren Augen ablesen. "Solange Denko Sekka auf dem Feld ist, sind Zauber und Fallen nutzlos. Ich dachte mir schon, dass du eine Konterkarte in der Hinterhand hattest. Du wolltest sichergehen, dass ich nicht doch noch eine Zauberkarte habe, mit der ich meinen weißen Nachtdrachen hätte stärken können."

"Woher-!?"

"Deine verdeckte Karte sollte mich zunächst glauben lassen, dass du dein Lunalicht-Monster zurück aufs Feld holen wolltest. Damit wolltest du mich einschüchtern, nicht wahr? Als ob ich deinen kleinen Trick nicht durchschauen würde."

Diese kleine…sie hat es wieder getan

Kaibas Theorien hatten einen gravierenden Fehler gehabt: Er ging immer von sich selbst aus, dass er die Sichtweise der anderen völlig außer acht ließ.

Kaiba presste die Lippen zusammen. Dass er wirklich auf Kaejis Bluff hereinfallen war.
 

"Ich bin nicht Kaiba. Ich glaube an das Herz der Karten"
 

Natürlich. Er hätte früher drauf kommen müssen. Schließlich hatte ihm seine KI mehrmals verdeutlicht, wie Rin ihre Duelle bestritt.

Wenn sie sich ihrer Phantasie bedient, kann ihre Taktik nicht allein aus Wahrscheinlichkeit bestehen. Sie muss danach gehen, wie ihre jeweiligen Gegner ticken, was für einen Charakter sie haben…eine sehr riskante Methode - wenn sie nur einmal falsch liegt…
 

"Wahnsinn", die Augen seines kleinen Bruders begannen zu leuchten, "sie wusste tatsächlich, welche Karte Kaeji spielen würde." Er ballte die Hände zur Faust und grinste breit.

"Und jetzt", es war Rins Stimme die in jedem Winkel des Bahnhofs erbebte, "da blaue Katze spezialbeschworen wurde, aktiviert sich ihr Effekt."

"Aufhören", rief ihr Gegner und stieß auf taube Ohren. Die Angriffspunkte von scharlachroter Fuchs rauschten nach oben. Kaejis Fusionsmonster lag nun gleichauf mit Rins ergaunerter Kreatur. Die junge Frau streckte den linken Arm aus, der Fuchs rannte auf die Schwerttänzerin zu und rammte ihm ihre Krallen mitten ins Gesicht. Ihre Gegnerin wehrte sich, schlitzte das Monster mit ihren Klingen auf, bevor sie sich selbst in Luft auflöste. Der Ungeheuer-Krieger-Duellant stand nun schutzlos Rins verbliebenen Monstern gegenüber. Mystrick Huldra und Denko Sekka waren mehr als genug um Kaejis Lebenspunkte auf Null zu bringen. Mit einem letzten Schwerthieb Seitens ihres Donnermonsters fielen Kaejis Lebenspunkte, bis sie keinen einzigen mehr übrig gelassen hatte. Der Ungeheuer-Krieger-Duellant ging auf die Knie, starrte fassungslos auf seine Karten, die ihm nach Denko Sekkas finalen Schlag aus den Händen gefallen waren. Jetzt schaltete sich auch das holographische System ab, Heijis Stimme schallte durch die Lautsprecher als hätte er sich zusätzlich ein Megafon vor den Mund gehalten. Mit der Siegerverkündung ging der Applaus in tosende Jubelrufe über. Neben dem Chef der Kaiba Corporation schien auch sein Bruder in den Gesang mit einstimmen zu wollen.

"Starkes Duell", der Schwarzhaarige zeigte seine Zähne, "auf Rin ist eben immer Verlass-"

Hinter ihnen erklang ein monotones Klatschen.

"Wirklich amüsant deine kleine Duellantin, Kaiba-boy."

Der Jüngere der Kaiba Brüder drehte sich zu der Stimme um. Durch die Spiegelung der Fensterscheiben blickte Seto Kaiba in das Antlitz Pegasus J. Crawfords. Richtig. Pegasus hatte sich das Duell ebenfalls von hier oben angesehen. Die Anwesenheit des Erfinders von DuelMonsters hatte der junge Firmenchef die ganze Zeit erfolgreich verdrängen können.

"Mokuba", sprach der Ältere der Kaiba Brüder, "kümmere dich schon mal um die Formalitäten. Die Kommission hängt uns sonst nur wieder in den Ohren."

"In Ordnung", blickte der Jüngere zwischen seinem großen Bruder und dem Erfinder von DuelMonsters hin und her. Mit einen Nicken verließ er den Raum.

"Was willst du, Pegasus?" Kaibas Ton machte deutlich, wie wenig er zum Plaudern aufgelegt war - noch weniger mit dem Chef von I².

"Darf man denn seinem Kontrahenten nicht mehr zu einem gelungenen Duell gratulieren?", säuselte Crawford mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, für das ihm Kaiba gerne eine verpasst hätte.

"Lass' die Spielchen und sag' mir lieber, warum du hier bist."

"Der Grund", entgegnete Pegasus, "sollte doch klar auf der Hand liegen-"

"Wenn du wegen deiner chinesischen Duellanten-Blamage gekommen bist, solltest du gleich wieder verschwinden. Ich habe nicht darum gebeten, dass man mir zu Kreuze kriecht…und schon gar nicht habe ich Interesse an deiner schwachen Resterampe."

"Charmant wie eh", Crawford schüttelte amüsiert den Kopf, "aber heute geht es mal ausnahmsweise nicht um dich." Er deutete nach unten. Rin war soeben von dem Zug gesprungen. Eine Handvoll Security geleitete die Duellantin sicher aus der Menschenmenge. Dabei gingen sie nicht zimperlich mit dem Publikum um, dass sich daran nicht störte und vergebens um die Aufmerksamkeit der jungen Frau buhlte, die sich immer weiter von ihnen entfernte.

"Reden wir übers Geschäftliche", nun war es Crawford, der gleich zur Sache kam. "Wie viel ist dein aufkommender Stern dir wert?"

"Du willst mir Yamamori abkaufen?", entgegnete Kaiba, als könnte er nicht glauben, eine solch lächerliche Frage gestellt bekommen zu haben.

"Wundert dich das?", erwiderte sein Gegenüber, "ich werde doch sicher nicht der einzige sein, der sich für deine Duellantin interessiert."
 

Das war er nicht. Die Liste der Angebote wuchs mit jedem gewonnenen Duell. Selbst im Ausland war man bereits auf die junge Frau aufmerksam geworden. Das weltweite Interesse war bis zur Geschäftsleitung vorgedrungen, nachdem Kenshin ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, eines der Angebote anzunehmen. Nach einer letzten Mahnung seitens des mächtigen CEOs, der es wie die Pest hasste, in seinen Interessen umgangen zu werden, hatte Kenshin keine weiteren Schritte in diese Richtung unternommen.
 

"Keiner von ihnen besaß bisher die Frechheit, mich persönlich darauf anzusprechen." Kaiba drehte sich nun erstmals zu Industrial Illusions Firmenchef um. "Du scheinst ja recht zuversichtlich, dass ich meine Spieler so einfach hergeben würde."

"Ach, tu nicht so als würden dich ernsthaft deine Spieler interessieren. Ich kenne dich, Kaibalein. Dir ist der Worldcup doch völlig egal - genauso wie deine Duellanten. Bei mir wäre dieser Rohdiamant deutlich besser aufgehoben."

"Und jetzt kommst du zu mir, nachdem all deine Duellanten aus dem Turnier ausgeschieden sind?", entgegnete Kaiba amüsiert, "so wie ich das sehe, erhoffst du dir eine Rettungsleine, die ausgerechnet ich - großzügigerweise - dir zukommen lassen soll."

"Es sind nicht alle Menschen wie du, mein lieber Kaiba. Im Gegensatz zu dir weiß ich das Potenzial eines außergewöhnlichen Spielers zu schätzen. Jemand wie Yamamori hat mir in meiner Sammlung noch gefehlt. Sie lässt die Spiele wieder aufregend erscheinen. Der diesjährige Worldcup erreicht Einschaltquoten wie damals in Battle-City und dem Königreich der Duellanten. Nicht nur das Drama zwischen Mai Kujaku und Katsuya Jonouchi trägt zu dem Erfolg bei. Deine Duellantin", er nickte in Richtung Zuschauermenge, "ist die Spielerin, die DuelMonsters wieder gebraucht hat. Eine Spielerin ohne Limit. Die ihre Seele für den Sieg opfern würde."

"Erspar' mir deine geheuchelte Sympathie, Pegasus", knurrte Kaiba, der an das letzte Viererduell nicht erinnert werden wollte, "Yamamori ist an ihren Zweijahresvertrag gebunden, du bemühst dich also vergebens."

"Verträge können gebrochen werden…wenn der Preis stimmt."

Kaiba musste auflachen. "Und du glaubst, mich mit Geld ködern zu können?!"

"Nicht mit Geld, mein Lieber", Crawfords Lächeln bekam etwas Düsteres, "wie wäre es mit Exklusivrechten für das kommende Jahr? Wie ich hörte, kommt nächsten Monat eine neue Version deiner DuelDisc auf den Markt. Wie ich dich kenne, wird sie nur ein Vorgeschmack auf das sein, woran du wirklich arbeitest."

"Und wenn es so wäre", entgegnete Kaiba, der sich fragte, woher Crawford seine Intuition nur immer hernahm, "was willst du mir damit sagen?"

"Ich würde dir erlauben, das nächste große Turnier auszutragen. Du hättest freie Hand, den Worldcup nach deinen eigenen Vorstellungen zu organisieren, ohne dass dir dabei die Kommission auf die Finger schauen würde." Crawfords Stimme nistete sich in dem jungen Firmenchef ein. "Vielleicht überraschst du uns ja alle mit einem Comeback. Deine einstige Niederlage gegen Yugi Muto wirst du doch nicht vergessen haben?!" Seine Stimme war nur noch ein Raunen: "Das wäre eine einmalige Gelegenheit für dich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir so ein verlockendes Angebot entgehen lassen wirst." Er klopfte ihm auf die Schulter, bevor er Seto Kaiba mit einem stillen Lächeln verließ.

"Rieche ich da etwa Lachs?" Den Kopf in die Küchentür gesteckt, grinste sie Lumina an.

"Den Guten", entgegnete Rin, die den Fisch vorsichtig in der Pfanne schwenkte. "Wir haben ja schließlich was zu feiern." Sie sah zu ihrer besten Freundin, die sich langsam an die junge Frau heran gepirscht hatte. In ihren Händen hielt sie jeweils eine Flasche ihrer Lieblingsgetränke.

"Sake?", Rin hob eine Augenbraue, dann wandte sie sich dem Reis zu und stellte die Herdplatten aus. "Ich dachte, du wolltest mit >Jackie< anstoßen."

Daraufhin wedelte Lumina mit der zweiten Flasche vor Rins Gesicht. "Aber erst nach dem Essen. Ich dachte, etwas Stil kann nicht schaden." Sie schwenkte den Sake und betrachtete das Logo.

"Du willst mich heute wohl unter den Tisch trinken." Rin lachte auf.

"Ich sagte dir doch", trällerte Lumina und war so gut drauf wie seit Wochen nicht mehr, "dass ich dich beim nächsten Mal nicht entkommen lasse. Tja, Frau Yamamori, dieser Tag ist nun endlich gekommen." Sie stellte beide Flaschen auf die Arbeitsplatte ab. Die Teller aus dem Schrank gekramt, machte sie sich daran, den Tisch zu decken. Sobald sie an der improvisierten Kücheninsel vorbeilief, atmete sie den Duft des baldigen Abendmahls ein. "Ich beneide den Mann, der dich einmal bekommt", seufzte die Schwarzhaarige theatralisch und stupste sie von der Seite an.

"Keine Sorge", Rin goss das Wasser aus dem Gemüse, "du darfst gerne zum Essen vorbeikommen."

"Mal sehen", erwiderte Lumina und nahm abschließend zwei kleine Trinkbecher zur Hand, "bei deinem derzeitigen Männergeschmack weiß ich nicht, ob ich mich am Ende noch übergeben müsste."

"Lumina", Rin hielt drohend den Kochlöffel vor ihrem Gesicht, "suchst du Streit?"

"Ich halt ja schon meine Klappe", verbeugte sich ihre Freundin und half Rin beim Servieren.

"Heute geht es Mal nur um dich", sagte Rin und schob den schwarzhaarigen Wuschel in Richtung Stuhl, "es ist dein Ehrentag, also reden wir mal nicht über Duellwahnsinn und zwiespältige Firmenbosse."

"Abgemacht." Lumina nickte und setzte sich auf den angebotenen Stuhl. "Als zweiten Punkt setze ich fest, dass kein Wort über das Auslandssemester verloren wird. Wir wollen schließlich nicht, dass du nach einer halben Flasche Whisky noch anfängst zu heulen."

"Wer heult hier?" Rin stellte die Teller auf den Tisch ab und ließ sich ebenfalls nieder. "Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals sentimental geworden bin."

"Stimmt", Lumina nahm einen kleinen Bissen von dem Fisch, "aber trotzdem." Die Schwarzhaarige nahm die beiden Becher zur Hand und füllte sie mit einem großzügigen Schluck der durchsichtigen Flüssigkeit. "Konzentrieren wir uns lieber auf die Gegenwart."

"Einverstanden."

Die beiden Frauen hoben ihre Becher an. "Auf die bestandene mündliche Prüfung", sagte Rin und stieß mit der Schwarzhaarigen an, die stolz ihren Kopf zu recken versuchte. Schnell schluckte die junge Frau den Sake herunter. Sie schüttelte sich als der Alkohol in ihrer Kehle zu brennen begann. Sie war noch nie ein Fan von Reiswein gewesen - zumindest nicht außerhalb der Küche. Das Zeug schmeckte nach Nichts (und nach…Reis eben) und verursachte bloß einen schweren Kopf. Morgen würde sie sich richtig ausschlafen, damit sie für das stressige Wochenende gewappnet wäre. Wenn Lumina ihre Drohungen wahrmachte, würde es nicht nur bei einem Schluck Sake bleiben. Direkt in ihrem Sichtfeld schien sie der Jack Daniels suffisant anzulächeln. Sie musste ordentlich zulangen, wenn sie diesen Abend heil überstehen wollte. Es war erst kurz nach fünf. Rin hatte nach Luminas triumphaler Nachricht ihr Training vorzeitig abgebrochen und war - zusammen mit einem der Chauffeure der Kaiba Corporation - auf den Wochenmarkt der Stadt gefahren.

Sollte der Abend so enden, wie der Tag nach ihrer Abschlussfeier, dann konnte sich Rin auf eine trinkfeste Lumina gefasst machen. Ihre kleine Statur täuschte darüber hinweg, wie viel die Schwarzhaarige eigentlich vertragen konnte, ohne sofort taumelnd durch die Wohnung zu hüpfen. Nur das eine Mal hatte Rin ihre beste Freundin so wirklich betrunken erlebt, und auch nur, nachdem ein paar Kerle ihr und einer von Luminas Szene-Freunden etwas ins Glas gemischt hatten. Rin erinnerte sich noch genau an den unscheinbaren Typen, der die beiden Frauen auf ein Getränk eingeladen hatte, um sie anschließend irgendwohin mitzunehmen. Dabei hatte er die Rechnung nicht mit Rin gemacht, die nach einer starken Grippe eine Weile Antibiotika zu sich nehmen musste und keinen Schluck Alkohol an diesem Tag getrunken hatte. Am Ende brachte die junge Frau Lumina und ihre Freundin nach Hause. Noch nie war ihr der Heimweg so anstrengend vorgekommen. Die drei Frauen waren zu Fuß unterwegs gewesen und Rin hatte auf die zwei aufpassen müssen, die sich wie die kleinen Kinder vor der jungen Frau verstecken wollten. Immer wieder rannte Rin einer von ihnen hinterher, bis sie am Ende über eine Stunde am Zigarettenautomaten hockten, weil sie die Funktion der Ausweiskontrolle nicht kapiert hatten.
 

Kaum hatte sie das Glas abgestellt, schenkte ihre beste Freundin auch schon nach. Die junge Frau blickte auf die Uhr. In dem Tempo läge Rin flach, noch bevor sie das Dessert serviert hätte. Schützend legte sie eine Hand auf ihren Becher: "Da umarm' ich ja nachher die Schüssel." Als Antwort erhielt die junge Frau lediglich ein breites Grinsen.

"Keine Angst", lächelte Rin ebenfalls, "ich gehe heute nirgendwo hin."

"Gut, ich halt mich zurück", sagte der schwarzhaarige Wuschel, bevor sie die Flasche auf den Tisch stellte und sich ordentlich Nachschlag auf den Teller packte.

"Meinetwegen kannst du mich jeden Tag mit diesem Luxusessen füttern", Lumina blickte ganz verliebt auf ihren Fisch.

"Wenn wir eine neue Küche hätten, könnte ich dir die Sterne vom Himmel kochen", entgegnete Rin, die sich von ihrem Platz erhoben hatte und das restliche Gemüse aus dem Topf kratzte, um sich anschließend um den Abwasch zu kümmern. Während sie die Pfanne bearbeitete und das Geschirr säuberte, brachte sie Lumina auf den neuesten Stand in Sachen Liebesleben.

"Und ich dachte, Yamatos Kollege hätte es dir angetan", Rin spülte die Töpfe ab, während ihr von hinten der Rauch von Luminas Zigarette in die Nase wehte. Die Schwarzhaarige hatte sich vor das offene Fenster gebeugt. Der Wind blies jedoch so ungünstig, dass er sämtlichen Rauch zurück in die Wohnung wehte. Im Herbst passierte das ständig, dass Rin ab September regelmäßig wie ein zu schlecht gesäuberter Aschenbecher roch.

"Hattet ihr nicht Nummern getauscht?", hakte sie weiter nach und erhielt einen mehr als deutlichen Blick, der Luminas linke Augenbraue hochschnellen ließ.

"Ich dachte, dass sollte kein Verkuppelungsversuch werden." In ihrer Stimme schwang eine leichte Drohung mit.

"Sollte es auch nicht, aber er war doch genau dein Typ und es machte den Eindruck, als würdet ihr auf einer Wellenlänge sein. Du hattest doch erzählt, dass er sich bei dir gemeldet hatte. Er scheint also wirklich Interesse zu haben."

"Das heißt noch nichts", entgegnete Lumina knapp.

"Du hast ihn also ignoriert, stimmt's?!"

"Ich hatte einfach keine Lust, okay?!"

"Du meinst, du hattest Angst. Ich kenn' dich doch. Sobald ein Kerl in die Offensive geht, machst du einfach dicht. Aber mir immer eine Predigt halten... Wirklich, Lumina, ich versteh' nicht, wie du das in deinen Szeneclubs hinbekommst, aber außerhalb dieser anderen Welt vollkommen überfordert bist."

"Ich bin halt unsicher, was sowas betrifft. Du weißt doch, die >echte Welt< ist nicht so meins." Lumina spielte an ihrem Aschenbecher herum. Mit den Fingernägeln versuchte sie, die rosane Spinne abzupuhlen. "Machen wir einen Deal: wenn ich Lee zurückschreibe, probierst du es noch einmal mit Yamato."

"Vergiss' es", Rin warf ihr das Geschirrhandtuch ins Gesicht.

"Aber warum nicht?", quengelte Lumina, die sich langsam an die junge Frau heran geschlichen hatte. Die eine Hand um ihre beste Freundin gelegt, griff sie mit der anderen nach dem Whisky. "Yamato wäre perfekt für dich."

"Vielleicht ist er zu perfekt. Das wäre einfach zu schön um wahr zu sein", erwiderte Rin und beobachtete Lumina, wie sie die Flasche mit nur einer Hand aufzuschrauben versuchte. "Wie du dich erinnerst, gibt es keine perfekten Typen."

"Oh Gott, du heulst doch nicht etwa Takeshi noch hinterher?!"

"Was?! Auf keinen Fall", Rin schüttelte den Kopf - Takeshi hatte sie schon seit Jahren überwunden, "ich glaube seitdem nur nicht mehr an den perfekten Traummann.''

"Armer Yamato", Lumina hatte es geschafft, ihnen beiden einzugießen und schob eines der Gläser in Richtung Rin. "Irgendwann bekommt Blondie noch eine Standpauke von mir zu hören. Aber erstmal: trinken wir auf Yamato - den Kerl, der alles ausbaden muss."

"Das ist doch nur eine faule Ausrede", nuschelte Rin, nippte aber dennoch an ihrem Whisky. Er schmeckte nicht ganz so wie in ihrer letzten Erinnerung. Dafür hatte das teure Zeug, das ihr Lumina erst letztens nach ihrem Sieg gegen Insector Haga ausgegeben hatte, viel zu sehr ihren Gaumen verwöhnt. Zumindest war da noch dieses wohlige Gefühl, das sich langsam in ihr auszubreiten schien.
 

Mit den Gläsern in der Hand liefen beide schließlich ins Wohnzimmer. Die interessantesten Themen der letzten Wochen wurden von den beiden neu aufgerollt, dass Lumina ohne Vorankündigung vom Sofa aufsprang und sich Rins Smartphone schnappte. "Da krieg' ich doch glatt Heißhunger auf Pizza."

"Lumina, nein!" Rin versuchte, ihre Stimme etwas herrischer klingen zu lassen, "wir bestellen uns jetzt keine Pizza."

"Ich will aber eine Pizza von Katsuya Jonouchi!", fing jetzt Lumina an wie ein kleines, bockiges Kind zu reden. Sie wusste, wie sehr das Rin auf die Palme brachte. Damit versuchte Lumina nur, sie weich zu kriegen - meist mit Erfolg. Heute würde sich Rin hüten, klein bei zu geben.

"Ich will nicht, dass Katsuya Jonouchi in unsere Wohnung kommt. Außerdem trägt er nur jede tausendste Pizza aus - wie wahrscheinlich ist es, dass ausgerechnet er vor unserer Tür steht!?"

"Ach komm' schon! Biiiitte", sie faltete die Hände, Rins Handy steckte genau dazwischen - allzeit bereit, die Nummer des städtischen Lieferdienstes einzugeben. Die lauten Töne, die plötzlich aus dem Telefon dröhnten, ließen beide vor Schreck zusammenzucken. Die zwei Freundinnen starrten perplex auf das Telefon, als erfuhren sie zum ersten Mal, dass diese Geräte dazu imstande waren. Lumina öffnete ihre Hände. Die unbekannte Nummer leuchtete wie eine Warnmeldung auf.

"Diese blöden Industrial Illusion Heinis", stöhnte Rin und nahm einen Schluck von dem braunen Gold, "haben die denn nie Feierabend?"

Verschwörerisch weiteten sich Luminas Augen: "Und was, wenn das gar nicht Crawford ist?"

"Und wer soll es dann sein?"

"Dein Ich aus der Zukunf!" Lumina blickte zu Rin als wäre dies die brillanteste Eingebung der letzten Jahre. Das Lila ihrer Seelenspiegel begann zu glitzern.

"Warum sollte sich mein Ich aus der Zukunft melden?"

"Um dich zu warnen", die Schwarzhaarige mimte einen Geist nach - einen kränklichen Geist, dessen Laute eher wie das Gejaule eines kleinen Hundes klangen. Lumina war schon immer eine grauenhafte Schauspielerin gewesen.

"Wovor warnen?", fragte Rin.

"Vielleicht will es verhindern, dass du für die Kaiba Corporation arbeitest."

"Dann ist mein zukünftiges Ich aber ganz schön dumm und kommt einige Wochen zu spät…hey!" Rin riss die Augen auf. Ihre Freundin hatte doch tatsächlich auf abnehmen gedrückt, noch bevor Rin sich davor werfen und ihr das Telefon aus der Hand schlagen konnte. Mit einer zuckersüßen Stimme meldete sich Lumina als Rins Assistentin. Entsetzt blieb die junge Frau wie angewurzelt auf dem Boden sitzen, während Lumina der Stimme auf der anderen Leitung lauschte, dabei breit grinste als heckte sie bereits den nächsten Clou aus.

"Nein, Frau Yamamori ist derzeit beschäftigt und kann nicht ans Telefon gehen…ja…Sie können Ihrem Boss ausrichten, dass Frau Yamamori nur an einem persönlichen Gespräch interessiert ist…ach wirklich?!"

Lumina…

Rin knirschte mit den Zähnen. Gegenüber zwinkerte ihr Lumina zu und sprach weiter: "Dann Montag dreizehn Uhr im Seven Stars - Frau Yamamori erwartet von Pegasus J. Crawford nur das Beste…ich danke Ihnen…auf Wiederhören." Damit legte Lumina das Telefon zurück auf den Couchtisch.

"Gern geschehen", grinste sie die Schwarzhaarige an, dass sich Rin am liebsten über den Tisch gebeugt hätte und ihrem Wuschel an den Kragen gegangen wäre.

"Das wird Konsequenzen nach sich ziehen, Fräulein", entgegnete Rin mit rauer Stimme.

"Hab' dich doch nicht so", säuselte Lumina, "immerhin springt ein Essen in Dominos teuerstem Restaurant für dich raus."

"Das zehn Meter von der Kaiba Corporation entfernt ist!", ergänzte Rin, "soll ich da etwa zum Mittagessen vorbeischneien und anschließend in die Firma spazieren, als wäre nichts gewesen?!"

"Du kriegst das schon hin."

"Frau Lumina Phoenix. Sei froh, dass es heute um dich geht. Sonst hätte ich dich schon längst über's Knie gelegt."

"Ach naja, Spanking ist nicht so meins…au hey!" Rin hatte ihren Haargummi vom Handgelenk genommen und damit direkt auf Lumina gezielt. Diese versteckte sich hinter ihrem halbleeren Glas und kicherte, weil sie Rins Attacke nur knapp entkommen war. "Entschuldige", sie wischte sich eine Träne aus dem Auge, "aber das musste mal sein. Wie lange wolltest du den Mann noch warten lassen? Du hast selbst gesagt, dass er nicht locker lassen wird. Jetzt hast du die Chance, ihm direkt eine Abfuhr zu erteilen…oder noch besser: du hörst dir sein Angebot an und wenn es besser ist als das, was dir die Kaiba Corporation bietet, nimmst du es einfach an."

"Das könnte dir so passen", Rin kniff die Augen zusammen, "ich verzeih' dir nur, weil du schon total betrunken bist."

"Was?!"

"Lumina, du hast gerade mit einem Wildfremden telefoniert! Du bist definitiv betrunken."

"Verdammt, du hast recht. Ich hab doch erst-" Luminas Augen wanderten zu dem Handy herunter, das erneut zu klingeln begonnen hatte.

"Ich hab' nichts gemacht", verteidigte sich der schwarzhaarige Wuschel und lief rot an. Damit Lumina nicht wieder etwas Dummes anstellen konnte, packte Rin das Telefon und nahm den Anruf entgegen.

"Ist denn nicht langsam mal gut?!", blaffte sie in ihr Smartphone, wobei Lumina dabei war, sich den Mund vor Lachen zuzuhalten. Rin kam sich gerade wie der Protagonist eines schlechten Telefonstreichs vor.

"Frau Yamamori?", sprach eine trockene Stimme auf der anderen Leitung. Rin hatte das Gefühl, sie irgendwo schon einmal gehört zu haben.

"Ihr Wagen steht für Sie bereit."

"Mein Wagen?", Rin verstand gar nichts. Hatte Lumina nicht was von Montag dreizehn Uhr erzählt?

"Der Auftritt im Abendfernsehen. Ich soll Sie ins Studio fahren."

"Waaaaas!", Rin sprang von ihrem Platz auf. Die Erinnerungen an das letzte Meeting kehrten zu ihr zurück. Ihre Nasenflügel begannen zu beben: "Das soll doch wohl ein Scherz sein?! Nagawa hat eindeutig von Samstagabend gesprochen."

"Ich befolge nur meine Anweisungen", entgegnete der Mann trocken. Jetzt fiel Rin auch das passende Gesicht zu dieser Stimme ein. Vor Wut beendete sie den Anruf.

"Was ist passiert?", Lumina klang gar nicht mehr so angeheitert und stellte sich neugierig neben ihre Freundin, die hektisch eine Mail nach der anderen überflog. Als sie fündig wurde, starrte sie entgeistert auf den Text. "Dieser blöde Fernsehauftritt! Wurde der doch nicht ernsthaft vorverlegt und dieser Trottel von >Social Media Experte< kommt auf die glorreiche Idee, mir eine beschissene Mail ohne Betreff zu schicken. Der Typ kann doch sehen, dass ich sie nicht geöffnet habe! Kann man da nicht früher anrufen?!"

"Warte mal", Lumina beugte sich zu der Nachricht herunter, "du hast heute deinen Fernsehauftritt? Also jetzt gleich?!" Lumina begann zu prusten, dass das Glas in ihrer Hand zu wackeln begann. "Oh Mann, Rin, aus dieser Nummer kommst du nicht mehr heraus."

"Was mach ich denn nur?", zwischen der Wut kam allmählich Panik durch. Sie fasste sich durch die Haare "So kann ich doch nicht vor die Kamera treten!" Die junge Frau zeigte einmal auf ihre gesamte Aufmachung. Rin trug die dunkelblaue Leggings, die sie immer zum Kochen verwendete, dazu ein Top, auf dem ein, zwei Fettspritzer gelandet waren. Lumina versuchte sich zusammenzunehmen und musterte ihre Freundin. "Da muss auf jeden Fall ein Magier ans Werk."

"Das ist die rettende Lösung," Rin tippte auf ihrem Smartphone herum.

"Rufst du jetzt einen Magier an?"

"Besser", entgegnete Rin und drückte auf Wahlwiederholung. Die stoische Stimme meldete sich erneut.

"Ist Maki bei Ihnen?" Laut den Informationen, die sie Ende der Woche bekommen hatte, sollte sie zusammen mit dem Imagedesigner ins Studio gefahren werden.

"Ja."

"Schicken Sie ihn umgehend hoch!" Ohne seine Antwort abzuwarten, legte Rin auch schon wieder auf.

"Das wird lustig", Luminas Augen waren weit aufgerissen, "meine Liebe, dubist auch sowas von dicht-"

"Schwachsinn", Rin eilte ins Bad und griff nach der Zahnbürste - wenigstens den Geruch des Alkohols musste sie aus ihrem Mund bekommen.

"Aber hallo", Lumina lehnte am Türrahmen und sah ihrer besten Freundin dabei zu, wie diese hektisch mit der Zahnbürste im Mund herum schrubbte, "immer wenn du betrunken bist, kommt die Wahrheitsrin zu Tage, die jedem das ins Gesicht knallt, was sie gerade denkt."

"Isch bin nisch betrunken", nuschelte Rin. Lumina setzte zum Konter an, als es bereits an der Tür klingelte.

"Dasch isch Maki", zeigte Rin auf die Tür, dass Lumina davon eilte. Aus dem Bad hörte sie, wie die Schwarzhaarige die Tür öffnete und ein aus der Puste geratener Maki Kamizake die Wohnung betrat.

"Ihr solltet euch eine größere Bude zulegen, Mädels…am besten mit Fahrstuhl", hörte sie Makis Stimme näher kommen, "ich hoffe, es ist ein Notfall. Dass Rin mich hoch gescheucht hat-"

Rin lugte aus dem Badezimmer. Sie und Maki sahen sich in die Augen. Dem Imagedesigner fiel beinahe die Kinnlade herunter. "Hast du schon mal auf die Uhr geguckt?!" Er riss die Augen auf, sein Blick wanderte über seine Schultern Richtung Wohnzimmer. "Ihr habt doch nicht die eine Flasche auf Ex getrunken?!"

"In der Küche steht noch ein angefangener Sake", fügte Lumina ernst hinzu und zeigte auf die Küchentür.

"Rin, wie kommst du-"

"Wir haben jetzt keine Zeit für Diskussionen", entgegnete Rin, die den Schaum aus ihrem Mund ausgespült hatte, "Fakt ist: Nagawa ist ein Idiot und wir sind gleich am Arsch, wenn du dir nicht schnell was überlegst."

"Nagawa hat dir also auch erst kurz vor Feierabend geschrieben…", er stemmte die Hände in die Hüften, "fuck, das wird eine enge Kiste. Aber so können wir das nicht stehen lassen", entgegnete er, nachdem sein Blick Rins Panik widerspiegelte. Er fasste sich durch seine eigenen perfekt gestylten Haare. "Es hilft alles nichts. Wir müssen improvisieren. Wir haben keine Zeit, dir noch die Haare zu waschen." Er kam näher an Rin heran und zupfte unsanft an einer ihrer Strähnen. Als ob es noch eine Bestätigung bräuchte, dass Rins Frisur gerade eine Katastrophe war!

"Wenn deine Freundin so gut wäre", damit drehte er sich zu Lumina, die aus sicherer Entfernung Makis langen Haare anhimmelte (der Imagedesigner hatte aber auch eine lange, wallende Mähne, wofür ihn wohl jede Frau beneidete), "könntest du den Koffer holen, den ich vor eurer Haustür abgestellt habe? Wir brauchen eine ganze Menge von meinem Wunderpuder." Er spielte noch etwas mit Rins Haaren, zog hier und da, dass Rin die Zähne zusammenbiss, um nicht auf zu schreien. Sie konnte schon als Kind die Friseurbesuche nicht ausstehen - diese blondierten Damen, die skrupellos Rins Haare durchgekämmt hatten und dann auch noch so unhöflich mit ihr umgegangen waren, wenn Rin sich etwas anderes vorgestellt hatte als der Rest dieser dreizehnjährigen Teenies.

"Um das vorab zu klären", Maki wedelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht, "aus deinem Standardlook wird heute nichts. Bei den Haaren können wir keinen hohen Zopf machen, das sähe scheußlich aus…und kostet mich womöglich den Job. Deshalb", als Lumina mit dem Koffer zurückkehrte, nahm er Puder- und Spraydose, sowie einen gezackten Kamm, mit dem er Rins Haare toupierte. Dieses Gefühl war ihr vertraut. Das hatte sie als Teenager immer mit ihrem Pony gemacht, wenn ihre Mutter nicht hingesehen hatte. Doch Maki nahm sich die gesamten Haare vor - Strähne für Strähne wurde in einem Tempo bearbeitet, mit dem sie nicht mithalten konnte.

"Der Mantel", setzte der Imagedesigner an, als Rin bereits die linke Hand hob.

"Ist in der Reinigung."

"Du weißt, dass er uns nachher killen wird, wenn wir das hier vermasseln." Die letzten Strähnen gingen deutlich schroffer durch den Kamm.

"Kaiba soll sich mal locker machen", entgegnete Rin trocken und schloss die Augen, "bisher hat er doch immer seinen Willen bekommen."

"Moment", funkte Lumina dazwischen. Sie hatte sich in der Zwischenzeit noch was von dem Sake eingeschenkt und war zu den beiden Panikmachern herangetreten. "Heißt das etwa, der reiche Saftsack wird auch da sein?!", Luminas boshaftes Kichern tauchte wieder auf - lange hatte sie es zurückgehalten, "Mann, Rin, das wird ja immer besser! Diese Liveshow werde ich mir sowas von reinziehen."

"Schon klar", grummelte Rin, die sich von Makis Haarspray benebeln ließ. Dieser verpasste ihrem Look gerade den letzten Schliff, während er links zu Lumina und dem Koffer blickte. "Wir können von Glück reden, dass sie sein Liebling ist."

"Oh", Luminas Blick wurde immer gehässiger, "sein Liebling also. Wie kommt sie denn zu dieser Ehre?"

"Lumina", knurrte ihre Freundin. Wenn die Schwarzhaarige auch nur ein weiteres Wort verlor…

Hinter ihr ließ Maki von ihren Haaren und antwortete: "Es hat bisher niemand gewagt, sich den Anweisungen des Bosses zu widersetzen, wenn er sich nicht freiwillig feuern lassen will." Er packte Rin an der Schulter und drehte sie mit dem Gesicht zu sich. Mit den Fingerspitzen bearbeitete er einzelne Stellen ihres Ponys. "Du weißt es vielleicht nicht, aber Seto Kaiba lässt dich so einiges durchgehen, wofür er andere längst gefeuert hätte. Du kannst dir sicher denken, dass deine Freiheiten nicht von allen so gern gesehen werden. Vor allem dein Kollege Yoshi kotzt gerade richtig ab, weil du ihm seinen Titel abspenstig gemacht hast. Schließlich war er bis vor Kurzem noch Kaiba Corps. Duellant Nummer eins."

"Klar bin ich gerade sein Liebling", entgegnete Rin, die sich glücklich schätzte, dass der Alkohol ihr Gesicht bereits genug zum Glühen gebracht hatte und es niemandem auffiel, wie sehr Makis Worte sie aus dem Konzept gebracht hatten (>Kaibas Liebling- etwas Besseres war ihren Kollegen wohl nicht eingefallen), "ich bin ja schließlich seine optimale Vermarktungsmaschine - das perfekte Mastschwein, das er sich geschaffen hat. Oder warum hängen überall Bilder von mir an jeder beschissenen Häuserwand Dominos?!" Sie schüttelte den Kopf "Nur keine Angst, ich bilde mir nichts auf meinem Status ein."

"Das darfst du ruhig, Schätzchen", nickte er ihr zu und lächelte siegessicher, "man sollte seinen Triumph so lange wie möglich genießen. Und wer weiß: mit etwas Glück schnappst du dir den Titel und wirst mehr als nur der Star der Saison. Aussehen tust du auf alle Fälle jetzt schon wie einer."

"Verdammt, Rin", grinste auch Lumina verschwörerisch, "du siehst verdammt scharf aus. Wie nach einer wilden Nacht heißem Sex' - nur ohne das schlechte Gewissen danach."

Rin drehte sich in Richtung Spiegel. Lumina hatte nicht übertrieben.

Rockerbraut trifft aus Sekretärin zum flachlegen

Die aufgebauschte Mähne ließ sie nicht ganz so wild wie Mai Kujaku erscheinen - dafür strahlte sie so viel Selbstbewusstsein aus, als könnte ihr nichts und niemand etwas anhaben. Sie musste breit grinsen.

"So, genug geschwärmt", holte sie Maki zurück in die Gegenwart, "zeig' mir dein Zimmer. Wir brauchen noch etwas Passendes zum Anziehen." Damit deutete ihre beste Freundin auf die gegenüberliegende Tür. Ohne Umschweife ging es in Rins Schlafzimmer. Der Imagedesigner begann ohne Rücksicht in ihrem Kleiderschrank herum zu wühlen. Shirts und Blusen fielen aus den einzelnen Fächern. Maki warf ein Oberteil nach dem nächsten aufs Bett. Zwei Teile behielt er bei sich. Aus dem Augenwinkel musterte er das Regal, auf dem vereinzelt Bücher und CDs scheinbar wahllos nebeneinander aufgestellt worden waren. ">Baburugamu Kuraishisu<?!", er zog eine Augenbraue hoch, "das erklärt so einiges", entgegnete er im bedeutungsschwangeren Ton. Nicht weit neben den CDs reihten sich Fotos aus ihren Jugendtagen. Die meisten Bilder zeigten sie und Lumina an einem ihrer gemeinsamen Wochenenden. "Du sahst ja aus wie Priss…und diese Klamotten…Nagawa hatte mir nur all den langweiligen Kram von dir geschickt. Wenn ich gewusst hätte, dass so ein Rockgirl in dir schlummert, hätte ich doch nie vorgeschlagen, deine Haare blond zu färben." Er zeigte auf eine weiße Bluse, die nicht nur den Eindruck erweckte, als wäre sie durchsichtig. "Mit einem passenden BH wäre sie perfekt. Nur nichts Unschuldiges", Maki war wieder ganz in seinem Element.

An Rins Stelle beugte sich Lumina zu dem Schubfach mit der Unterwäsche und kramte in ihrem Vorrat an Sonderstücken herum, welche die junge Frau seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Rin, die eine Ahnung bekam, worauf es der schwarzhaarige Wuschel abgesehen hatte, ließ das Chaos von allen Seiten einfach über sich ergehen. Sie war bloß froh, nicht selbst noch das Denken übernehmen zu müssen; waren ihre Gedanken bereits bei dem bevorstehenden Gastauftritt, dass nichts mehr hinein gepasst hätte.

"Der hier?", Lumina hielt mit ihrem Zeigefinger einen schwarzen BH aus Lederimitat, der vorne mit einem goldenen Reißverschluss versehen war. Rin erinnerte sich noch sehr gut an den Anlass, der dieses Teil zum Einsatz gebracht hatte. An dem Abend hatte sie großartigen Sex mit dem damals heißesten Typen, den sie bis dahin gekannt hatte. Den Gesichtsausdruck ihres damaligen Freundes würde sie wohl nie vergessen.

"Ist genehmigt", erwiderte der Imagedesigner, ohne sich um Rins Meinung zu scheren. Aber Maki schien selbst auf jede Hilfe von außen dankbar, dass Rin nicht weiter protestierte. Vielleicht hoffte er somit, einer härteren Strafe entgehen zu können. Schließlich hatte er recht und Seto Kaiba würde ihm die Hölle heiß machen, sobald sie das Studio beträten.

Es war auch höchste Zeit aufzubrechen. Eigentlich sollten Maki und sie bereits im Backstagebereich sitzen, während Rin in letzte Instruktionen unterwiesen werden sollte. Dass Rin erst mit einkleiden beschäftigt war, hatte nicht auf dem Plan gestanden.
 

"Hier", Maki warf ihr eine der Lederhosen hin, während Rin bereits ihre Leggings abgestreift hatte. Der Rest ging schneller als gedacht. Auf Maki Kamizakes Anweisung ließ sie die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse geöffnet und legte sich anschließend Armschmuck und DuelDisc um.

"Wir schminken dich im Auto", sagte der Imagedesigner und hielt der jungen Frau ein paar hochhackige Stiefeletten hin. Er schloss seinen Koffer und schubste Rin Richtung Wohnungstür.

"Viel Spaß", rief Lumina vor der Türschwelle stehend, als Rin bereits die Treppenstufen hinunter sprang.
 

Der schwarze Luxusschlitten der Kaiba Corporation parkte direkt auf dem Fußweg. Maki riss die hintere Beifahrertür auf und ließ Rin als erste einsteigen. Vor ihr sah der Chauffeur finster auf seine Armbanduhr. Also beugte sich Rin nach vorne, bedankte sich fürs Warten und lächelte verschmitzt zu dem Fahrer, der lediglich durch den Rückspiegel erkennen ließ, dass er Rins Zuspätkommen bereits vergessen hatte. Mit einem finsteren Lächeln ließ sie sich auf ihrem Platz nieder. Sie hatte nur einmal ausprobieren wollen, ob ihr Auftreten auch wirklich die entsprechende Wirkung erzielte. Zufrieden schlug sie die Beine übereinander und drehte sich in Richtung ihres Stylisten, welcher bereits die gesamte Palette an Schminkutensilien ausgebreitet hatte. Noch nie hatte man ihr so schnell Makeup und Eyeliner aufgetragen. Maki betonte die Augen, dass Rin sich fragte, wie oft er noch mit dem Stift über ihre Lider gehen wollte.
 

Die Fahrt dauerte keine zwanzig Minuten. Obwohl der Fahrer in Zeitverzug gekommen war, bemühte er sich, die mit Backstein gepflasterten Straßen möglichst zu umgehen. Rins rauchige Stimme, die ihn darum gebeten hatte, war mehr als zweckdienlich gewesen.

"Ok", keuchte Maki, der sich einen Schweißtropfen von der Stirn abtupfte. In den letzten Minuten war seine Haut zu einer Kreidewand mutiert, er lächelte halbherzig als erwartete ihn eine Reise ohne Wiederkehr - und sie wusste, dass diese Option ständig im Raum stand, legte man sich mit Seto Kaiba an. Nur gerade war ihr das mehr als egal, der Alkohol entfaltete gerade erst seine Wirkung, dass ihre anfängliche Anspannung einfach so verpufft war.

"Ich habe getan, was ich konnte", sagte Maki und blickte zu seiner Improvisation. Rin sah angriffslustig aus, viel zu provokant. Die ursprüngliche Anweisung hatte Ersteres vorgesehen - nur ohne den ganzen Sexappeal, der eindeutig nicht auf der Liste gestanden hatte. Wie das Ergebnis bei der Firmenleitung ankäme, stand in den Sternen. Der Stylist sandte stumme Stoßgebete an den Himmel.
 

Der Wagen hielt und die beiden Beifahrer stiegen aus. Rins Augen sahen zu dem gewaltigen Studiogelände. Das größte Gebäude steuerte Maki Kamizake an, dass Rin ihm im Eiltempo folgte. Ihre Schritte klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Sie waren die einzigen auf dem Gelände, dass ihre Absätze zu allen Seiten widerhallten.

Kaum durch die Tür sprangen ihnen bereits ein halbes Dutzend Mitarbeiter entgegen. Alle konzentrierten sich auf Rin, redeten auf die junge Frau ein - wild und durcheinander - dass sie nur die Hälfte verstand. Einige stellten sich vor, andere wiederum erinnerten Rin an den Zeitplan, der nun hinfällig war. Ein schlaksiger Typ im Oversize-Pullover trat mit Mikrofon und der gesamten Kabelage an sie heran. Sie lief geradewegs an ihm vorbei, entriss dem Typen das Equipment und begann, Mikrofon und Zubehör an die entsprechenden Stellen festzustecken. So schwer hatte es beim letzten Mal nicht ausgesehen. Sie hatte jetzt überhaupt keine Lust, sich von einem Jungen betouchen zu lassen, der eindeutig mit der Situation überfordert schien und einmal zu lange auf ihre Aufmachung gestarrt hatte.

"Frau Yamamori?" Ein noch jüngerer, weitaus unbeholfener Kerl hatte die junge Frau eingeholt. Er stellte sich vor Rin, welche die Hände in die Hüften stemmte und herausfordernd zu dem Kleineren herunter sah. In seinen Händen hielt er mehrere Zettel. Sein Auftreten war mehr als unprofessionell, wie er mit zittrigen Fingern eines der Papiere an Rin zu übergeben versuchte.

"Das ist die Liste mit all den Fragen. Die entsprechenden Antworten sind rot markiert. Sie haben nicht auf meine Mail reagiert, also habe ich-" Giftige Blicke Iießen den Kerl, den Rin als Yosuke Nagawas Praktikanten wiedererkannte, augenblicklich verstummen. Sie entriss ihm das Blatt. "Wollen mich heute alle nur noch verarschen?!", fauchte sie leise und knallte ihm das Blatt an die Brust. "Jetzt soll ich auch noch Nagawas Fehler gerade bügeln." Die letzten Worte gingen in Gemurmel über. Dicht hinter ihr hatte sich nun auch Maki eingefunden. Sie standen an der Tür zum Backstagebereich. Die Show hatte bereits begonnen und Rin würde nach der nächsten Werbepause als Stargast vorgestellt. Wenn sie schätzen müsste, blieben ihr wohl noch acht bis zehn Minuten.

"Aber Frau Yamamori, Sie müssen sich das wirklich durchlesen. Ich habe strikte Anweisungen-"

"Denkst du ernsthaft, ich brauche diesen Wisch", Rin merkte, wie sie sich gerade erst warm machte. In ihrem Kopf wartete so Vieles, das ausgesprochen werden wollte, und dieser überforderte Praktikant, der sich in Nagawas Gegenwart immer wie der größte Wichtigtuer aufgespielt hatte, war nun zu einem Häufchen Angst zusammengeschrumpft, nachdem Rin ihm seine Unfähigkeit genüsslich vorgeführt hatte.
 

"Ihr kommt spät, Kamizake", hinter ihnen ertönte die Stimme Seto Kaibas, der erst jetzt dazugekommen war. Rin, die bereits damit fertig war, den jungen Burschen auf den Boden der Tatsachen zu befördern, drehte sich zu dem jungen Firmenchef um, der sich bereits das Gestammel seines Imagedesigners anhören musste.

"Schöne Grüße von deinem Social Media Experten", entgegnete Rin, als Maki wieder zu schwitzen begonnen hatte. "Scheinbar muss ihm jemand mal unterrichten, dass eine Message der Prio eins nicht als Spam-Mail rausgeschickt werden kann."

Kaiba wandte sich nun Rin zu. Die junge Frau konnte sich nicht erinnern, wann sie den jungen Firmenchef derart aus dem Konzept gebracht hatte. Sein stoischer Blick wich einem überraschten Ausdruck, seine Augen wanderten einmal über ihren gesamten Körper, während er kein Wort sagte, einfach nur perplex und überfordert wirkte. Das ging für mehrere Sekunden, bis er sich seines unprofessionellen Verhaltens bewusst wurde und ernst in ihre Augen blickte. Sein eiskalter Blick hatte in Rins derzeitigem Zustand keine Wirkung auf sie.

Ihre Unverfrorenheit, mit der sie dem jungen Firmenchef gegenübertrat, lockte die Mitarbeiter des Fernsehstudios an. Entgeisterte, teils ehrfürchtige Gesichter blickten zu Kaiba Corps. Duellantin, die in schroffen Tönen Nagawas Inkompetenzen aufzählte, allen voran den vorgefertigten Zettel, der für sie der Gipfel der Beleidigungen darstellte.

"Sie müssen das verstehen, Herr Kaiba", meldete sich kleinlaut Nagawas Praktikant, "der Moderator wird einige heikle Fragen stellen. Wenn Frau Yamamori sich nicht den Zettel durchliest-"

"Ich habe mir den Zettel durchgelesen", entgegnete Rin, die sich fragte, wann dieser Wicht endlich aufhörte zu reden, "denkst du, ich kann mir diese Schwachsinnsfragen nicht merken?"

"Naja-"

"Ich habe mir schon viel Dümmeres in noch kürzerer Zeit gemerkt."

"Dann hoffe ich für dich, dass du auf die Fragen sechs bis acht vorbereitet bist", erwiderte Kaiba, der ihr intensiv in die Augen blickte - etwas zu lang, wie Rin feststellen musste. Aber gerade belustigte es sie mehr, als dass es die junge Frau verwirrte. Aus dem Augenwinkel sah sie einen der Assistenten, der Rin das Signal gab, dass sie bald an der Reihe war.

"Nur keine Sorge" säuselte Rin und lächelte. Sie steuerte die Bühne an, "ich werde ganz brav sein."

Wie hatte sie sich nur darauf einlassen können?
 

Den Blick hinauf auf das hohe Gebäude gerichtet, starrte sie auf die vergoldeten Inschriften: Seven Stars - Dominos angesagtestes Restaurant, der Inbegriff von kulinarischer fünf Sterne Küche. Wer hier einmal essen war, konnte sich etwas darauf einbilden.
 

Eigentlich hatte die junge Frau überlegt, das Ganze kurzfristig abzusagen. Ihr schwirrte noch immer der Kopf von den Ereignissen ihrer letzten Sauforgie - vermischt mit dem Interview, das sie irgendwie (sie wusste beim besten Willen nicht wie) überstanden hatte, war es keine Mischung, mit der sie dem Chef von Industrial Illusions gegenübertreten wollte. Schon gar nicht am helllichten Tag, wenige Meter vom Firmengelände der Kaiba Corporation entfernt, dass sie praktisch jeder mit dem Erfinder von DuelMonsters zusammen sehen konnte. Das konnte einfach nicht gut gehen!

Ihr Magen zog sich zusammen, und es war nicht der Alkohol daran Schuld. Den hatte sie besser vertragen als sie erwartet hatte. Zumindest hatte sie die Nacht nicht vor der Toilettenschüssel verbringen müssen, obwohl ihr nach dem Fernsehauftritt danach zumute war, all die Dummheiten der letzten Stunden aus sich heraus zu holen. So ganz konnte sie sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Sie wusste, dass sie ihren Mund gegenüber Seto Kaiba sehr weit aufgerissen hatte. Dafür würde sie sich wohl oder übel noch rechtfertigen müssen. Dass er sich das ganze Wochenende über nicht bei ihr gemeldet hatte, konnte nichts Gutes bedeuten.

Wenn rauskommt, dass ich betrunken war-

Lumina hatte recht. Betrunken sprudelten die Gedanken nur so aus ihr heraus. Diesmal war es wohl eindeutig zu viel gewesen.
 

Die Tasche fest am Henkel umfasst, gab sie sich einen Ruck und betrat das Gebäude.
 

Das Restaurant befand sich in der obersten Etage, ein roter Teppich wies ihr den Weg. Sogar die Treppe zeugte von Eleganz - Marmor fand sich an allen Ecken und Wänden. Ein kristallener Kronleuchter, an dem lange Glühbirnen wie Eiszapfen herunter hingen, baumelte direkt über dem Eingang. Die Decke war mit aufwendigen Schnörkeien versehen, an den Rändern war Stuk eingearbeitet, der an den europäischen Stil des vorletzten Jahrhunderts erinnerte. Rin war doch froh, sich für das Leinenkleid in Etuiform entschieden zu haben. Das Kleid sah nach mehr aus, als Rin beabsichtigt hatte, damit ausdrücken zu wollen. Es ging ihr bis zu den Waden und lag so eng um ihren Körper, dass sich nicht wirklich damit essen ließ. Dafür strahlte es genau das Maß an Business und Eleganz aus, dass sie sich letztendlich doch dafür entschieden hatte.

Sie wollte das Ganze möglichst ohne Schwierigkeiten über die Bühne bringen. Ein kurzes Mittagessen, eine höfliche Absage, ein kurzer, förmlicher Plausch - mehr nicht.
 

Es war nicht ihr erstes Geschäftsessen, nur war sie bisher nie der Mittelpunkt des Interesses gewesen, dass es sich in ihrem Kopf seltsam anhörte, die Führung des Gespräches zu übernehmen. Sie wusste, wie man das brave, unscheinbare Mädchen spielte; als Tochter des stellvertretenden Geschäftsleiters einer Versicherungsfirma, die mit ihrer guten Erziehung punktete, oder als gewissenhafte Mitarbeiterin eines mittelständischen Unternehmens, die stumm den Verhandlungen lauschen konnte. Doch selbst in den Verhandlungen zu stecken… Das hier war definitiv etwas anderes. Sie würde improvisieren müssen - nicht gerade etwas, das ihr besonders gut lag. Zumal sie nicht wusste, wie sie sich gegenüber dem Erfinder von DuelMonsters zu verhalten hatte. Ihre Begegnung konnte Rin an einer Hand abzählen. Sie hatten kaum zwei Worte miteinander gewechselt, dass sich daraus keine Konversation aufbauen ließe.
 

Rin fuhr sich durch den Zopf. Das Wochenende hatte ihre Gedanken nicht gerade zerstreuen können. Freitag war definitiv zu viel gewesen - zu viel Alkohol, zu viel Haut, zu viel Rin die Duellantin. Ihr graute es bereits davor, mit Seto Kaiba allein zu sein. In ihren Erinnerungen hatte sie ihn etwas zu zweideutig angesehen.

Nicht, dass er noch auf falsche Gedanken kommt…peinlicher geht es wohl nicht

Sie hielt sich die Wange. Heute hatte sie seit Langem wieder Makeup aufgetragen. Sie sah noch etwas bleich um die Nase aus, dazu noch die dunklen Augenringe, dass ihr der eigene Anblick missfiel. Sie war erst fünf Uhr ins Bett gekommen, nachdem sich die beiden Freundinnen die Wiederholung der Abendsendung drei- viermal angesehen hatten und Rin genau hinsehen musste, um sich zu vergewissern, dass diese schlagfertige Frau wirklich sie war. Danach war auch der letzte Tropfen Alkohol aus ihrem Körper gewichen. Sie bereute den ein oder anderen Spruch in Seto Kaibas Gegenwart abgelassen zu haben. Nichts topte jedoch Luminas irrwitziger Plan mit dem Mittagessen.
 

Egal, welches Angebot er dir macht, du wirst ihm eine Abfuhr erteilen

Ein Gentleman im schwarzen Frack hielt ihr die Tür auf, ein weiterer begrüßte die junge Frau und brachte sie zu ihrem Platz. Rins Blick wanderte einmal über das gesamte Ambiente. Das abstrakte Gemälde zu ihrer Linken, das die gesamte Wandseite in Beschlag genommen hatte, nahm den Raum komplett für sich ein. Die vielen bunten Formen, dazu die dreidimensionale Täuschung - wenn sie noch länger drauf starrte, würde ihr noch übel werden.

Der Herr brachte sie an einen der hinten gelegenen Tische; dort, wo sie den Ausblick auf den ruhelosen Himmel eines näher rückenden Herbstes hatte. Genau dort wartete bereits der Chef von Industrial Illusions. Pegasus J. Crawford saß in einem samtenen, maßgeschneiderten Anzug am Kopfende des Tisches. Sobald er die junge Frau erblickte erhob er sich und deutete eine Verbeugung an, die Rin maßlos überforderte, dass sie ihm lediglich zunickte. Die junge Frau kam sich wie bei einem miesen Date vor, dessen Ausgang von Anfang an feststand. Sie hatte nicht gelernt, wie man jemandem einen Korb gab. Allmählich verstand die junge Frau, weshalb die Kerle immer so rumdrucksen mussten.

Du schaffst das. Verhalte dich einfach so, wie du es gelernt hast.

"Fräulein, Yamamori", Pegasus J. Crawford war höflich und charmant, sein Lächeln kaum zu überbieten. Mechanisch nahm sie seine Hand entgegen.

Ein Glück hat er jetzt nicht zum Handkuss angesetzt

Es kam ihr immer noch so unwirklich vor, dem Chef von Industrial Illusions gegenüber zu stehen, der so offen sein Interesse an der jungen Frau bekundete, schon seit Wochen versuchte, Rin aus der Reserve zu locken.

Oder zu stalken…?

"Schön, dass Sie Zeit gefunden haben. Sie sehen im Übrigen fabelhaft aus."

"Danke", entgegnete Rin und ließ sich von Crawford den Stuhl zurückschieben. Er war ganz der Gentleman, wie sie es von ihm erwartet hatte. In der DuelMonsters-Branche wurde viel über ihn geredet. Hauptsächlich nur Gutes. Es ließ sich nicht abstellen, aber es brachte sie in Verlegenheit. Selten war jemand so zuvorkommend zu ihr gewesen. Erst recht nicht jemand, der in einer weitaus höheren Position war als die frischgebackene Profiduellantin. Lumina hatte recht - sie sollte langsam damit anfangen, die Aufmerksamkeit zu genießen. Sie war begehrt - wenn auch überraschend früh, und viel zu intensiv für ihren Geschmack.

"Ich muss mich bei Ihrer Assistentin bedanken, dass sie so schnell einen Termin festsetzen konnte."

"Ja, meine Assistentin geht solche Dinge sehr gewissenhaft an."

Ich fasse es nicht, dass ich das sage. Lumina, du bist sowas von tot.

Rin hätte das Ganze gerne schnell über die Bühne gebracht. Die Hände auf den Schoß gelegt sah sie zu dem Kellner hinauf, welcher auch schon ihre Bestellungen aufnahm. Die junge Frau entschied sich für einen starken Kaffee, bevor Crawford ihre Bescheidenheit lobte und daraufhin die Spezialität des Hauses einfach für sie mitbestellte.

"Sie sind heute mein Ehrengast", sagte er, als gehörte ihm dieses Restaurant. Bei der langen Warteliste, die man für einen Besuch im Seven Stars normalerweise auf sich nehmen musste, schien dieser Gedanke gar nicht so abwegig.
 

"Ihr Duell am Donnerstag", entgegnete Crawford, der sein Glas zwischen die Finger nahm und den Duft des Weines in sich aufsog. Rin konnte förmlich spüren, wie er diesen Augenblick genoss, wohl wissend, dass er bloß Zeit schindete. "Ich habe mich wieder einmal köstlich amüsiert."

"Herr Crawford", Rin hielt es kaum noch aus, "ich denke, ich weiß, worüber sie mit mir reden möchten. Und das hat sicher nichts mit dem Duell zu tun."

"Aber natürlich hat es das", entgegnete er, als ein kräftiger Schluck seine Kehle hinunter gewandert war. Er legte den Kopf schief, wobei ihm die Haare über die Schulter fielen. In letzter Zeit war sie verdammt vielen Männern begegnet, für deren Haare ihre Freundin wohl töten würde.

Konzentrier' dich aufs Wesentliche, Rin

"Frau Yamamori", begann Crawford ruhig zu erzählen, "wie mir scheint, kommen Sie ebenso schnell auf den Punkt wie ihr Chef." Das Gesagte entlockte ihm ein Lächeln. "Dabei haben sie noch nicht einmal das Essen serviert. Aber mir soll's recht sein. Reden wir übers Geschäft." Er nahm noch einen Schluck, dann stellte er das Glas ab.

"Sie sind eine clevere junge Frau, ich denke, Sie werden eine Vorstellung haben, wo sie in drei, vier Jahren stehen wollen."

Bis vor Kurzem hatte sie geglaubt, was sie wollte. Jetzt, wo sie sich wirklich damit auseinandersetzen sollte, kamen ihr doch Zweifel an ihrem sauber durchdachten Lebensplan.

Crawford sprach indes weiter: "Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Frau Yamamori. DuelMonsters ist eine launische Geliebte. Die Zukunft kann sich binnen eines Duells in Luft auflösen…oder eben das genaue Gegenteil bewirken. Es hängt davon ab, wie die Spieler ihre Karten einsetzen. Nicht nur im Spiel - auch im Leben. Gerade haben Sie ein gutes Blatt, aber was ist, wenn das alles hier vorbei ist? Was kommt nach dem Worldcup, wenn die Kaiba Corporation ihre neue DuelDisc an den Start gebracht hat und Ihre Dienste als Verkaufsmagnet nicht mehr von Nöten sind? Wie steht es dann um ihr Blatt?" Sein rechtes Auge funkelte sie an. "Wollen Sie wirklich so lange warten, bis ihre Existenz verblasst ist?"

"Worauf wollen Sie hinaus?", sie sah ihm ernst ins Gesicht. Der Mann brachte alles auf den Punkt, womit sich die junge Frau noch nicht beschäftigen wollte. Die Gedanken waren immer da, aber nicht in der Offensive wie gerade jetzt. Und Crawford schien das genau zu wissen.

"Ich will Sie natürlich abwerben", sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, dass seine Worte wie ein Echo in ihrem Kopf wider zu hallen begannen. "In den kommenden Wochen wird es nur so von Angeboten wimmeln. Da möchte ich nicht verpassen, der Erste zu sein, der Ihnen die Chance auf eine einzigartige Karriere anbietet."

"Das klingt sehr schmeichelhaft, aber-"

"Frau Yamamori", redete er ihr dazwischen. Er ließ Rin keinen Raum für jegliche Diskussionen. Obwohl er ruhig sprach, loderte etwas im Hintergrund, womit die junge Frau nicht so recht umzugehen wusste. "Von allem, was die Kaiba Corporation Ihnen anbietet, biete ich Ihnen mehr - mehr Geld, mehr Ansehen, mehr Duelle. In einem Jahr kann ich Sie an die Spitze der DuelMonsters-Rige katapultieren, dass sie sich vor Fans nicht mehr retten können. Ich mache aus Ihnen die erfolgreichste weibliche Duellantin, die die Welt gesehen hat. Werbeverträge, Fernsehauftritte - ich verschaffe Ihnen alles, was ein Topspieler braucht. Sie müssen nur ja sagen."

Rin schluckte. So sollte das Gespräch nicht laufen. Wo war ihr Selbstbewusstsein, wo die Standfestigkeit? "Ich habe einen Zweijahresvertrag."

Mehr fällt dir nicht dazu ein?!

"Das sollte unser kleinstes Problem sein", winkte er ab. Die Vorstellung, dass es so einfach sein könnte, dass Kaiba dem einfach so zustimmen würde…

Rin ballte die Hände zur Faust.

"Ich duelliere mich nicht wegen des Geldes", sagte sie und schaute von ihren Fäusten auf. "Ruhm, Macht - das ist mir alles egal." Sie wusste, wie abgedroschen das klang, aber was hätte sie sonst sagen sollen?

"Ich verstehe", säuselte er, "Sie haben also einen persönlichen Grund, weshalb Sie sich duellieren", er schloss die Augen, "natürlich. Darauf hätte ich selbst kommen können. Duellanten wie Sie haben immer einen Grund, weshalb Sie Schweiß und Blut in ihre Spiele stecken. Darum sind Sie ja so interessant, Frau Yamamori. Genau aus dem Grund will ich Sie in mein Team. Sie verkörpern all das, was DuelMonsters in den letzten zwei Jahren verloren gegangen ist - die Risikobereitschaft, das Spiel ohne Limit, der Kampf um die eigene Seele."

"Ich-"

Die Bestellungen kamen an den Tisch. Das Essen, das wirklich fabelhaft aussah, war nebensächlich geworden - weil es von Anfang an nebensächlich war. Das hatte sie gewusst. Dennoch wühlten sie die Worte des Erfinders von DuelMonsters auf. Sie sah das Viererduell vor sich. Zigfrieds wahnsinniger Gesichtsausdruck, als er ihr stolz von dem Virus erzählt hatte. Genau von diesen Duellen schwärmte ihr Pegasus J. Crawford vor.

"Wenn Sie für mich arbeiten", setzte er an, betrachtete dabei die verschiedenen Köstlichkeiten auf dem Teller, "erlaube ich Ihnen, sich nach Lust und Laune auszutoben. Ich könnte Sie so berühmt machen, dass Sie jede Karte spielen können, die Sie wollen. In ein paar Jahren könnten Sie die drei weißen Drachen mit eiskaltem Blick anführen, ohne dass Sie ständig mit jemand anderem verglichen werden. Im Grunde Ihres Herzens ist es doch das, was Sie wollen, nicht?"

"Meine weißen Drachen", entgegnete Rin, ihr Blick verdunkelte sich.

"Ich weiß, dass Sie nur aus einem Grund nicht mit Ihnen spielen. Ich erinnere mich an das Finale von vor vier Jahren, als Sie gegen Ty Rex Ryuzaki gewonnen haben. Ihr damaliges Deck war auf den blauäugigen weißen Drachen aufgebaut."

"Erinnern Sie sich auch, was Sie damals bei der Siegerverleihung zu mir gesagt haben?" Rin erinnerte sich noch sehr gut daran. Nur Crawford machte große Augen.

"Ich weiß es noch", ihre Stimme wurde rau, "darum wundert es mich, dass Sie mir ein derartiges Angebot unterbreiten. Ich habe kein Interesse daran, die Nummer eins von etwas oder jemandem zu sein. Dass ich meine weißen Drachen nicht mehr spiele, geht auch nur mich etwas an. Deshalb lehne ich Ihr Angebot ab."

"Sie enttäuschen mich, Frau Yamamori", Crawfords Stimme war jetzt nicht mehr so hell und freundlich. Das Funkeln verblasste - die Fassade des perfekten Gentleman bröckelte. "Sie begehen einen großen Fehler, und das wissen Sie genau. Sie können doch nicht ernsthaft glauben, dass Sie bei der Kaiba Corporation irgendeine Zukunft haben."

"Das ist meine Sache."

Crawford schüttelte den Kopf. "Er wird Sie wegwerfen, sobald er Sie nicht mehr braucht. Sie sind nur solange von Wert, wie Sie der Kaiba Corporation nützen. Ich weiß, gerade sind Sie sein Aushängeschild und Ihnen wird viel Aufmerksamkeit zugesprochen. Aber da sind Sie nicht die Erste - und Sie werden auch nicht die Letzte sein. Sie haben Bekanntschaft mit Kaibas ehemaligen Topspielern gemacht. Sie wissen, was passiert, sobald Sie für ihn an Wert verloren haben. Ein trauriger Anblick, wenn Sie mich fragen."

Unter dem Tisch krallte Rin die Hände in den Schoß. Crawford sollte nicht wissen, wie sehr die Worte Rin getroffen hatten. Auch wenn sie sich dasselbige immer wieder einredete, war es aus dem Mund eines anderen wie ein Schlag in die Magengegend. Die Vorstellung, nichts weiter als ein Objekt zu sein, mit dem man nach Belieben spielen konnte, um dann weggeworfen zu werden, sobald man benutzt und wertlos geworden war, nahm ihr ein Stück ihres Selbstvertrauens.

Aber gerade war es Crawford, der verletzt schien und der sie seine Enttäuschung spüren ließ. Dass sie nicht bestechlich wie die anderen war, kein X-beliebiges Objekt, wie ihr jeder einzureden versuchte. Der Gedanke nahm ihr etwas von den wirren Gefühlen.
 

"Ich lebe in der Gegenwart", Rin hatte ihre Stimme wiedergefunden. In ihrem Kopf arbeitete es. Sie sah sich, - und Kaiba - die letzten Wochen, die Welt, die er ihr gezeigt hatte. Seine Welt, in welcher er sie teilhaben ließ. "Egal, was Sie mir anbieten. Sie können gegen die Kaiba Corporation nicht ankommen."

"Was könnte Ihnen Seto Kaiba bieten, das ich nicht bieten könnte?" Er schien sichtlich verdutzt.

"Grenzenlosigkeit." Ihr wurde klar, was sie wollte, wie sie sich die Zukunft vorstellte. Niemand wäre dazu in der Lage, ihr das zu geben, wohin es sie wirklich zog - außer einer. Und auch wenn diese Zukunft nur ein begrenztes Zeitfenster besaß, würde sie lieber in der Ungewissheit Leben als sich diese einmalige Chance entgehen zu lassen.
 

Mit einem theatralischen Seufzer leerte Pegasus J. Crawford sein Glas und wedelte damit, dass man ihm neu nachfüllte. Augenblicklich trat einer der Kellner heran und schenkte nach.

"Ich hätte liebend gern den Vertrag mit Ihnen abgeschlossen, Frau Yamamori. Sie scheinen so loyal gegenüber der Kaiba Corporation, dass es mir fast das Herz bricht, Ihnen das zu sagen, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Aber Sie sind nicht die Einzige, der ich ein Angebot unterbreitet habe... ganz Recht, ich habe Seto Kaiba meine Absichten bekundet und ihm einen ebenso verlockenden Deal vorgeschlagen. Im Gegensatz zu Ihnen ist der Chef der Kaiba Corporation sehr auf seine Macht und seinen Status fokussiert, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er mein Angebot annimmt. Sie vergessen nämlich, dass Sie als Spielerin nicht nur an die Verträge gebunden sind. Wenn Ihre Firma der Meinung ist, Sie für einen angemessenen Preis zu verkaufen, haben Sie keine andere Wahl als dem zuzustimmen."

"Sie scheinen sehr überzeugt, dass Herr Kaiba Ihr Angebot annimmt", jetzt war es Rin, die lächelte, wenn sie auch nur bluffte, "solange der Worldcup läuft und ich im Rennen bin, wird es sicher keinen Deal geben."

Crawford lächelte zurück. "Wollen Sie mit mir wetten? Sie sind einfach nur amüsant, Frau Yamamori - und das meine ich mit all meiner Bewunderung für Sie. Hii Yuta ist Ihr nächster Gegner, nicht wahr? Sie haben bereits mit Paradius' Handlangern zu tun gehabt, darum sollte Ihnen klar sein, dass ihr kommendes Duell kein Zuckerschlecken wird."

"Das heißt aber nicht, dass ich vorhabe zu verlieren", entgegnete Rin, dass Crawford anfing zu lachen.

"Nein. Ich bin schon sehr gespannt, wie dieses Duell ausgehen wird. Oricalchos ist eine Karte, die nicht zu unterschätzen ist. Sie können von Glück reden, dass ich die Karte abgewandelt habe, denn sonst stünden sie einer unbesiegbaren Zerstörungswaffe gegenüber."

"Ich kenne die ursprüngliche Power dieser Feldzauberkarte."

"Aber Sie wissen nichts über ihre Geschichte", Crawford lehnte sich zurück, sein Blick war versöhnlicher, wenn er auch nicht gerade fröhlich wirkte. "Diese Karte ist nicht von mir entwickelt worden."

"Nicht!?", Rin gab es nur ungern zu, aber die Geschichte hatte ihr Interesse geweckt.

"Dartz hat sie vor vier Jahren in Umlauf gebracht. Bis heute weiß ich nicht, wie er es geschafft hat, die Karte zu legitimieren. Damit eine DuelMonsters-Karte spielbar ist, muss sie mit einem speziellen Mikrochip versehen werden. Andernfalls kann die DuelDisc ihre Informationen nicht lesen und wird für ungültig erklärt. Ich denke, das ist der Grund, weshalb seine Spieler mit gesonderten DuelDisc's spielen. Dartz wird sie so kreiert haben, dass sie jede beliebige Karte spielen kann, ohne vorher durch das Sicherheitssystem zu gehen."

"Aber die Kommission hat doch ein Auge auf die Karten", Rin könnte niemals die peniblen Kontrollen vergessen, mit denen ihr Deck vor jedem Spiel durchsucht worden war.

"Das ist richtig. Wie gesagt, die erste Version des Siegels von Orichalcos ist längst nicht mehr im Umlauf. Ich habe dafür gesorgt, dass keine der Karten noch irgendwo herum lungert. Nichtsdestotrotz bleibt es eine gefährliche Karte. Yuta ist ein fanatischer Anhänger von Dartz. Er wird alles daran setzen, Sie zu vernichten. Der Hass auf solche Firmen wie die Kaiba Corporation wird Paradius' Spielern wie eine Droge eingeimpft. Vielleicht ist Ihnen nicht entgangen, was er mit Vivian Wong angestellt hat. Das arme Ding ist seitdem zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie sollten also auf alles gefasst sein." Er kostete von seinem Essen, während er mit der anderen Hand das Weinglas weiter schwenkte. "In DuelMonsters ist alles möglich. Und Leute wie Hii Yuta gehören zur Tagesordnung. Das Entscheidende ist, wie Sie damit umgehen werden. Ob Sie das Zeug zum König der Spiele haben oder Ihre Seele irgendwo auf der Strecke bleibt. Nur die wenigsten haben das Zeug, gegen sämtliche Konventionen zu spielen und dabei seinen eigenen Prinzipien treu zu bleiben. Nun liegt es an Ihnen, welchen Weg Sie einschlagen werden. Ich werde Ihnen mit Freude dabei zusehen."

Sobald sie das Seven Stars verlassen hatte, blies ihr kalte Luft ins Gesicht. Ein paar Regentropfen fielen vom Himmel, färbten die Gehwege in ein schmutziges Braun. Gerade brauchte sie die Kälte. Rin hatte ihre Jacke um die Schultern geworfen, dass sich die Nässe genüsslich auf ihren Armen ausbreiten konnte. Gänsehaut benetzte ihre bleiche Haut, winzige Tropfen klebten zwischen den zarten Härchen. Langsam setzte sie ihren Weg zur Kaiba Corporation fort. Die paar Meter zu Fuß taten gut. Sie brauchte jetzt dringend einen freien Kopf. Die letzten Stunden hatten ihr doch mehr abverlangt, als sie jemals erwartet hätte. Crawford war in vielerlei Hinsicht gerissen. Seine Taktik, Rin psychisch unter Druck zu setzen, hatte gut funktioniert. So aufgewühlt war sie schon lange nicht mehr gewesen. Ja, wegen Kaiba und ihren eigenen wirren Gefühlen, die sie gekonnt zu überspielen wusste. Aber nicht auf diese Weise. Nicht mit so viel Berechenbarkeit, so viel Kalkül, die der Chef von Industrial Illusions zum Einsatz gebracht hatte. Es hatte an ihrem Ego gekratzt, hatte an den Stellen wehgetan, die sie noch lange bluten lassen würden. Ein guter Schachzug von ihm, wie sie zähneknirschend zugeben musste. Gerade in den Endrunden ein genialer Streich des wohl größten Spieleerfinders, dessen eigenen Duellanten allesamt hinausgeflogen waren. Ausgerechnet Industrial Illusions - die Firma mit der größten Auswahl an talentierten Spieler, dem höchstmöglich verfügbarem Budget und der größten internationalen Relevanz - war kurz vor der heißen Phase ausgeschieden. Mit Vivian Wongs Niederlage, war Crawford's letzter verbliebener Duellant aus dem Rennen geworfen worden. Für Rin kaum auszumalen, was dies für den Erfinder von DuelMonsters bedeutete - geschweige denn für dessen Firma und deren Ansehen. Im Vergleich zu I² war die Kaiba Corporation ein kleiner, wenn auch ansehnlicher Fisch im großen Becken namens Spielewelt - und ausgerechnet Seto Kaibas Firma kämpfte gerade mit zwei seiner Spieler um eines der drei Final-Tickets dieser Saison. Wie das in den Augen des silberhaarigen Firmenchefs aussehen musste, konnte sich Rin sehr gut vorstellen. In den letzten Jahren hatte es immer einer seiner Profispieler geschafft, in die entscheidenden Endrunden zu kommen. Nur dieses Jahr hatte Kaiba Corps. Neuzugang sämtliche Aussichten zunichte gemacht. Jeden von Crawfords Zweit- und Drittlegisten hatte Rin während der Battle-City-Turniere gnadenlos zu Boden gestampft. Wie persönlich das Pegasus J. Crawford nahm, konnte Rin nicht bemessen. Aber so langsam bekam sie eine Ahnung davon.
 

Sie schlang die Arme um ihren Körper. Die Kälte tat jetzt nicht mehr so gut. Ihr wollte jedoch nicht einfallen, die Jacke überzuziehen. Die junge Frau war dafür einfach nicht bei der Sache. Ihre Umgebung erschien ihr wie ein bleicher Schatten, auf dem sie irgendwie zu balancieren versuchte. Pausenlos schwirrten ihr Crawfords Worte durch den Kopf:
 

Pegasus J. Crawford hatte Seto Kaiba bereits ein Angebot unterbreitet. Natürlich hatte Crawford nicht hinterm Berg damit gehalten. Hatte es ihr schön unter die Nase gerieben, damit er wie ein gezielter Schuss mit der Armbrust traf. So boshaft war noch nie jemand zu ihr gewesen. Rin kam sich unglaublich naiv vor. Dass sie wirklich geglaubt hatte, Crawford akzeptierte ihre Absage.
 

Ihre Hände rieben an den Oberarmen, vertrieben nur mäßig die Gänsehaut.
 

Würde Seto Kaiba sie wirklich an Crawford verkaufen? Sie wie ein lebloses Ding weiterreichen, sobald der Preis stimmte, sobald Crawford etwas hatte, das Kaibas Interesse weckte? Was könnte der junge Firmenchef von Industrial Illusions Firmenleiter wollen, das er sich selbst nicht beschaffen konnte? Sie schüttelte sich. Manchmal vergaß Rin, dass in DuelMonsters andere Regeln galten. Dass Spieler wie Futter behandelt wurden, die für die ganz großen Tiere da oben bestimmt waren. Wenn man die Welt sehen, wenn man zu den erfolgreichsten Spielern der Welt zählen wollte, musste man den Weg durch die Straßen nehmen, in denen man sich und seine Prinzipien verkaufte. Für Ruhm, Ehre und Macht musste man zu allem bereit sein - sich anbiedern wie die Hure zu ihrem Freier. Etwas anderes war es nicht. Derjenige, der zahlen konnte, bekam das ganze Paket geboten - inklusive der eigenen Würde. So war die Welt von DuelMonsters nun einmal. Egal, ob man für die großen Firmen spielte oder als Duellant einer Sponsorengruppe angehörte - am Anfang wurde man immer herumgereicht. Ob es einem gefiel oder nicht. Es gab keinen freien Willen, nicht solange man nicht an der Spitze der Weltrangliste stand, und diese war ein langer Weg, der nicht selten in eine Sackgasse führte.

Rin hatte sich nach ihrem Schulabschluss mehr als einmal informiert, wie es in der Branche zuging. Die Zeit, die sie in der Kaiba Corporation verbracht hatte, war so schnell und intensiv an ihr vorbei gerauscht, dass sie nur nicht länger darüber nachgedacht hatte. Es war zu einfach gewesen, sich an die derzeitigen Annehmlichkeiten zu gewöhnen.

Wie dumm bist du eigentlich, Rin?!

Der Regen wurde stärker. Aus der Tasche den Regenschirm geholt, spannte sie ihn über ihren Kopf auf und betrachtete die einzelnen Ranken, die sich nach und nach zu bilden begannen.
 

Sie fragte sich ernsthaft, welches Angebot den jungen Firmenchef dazu veranlassen könnte, Rin von ihren vertraglichen Pflichten zu entlassen.

Crawford kann nicht wissen, dass ich mit Kaiba an seinem geheimen Projekt arbeite. Sicher ist er überzeugt davon, dass nach dem Release der neu überarbeiteten DuelDisc erstmal nichts weiter kommt

Rin hielt inne.

Vielleicht hat Crawford gelogen. Vielleicht gibt es gar kein Angebot.

Die Möglichkeit stand durchaus im Raum. Wenn er Rin aus der Fassung bringen wollte, würde er wohl auf solch miese Tricks zurückgreifen. Aber was hätte der Erfinder von DuelMonsters davon? Rin hatte nach seiner Ansprache noch weniger der Sinn nach einem Firmenwechsel gestanden.
 

Auf der anderen Straßenseite winkte ihr Makoto zu. Die braunhaarige Kassiererin war gerade dabei, die Schilder von den Straßen hinein zu tragen, als der Regen zu dicken Tropfen hernieder prasselte. Die junge Frau winkte zurück. Heute war ihr wenig nach einem Plausch mit ihrer Lieblingskassiererin zumute. Zwar war Makoto eine gute Zuhörerin, aber gerade wollte sie alles andere als über ihr Essen mit Crawford reden. Nur ihr Magen sagte ihr etwas anderes. Rin hielt sich den Bauch, verzog das Gesicht.
 

Nach ihrem Gespräch mit dem Chef von Industrial Illusions hatte sie keinen Bissen herunter bekommen. Zwar hatte sich Crawford mit den Worten, Rin solle ruhig sitzen bleiben und ihr Mittag genießen, verabschiedet, doch die junge Frau konnte nicht mehr ans Essen denken. Sie hatte nur noch eines gewollt: nämlich so schnell wie möglich hier raus zu kommen.
 

Etwas schneller lief Rin weiter.
 

Wenn Crawford das einzige Problem wäre…

Die Informationen, die ihr der Chef von Industrial Illusions über Dartz und seine Duellanten erzählt hatte, beschäftigte sie genauso sehr. Auf ein Duell wie neulich gegen von Schroeder und seinen Komplizen hatte sie keine Lust. Wie sollte sie denn Lumina erklären, dass Rin neuerdings nicht mehr um den Sieg, sondern vermutlich um ihr Leben spielte? Ganz zu schweigen, dass sie nicht vorhatte, sich ihr Gehirn oder ähnliches bei einem Duell (oder auch sonst wo) wegpusten zu lassen.

Dieser Dartz hat sie doch nicht mehr alle! Benutzt seine Spieler, um irgendwelche hirnrissigen Ideale durchzusetzen
 

Neben der Drehtür blieb sie stehen und klappte den Regenschirm zusammen.
 

Es half alles nichts. Ob es ihr gefiel oder nicht - sie musste sich damit abfinden, dass die DuelMonsters-Welt abartig sein konnte. Und sie würde jetzt sicher nicht wegen ein paar abgedrehten Typen den Schwanz einziehen. Ihre Rechnung mit Hii Yuta stand noch offen. Diesmal würde sie sich nicht so abziehen lassen - das hatte sie sich geschworen und daran führte kein Weg vorbei.
 

Durch die Drehtür gelaufen, steuerte sie geradewegs die Trainingsanlagen der Kaiba Corporation an. Wenn etwas ihre Gedanken ordnen konnte, dann ein ordentliches Duell.

Ein technischer Mitarbeiter machte sich gerade an dem Pult zu schaffen, als Rin den Raum betrat. Er tauschte eines der unteren Kabel aus, stopfte sich das Alte in die Hosentasche und fummelte noch ein wenig an den Knöpfen, bis das Ganze zu passen schien. Kaiba hatte erst neulich erwähnt, dass er die Duellsimulationen an die neue Technik nach und nach heranführen wollte. Scheinbar ging der letzte Test doch schneller über die Bühne als der junge Firmenchef zu Anfang geglaubt hatte. Rin erinnerte sich noch, wie grummelig Kaiba gewesen war, als die ersten Anläufe nicht auf Anhieb geklappt hatten. Wenn er gekonnt hätte, hätte er die eingeführte Software hochkant aus dem Firmengebäude gejagt. So stellte sich Rin Seto Kaiba vor, wenn dieser einen Angestellten feuerte. Trotzdem hatte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen können.
 

Mit einem stummen Nicken verabschiedete sich der Mitarbeiter von Rin. Diese ließ die Finger knacken, bevor sie sich selbst dem Pult näherte, auf verschiedenste Knöpfe herum drückte und das Trainingsprogramm startete. Sie brauchte jetzt dringend etwas Ablenkung - ein hartes Duell war da genau das Richtige. Die Schwierigkeitsstufe auf ein Maximum hoch geschraubt ging es auch schon los.

Dann wollen wir doch mal sehen, was diese Hübschen hier so drauf haben

Rin betrachte die drei obersten Karten ihres Decks. Sie begann zu mischen

Zeit für ein Duell
 

~

"Cyberdose aufgedeckt - aktiviere Flipp", auf der Seite der KI zersprang das einäugige Monster in tausende von Scherben. Sobald es auf dem Friedhof gelandet war, riss es sämtliche Karten aus dem Spielfeld mit sich in den Tod. "Alle Spieler decken die obersten fünf Karten ihres Decks auf", erklärte ihr die KI ganz nach den Regeln des Spiels, "Monster der Stufe vier oder niedriger werden auf die Spielfeldseite beschworen. Beginne mit Beschwörung: Mekanischer Archunterweltler wird in den Verteidigungsmodus gesetzt." Ein vier Sterne Monster mit starker Defensive wurde auf der gegnerischen Seite beschworen. Cyberdoses Effekt ließ auch Rins Monsterzone aufleuchten. Reese, die Eisherrin, sowie der Klingenritter betraten das Spielfeld. Nicht das Schlechteste, was hätte passieren können. Wären da nicht die restlichen Karten, die der Computer gezogen hatte.

"Ich lege eine Karte verdeckt und beende meinen Zug", Rin sah auf die andere Seite des Feldes.

"Zugwechsel. Ziehe eine Karte - strategische Neuberechnung: Opfere Mekanischer Archunterweltler um Geringerer Unterweltler zu beschwören." Eine vierarmige Chimäre breitete sich auf der gegnerischen Seite des Feldes aus. Mit 2100 Atk das derzeit stärkste Monster. Rin kniff die Augen zusammen.

"Aktivere Feldzauberkarte: Siegel von Orichalcos." Auf Kommando explodierten nacheinander die Monster auf der gegnerischen Spielfeldseite. Grünes Licht kündigte Orichalcos an - ein Ring, sowie mehrere Zeichen und Muster breiteten sich in der gesamten Halle aus.

"Spiele Monsterreanimation" Der Geringere Unterweltler kehrte mit einem zusätzlichen Powerschub von 500 Angriffspunkten zurück auf das Feld. "Aktiviere dritte Zauberkarte: schwarzes Loch." Ein schwarzer Wirbel sog Rins komplette Verteidigung auf. Zurück blieb eine wehrlose Gegnerin, auf die sich der Computer stürzte. Die junge Frau brachte sich in Position. Das Monster erhielt den Befehl zum Angriff, ließ seine vier Arme kreisen, dass sie eine rote Welle dunkler Energie entsandten. Mit voller Wucht traf die Attacke ihren Gegner direkt, dass Rin die Hände vors Gesicht hielt. Ein direkter Treffer durch einen derartigen Angriff konnte lange Zeit in den Augen brennen. Nichts, das sie sich freiwillig antat. Nur langsam ließ Rin die Arme sinken. Über die Hälfte ihrer Lebenspunkte hatte der Unterweltler mit sich gerissen - es war die vierte Runde des dritten Spiels. Bisher lagen Rin und die KI gleich auf - das letzte Spiel entschied über Sieg oder Niederlage.

Nachdem das Monster zurück in die Grundangriffsstellung gegangen war, beendete der Computer seinen Zug, dass Rin wieder an der Reihe war. Sie zog eine Karte.

"Wenn du vorhast, deine Falle gegen Orichalcos einzusetzen, sage ich dir: es ist reine Zeitverschwendung." Durch die Trainingshalle schallte die Stimme Seto Kaibas, dass Rin ihren Zug pausieren ließ und den Kopf nach hinten drehte. Hinter der Glasscheibe, direkt neben der unscheinbaren Tür, welche die Halle von dem Kontrollraum trennte, lehnte der Chef der Kaiba Corporation am Reglerpult. Die Arme vor der Brust verschränkt blickte er zu Rin, die seine Anwesenheit noch nicht einzuordnen wusste. Schließlich erwiderte sie seinen eisigen Blick, den er durch seine Haltung noch zusätzlich betonte, dass Rin nicht weiter darüber nachdenken wollte, warum es den jungen Firmenchef hierher verschlagen hatte. Sicher nicht, um der jungen Frau beim Trainieren zuzusehen.

Was kommt als nächstes?! Kaiba verteilt Tipps, wie ich gegen Yuta bestehe? Weil er in seiner Pause nichts Besseres zu tun hat, als ein kleines Pläuschchen mit mir abzuhalten…?

Rin blickte über ihre Schulter zu der verdeckten Karte. "Ich weiß, dass ich Orichalcos mehr als einmal zerstören muss, um sie vom Feld zu bekommen."

"Und selbst dann solltest du es dir abschminken", entgegnete er trocken, "im Kampf solltest du dich nicht sinnlos mit irgendwelchen Zauberkarten rumschlagen, die du eh nicht vom Feld bekommen kannst." Er drückte auf zwei Knöpfe, dass das Simulationsduell sich vorzeitig abschaltete.

"Das habe ich auch nicht vor", erwiderte Rin, die seine Reaktion als eine stumme Aufforderung verstand, sich dem jungen Firmenchef zu nähern. Oder warum hatte er ihr laufendes Duell einfach so abgebrochen, wenn er nicht mit der jungen Frau reden wollte? Ihr schwante nichts Gutes. Trotzdem tat sie so, als wüsste sie von nichts und sprach weiter: "Wenn ich Hii Yuta besiegen will, dann mit Orichalcos. Mit dieser Zauberkarte werde ich schon irgendwie fertig."

"Ganz schön selbstsicher", zu ihrer Überraschung war es Kaiba, welcher aus der Tür schritt und zu der jungen Frau dazustieß.

"Wenn mein Plan aufgeht", Rin schmunzelte, "dann wartet auf Paradius' Aufziehäffchen eine nette kleine Überraschung."

"Du probierst eine neue Strategie?"

"Sagen wir, ich versuche dem Bild einer sündigen Firma, die die Weltherrschaft durch ihre Technik an sich reißen will, gerecht zu werden. Ich denke, anders kann man es diesen Verrückten nicht beibringen."

"Du hast immer einen Plan, oder?" Seinen Tonfall wusste sie nicht ganz einzuordnen. Ebenso wenig seinen Gesichtsausdruck, mit dem er Rin von oben bis unten einmal durch scannte.

"Nicht immer", antwortete Rin etwas leiser. Das Lächeln war ebenfalls aus ihrem Gesicht verschwunden.

Seine Miene blieb wie die eines Eisklotzes. Er war immer etwas gefühlskalt, aber so hatte er sie noch nie angesehen. "Hat sich wenigstens das Essen gelohnt?"

Rin hielt den Atem an.

"Ich hatte keinen Hunger", antwortete sie.

Kaiba blinzelte. "Du versuchst es nicht einmal abzustreiten?"

"Warum sollte ich", entgegnete die junge Frau und beobachtete, wie langsam das Eis in seinen Augen zu schmelzen begann, "du weißt, dass ich mich mit Crawford getroffen habe. Lügen würde nichts bringen… und ist nicht meine Art."

"Was hat er dir gesagt? Hat er dir erst Honig ums Maul geschmiert oder ist er gleich mit der Tür ins Haus gefallen?"

"Von beidem etwas."

"Und deine Antwort?"

"Dass ich nicht vorhabe, die Kaiba Corporation zu verlassen."

Schweigen. Kaiba musterte die junge Frau, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann blitzte etwas in seinen Augen auf. Er kam soweit an Rin heran, dass er direkt auf sie herabblickte. Leicht neigte er den Kopf, dass seine Lippen nur knapp über ihrem Ohr lagen. Seine Stimme war lediglich ein Raunen: "Solange der Vertrag besteht, gehörst du mir. Und ich werde dich nirgendwohin gehen lassen, merk' dir das." Damit richtete er sich auf und lief Richtung Ausgang. Rin blieb wie angewurzelt stehen.

Sag' etwas, verdammt!

Das durfte sie so nicht im Raum stehen lassen.

Sie gehörte ihm nicht - sie gehörte niemandem!

Doch ihre Lippen bewegten sich kein Stück. Sie hasste sich. Hasste es, dass seine Worte einen kleinen Teil von ihr erregten, dass sie sich etwas darauf einbildeten…

Wie dumm kann man denn sein?!

Rin wollte ihn für diesen Spruch eine scheuern, doch am liebsten wollte sie sich erstmal selbst eine verpassen. Was war bloß in sie gefahren, dass sie nichts darauf erwidern konnte. Sonst riss sie doch neuerdings wegen allem ihr Maul auf!

"Scheiße", fauchte Rin und beendete ihr Training. Die DuelDisc ausgeschaltet stampfte sie aus der Halle Richtung Fahrstuhl. Kaum hatte dieser angehalten und seine Türen geöffnet, stürmte sie ins Innere und drückte mit voller Wucht auf den Knopf, der rauf ins Erdgeschoss führte.

Mehrere Flüche sandte sie an sich und den jungen Firmenchef, bis der Lift zum Stehen kam. Mit hochrotem Gesicht mischte sie sich unter die Menge, welche sich ganz auf den Feierabend konzentrierte. Hunderte von Mitarbeiter, die sich sonst nur kurz vor Arbeitsbeginn hier einfanden, steuerten den Ausgang des Firmengebäudes an. Frauen tratschten vergnügt, die Männer hatten es bloß eilig nach Hause zu kommen. Die meisten waren mit ihren Smartphones beschäftigt und bemerkten die junge Frau nicht einmal, die als einzige die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen hatte. Zu all dem Gefühlschaos mischte jetzt auch noch der Hunger richtig mit, dass sie einen tiefen Atemzug tat und kurzerhand zur Kantine marschierte. Für eine Laune wie diese gab es nur eines, das ihren Gemütszustand runterfahren ließ. Direkt neben der Glastür blieb sie stehen und kramte aus der Hosentasche ihr Kleingeld heraus. Dann stellte sie sich nur zwei Schritte weiter vor den Automaten und drückte die Nummer sieben, dass ein grüner Pappbecher raus ploppte. Der Deckel wurde aufgerissen und heißes Wasser in den Becher gegossen. Sofort drang der Duft verschiedenster künstlicher Zusätze in ihre Nase.

"Pause oder Feierabend?", neben ihr lehnte Mokuba Kaiba an der Glasscheibe und musterte die fertigen Ramen.

"Weder noch", entgegnete Rin, die sich bemühte, nichts von ihren Gefühlen nach außen durchschimmern zu lassen.

"Dann sind wir schon zu zweit", sagte der Jüngere der Kaiba Brüder mit einem entnervten Seufzen. Er hielt ihr ein Buch vor die Nase.

"Hausaufgaben?", blinzelte Rin, die jede Art der Ablenkung begrüßte.

"Leider", ein zweiter Seufzer drang aus seiner Kehle, "ausgerechnet Physik. Das Fach ist einfach nur ächzend."

"Was ist das Thema?", Rin hielt ihm den dampfenden Becher hin. Wie ein rettendes Seil nahm der Jüngere die Suppe entgegen. In kurzen Sätzen erläuterte er die ausstehende Aufgabe, während Rin derweil ein zweites Mal den Automaten mit Geld fütterte.

"Gib' schon her", entgegnete schließlich die junge Frau und griff sich Stift und Papier, die Mokuba beide unter seinem rechten Arm klemmen hatte. Nach einem schwachen Protest verbeugte er sich vor Rin.

"Und ich halte dich nicht beim Training auf?", fragte der Schwarzhaarige, während er den erstbesten Sitzplatz ansteuerte. Rin folgte ihm und setzte sich mit Blick in Richtung Fensterscheibe. Noch immer regnete es wie aus Eimern und wie Rin die Gewitter ihrer Heimatstadt einschätzte, würde es vor Mitternacht auch nicht aufhören.

"Mach' dir keine Gedanken", erwiderte sie und versuchte ein halbwegs glaubwürdiges Lächeln hinzubekommen, "die Ablenkung kann ich gut gebrauchen. Es dauert auch nicht lang."

"Wenn du meinst", er beobachtete Rin, wie diese die Stäbchen in die eine Hand nahm, den Stift in die andere legte und sich sofort ans Werk machte. Das Buch aufgeklappt, sah sie nur flüchtig zu der Rechenaufgabe hinauf. Die linke Hand rauschte nur so über die Zeilen, während auf der anderen Seite eine große Portion Ramen aus der Suppe gezogen wurde.

"Meinst du nicht, du solltest-", mitten im Satz brach er ab, als Rin bereits den Mund voller Nudeln hatte - ungeachtet des heißen Dampfes, der noch immer aus der Brühe trat. Mit einem stummen Lächeln schüttelte er den Kopf. "Du bist der Wahnsinn, Rin", murmelte er.

"Das nennt sich Streber", entgegnete Rin, nachdem die letzte Nudel ihre Kehle heruntergerutscht war. Mokuba lächelte schwach.

"Ich soll dir übrigens schöne Grüße von Maki bestellen."

"Warum das?", fragte Rin, wobei sie kein einziges Mal das Blatt aus den Augen ließ. Den ersten Teil der Aufgabe hatte sie bereits erledigt.

"Er hat mir erzählt, dass du ihn vor Seto verteidigt hast." Der Name ließ ihren Magen krampfhaft zusammenziehen.

"Eigentlich hat ja Maki mich gerettet."

"Ich hab von deiner kleinen...Party gehört", Mokuba unterdrückte sein breites Grinsen hinter einer dicken Portion Ramen. "Wie hast du das bloß angestellt? Man hat dir die halbe Flasche Whisky überhaupt nicht angemerkt."

"Du weißt es?!", Rin hatte den Kugelschreiber beiseitegelegt. Ihr wurde schlagartig übel.

Wenn Mokuba davon weiß-

"Schon gut", fuchtelte der Jüngere der Kaiba Brüder mit den Händen, "Maki hat es mir im Vertrauen erzählt. Wir beide kennen uns schon eine Ewigkeit. Er ist mir quasi noch etwas schuldig…Wenn es ein Problem oder Ähnliches gibt, kommt er erstmal zu mir. Ich habe ihm gesagt, dass wir meinen Bruder da nicht hineinziehen sollten. Er schien ja davon nichts mitbekommen zu haben, also warum schlafende Hunde wecken."

"Danke", nuschelte Rin und klappte das Lehrbuch zu.

"Überhaupt nichts zu danken", nickte er ihr aufmunternd zu, "und du brauchst dir keine Sorgen machen, dass Maki etwas zu meinem Bruder sagen könnte. Wie gesagt, er ist dir echt dankbar, dass du ihn am Freitag verteidigt hast. Nach dem Mist, den Nagawa verzapft hatte, war Seto drauf und dran, auch Maki zu degradieren."

"Nagawa wurde degradiert?" Sie riss die Augen auf.

"Viel weiß ich nicht, aber scheinbar soll Nagawa Fehler begangen haben, die als Chef der Social Media Abteilung unverzeihlich sind."

Er meint doch nicht etwa die verpatzten E-Mails?! Unmöglich. Das würde ja heißen, Kaiba hätte ihn meinetwegen-

"Und jetzt?", das mulmige Gefühl konnte sie nicht so ganz abstellen.

"Seto hat Nagawas Stelle neu besetzen lassen und Nagawa filtert jetzt nur noch die Kommentare aus den Social Media Plattformen. Wenn du mich fragst, die pure Folter."

"Da hast du recht", Rin presste die Lippen zusammen, "dein Bruder hat ja ziemlich schnell Ersatz gefunden."

"Das war nicht sein erster Ausrutscher in der Richtung. Außerdem hat mein Bruder immer einen Plan B…" Er hielt inne und schaute in den Becher. "Und du?" Mit den Stäbchen stocherte er in der Brühe herum. Mokuba wirkte geradezu geknickt. "Hast du auch schon was in der Hinterhand?"

Darum also druckste er so rum.

"Dein Bruder hat mit dir geredet, oder?" Rins Blick verfinsterte sich.

"Ich hab's bloß durch Zufall erfahren", entgegnete der Jüngere leise, "Crawford will dich abwerben, richtig? Nach deinem Duell gegen Kaeji hatten er und mein Bruder ein kurzes Gespräch. Seto hat mich weggeschickt, aber ich weiß, dass es um dich ging und da zurzeit viele Interesse daran haben, dich aufzukaufen, war mir klar, worüber Crawford mit ihm reden wollte."

Seit einer Woche wusste Kaiba bereits, dass Crawford sie abwerben wollte? Rin drückte die Stäbchen in ihrer Hand, dass sie mit einem Knacksen in der Mitte zerbrachen. Währenddessen hatte Mokuba aufgehört, in der Suppe herum zu stochern und blickte nun erstmals hinauf. "Danach war mein Bruder ziemlich mies drauf. Ich meine, er hat nie eine Bombenstimmung, aber er hat noch Stunden danach kein Wort mit mir gesprochen. Das macht er sonst nur, wenn er sich von jemandem auf den Schlips getreten fühlt. Aber wer kann es ihm verübeln-", seine Stimme brach ab, er verzog wütend das Gesicht, "dass er überhaupt auf die Idee kommt, Seto würde ihm seine Spieler auf dem Silbertablett servieren. Als ob mein Bruder jemals vergessen würde, was er uns angetan hat-" Die freie Hand knallte auf den Küchentisch, dass Rin kurzerhand ihren eigenen Ärger vergaß. So wütend hatte sie den schwarzhaarigen Wuschel noch nie erlebt. Das Gefühlschaos war die junge Frau von dem sonst so aufgeweckten Teeanger nicht gewohnt.

"Entschuldige", murmelte der Jüngere und sah zur Seite.

"Alles okay?", fragte sie, wobei ihr die Verwunderung noch immer ins Gesicht geschrieben stand. Sie wusste, wie blöd diese Frage war.

"Mach' dir keinen Kopf, ehrlich. Es ist alles gut."

"Mokuba", Rins Stimme war fest und eindringlich. Diesmal wollte sie den jungen Kaiba nicht vom Haken lassen. Viel zu oft hatte er Andeutungen gemacht, die immer im Sande verlaufen waren. Aber etwas sagte ihr, dass sie nicht locker lassen sollte - diesmal nicht. Dafür hatte sich der Schwarzhaarige einfach noch nicht fangen können. Normalerweise kehrte er schnell wieder zu seiner guten Laune zurück.

"Du willst es mir doch erzählen - und das schon länger, hab ich nicht recht?" Sie sah ihn durchdringend an, ohne einmal zu blinzeln. Das half auch immer, wenn Lumina etwas bedrückte. "Spuck' schon aus, was los ist. Wenn du willst, hör' ich auch nur zu. Ich bin ganz gut darin."

Er sah sie lange schweigend an. Sein Blick wurde weicher, schließlich sah sie die Resignation in seinen Augen.

"Versprichst du mir, dass du bleibst?" Sein flehender Ton war herzzerreißend. Das hätte sie dem jüngeren Kaiba gar nicht zugetraut. Es beunruhigte sie ein wenig.

"Ich habe nicht vor, die Firma zu wechseln", entgegnete sie - ihre Entscheidung klang so sicher, wie noch vor Stunden gegenüber Crawford. Ein gutes Gefühl, wie sie fand.

"Ich weiß", Mokuba sah jetzt wieder zur Seite, "wir sind auch keine Heiligen…aber wenn Pegasus J. Crawford etwas haben will, schreckt er vor nichts zurück…damals zum Beispiel...da war er verrückt nach Setos DuelDisc, er sagte, er wolle das System unbedingt für sein DuelMonsters Spiel haben…natürlich war das nicht alles", seine Augen wurden immer leerer, "er wollte sich die ganze Firma an den Nagel reißen. Hat dafür sogar mich entführen lassen, damit ich ihnen den Schlüssel zur Firma aushändige-"

"Was?!", rutschte es aus Rin heraus. Erzählte ihr Mokuba gerade einen dieser skandinavischen Thriller oder war dies wirklich die Realität? Sein Blick sagte ihr, dass es eindeutig zweiteres war. Ihr verschlug es die Sprache.

"Das ist schon Ewigkeiten her. Zu der Zeit hat sich niemand für die Kaiba Corporation interessiert, weil das große Turnier alles in den Schatten gestellt hat."

"Welches Turnier meinst du?"

"Das Königreich der Duellanten."

Rin sah auf einmal die virtuelle Session vor sich. Als sie nicht wusste, wo sie war und Kaiba sie in letzter Sekunde vor dem Abgrund gerettet hatte.

Das war gar nicht Lumina…der schwarzhaarige Wuschel…Mokuba-

Sie sah zu dem Jüngeren, der gequält auf den Holztisch starrte. "Sie haben geglaubt, ich würde ihnen einfach so den Schlüssel geben. Dass sie sich die Firma unter den Nagel reißen könnten…hinter allem steckte der Vorstand der Kaiba Corporation - und Pegasus Crawford hat die Fäden gezogen. Sie haben meinen Bruder verraten, weil er gegen Yugi verloren hat und die Umsatzzahlen von Kaiba Corp. kurzfristig in den Keller gingen…diese Feiglinge haben es ausgenutzt, dass mein Bruder im Koma lag…"

Was hat Mokuba gerade gesagt

Der schwarzhaarige Wuschel redete, ohne einmal Luft zu holen, dass Rin überhaupt nicht mehr mitkam. Es war zu viel für sie. Ihr Kopf begann sich zu drehen. Kaiba? Im Koma? Fragen über Fragen schwirrten in ihrem Kopf. Dabei brachte sie keinen Ton heraus. Ein Teil von ihr wollte nicht weiter zuhören. Dies war eindeutig nicht für sie bestimmt. Allein schon das Gesicht des jungen Firmenchefs, wenn er davon Wind bekäme. Aber sie hatte den Jüngeren dazu ermutigt und konnte ihn jetzt nicht unterbrechen. Sie spürte, wie es ihn belastete. Er rang mit sich, die Worte überschlugen sich nur so. Gut für Rin, die das meiste nicht mehr verstehen konnte.

"Ich weiß auch nicht, warum ich die Tage so viel über die Vergangenheit nachdenken muss", er hielt sich den Kopf, "Seto fällt es so verdammt leicht, die Vergangenheit zu begraben und ich dachte echt, ich hätte damit abgeschlossen." Ein gequältes Lächeln kam über seine Lippen. "Ich will einfach nicht, dass so jemand wie Crawford dich uns wegnimmt. Wer weiß, was für kranke Pläne er mit dir hat."

Stille.

Im Hintergrund drang lediglich das leise Klopfen der einzelnen Regentropfen zu ihnen durch. Der Regen war schwächer geworden, ließ die Straßen nicht mehr wie eine Wasserbahn erscheinen.

Schließlich richtete sich Rin auf. Sie schob Mokuba das Blatt direkt vor seine Nase.

"Hier", ihre Stimme war weich, sie lächelte, obwohl ihr danach war, den Jüngeren in den Arm zu nehmen. Vielleicht hätte es Mokuba gut getan. Andererseits glaubte sie nicht, dass Mitleid das war, was der Jüngere der Kaiba Brüder wirklich brauchte.

"Mach dir wegen mir keine Sorgen, Mokuba. Du solltest deinen Geist nicht ständig mit all diesem Weltherrschafts-Wahnsinn belasten. Ich verspreche dir, ich werde auf mich aufpassen", sie fasste sich an die Brust, "im Gegenzug erwarte ich, dass du nicht länger um den heißen Brei redest, wenn dir was auf der Seele brennt."

"Ich will dich da einfach nicht mit hineinziehen", entgegnete Mokuba und zwang sich zu einem Lächeln. Dabei wirkte er wie ein bedröppelter Pudel.

"Zu spät", sagte Rin und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, "ich bin eure Duellantin, schon vergessen? Jeder, der sich mit der Kaiba Corporation anlegt, hat es automatisch mit mir zu tun." Ihre Augen bekamen dieses Lodern. Fasziniert schaute der Schwarzhaarige in Rins Seelenspiegel, die jedes ausgesprochene Wort zu einem in Stein gemeißelten Standpunkt verwandelten.

"Herr Kaiba? Tenma Yoshiba ist auf Leitung zwei. Es geht um die Werbekampagne, die nächsten Monat starten soll. Möchten Sie, dass ich durchstelle?" Aus den Lautsprechern der Freisprechanlage drang die fiepende Stimme seiner Sekretärin durch, dass Kaiba kurzerhand die Augen verleierte.

"Haben Sie vergessen, dass ich nicht gestört werden wollte?!", sein Ton ließ keine Widerworte zu.

"Nein, Herr Kaiba, aber-"

Wenn er dieses Wort schon hörte…ihm stellten sich sämtliche Nackenhaare auf.

"Wenn er die Details abklären will, soll er am Montag wieder anrufen", seine Stimme war so gefühllos wie die Maschine, mit der er sprach.

"Ich richte es ihm aus", entgegnete sie kleinlaut und kappte die Telefonverbindung zwischen sich und dem jungen Firmenchef.

Seto Kaiba tat einen tiefen Seufzer und tippte weiter auf seinen Rechnern herum. Sich auf zwei Bildschirme gleichzeitig zu konzentrieren und sich dabei auch noch ständig am Telefon wiederholen zu müssen, war nicht gerade die Beschäftigung, die er sich für einen Freitagvormittag (oder überhaupt) vorgestellt hatte. Aber die finalen Endrunden standen kurz bevor. Wichtige Schritte mussten getätigt, letzte Anweisungen erteilt werden. Ohne Kaibas Vorkehrungen, seine Technologie, ja sogar seine Präsenz, wäre der Worldcup nicht das große Ereignis, das es seit vielen Jahren war; es wäre bloß ein verstaubtes Event, eine Kür der Langeweile, um die Besten unter sich zu bestimmen. Das wusste der junge Firmenchef und wenn er ehrlich war, genoss er die Abhängigkeit, die er der Kommission durch seine Technik aufgezwungen hatte.
 

Seine Augen wanderten über die Zeilen. Er kam schnell voran. Hauptsächlich, weil er noch andere Pläne hatte: Auf dem zweiten Bildschirm hatte sich ein Verlaufsprotokoll geöffnet, das ihm seine KI in regelmäßigen Abständen aktualisierte. In seinem Blick spiegelte sich der Frust der letzten Wochen wider.
 

Er war noch kein Stück weitergekommen. Die beste Technologie, das beste entwickelte Equipment - und trotzdem kam er nicht drauf, was er übersah; was bloß ihr Geheimnis war.
 

Ein Klopfen lenkte ihn kurzzeitig ab. Seine Sekretärin erschien im Zimmer, hielt ihm ein halbes Dutzend Zettel vor die Nase, die der junge Firmenchef zu unterzeichnen hatte. Ohne von seinem Rechner aufzusehen, gab er jedem einzelnen Wisch seine Signatur und gab anschließend mit einem Wink zu verstehen, für den Rest des Tages allein sein zu wollen. Mitsuki verbeugte sich. Aus dem Augenwinkel konnte er die junge Blondine beobachten, wie ihr Blick kurz auf ihm und schließlich an der Uhr über der Tür hängen blieb. Vermutlich erhoffte sie sich, heute einmal früher nach Hause zu kommen. Die letzten Tage hatte der junge Firmenchef zusätzliche Aufgaben zu verteilen gehabt, dass Mitsuki erst nach siebzehn Uhr aus der Firma gekommen war. Dass sie ihn nicht fragte, ob sie denn früher Schluss machen könnte, hatte zwei Gründe: zum einen wusste sie, dass Kaiba seine Angestellten nie früher nach Hause schickte und zum anderen war ihr erster und einziger Versuch damals gründlich nach hinten losgegangen. Es war noch während der sechsmonatigen Kündigungsfrist, die Blondine hatte etwas eher Feierabend machen wollen und war bei dem Versuch, kokett und aufreizend zu wirken, kläglich gescheitert. Seto, der die Ereignisse damals mit einer Verwarnung auf sich beruhen lassen hatte, hatte Mitsuki nur aus einem Grund nicht hochkant aus seiner Firma geworfen - obwohl er solch ein Verhalten nicht tolerierte, missfiel es seinem Ego weniger, wenn er von Zeit zu Zeit umgarnt wurde. Mehr aber auch nicht. Mitsuki konnte froh sein, dass Kaiba damals mitten im Grand Championship gesteckt hatte und mit Zigfrieds Hirnschmalz beschäftigt gewesen war, dass er sich mit dem Fehlverhalten seiner Mitarbeiterin nicht rumärgern wollte. Die Warnung, die er nach dem Ereignis ausgesprochen hatte, war bei der Blondine definitiv angekommen. Seitdem hatte es keinen weiteren Vorfall gegeben. Sie würde sich wohl auch in Zukunft hüten, den jungen Firmenchef ein zweites Mal um etwas zu bitten. Die Blondine konnte es nicht wissen, aber Kaiba hatte nichts übrig für diese Stereotype Sekretärinnen-Boss-Beziehung, die ihm mehr wie ein billiges Rollenspiel vorkam - und Kaiba stand nicht auf Rollenspiele. Genau aus dem Grund hatte er sein weibliches Personal auch immer nach einem bestimmten Kriterium ausgewählt. Prinzipiell hielt Kaiba nichts von Beziehungen am Arbeitsplatz. Daran hatte sich der junge Firmenchef stets gehalten.

Bis…
 

Sobald die Bürotür zugefallen war, ging sein Blick über das Tablet, das seit einigen Stunden neben seinem Berg an Papieren lag. Im Wechsel zeigte der Bildschirm die Schlagzeilen der letzten Tage. Wie angeordnet war seine Duellantin in allen Medien Thema Nummer eins. Das Investieren hatte sich gelohnt - der Umsatz der Kaiba Corporation war in den letzten Wochen um 0,2% gestiegen. In der kurzen Zeit ein Rekordgewinn. Das hatte bisher keiner seiner Duellanten geschafft. Rin war zu einer richtigen Vermarktungsmaschine geworden; überall, wo die junge Frau auftrat, steigerte es die Verkaufszahlen seiner DuelDisc und die seiner Tickets auf Kaibaland. Die Aufmerksamkeit, die sie auf seine Firma projizierte, war so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Ihre öffentlichen Auftritte verfehlten ihre Wirkung nicht, der Besuch in einem der wichtigsten Late Night Sendungen des Landes hatte Rin wieder einmal tadellos über die Bühne gebracht - wenn ihm der Anblick seiner Duellantin auch überhaupt nicht gepasst hatte. Was hatte sich Maki nur dabei gedacht?!
 

"Wegen der plötzlichen Terminänderung mussten wir auf Frau Yamamoris Kleiderschrank zurückgreifen…"

Kurz hatte Kaiba geglaubt, er hätte sich verhört gehabt. Wenn er sich vorstellte, dass sie des Öfteren so herumlief…in Gegenwart anderer…
 

Er wischte über den Bildschirm, dass das Bild der jungen Frau, wie diese keck in die Kamera blickte, gegen ein weitaus unschuldigeres Foto ausgetauscht wurde.

Es lag nicht daran, wie sie ausgesehen hatte. Keinem Mann würde dieser Anblick nicht gefallen - und genau da lag das Problem. Es löste etwas in ihm aus, sobald er daran dachte, dass das halbe Land sie so zu Gesicht bekommen hatte.

Tiefe Falten entstanden auf seiner Stirn. Das Bild hatte er zwar vom Bildschirm verbannen können, aber nicht aus seinem Kopf.

Von wegen, sie wäre zurückhaltend! Diese Frau war längst nicht mehr so unscheinbar, wie sie einem vorgespielt hatte…

Kaiba hielt inne.

Unscheinbar

Er starrte auf seinen Rechner.

Vielleicht-

Er hämmerte auf seiner Tastatur herum, bis das Verlaufsprotokoll um weitere Daten erweitert wurde.

Ich habe mich bisher nur auf die offiziellen Logins versteift. Was, wenn es aber eine Möglichkeit gibt, sich unbemerkt anzumelden.

Seine Augen wanderten über die Zahlenfolge. Ein bestimmtes Datum vor Augen, ließ er diese zu winzigen Schlitzen verengen.
 

Er hatte sich ablenken lassen. Zwei der Login-Daten hatten nicht ins Bild gepasst. Das eine Mal unmittelbar nach ihrer zweiten virtuellen Session. Und ein weiteres Mal kurz nach dem Nullspiel gegen Zigfried und Hacharui. Beide Male war die DuelDisc weit nach Mitternacht aktiv gewesen, ohne dass sein System ein Duell aufgezeichnet hätte. Wenn er davon ausging, dass Yamamori die DuelDisc willkürlich eingeschaltet und sein System mittels Gehirnströmungen Informationen aufgezeichnet hatte, könnte dies - wenn er alle Möglichkeiten, so ubskus sie erscheinen mögen, in Betracht zog - eine Erklärung auf den versteckten Raum sein. Die Erinnerungen, in die Kaiba damals Einblick erhalten hatte, überschnitten sich mit den Anmeldedaten, dass er seine Aufmerksamkeit auf die entsprechenden Zeitabschnitte gelenkt hatte. Nur hatte seine Hypothese einen entscheidenden Haken: die verdächtigen Logins und die dazugehörigen Erinnerungssprünge - sie verliefen nicht linear, nicht in der stetigen Abfolge >Login-Session-Login<, dass Seto schon länger bemerkte, in einer Sackgasse festzustecken.
 

"Mika", sagte er, ohne die Datensätze aus den Augen zu lassen, "wir erweitern unsere Suche. Gehe sämtliche Zeitabschnitte durch, in denen Yamamori nicht in das System eingeloggt war. Ich glaube, wir haben es mit einem Ghost-User zu tun."

"Bestätigt. Ich starte die Überprüfung."

Zwei weitere Fenster öffneten sich. Kaiba schloss indes die Seite mit den Plänen für den Worldcup. Er war jetzt definitiv fertig mit seiner Arbeit! Der andere Bildschirm begann zu blinken und Kaiba konzentrierte sich einzig auf das Ergebnis seiner Überprüfungen.

"Sie haben recht. Die Login-Daten von Rin Yamamoris DuelDisc wurden an mehreren Tagen nicht erfasst. Die Messwerte lassen den Schluss zu, dass sich die DuelDisc im Standby Modus selbst eingeschaltet haben muss. Der Login fand ohne den Fingerabdruckabgleich statt..."

"Du meinst, das System hat Yamamori eingeloggt? Obwohl die DuelDisc abgeschaltet war?" Kaiba stützte sich mit dem Ellenbogen am Schreibtisch ab und verhakte die Finger ineinander. Langsam bekam er ein Bild von dem Ganzen - und das Ergebnis gefiel ihm ganz und gar nicht. "Das neuentwickelte System funktioniert über Solid Vision, das mittels Gehirnströmungen umgesetzt wird…meinen Gehirnströmungen." Oder zumindest durch eine Kopie seines Gehirns. Wenn auch Yamamori in der Lage war, die holographische Technik ebenfalls für sich zu nutzen, erklärte das noch lange nicht das Ausmaß der Berechtigung, die ihr das System offensichtlich ausgehändigt hatte. Was hatte das alles nur zu bedeuten? Er sprang von seinem Bürostuhl auf. Mittels der Freisprechanlage ordnete er seine Sekretärin an, nicht gestört werden zu wollen - und das für den Rest des Tages. Kaum von dem Knopf gelassen, stürmte er auch schon davon - zu seinen geheimen Anlagen, dem einzigen Ort, an dem er Antworten erhalten konnte.
 

Er machte sich nicht einmal die Mühe, Vorkehrungen zu treffen. Sein Kopf war seinen Handlungen bereits mehrere Schritte voraus. Kaiba setzte sich den Helm auf, wies das Programm an, dass es starten sollte und befand sich nach einigen Sekunden bereits im virtuellen Raum.

Der Weg zur Hütte kam ihm bereits so vertraut vor, dass er sich nicht einmal mehr orientieren musste, als er auch schon vor dem Haus stand, dass ihm mit jedem Mal mehr wie eine Provokation erschien. Ohne Umschweife hinein marschiert, stand er mitten im Flur, der ihm heute viel heller und freundlicher erschien. Was für eine Farce!

Vorbei an dem schwarzen Magier, der ihm finstere Blicke hinterher warf, lief er direkt ins Wohnzimmer.
 

Er hatte bereits den Trick mit dem schwarzen Magiermädchen angewandt. Wie Rin gesagt hatte: nachdem der schwarze Magier besiegt war, tauchte unmittelbar ein zweites Hexermonster auf - der Magier des schwarzen Chaos; größer und stärker als sein Vorgänger hatte er mittels Zauberkarte einen Powerschub von tausend zusätzlichen Angriffspunkten. Das Ganze erschien Kaiba selbst wie eine schlechte Rückblende seiner eigenen Duelle gegen Yugi Muto. Der Kleine mit der Stachelfigur hätte wohl etwas ähnliches vorgebracht - bloß mit weitaus mehr Raffinesse und einer weiteren Zauber- oder Fallenkarte als Trumpf. Kaiba erwischte sich dabei, wie er Yugis Strategien eine gewisse Brillanz zugestand und setzte mit eisiger Miene das Duell gegen den Chaosmagier fort. Sobald dieser aus dem Weg geräumt war, ging alles ganz schnell. Er brauchte sich lediglich an Rins Anweisungen halten, als auch schon der zweite schwarze Magier vernichtet war. Danach brauchte er nur noch die Tür öffnen. Was sich dahinter befand, hatte ihn doch verblüfft. Dies schien eine Nachbildung ihrer Wohnung zu sein. Er lief durch ein Zimmer, dass ihm nur verschwommen präsentiert wurde. Trotzdem war es als Wohnzimmer und improvisierte Schlafgelegenheit zu erkennen. CD's lagen auf dem Boden, die Bettdecke hing quer über der Sofalehne. So ein buntes Chaos hatte er Rin nicht zugetraut. Irgendwie ernüchternd, wie er feststellen musste. Bis er weiter lief. Durch eine klarer dargestellte Küche, welche die finanzielle Lage der beiden Frauen perfekt darstellte. Die Möbel schienen bunt zusammengewürfelt worden zu sein, an den Ecken fanden sich bereits starke Gebrauchsspuren - sicher hatten sie die Möbel aus zweiter Hand erstanden. Kaiba konnte sich vorstellen, dass Yamamoris damaligen Aushilfsjobs zu keinem wirklichen Lebensstandard ausgereicht hatten. Soweit er informiert war, hatte Rin auch noch ihre Studentenfreundin auszuhalten. Luxus würde er also hier vergeblich suchen.

Er ging weiter und öffnete die nächste Tür. Perplex starrte er auf Rin Yamamori, die am Ende des Zimmers auf dem Bett saß. Mit angewinkelten Beinen war sie von dutzenden DuelMonsters Karten umgeben. Die junge Frau trug rote Short mit Spitzenansatz, sowie ein passendes Top - vermutlich die Sachen, die sie zum Schlafen trug. Sie schien den jungen Firmenchef nicht zu bemerken, und nach einigen Augenblicken begriff Kaiba, dass er in diesem Raum nicht für sie existierte. Und selbst wenn, sie war so in ihre Karten vertieft, dass sie ihn auch dann nicht bemerkt hätte, selbst wenn sie echt gewesen wäre.

Sein Blick huschte einmal über die Gegenstände im Zimmer. Dieser Raum war so klar abgebildet, dass er sich sogar die einzelnen Fotos in den Regalen ansehen konnte. Dann sah er wieder zu Rin. Ihre eigenen Seelenspiegel verschlangen die Karten. Er sah den weißen Drachen, sein geliebtes Monster, sowie eine Reihe weiterer seltener Exemplare - darunter eine, die er zum ersten Mal in Natura erblickte (wenn er denn dies als Realität betrachtete). Doch egal, wie oft sein Blick zu den Karten wanderte, er blieb immer wieder bei der jungen Frau hängen - ihren langen, schmalen Beinen, die sich hin und her bewegten, während sie über eine neue Strategie zu grübeln schien. Es fiel ihm schwer, nicht auf diese leicht bekleidete Frau zu starren, die einen viel zarteren Körper hatte, als ihre alltägliche Aufmachung oft zu überspielen versuchte.

Reiß' dich zusammen. Starrst du jetzt schon Hologrammen hinterher?!

Seine Augen konzentrierten sich auf die Karten. Die Art, wie sie diese auf die Decke verteilte - eine interessante Strategie, sollte sie wirklich an einer herumfeilen. Er hatte sich vorgenommen, noch einmal zurückzukehren und ihre Strategie bis zum Ende mitzuverfolgen.
 

Aber jetzt interessierte ihn nur eines.
 

Im Wohnzimmer angekommen stellte er sich breitbeinig vor den Couchtisch. Die altbekannten Symbole flackerten auf. Wenn sein eiskalter Blick noch weiter gefrieren könnte, dann wäre jetzt der richtige Augenblick gewesen. Seine Augen verschlangen die eingeritzten Zeichen, während sich seine Hand langsam auf sein Deck zubewegte. Die oberste Karte gegriffen, offenbarte sie seinen Gedanken; die Zauberkarte Wandel des Herzens klemmte zwischen Zeige- und Mittelfinger. Aus dem Augenwinkel betrachtete er die zwiegespaltene Persönlichkeit auf dem Cover, die ihm ihr Herz geradezu auf dem Silbertablett servierte. Oder gehörte dieses Herz womöglich jemand anderem? Und seit wann machte sich Kaiba Gedanken über die Hintergründe einer DuelMonsters-Karte? Er schüttelte innerlich den Kopf. Seine Hand schwebte gefährlich nahe über dem Tisch…nein, die Karte schwebte gefährlich nahe über jene Einkerbung, die keine andere Schlussfolgerung zuließ, als dass diese Karte an diese Stelle gehörte. Seine Mundwinkel begannen zu zucken, bis er sich zu einem Lächeln zwang. Einem düsteren Lächeln, das seine Seelenspiegel gefährlich aufblitzen ließ. Zuletzt hatte er so gelächelt, als er den blauäugigen weißen Drachen das erste Mal in den Händen gehalten hatte. Die Gefühle, die langsam an die Oberfläche kamen, waren dieser Erinnerung gar nicht mal so unähnlich.

"Denkst du", seine Stimme bestimmte den gesamten Raum - überheblich, dunkel und dominant, genauso wie er selbst, "ich falle noch einmal auf diesen Trick herein? Ich habe dein kleines Spielchen längst durchschaut."

"Ach ja?!" Kam es dicht hinter ihm.

Na also

Sein Lächeln wurde zu einem siegessicheren Grinsen. Er hatte gewusst, dass er sie damit aus der Reserve locken würde. Rin Yamamori - zumindest ihr optischer, böser Zwilling, wie ihn Kaiba im Geheimen getauft hatte. Ihre giftigen Blicke konnten sich sehen lassen. Mit verschränkten Armen stand sie hinter Kaiba und grinste ebenfalls schief. Ein Edelstein hätte kaum stärker funkeln können - so leuchtend begegneten ihm ihre Seelenspiegel. Sobald der junge Firmenchef seinen Kopf vollends zu ihr gedreht hatte, ließ sie sich auf die Couch fallen, schlug die Beine übereinander und starrte geduldig zu Seto Kaiba hinauf. Obwohl er zu ihr hinunter sah, hatte es nicht die entsprechende Wirkung. Sie fühlte sich noch immer überlegen und stellte dies mit ihren Blicken so sehr zur Schau, dass an seiner Schläfe die Pulsschlagader zum Vorschein kam.

"Also", ihre Stimme passte nicht zu ihrem Blick. Ein leichtes Knurren drang aus ihrer Kehle. Sie schien wohl ebenfalls kein geduldiger Mensch zu sein…oder kein geduldiger Avatar - Kaiba hatte die Grenzen für sich noch nicht abstecken können.

"Ich muss zugeben", er schloss kurz die Augen und genoss den ersten Triumph, den er seit Wochen zu verzeichnen hatte, "zunächst bin ich darauf hereingefallen. Dieses Haus, seine Rätsel, die angeblich nur mit DuelMonsters-Karten zu lösen seien..." Er öffnete die Lider, steckte alles an Überheblichkeit in ihnen, bis er sich selbst überzeugt hatte. "Alles Schwachsinn!" Er zuckte mit den Schultern. "Du wolltest es bloß so aussehen lassen, als hätte ich wirklich eine Chance, mich durch dein Programm zu spielen. Dabei bist du es, die von Anfang an die Fäden zieht. Das obere Stockwerk ist der Beweis. Du lässt mich nur sehen, was du willst. Die Zeichen über den Zimmern? Sind ebenfalls nur Täuschungen. Ich denke, man könnte die Räume als eine Art Gäste- oder Hotelzimmer sehen. Aber das Eigentliche…" Er deutete auf den Holztisch hinter sich. "Du wolltest mich zum Narren halten. Das hat schon lange keiner mehr gewagt. Zu schade, dass dein Trick aufgeflogen ist. Sobald ich Wandel des Herzens ablege, schmeißt du mich aus deinem Programm. Jede andere Karte hätte wohl dieselbe Wirkung. Das kann nur bedeuten, dass Yamamori - und nur Yamamori allein - hierauf Zugriff hat. Vermutlich hast du hier Daten versteckt, die einen Hackerangriff abwehren sollen, und dieser Raum dient als Personal Firewall, die nur vom Anwender durchbrochen werden kann…wenn du nicht selbst ein Virus bist…du stimmst doch meinen Schlussfolgerungen zu."

"Sagen wir, zum Teil", entgegnete sie breit grinsend und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Ihre Augen bohrten sich durch seinen Blick einfach hindurch. "Es stimmt. Ich habe die Schlüssel so geschrieben, dass niemand, außer der Anwender selbst, Zugriff auf dessen Daten hat."

"Du vergisst eines: Ich bin der Anwender dieses Programms. Du bloß ein lästiger kleiner Zwerg, der sich einbildet, mein Revier mit seinem Unsinn verpesten zu können, und mich dann auch noch zu einem Spiel herausfordert - in einer Welt, in der ich das Sagen habe." Ein Blick ihrer stechenden Augen und Kaiba hatte sich nicht mehr zurücknehmen können. Der emotionale Ausbruch war eine Ansammlung stressiger und aufgeladener Wochen, in denen er ein Problem nach dem nächsten hinterherjagen musste. Zu allem Überfluss war da diese Spielerin in sein Leben getreten, die mehr als nur seine Arbeit beeinflusste. Die geradezu so tief eingedrungen war, als wäre als nächstes Seto Kaiba persönlich an der Reihe.

Seine Nüstern begannen zu beben. "Diese Spielchen haben hier und jetzt ein Ende!"

"Meinst du?!" Sie erhob sich, sah angriffslustig zu ihm hinauf. "Du bist es doch, der diese Spielchen überhaupt erst angefangen hat!" Ihre Stimme war ein Fauchen. Sogar dieser Avatar schien zu emotionalen Veränderungen. "Ganz richtig: Es ist deine Welt, deine Anweisungen. Aber glaub' ja nicht, dass deine Befugnisse auch nur einen Schritt über diese Grenze hinaus gehen…ja, du hast mich richtig verstanden. Dein Zugriff beschränkt sich auf die Anweisungen, die mir weitergeleitet werden. Mehr aber auch nicht. Wann kapierst du das, Seto Kaiba?!" Hatte sie ihn gerade in seine Schranken gewiesen? Ihn? Seto Kaiba? Der Mann, der sich von niemandem etwas sagen ließ, schon gar nicht von einem eingebauten Sicherheitsprogramm, Trojaner…oder weiß der Teufel? Dass er nicht sofort gegensteuerte lag lediglich daran, dass er einfach überrumpelt worden war. Nicht nur von ihrer Tonart. Auch ihre Worte irritierten ihn kurz, dass er einfach nur dastand und zu dieser falschen Rin herunter sah.

"Das Programm sah vor, Yamamoris Erinnerung innerhalb eines Dungeons visuell darzustellen", sprach er ganz sachlich, um die Selbstkontrolle zu behalten. "Ganz sicher hatte ich nicht vor, ihre gesamte Vergangenheit in diese Hütte zu verfrachten. So funktioniert das Programm nicht. Es speichert keine Informationen, die sich im Unterbewusstsein des Probanden befinden. Schließlich habe ich ihr Gehirn nicht kopiert." Er hatte nur die Ergebnisse gespeichert, die er angeordnet hatte.

"Und doch sind wir beide hier, Kaiba."

"Ich bin hier, um dich loszuwerden", erwiderte Kaiba und lächelte schwach.

"Das sehe ich anders", konterte sie - wieder einmal. Kaiba war ihrer Widerworte so leid.

"Was du denkst, interessiert mich nicht. Sobald ich weiß, was du bist, werde ich dich eliminieren, und diesen Wald mitsamt Hütte gleich mit."

"Der Wald", wiederholte sie und drehte den Kopf in Richtung Fenster. "Du hast es scheinbar immer noch nicht begriffen." Sie sah wieder zu ihm. "Du kannst mich nicht eliminieren.'' Ich bin nur aus einem Grund hier und dieser Grund bist du, Seto Kaiba. Wir würden dieses Gespräch nicht führen müssen, wenn du nicht so gierig geworden wärst."

"Du redest dummes Zeug."

"Ach wirklich?!"

"Ich habe kein Interesse daran, Yamamoris Erinnerungen in das System zu speichern." Er ist doch erst wegen dieser Rätsel neugierig geworden. Einer Herausforderung war er noch nie aus dem Weg gegangen und wenn der Preis ein paar Einblicke in das Leben seiner Duellantin war, würde er diesen Einsatz akzeptieren. In Spielen ging es doch einmal darum, einen hohen Einsatz zu zahlen, und welcher Einsatz war höher als das eigene Leben?
 

Yamamoris Avatar lachte auf; boshaft und hässlich, ganz und gar nicht wie Rin.

"Dein System sieht das aber ganz anders. Und ich meine mich zu erinnern, dass es direkt mit deinem Gehirn verbunden ist…du kannst dich nicht rausreden, Kaiba. Niemand anderes als du, ist für diese Anomalie verantwortlich. Zumindest ein Teil von dir. Vielleicht solltest du nicht alle nonkonformen Wesenszüge an dir verleugnen, dann würde dein Programm auch nicht verrückt spielen und unerlaubte Datensätze klauen wollen."

Daraufhin wurden Kaibas Augen zu gefährlichen Schlitzen. "Was willst du mir sagen."

"Dass du mal schauen solltest, was am Ende dieses Waldes auf dich wartet. Du sprichst immer davon, dass dies hier ihr Werk sei. Aber das", sie zeigte auf die kahlen Wände um sich herum, "das ist nur das Resultat deiner Besessenheit." Mit diesen Worten ließ sie Kaiba wortlos im Raum stehen. Sein Kopf begann auf einmal heftig zu hämmern. Alles in ihm sagte, dass sie ihn austrickste, ihn manipulierte. Wenn sie tatsächlich - und langsam kam ihm dies immer logischer vor - ein Virenprogramm war, gehörte es zu ihrer Aufgabe, das Sicherheitsprogramm zu täuschen; Kaibas eigene Firewall, die eigentlich nichts und niemanden durch ließ. Und genau dies schürte Zweifel. Wie sollte sich ein derart parasitärer Virus in sein System geschleust haben. Einem System, das noch gar nicht der Welt präsentiert wurde. Selbst Zigfrieds Virus hatte sich nicht durch die neue Technologie durchbeißen können. Sollte an ihren Worten etwas dran sein, egal, wie unlogisch es sich anhören mochte, musste er wissen, was hinter dem Wald verborgen lag. Also lief er aus der Hütte, stellte eine Verbindung zu seiner KI her und ließ den Raum erneut durch scannen. Das Programm lieferte ihm dieselben Antworten wie die Wochen zuvor. Ein tiefer Atemzug drang aus seiner Kehle. Er würde wider seiner Natur handeln müssen und zu Fuß weiter stapfen. Aus der Lichtung hinaus, weiter den Wald durchqueren.

Wenn sie glaubt, mich hinter's Licht führen zu können-

So dicht die Bäume auch zusammen standen, er würde sich durch den Wald kämpfen. Kaiba würde immer einen Weg hinaus finden.

Warme Sonnenstrahlen drängten sich zwischen die Laubbäume. Ein herrliches Wetter für eine kleine Wanderung. Dabei war ihm überhaupt nicht nach einem Waldspaziergang.

Was mache ich hier eigentlich!?

Ständig änderte sich die Vegetation. Er hörte das Meer vom Weiten rauschen. Hummeln flogen über seine Köpfe. Es gab Vogelgezwitscher und allerhand andere Stimmen, die der junge Firmenchef nicht alle zuordnen konnte. Seine Augen nahmen dankbar den aufkommenden Pfad auf. Er folgte ihm, der Wald wurde wieder lichter, eine Höhle tauchte auf, dann wieder Wald und schließlich…

"Was zum-"

Kaiba blieb stehen. Alles in ihm zog sich zusammen. Kurz hielt er den Atem an. Hinter dem Wald tauchte eine riesige Freifläche auf. Dahinter: eine große, breite Treppe. Hunderte Stufen führten sie hinauf in einen gewaltigen Bau. Einem Schloss. Nein, nicht irgendein Schloss. Es war das Schloss. Das Schloss, in dem er etwas hatte wiederfinden müssen. Etwas, das er verloren hatte. Starr blickte er hinauf zur Turmspitze. Kurz vergaß er zu atmen.

"Das darf doch nicht wahr sein-"
 

~

Wild flatterte der Mantel hinter ihm her. Aus dem Fahrstuhl getürmt, marschierte er geradewegs auf die milchige Glastür zu, riss sie auf und rauschte an seiner Sekretärin vorbei, welche er mit den Worten >nehmen Sie sich den Rest des Tages frei< verwirrt hinter dem Schreibtisch zurückließ. Mitsuki brabbelte ein unverständliches Dankeschön, während sie zur Wanduhr und wieder zu ihrem Chef zurück sah, welcher im Begriff war, über den Fahrstuhl zu verschwinden. Kurz überlegte die Blondine, ob sie ihren Chef daran erinnern sollte, dass es gerade einmal Mittagszeit war und ein Berg Arbeiten auf sie wartete. Der eisige Blick des Chefs der Kaiba Corporation, als er langsam hinter den Fahrstuhltüren verschwand, ließ sie flink ihre Sachen zusammenpacken. Diese einmalige Chance würde wohl nie wieder kommen.

Bereits eine gefühlte Ewigkeit klingelte das Telefon, als er endlich doch abnahm. Rin atmete erleichtert auf. Die kratzige Stimme auf der anderen Leitung bestätigte jedoch ihre Befürchtungen: Yamato war krank. Vielleicht nicht ernsthaft krank, aber angeschlagen genug, dass er Zuhause ans Bett gefesselt war und den halben Tag nicht ans Telefon gehen konnte.
 

Alles fing damit an, dass Yamato eine Nachricht geschrieben hatte, in welcher er ihr zu erklären versuchte, beim morgigen Duell nicht dabei sein zu können. Ausgerechnet das Duell gegen Yuta. Rin hätte etwas moralische Unterstützung gebrauchen können - auch wenn sie das niemandem sagen wollte. Schließlich versprach das nächste Spiel eines der Härtesten in diesem Turnier zu werden. Und seit dem letzten irren Viererduell nahm sie die unterschwellige Drohung des grünhaarigen Duellanten sehr ernst.
 

Nachdem Yamato von einer fiesen Grippe schrieb, die er sich wohl von einem seiner Kollegen zugezogen hatte, waren bei Rin sofort die Alarmglocken losgegangen. Sie konnte einfach nicht anders. Seit ihre Mutter damals wegen einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus hatte gehen müssen, weil Yukiko wieder einmal eine ihrer grippalen Infekte heruntergespielt hatte, war Rin sehr sensibel, wenn es um das Thema Krankheiten ging. Zu gut waren ihr die Wochen in Erinnerungen geblieben, in denen ihre Mutter - die feste Säule der Familie Yamamori - wie ein Häufchen Elend im Krankenzimmer gelegen hatte, bleich wie ein Stück Kreide und zu nichts fähig gewesen war.

Es verstand sich von selbst, dass sie dem Schwarzhaarigen ihre Hilfe anbot.

"Das ist wirklich lieb von dir", hustete Yamato ins Telefon, "aber ich will nicht, dass du dich ansteckst."

"Ach was", winkte die junge Frau sofort ab und beugte sich zu ihrer Lieblingskassiererin herüber, welche ihr gerade ein Sandwich belegte, dabei ganz nebenbei dem Gespräch lauschte und die Augenbrauen anhob. "Mach' dir um mich keine Sorgen. Ich bin robust." Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. So leicht würde sie sich von dem Schwarzhaarigen nicht abwimmeln lassen. "Aber ich werd' dich ganz sicher nicht im Stich lassen…oder in deinem Fall...verhungern."

"Rin, das ist wirklich nicht nötig-"

"Keine Widerworte", sie hörte selbst, wie die Mutterrolle in ihr durchkam. Wenn es hart auf hart kam, konnte Rin in die Fußstapfen von Yukiko Yamamori treten. Lumina hatte dies nur zu genüge am eigenen Leib erfahren müssen. "Ich mach' mich sofort auf den Weg. Den Ersatzschlüssel habe ich ja noch von dir. Ist doch eine super Gelegenheit, ihn dir wiederzugeben."

"Mach' dir bitte keine Umstände-"

Aber Rin ignorierte ihn. "Ich besorg' noch ein paar Zutaten und komm' dann zu dir. Bis gleich."

"Rin-"

Die junge Frau hatte aufgelegt. Yamato brauchte sich nun wirklich nicht als Helden aufzuspielen. Seine Stimme klang mehr als kläglich. Wenn sie sich dazu noch sein Gesicht vorstellte…wie könnte sie ihm da nicht ihre Hilfe anbieten? Nicht nur, weil er sie die letzten Wochen so selbstlos unterstützt hatte; er war ihr Freund - sie ertrug es nicht, jemanden leiden zu lassen, der ihr wichtig war.
 

"Alles gut bei Yamato?", fragte Makoto, die Rin das fertige Sandwich vor die Nase schob. Mit einem Kopfschütteln nahm die junge Frau ihr Mittagessen entgegen, das eigentlich noch in die Kategorie Frühstück eingeordnet werden konnte. Seit sechs Uhr war sie bereits in der Kaiba Corporation, hatte trainiert, bis ihr der Kopf zu platzen gedroht hatte, und musste dann schließlich resignieren, nachdem ihr Magen sämtliche Funktionen auf Standby gestellt hatte.

Das Sandwich war ihre erste Mahlzeit des Tages. Wenn sie so früh das Haus verließ, war Lumina noch in eine Art Schlafkoma, dass Rin es nicht wagte, mit Geschirr zu klappern oder mit einer Packung Müsli herum zu rascheln. Daher blieb die Kaffeemaschine das einzige, mit dem sich Rin am frühen Morgen auseinandersetzen konnte. Aber Kaffee stillte nun einmal nicht den Magen - was sie nicht zum ersten Mal schmerzlich zu spüren bekam.
 

"Ihn scheint's ziemlich erwischt zu haben", meinte Rin und Besorgnis klang in ihrer Stimme mit. Irgendwie wollte ihr das Bild eines Yamatos, der krank das Bett hütete, überhaupt nicht in den Kopf gehen. Er wirkte nicht so, als ließe er sich von ein bisschen Schnupfen in die Knie zwingen. Noch vor ein paar Wochen war er doch so stolz auf sein Immunsystem gewesen - und jetzt das. Vielleicht würde sie noch einen kurzen Halt in der Apotheke machen. Ein paar Erkältungsmittel besorgen - ein paar Nutschbastillen könnten auch nicht schaden. Wie sie Yamato kannte, war er auf diese Situation nicht vorbereitet gewesen.

"Hoffentlich ist es nur eine Erkältung", murmelte Rin und kaute hastig ihr Sandwich zu Ende. Ihre Mutter hatte doch erst neulich von der Grippewelle erzählt, die in Domino herum gehen sollte.

Welchen Tee nimmt nochmal Tante Nanami bei Grippe….?

Die Tür wurde aufgerissen, kalter Wind zog durch das Café. Doch das merkte die junge Frau nicht, die im Geiste bereits die Einkaufsliste durchging.

"Yamato liegt schon die ganze Woche flach. Da will ich nicht wissen, wie es um seine Versorgung steht. Der Ärmste kann sich nicht einmal eine Tütensuppe warmmachen."

"So schlecht geht es ihm?", fragte Makoto etwas kleinlaut, während sie nervös an ihrer Kaffeemaschine herum hantierte. Rin spürte einen großen Schatten neben sich, dazu einen weißen Mantel, der einmal flüchtig ihre Beine streifte. Aus dem Augenwinkel konnte sie Seto Kaibas Züge ausmachen. Kurz sahen seine eiskalten Seelenspiegel ungläubig zu der jungen Frau, als könnte er nicht fassen, dass sie hier leibhaftig neben ihm stand. Rin hingegen wunderte sich nicht weiter über Kaibas Präsenz, dafür war sie mit den Gedanken viel zu sehr bei Yamato. Sie redete einfach weiter: "Nein, aber soweit ich weiß, ist es besser, wenn er die Küche nur von außen bewundert. Der Kerl hat es doch tatsächlich mal geschafft, einen Herd abzufackeln." Makoto unterdrückte sich zu lachen. Neben ihr hörte sie ein Schnauben, dem sie keine weitere Beachtung schenkte, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass der junge Firmenchef zuhörte - oder gar das Gespräch kommentieren würde.

"Deswegen", sie legte das Geld passend auf den Tisch und zog sich den Trenchcoat über, "deswegen werde ich mich auch sofort losmachen. Yamato kann mal schön vergessen, dass ich mich da einfach raushalten werde. Ich werde ihm meine berühmte >Alles-Wird Gut-Suppe< vorsetzen und dann wird es ihm ganz schnell besser gehen."

"Bestell' schöne Grüße", entgegnete Makoto und ließ eine frische Tasse Kaffee über den Tresen wandern.

"Mach ich. Bis bald", sie nickte ihrer Freundin zu, strich beim Vorbeigehen Kaibas Oberarm und verließ das Café.

Moment

Unweit der Tür blieb sie stehen.

Das hast du jetzt nicht ernsthaft getan…und was stehst du hier noch so blöd rum? Er kann dich schließlich noch sehen

Mechanisch eilte sie davon, die Straße hinunter, bis das Geschäftsviertel allmählich verblasste. Das hatte sie ja mal wieder toll hingekriegt! Und überhaupt, was hatte Seto Kaiba um diese Zeit im Café zu suchen? Das brachte ihren gesamten Tagesrhythmus aus dem Konzept. Immerhin waren seine Pausenzeiten so verlässlich wie das Amen in der Kirche.

Sie marschierte in den ersten Lebensmittelladen und wuselte sich durch die einzelnen Gänge.

"Guck mal, ist das nicht-"

Rin klemmte sich eine Packung Nudeln unter den Arm, ungeachtet der Blicke, die sie von allen Seiten verfolgten.

"Ja, Mann, voll krass!"

Eilig steuerte sie die Kasse an - hinter ihr, im Gänsemarsch, fünf Mittelschüler.

"Das ist doch die Gelegenheit für ein Autogramm!"

"Nein, Mann: weißt du noch, wie Ryuzaki einmal ausgetickt ist…"

"Davon hab ich auch schon gehört…"

Den Blick nach vorne gerichtet, marschierte Rin aus dem Laden - unbemerkt der ungläubigen Blicke und aufgerissenen Münder.
 

Noch immer kämpfte sie mit den Gedanken in ihrem Kopf, dass sie alles um sich herum ausblendete.

Es war ja nicht so, als hatte es nicht schon genug seltsame Augenblicke mit ihrem Boss gegeben. Trotzdem hätte sie auf Weitere verzichten können.

Dass das ausgerechnet immer ihr passieren musste - und dann auch noch heute, wo sie ihn nachher wiedersehen sollte. Verdammter Schlafmangel! Ließ sie doch nicht ernsthaft wie eine verpeilte Weichbirne durch die Weltgeschichte laufen! Zumal sie mit hochrotem Kopf durch die Gegend spazierte, dass selbst Rin die Hitze mit den Fingerspitzen ertasten konnte.

Erst jetzt bemerkte sie, dass einige die junge Frau beobachteten.

Sie musste schleunigst auf andere Gedanken kommen.

Konzentrier' dich auf Yamato

Sie besorgte die letzten Zutaten, kaufte noch ein Carepaket aus der Apotheke und nahm den Bus, der schließlich das Wohnviertel des Schwarzhaarigen ansteuerte. Im Inneren des Busses wurde ihr das Ausmaß ihres Alleingangs erst so richtig bewusst. Aus allen Winkeln wurde sie angestarrt. Einige begannen aufgeregt mit ihrem Sitznachbarn zu tuscheln, andere zückten ihre Smartphones, dass Rin lediglich das Gesicht zur Tür drehen konnte. Als einige auch noch um ein Autogramm baten und die Menschenmenge einen immer engeren Kreis um sie zog, huschte die junge Frau bei nächster Gelegenheit aus dem Bus, ließ dabei knapp fünfzig Passagiere verwirrt zurück und rannte weiter die Straße hinunter. Noch während der Bus seine Türen schloss, drückte sich die Meute an die Fensterscheibe, winkte und knipste weitere Bilder, bis Rin endgültig abgetaucht war. Weiter ging es über eine Kreuzung. Sie wusste, dank Yamatos damaliger Beschreibungen, wo sie langgehen konnte, um möglichst ungesehen zu seinem Apartment zu gelangen. Die Straßen waren um diese Zeit gut besucht. Hier herrschte ein so reger Betrieb wie im Zentrum oder der Hafen-City. Da waren die Seitengassen jetzt genau das Richtige für die junge Frau. Einmal den Kragen ihres Trenchcoats hochgeklappt, versuchte sie unbemerkt das Wohnhaus zu erreichen.

Dass ich das einmal sagen würde…Nie wieder ohne Chauffeur!

Als sie vor seiner Haustür stand, fiel ihr Blick auf die dunkle Wolkendecke über dem Wolkenkratzer. Diese versprach hoffentlich kein Gewitter. Auch wenn sie gut in der Zeit lag, hätte sie keine Lust, klitschnass zur Kaiba Corporation zurück zutrotten - mit der einzigen Option, dort ein paar Wechselsachen aus ihrem persönlichen Spind zu bekommen, die lediglich aus einem Unisex-Shirt mit der Aufschrift >Kaiba Corp.< und dem rückenfreien Badeanzug bestanden; und ein Zuspätkommen war zu keinem Zeitpunkt eine Option. Ihr bliebe demnach nichts anderes übrig, als zu beten, dass der Wettergott sie verschonte.
 

Schließlich zückte sie aus ihrer Jackentasche einen dicken Schlüsselbund. Neben ihren eigenen Schüsseln hatte sie den zu Yamatos Wohnung dazu gehängt - in der Hoffnung, dem Schwarzhaarigen bei nächster Gelegenheit den Ersatzschlüssel auszuhändigen. Bisher hatten beide so viel um die Ohren gehabt, dass es seit Rins Auszug vor drei Wochen zu keinem weiteren Treffen gekommen war. Stattdessen hatten sie und Yamato viel telefoniert. Hauptsächlich zwischen den jeweiligen Pausen, wenn Yamato eine Auszeit von seinen stressigen Meetings und Besprechungen brauchte oder Rin der Kopf von all den Wichtigtuern und Quaksalbern rauchte. Yamatos lockere Art brachte sie sofort runter - selbst wenn die Kommunikation manchmal nur für ein paar kurze Textnachrichten reichte, genügte das, ihre Laune so weit anzuheben, um den Rest des Tages zu überstehen. Neben Lumina war sie noch nie einem Menschen begegnet, mit dem sie über so viele Belanglosigkeiten reden und dabei den Alltagsstress um sich herum vergessen konnte. Ein wenig musste sie ihrer besten Freundin recht geben; als ihr fester Freund wäre Yamato perfekt.

Das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut…
 

Den Schlüssel ins Schloss gesteckt, machte sie sich mit einem ruhigen, aber bestimmten >Hallo< bemerkbar. Kaum die Wohnung betreten, fiel ihr der große Karton neben den ordentlich drapierten Schuhen auf. So präsent wie er da stand, nahm er den gesamten Flur ein. Geradeso hatten seine Schuhe genügend Platz, dass sie diese penible Symmetrie beibehalten konnten.

"Rin?", krächzte es am anderen Ende des Flures.

"Ja", antwortete die junge Frau und zog sich die Schuhe aus, bevor sie mit dem Einkaufsbeutel in Richtung Schlafzimmer lief. Kurz bevor sie das Zimmer erreicht hatte, steckte der Schwarzhaarige seinen Kopf aus der Tür. Yamato sah furchtbar aus. Bleiche Haut, die einer Kalkwand Konkurrenz machen konnte, versuchte sich unter dem Mundschutz zu verbergen. Die sonst so strahlenden Augen blickten glanzlos zu ihr herüber. Rin sah die roten Stellen, als hätte sich Yamato versehentlich Shampoo ins Auge gerieben. Seine schwarzen Haare hatte er unter einer Mütze versteckt, dass er geradezu ausgehungert wirkte.

"Ist 'n blöder Tick von mir, wenn ich krank bin", entgegnete er und zeigte auf die Beanie, als Rins Blick an der besagten Mütze hängen blieb. "Keine Ohrenentzündung oder so", er fasste sich an den Kopf. In diesem Zustand hatte er kaum noch etwas von dem smarten, charmanten Mann - beinahe wie ein anderer Mensch.

Was denkst du denn da?! Yamato ist krank und du interessierst dich nur für sein Äußeres?!

Es war ja schließlich nicht so, als wäre Yamato nicht mehr attraktiv - nur eben anders…

Schnell schüttelte Rin ihre Gedanken ab. Sie stellte sich vor Yamato und fühlte seine Stirn. Nur widerwillig ließ es der Schwarzhaarige über sich ergehen. Rins strenger Blick schien auch ihn ein wenig einzuschüchtern - zumindest in seinem derzeitigen Zustand.

"Keine Sorge. Mir geht's schon besser", meinte er, als ihre kalte Hand von ihm ließ.

"Du bist etwas warm…aber Fieber scheinst du nicht mehr zu haben."

"Sag' ich doch", sie sah ihn unter dem Mundschutz lächeln, "mir geht's schon besser."

"So einfach wirst du mich nicht los, Yamato Shiba", Rin wedelte mit dem Carepaket vor Yamatos Gesicht. "Und jetzt zurück ins Bett", damit gab sie ihm einen sanften Schubs, der ihn zurück ins Schlafzimmer befördern sollte, überreichte ihm ein paar Halsbonbons und befahl ihm, alles Weitere Rin zu überlassen. Mit einem unverständlichen Laut gab der Schwarzhaarige nach, trottete zurück ins Bett, nachdem Rin mehr als deutlich auf die Matratze gezeigt hatte, und zog einen der Bonbons aus der Verpackung. Es raschelte und Rin nickte ihm zufrieden zu. Anschließend eilte sie ins Wohnzimmer, riss sämtliche Fenster auf und atmete die frische Herbstluft ein. Yamato musste seit Tagen nicht mehr gelüftet haben, geradezu wohlwollend nahm die kühle Brise sämtlichen Mief aus der Wohnung. Dann machte sie sich daran, Wasser für den Tee aufzukochen. Zwischendrin hörte sie, wie Yamato ins Kissen nieste oder ein plötzlicher Hustenanfall selbst den Wasserkocher übertönte. Vorsichtig stellte sie den Tee neben dem Beistelltisch ab, schüttelte sein Bett zurecht (was nach heftigen Protesten mit peinlich berührter Miene hingenommen wurde) und huschte breit grinsend durch die Tür. Zurück in der Küche stemmte Rin die Hände in die Hüften. Ihr Entschluss stand fest: für Yamato würde sie die beste Hühnersuppe überhaupt kochen. In ihrem Element begann die junge Frau richtig aufzublühen. Lange war ihre Fürsorge nicht mehr von Nöten gewesen, dass sie sich sogar ein wenig freute, endlich wieder nützlich sein zu können. Das Vibrieren ihres Handys ließ sie kurzzeitig innehalten. Sie nahm das Smartphone aus ihrer Hosentasche. Auf dem Bildschirm hatte sich ein neues Chatfenster mit einer fremden Nummer geöffnet. Ihr erster Gedanke war Crawford, der Rins Absage nicht akzeptieren wollte, dass sich ihr bei der Vorstellung sofort der Magen verzog (oder lag es doch am Hunger?). Mit gekräuselten Lippen entriegelte sie ihr Smartphone und las den kurzen Text.
 

Siebzehn Uhr - in meinem Büro
 

Die junge Frau blinzelte.

Hat mir Seto Kaiba gerade eine SMS geschrieben?! Woher-

Ihr Unglaube wich schnell der Erkenntnis, dass der junge Firmenchef natürlich an ihre Handynummer herankommen konnte. Einmal durch ihre Akte geblättert, würde sich ihm wohl ihr gesamtes Leben offenbaren. Dass Kaiba gerade seine eigene Nummer dadurch preisgegeben hatte, verwirrte sie dennoch. Schließlich kommunizierten die beiden ausschließlich über Mails, noch dazu mit ihren Geschäftsadressen - noch unpersönlicher war überhaupt nicht möglich.
 

Mit aufgerissenen Augen starrte sie zwischen der Textnachricht und der Uhrzeit hin und her. Verdammt! Sie wollten sich doch erst neunzehn Uhr treffen. Gleich zwei Stunden, die er ihr genommen hatte.

Klasse Timing, Kaiba

Das Smartphone auf den Küchentisch geknallt, begann Rin, die nötigen Kochutensilien zusammen zu suchen. Ihr blieb knapp eine Stunde. Ein Glück hatte Rin Übung in Sachen schneller Essenszubereitung. Das Gemüse klein geschnibbelt, die Hühnerkeulen mariniert und angebraten, ging der Rest beinahe wie von selbst. Sie fuhr sich über die Stirn und wischte sich einen imaginären Schweißtropfen von der Schläfe. Die vielen Kochstunden mit ihrer Mutter, die sie manchmal tatsächlich zum Schwitzen gebracht hatten, zahlten sich aus. Ein deftiger Duft benebelte die Küche, zog sich bis ins Schlafzimmer, aus dem sich Yamato heraus gewagt hatte. Neugierig sah er zu dem Topf herüber, als ihn Rin bemerkte und bereits wieder zurück ins Bett scheuchte.

"Du bist ja schlimmer als meine Mutter", witzelte der Schwarzhaarige.

"Damit musst du leben", entgegnete sie nur und schob ihn durch den Flur.

"Aber echt, Rin. Deine Fürsorge ist wirklich nicht nötig. Ich fühle mich schon ganz furchtbar, weil ich dich gerade nur aufhalte." Er setzte sich aufs Bett und sah zu ihr hinauf. Der treue Blick kehrte in seinen Augen zurück. Rin schüttelte den Kopf, aber Yamato blieb beharrlich. "Du musst wirklich nicht bei mir bleiben", er unterdrückte sich das Husten und fuhr fort, "ich weiß, dass du noch arbeiten musst. Ich hab doch gesehen, wie panisch du aufs Handy gestarrt hast. Lass' dich nicht von mir aufhalten."

"So ein Unsinn", erwiderte sie ernst, "du hältst mich nicht auf. Ich bin freiwillig hier, schon vergessen?" Sie sah sanft zu ihm hinunter, "und nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen habe oder so. Ich will nur, dass du ganz schnell wieder gesund wirst." Dabei lächelte sie. "Außerdem habe ich noch eine halbe Stunde - die lasse ich mir auch nicht nehmen."

Seine Augen blieben weiterhin auf Rins Seelenspiegeln, während er sich ans Kopfende lehnte und die Beine ausstreckte.

"So ist das eben bei Freunden", fügte sie mit einem Nicken hinzu, bevor sie mit einem Schwung aus dem Zimmer hüpfte und sich weiter um die Suppe kümmerte. Eine ordentliche Portion Nudeln dazu gekocht, kramte sie aus dem mitgebrachten Beutel drei verschließbare Becher hervor und befüllte diese mit der Brühe. Zum Schluss gab sie die Nudeln hinzu, verschloss die beiden ersten und lief mit dem dritten Becher zurück ins Schlafzimmer. Sie setzte sich an den Bettrand und beugte sich zu dem Schwarzhaarigen herüber. Dieser wedelte mit aufgerissenen Augen vor dessen Gesicht.

"Wehe, du fütterst mich", richtete er seine freundliche Drohung an Rin, die lediglich mit den Schultern zuckte.

"Wenn du dich fit fühlst-"

"Ja! Ja…definitiv ja!" Er nickte heftig und schnappte sich den Becher voll Nudelsuppe.

"Du bist wirklich…"

"Nervig?", ergänzte die junge Frau und lächelte breit.

"Nein", entgegnete Yamato. Er zog sich die Maske herunter und begann die Nudeln mit den Stäbchen aufzufangen. "Ich wollte sagen: >süß<." Da war es wieder. Dieses verschmitzte Lächeln, das Rin ebenfalls zum Schmunzeln brachte. Langsam kehrte der alte Yamato zurück. Zumindest war sie guter Dinge, dass es ihm bald besser ginge. Vielleicht erwies sich seine Grippe als klassischer Männerschnupfen. Gerüchteweise hatte sie von diesem Phänomen gehört. Dann wäre er in wenigen Tagen wieder fit.
 

Während der Schwarzhaarige seine Nudeln verputzte, versuchte Rin ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie erzählte von peinlichen Meetings, einem nervigen Yoshihiko Taba, der wie ein bockiges Kind in der Firma unverwandelte und dem letzten Gewitter, das Rins Haare in eine wütende Tolle verwandelt hatte. Letzteres war von Luminas Smartphone verewigt worden, dass Rin ihr eigenes Handy zückte und die Beweisfotos Yamato präsentierte. Beinahe wäre dem Schwarzhaarigen die Brühe aus der Nase gekommen. Er konnte sich kaum mehr vor Lachen halten, während er sich tausendmal dafür entschuldigte.

Als er auch den letzten Tropfen Brühe heruntergeschluckt und ein strahlendes Gesicht aufgesetzt hatte (so strahlend wie eine Kalkwand eben aussehen konnte), lächelte Rin ihn ebenfalls an.

"Ich kenne wirklich niemanden, der so einen abgedrehten Job hat wie du und dann auch noch so kocht, als würdest er nichts anderes machen."

"Schleimer", knuffte ihn Rin in die Seite, dabei huschte ein roter Schimmer über ihre Wangen. Dann änderte sich ihr Blick. Sie sah die Uhr auf dem Beistelltisch - wenn sie sich jetzt nicht losmachte, würde sie es nicht rechtzeitig in die Firma schaffen. Ein leichter Seufzer entfleuchte ihr. "Und ich kann dich wirklich alleine lassen?", fragte sie und fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, nicht mehr für ihn getan zu haben.

"Ich krieg' das schon hin. Ich bin doch schon ein großer Junge", zwinkerte er ihr zu, dass sie lächelnd mit dem Kopf schüttelte. Sie wollte sich aufrichten, als eine Hand sie am Handgelenk packte. Yamato zog sie an sich, seine beiden Arme schlangen sich um die junge Frau, die für einen Moment nicht wusste, was sie tun sollte. Er war nahe an ihrem Gesicht, seine Nase streifte ihr Ohr, dass sich eine ihrer Strähnen an seiner Wange verfing.

"Pass' auf dich auf", murmelte er, dass Rin überrascht die Augen aufriss.

"Ich meine das Duell", fügte er hinzu, ohne seinen Griff zu lockern. Daraufhin legte auch Rin eine Hand behutsam auf sein Schulterblatt. Die Nähe fühlte sich einerseits gut an - aber nicht richtig. Gerne hätte sie sich an ihn geschmiegt. Seine Sorge um sie tat gut und sie wollte auch genauso für Yamato da sein. Aber seine Gefühle hingen bedrohlich über ihren Köpfen. Wenn sie ihm damit falsche Signale sendete, wenn er sich Hoffnungen machte - wobei Rin das Thema bereits für sich abgeschlossenen hatte.

"Mach' dir keine Gedanken. Ich pack' das schon", sagte sie und spürte, wie ihr Körper vor Scham immer heißer wurde.

"Du weißt, dass ich das nicht meine", entgegnete er mit ruhiger aber fester Stimme, "ich weiß, dass du stark bist. Aber", er machte eine kurze Pause, Yamato schien selbst mit seinen Worten zu ringen, "ich will nicht, dass dir jemand wehtut."

Rin zuckte zusammen.

"Das wird nicht noch einmal passieren", hauchte sie, "ich verspreche, dass ich mir von niemandem das Hirn wegblasen lasse…oder was für Ideen diese Spinner sonst so haben."

"Sei trotzdem vorsichtig, okay?"

"Ich werde auf mich aufpassen."

Damit ließ er von Rin, die innerlich einen tiefen Atemzug tat. Sie verabschiedete sich von Yamato, erteilte ihm noch ein paar letzte Instruktionen, die er in den nächsten Tagen einhalten sollte und ging anschließend zurück in die Firma. Den gesamten Weg über dachte sie über seine Worte nach. Bisher hatte sie die Ereignisse um das Viererduell weitestgehend von sich schieben können. Ihrem Kopf ging es prima, ihr Gehirn hatte auch keine Schäden davon getragen - also warum weiter darüber nachdenken? Aber Yamato hatte recht. Sie musste auf der Hut bleiben. Wusste sie doch bereits, zu was ihr morgiger Gegner fähig war, mit welchen Methoden er vorging und - was viel entscheidender war - mit welcher Technik er selbst ausgestattet wurde. Eine Technik, die Kaibas modernem System sehr nahe kam, wenn sie sich an ihre letzte Auseinandersetzung mit Paradius' Wunderknaben zurückerinnerte.
 

In der Kaiba Corporation angekommen haderte sie mit ihren Gefühlen. Da waren Wut, Angst und noch etwas anderes. Etwas, das sie nicht so richtig benennen konnte, aber im völligen Kontrast zu den ersten beiden stand. Sollte sie sich womöglich über diesen Kampf freuen?

"Ich dachte schon, du kommst zu spät", waren Kaibas ersten Worte, nachdem sie sein Büro betreten hatte. Es war sechzehn Uhr achtundfünfzig - sie hatte es also rechtzeitig geschafft; ohne Unwetter, ohne Marathon, der ihre Lungenflügel ausgeweitet hatte. Einmal geklopft hatte sie - ohne eine Antwort abzuwarten - einfach die Tür geöffnet. Zu ihrem Erstaunen war seine Sekretärin bereits aus dem Haus, obwohl sich beide vor langer Zeit darüber ausgelassen hatten, dass frühes Nachhausekommen geradezu an ein Wunder grenzen würde. Nicht, dass die Grippewelle auch Mitsuki erwischt hatte!
 

Der Lärm gegenüber seines Schreibtisches lenkte sie kurzzeitig ab, bevor sie sich ganz dem jungen Firmenchef widmete, der sie und ihre Becher kritisch beäugte. "Ist das deine berüchtigte Suppe?", nickte er in ihre Richtung, noch immer mit Ärger im Gesicht, als hätte Rin sonst etwas verbrochen. Warum war er denn jetzt sauer auf sie?

Hat dem Kerl keiner die Bedeutung von Höflichkeit gelernt?!

Langsam schritt sie aus dem Türrahmen in Richtung des jungen Firmenchefs. Scheinbar hatte er ihr Gespräch doch belauscht - irgendwie irritierte sie Kaiba, der seit Neuestem so etwas wie Interesse an ihrem Leben bekundete (wenn dieses Wort nicht bereits schon den Rahmen an Möglichkeiten sprengte).

"Ja", entgegnete sie und schaute selbst auf ihre Becher hinunter. "Ich kann halt nicht anders, ich wurde so erzogen", und mit einem leichten Murmeln fügte sie hinzu, "du musst sie ja nicht essen."

Nach einem tiefen Atemzug streckte er seine rechte Hand aus. "Gib' schon her", kam es grummelnd von dem Chef der Kaiba Corporation und er nahm einen der Becher entgegen. Zu Rins Überraschung öffnete er den Becher, dass Rin ihm wortlos die mitgebrachten Stäbchen auf den Tisch legte.

"Was ist das eigentlich für eine Reportage?" Als ihr wieder der Lärm entgegenkam, musste sie sich erneut zu dessen Quelle umdrehen. Da war doch nicht ernsthaft ein Flatscreen in der Wand! Der war ihr ja noch nie aufgefallen. Andererseits wirkte er so gut mit der Tapete verschmolzen, dass er wohl nicht weiter auffiel - wenn er nicht gerade eingeschaltet war; und wie oft würde Kaiba schon den Fernseher laufen lassen? Die Bilder verfolgend, begriff sie, dass es sich um eine Art Versammlung handeln musste. Die Mitglieder waren allesamt in schwarze Ledermäntel gehüllt (unheimlich, skurrile Personen wie sie fand und ihr auf unangenehme Weise bekannt vorkamen), sie sprachen laut, der Tonfall war aggressiv, dass sie überhaupt nichts verstehen konnte.

"Rin, glaubst du an Gott?", kam es aus dem Nichts von dem jungen Firmenchef.

Was ist das denn für eine Frage?!

Dieses Treffen wurde zunehmend eigenartiger.

"Nicht wirklich", entgegnete sie und beobachtete, wie Kaiba tatsächlich die Stäbchen auseinander riss und den Deckel des Bechers beiseite legte. Das Bild war einfach so ungewohnt für die junge Frau, dass sie nicht wusste, wie sie sich zu verhalten hatte. Ein tiefer Atemzug und der junge Firmenchef antwortete: "Sonst hättest du mir sagen können, wie man auf so einen hirnverbrannten Mist kommen kann." Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und begann die Nudeln aus der Suppe zu fischen. So wie Kaiba in seinem Sessel lehnte, schien es ihr so surreal, dass sie ihn für einen Moment bloß anstarren konnte. Ihr Magen meldete sich nun ebenfalls zu Wort und bevor es sich Kaiba doch noch anders überlegte, setzte sie sich auf die Lehne des schwarz-braunen Ledersofas, direkt zwischen dem jungen Firmenchef und dem Fernseher, und packte nun selbst ihr Essen aus.

"Ich wusste nicht, dass du dich für Okkultes interessierst", sagte sie und wechselte immer wieder zwischen Kaiba und dem Programm. Die Meute hatte nun aufgehört zu schreien, stattdessen marschierten sie über den Marktplatz von Kyoto, mit Schildern in der Hand, auf denen ein zu schlecht gezeichnetes Seeungeheuer abgebildet war.

Soll das Leviathan sein-

"Das ist Dartz' Sekte", entgegnete er trocken und riss Rin aus den immer verrückter werdenden Szenen, "seit Jahren versuchen sie, ihre gestörten Ideologien durchzusetzen. Scheinbar gibt es doch noch ein paar kranke Idioten, die auf so eine Gehirnwäsche hereinfallen." Mit einem Nicken deutete er auf den Bildschirm. "Diese Kundgebungen veranstalten die Spinner fast wöchentlich. Wenigstens ist Domino bisher verschont geblieben. Sie scheinen sich lieber in den Großstädten von Kyoto und Tokyo zu sammeln. Wie es aussieht, hat man hier schon ein Auge auf Paradius und seine Organisation geworfen. Das erspart zumindest mir zusätzlichen Ärger."

"Und was wollen sie?"

"Am liebsten zurück in die Steinzeit befördert werden. Sie verlangen einen Stopp sämtlicher technologischer Fortschritte…ausgenommen ihrer eigenen. Aber das kapieren diese Schwachköpfe nicht", ein müdes Lächeln ging über seine Lippen, "sie denken ernsthaft, dass ihr Gott dahinter steckt," wieder deutete er auf den Fernseher, "scheint, als hätte keiner von denen in der Schule aufgepasst. Dann wüssten sie, dass dieses Ungeheuer nur ein Fabelwesen ist."

"Dann soll das also wirklich Leviathan sein?!" Das Seeungeheuer aus der jüdischen Mythologie? Rin nahm einen Schluck von der Brühe.

"Ja. Nach ihren Vorstellungen wird er bald in Erscheinung treten, um sich für all die Einmischungen auf der Erde rächen zu wollen. Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass das völliger Unsinn ist. Der einzige, der hier die Fäden zieht, ist ihr sogenannter Erlöser…Dartz - und keine erfundene Gottheit oder sonst was. Die Chaos DuelDisc zum Beispiel unterliegt Dartz' alleiniger Kontrolle. Er lässt seine Marionetten für sich tanzen und diese Dummköpfe nennen dieses Phänomen Gott. Wenn sie damit nicht so viel Ärger verursachen würden, wären diese Hampelmänner fast schon unterhaltsam."

"Meinst du, dass während der Aufnahmen neulich, Yuta gar nicht seine Finger im Spiel hatte? Na gut, du sagtest ja mal, dass das, was ich kann, eher atypisch ist. Also war das im Grunde der Chef von Paradius' Inc?"

"Einfach ausgedrückt, ja. Er hat das Prinzip von Solid Vision etwas abgeändert. Du musst es dir wie einen Parasiten vorstellen, der in die Chaos DuelDisc eingebaut wurde. Dieser Parasit frisst sich während eines Duells in den Anwender der DuelDisc und erzeugt technisch hochentwickelte Hologramme, die über ihre üblichen Fähigkeiten hinausgehen."

"Das ist irgendwie…krank. Im Grunde hat Hii Yuta seinen eigenen Willen aufgegeben."

"Richtig. Er glaubt zwar etwas anderes, aber diesen Leuten ist kaum zu helfen. Schon gar nicht Yuta. Der vergöttert seinen Propheten über alle Maßen, dass einem schon übel werden kann."

Rin schüttelte den Kopf. "Was für eine Beleidigung an das Spiel…und sag' jetzt nicht, dass das bei DuelMonsters normal ist." Sie zeigte mit den Essstäbchen auf ihn, dass er lediglich mit den Schultern zuckte. "Normalerweise interessiert mich nicht, was andere mit ihrer Technik anstellen", er legte den Becher zurück auf den Tisch, "aber ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand mein Basisprogramm für seinen apokalyptischen Unsinn missbraucht." Seine Augen blitzten auf. "Oder meine Firma damit in den Dreck zieht…wieder einmal. Yamamori, diese Angelegenheit geht weit über DuelMonsters hinaus…aber einige würden wohl sagen, dass es zur Tagesordnung gehört. Du wirst ja sicher von den Gerüchten gehört haben, die um einige Duelle kursieren."

"Ja", sie wünschte, sie hätte es nicht gehört.

Rin hielt inne. "Schon wieder", wiederholte sie, wobei sie langsam erst die vorherigen Informationen zu verarbeiten versuchte.

"Vor etwa vier Jahren hat Dartz diese Show schon einmal abgezogen", erzählte Kaiba weiter, "damals noch mit weniger Anhängern, aber umso effizienter. Das Siegel von Orichalcos", er verschränkte die Arme vor der Brust, "war damals ein ziemlich wirksames Mittel, seine Gegner auszuschalten. Um die grünen Ringe war etwas eingebaut, das den Verlierer in einen komatösen Schlaf versetzt hat." Mit großen Augen sah sie ihn an. Mokubas Worte kamen ihr in den Sinn.

"Und du", ihre Worte waren lediglich ein Hauchen, "hast du auch-"

"Natürlich nicht", erwiderte er in seinem üblichen überheblichen Ton. "Als ob ich mich von so ein paar Hohlbirnen besiegen lasse! Ich will damit nur sagen", jetzt beugte er sich leicht nach vorne und fokussierte die junge Frau, welcher ihr Unbehagen ins Gesicht geschrieben stand, "der Vorfall neulich bei der Gruppenauslosung lief noch harmlos im Vergleich zu dem ab, was noch auf dich zukommen könnte. Ich weiß nicht, was Dartz und seine Anhänger planen, aber sie werden alles dafür tun, damit du morgen verlierst. Mai Kujaku hat ihr Ticket bereits in der Tasche und in den anderen DuelMonsters Weltmetropolen fahren Dartz' Lakaien einen Sieg nach dem anderen ein." Sie hatte keine Ahnung, dass Paradius' Firmenchef weltweit seine Spieler aufgestellt hatte. War das überhaupt legitim? Schließlich bestand selbst Pegasus J. Crawfords Team lediglich aus Duellanten, die nur in Japan registriert waren. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, sprach Kaiba auch schon weiter - und er klang ganz und gar nicht heiter: "Du weißt, was es bedeutet, wenn Hii Yuta dieses Duell gewinnt."

"Er sichert sich das Ticket für die finalen Spiele", antwortete sie etwas kleinlaut. Mit vier gewonnenen Spielen in Folge wäre Yuta der ungeschlagene Spieler in ihrer Gruppe. Nur sie und der Grünhaarige waren die einzigen, die noch keine Niederlage hatten einstecken müssen. Rin krallte sich an dem leeren Becher fest. "Darf ich dich etwas fragen?" Sie sah zu dem jungen Firmenchef herüber, der sie stumm anblickte. Rin genügte das als Antwort, und sie fuhr ungehindert fort: "Was ist nach dem Duell mit Zigfried von Schroeder passiert?"

"Er hat sich ins Ausland abgesetzt."

"Ich verstehe", murmelte Rin und sah jetzt wieder auf den Becher. Lumina hatte recht - reichen Schnöseln wie von Schroeder würde nicht der Prozess gemacht. Diese konnten sich stattdessen auf eine einsame Insel zurückziehen und die Sonne auf ihren bleichen Rücken genießen.

"Der Kerl wird keine Probleme machen", fügte Kaiba nach einer drückenden Schweigeminute hinzu, seine Seelenspiegel leuchteten gefährlich auf, "und sollte er es trotzdem wagen, hier in Domino wieder aufzutauchen, werde ich mich eigenhändig um diese rosane Schmalzlocke kümmern." Die letzten Worte kamen nur noch als Knurren. Rin beruhigte die Festigkeit, die in seiner Stimme lag. Jemand wie Seto Kaiba würde in der Lage sein, etwas gegen von Schroeder Corps. Firmenchefs zu unternehmen. Der Ausdruck in seinem Gesicht strahlte so viel Überzeugung aus, dass nur noch ein >versprochen< in seinen Worten gefehlt hätte. Dies wäre jedoch eindeutig zu viel des Guten - immerhin war Seto Kaiba ihr Vorgesetzter und nicht ihr…

"Und?", er betrachtete Rins Gesichtszüge,"ist jetzt alles gut?"

Sie blinzelte ihn an.

"Na das soll doch eine >Alles-Wird-Gut-Suppe< sein." Er hatte ein schiefes Grinsen aufgesetzt. Rin kniff die Augen zusammen. "Ja, ja schon kapiert", murrte die junge Frau, woraufhin Kaiba nur noch verschmitzter lächelte.

Irgendwie ja süß…was denkst du denn da schon wieder. Kaiba ist ganz sicher nicht süß und du wirst jetzt gefälligst nicht schwach von ein paar kleinen Lachfältchen…

"Lass' uns lieber arbeiten", sie erhob sich, "und nur damit du es weißt: wenn du jetzt krank wärst, würdest du mir wegen meiner Suppe zu Kreuze kriechen."

Gehirn an Mund: halt die Klappe!

"Ach ja?!", richtete sich der Chef der Kaiba Corporation ebenfalls auf, dass seine Augen herausfordernd zu ihren sahen. "Du bist dir ja deiner Fähigkeiten sehr sicher."

"Immer", konterte sie mit ihrem eigenen stechenden Blick und steuerte den wandelbaren Bücherschrank an. Kaibas überragende Statur zwang sie, direkt neben seinem Schreibtisch stehen zu bleiben. Wieder einmal war er ihr gefährlich nahe. Sein eiskalter Blick kreuzte den ihren. "Wir nehmen heute den konventionellen Fahrstuhl."

Die Verwirrung war ihm definitiv geglückt. Es war aber auch zu verlockend gewesen - dieses irritierte Gesicht war auf seine Weise schon irgendwie süß. Entlockte es ihm immer wieder aufs Neue dieses Lächeln im Gesicht, dass er sich jedes Mal darauf freute, seine junge Duellantin aus dem Konzept bringen zu können.

"Wir arbeiten heute in den Testanlagen?" Sie wich einen Schritt zurück, immer noch unschlüssig, wohin sie nun gehen sollte. Womöglich, weil sie nicht wusste, ob er bluffte, ob er ihre Reaktionen bloß weiter ausreizen wollte, welche nach ihrem gemeinsamem Essen schwer vorherzusehen waren. Er wusste selbst nicht so genau, was ihn da eigentlich geritten hatte. Ein plötzlicher Impuls, eine Kettenreaktion weiterer unvorhergesehener Ereignisse... Seto war heute definitiv nicht in Höchstform. Schon gar nicht, was seine Selbstdarstellung anbelangte.
 

Weil er sie aus dieser Starre befreien wollte, setzte er sich einfach in Bewegung, aus dem Büro, vorbei an der Rezeption in Richtung Flur. Mit einem Schulterzucken entgegnete er: "Wir werden heute nicht arbeiten. Zumindest nicht im üblichen Sinne." Der junge Firmenchef genoss es, Rins professionelle Fassade bröckeln zu sehen. Mittlerweile war ihm ihre unberechenbare, selbstbewusste und vor allem konterfreudige Art lieber als wenn sie sich bemühte, sich nicht von der Masse abzuheben.
 

Immer noch sichtlich verwirrt, folgte sie ihm zu den Fahrstühlen.

"Ich werde dir etwas zeigen", sprach er weiter. Aus dem Augenwinkel sah er es in ihrem Kopf arbeiten. Zugegeben - ganz überdacht hatte er seine Worte nicht. So langsam erinnerte er sich daran, wann er ihr das letzte Mal etwas in den Trainingsanlagen hatte zeigen wollen, und ihm wurde erst jetzt richtig bewusst, dass Seto wohl nicht der einzige war, dem in solchen Situationen die Flashbacks nur so um die Ohren flogen.

Ob sie wohl…nein, keine weiteren Zweideutigkeiten. Denk' an das Duell!
 

Mit einem letzten Blick auf ihre rosigen Wangen betrat er den Fahrstuhl und drückte den entsprechenden Knopf. Die junge Frau stellte sich genau neben ihn. Dicht an dicht, wie sie es seit Wochen gewohnt waren. Es dauerte eine Weile, bis sie sich bewusst wurde, dass sie mehr als nur einen Quadratmeter Platz hatten. Augenblicklich wich sie zur Seite, murmelte eine leise Entschuldigung und stellte sich schließlich ans andere Ende des Lifts. Dort lehnte sie sich neben die Aufzugknöpfe und blickte stumm zu Boden. Dass sie so nahe an ihm war, war ihm zunächst gar nicht bewusst gewesen. Scheinbar konnte man sich schnell an gewisse Notwendigkeiten gewöhnen. Seto hätte nie gedacht, dass er so viel Nähe (wenn sie auch erzwungen war) überhaupt auf Dauer ertragen konnte. Zumal Rins Gegenwart nicht zu seinen schlechtesten Eindrücken zählte. Sie roch dezent nach einem Parfüm, das er nicht einzuordnen wusste (oder war es vielleicht doch nur ein mildes Duschgel?). Zudem wäre ihre Statur perfekt dafür geschaffen, sich direkt an seine Brust schmiegen zu können. Ihre Absätze machten sie fast auf den Zentimeter so groß, dass Seto sie um knapp anderthalb Köpfe überragte. Das ein oder andere Mal hatte es tatsächlich so ausgesehen, als würde sie ihren Körper an seinen pressen wollen. Sein privater Fahrstuhl lud aber auch dazu ein, sich solchen Phantasien hinzugeben. Auf Kommando waren da wieder diese Bilder in seinem Kopf - unkontrolliert und zügellos. Wusste er diese so gut es ging zu verdrängen, lenkten sie ihn heute zumindest von den nervenaufreibenden Ereignissen des Vormittags ab. Dabei fiel ihm wieder ein, wie viele Wochen bereits seitdem vergangen waren. Wochen, in denen weitaus mehr passiert war als ein Stelldichein mit einer seiner Mitarbeiterinnen. Er hätte durchaus zufrieden damit sein können, wie die Dinge sich entwickelt hatten…wäre da nicht dieser seltsame Raum im Cyberspace, der ihn den ganzen Tag über in einem Zustand der Machtlosigkeit zurückgelassen hatte, die er nicht weiter zu ergründen suchte.
 

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, dass Seto und Rin beinahe gleichzeitig hinausschritten.

"Die Testanlagen haben also das neue System gut aufgenommen?", fragte sie schließlich, nachdem Kaiba alle nötigen Knöpfe betätigt hatte, welche das Basisprogramm starten sollten. Neben ihm hatte sich Rin zu dem Pult herunter gebeugt, um sämtliche Schritte in ihrem Kopf abzuspeichern. Das tat sie sehr häufig - Kaiba über die Schultern schauen. Alle Informationen wie einen Schwamm aufsaugen, ohne dabei ihre eigentliche Arbeit zu vergessen. Mangelndes Aufnahmevermögen konnte er ihr nun wirklich nicht vorhalten.

Währenddessen streifte sie sich den Trenchcoat ab, legte ihn über einen der Drehstühle und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Das werden wir jetzt beide herausfinden", antwortete er, dass etwas wie ein Lächeln über ihre Lippen huschte.

"Aha", entgegnete sie lediglich. Dabei konnte sie ihm nichts vormachen. Wusste er genau, wie heiß sie darauf war, etwas Neues kennenzulernen. Wie es in ihren Seelenspiegeln zu funkeln begann, sobald Kaiba von seiner Arbeit erzählte. Dabei bemühte sie sich wirklich, ihren Enthusiasmus nicht auf ihn zu projizieren, redete sich immer wieder damit heraus, dass sie die Technologie faszinierte. Da jedoch Kaiba derjenige war, der diese Technologie überhaupt erst möglich gemacht hatte, war es für ihn ganz selbstverständlich, ihre Schwärmereien auf sich selbst zu reflektieren - wobei er diese Lobhuldigungen natürlich nur zu gerne für sich

beanspruchte.
 

Ohne ihr Raum für weitere Grübeleien zu geben, ordnete er sie an, sich in den Duellsimulationsraum zu stellen. Dann lief er selbst aus dem Technikbereich heraus, stellte sich neben die junge Frau und befahl seinem System, das virtuelle Programm zu starten.

"Bestätigt. Virtuelle Simulation wird gestartet." Das Licht schaltete sich aus. Um sie herum wurde es schwarz, dass er lediglich ihre Atemzüge ausmachen konnte, die ihre freudigen Erwartungen preisgaben.

Drei - zwei - eins-

Es gab ein Geräusch - als wenn ein Bühnenscheinwerfer eingeschaltet wurde. Dann - ein grelles Licht, gefolgt von Lichtreflexionen, die ihn kurzzeitig blendeten. Er war darauf vorbereitet. Sie nicht. Rin hielt schützend die Arme vor ihrem Gesicht, bis sich das System der vorgeschriebenen Helligkeitsstufe angepasst hatte.

Definitiv zu langsam

Er speicherte es für sich unter der Kategorie >verbesserungswürdig< ab.

Nun ließ auch Rin die Arme sinken. Zweimal geblinzelt schlug die geballte Intensität des Raumes auf sie ein.

"Das ist ja eine-", sie presste die Lippen zusammen. Ihre Worte waren als dumpfer Schall zu ihnen durchgedrungen.

Weniger Schall, sonst solide Raumakustik

Rin drehte ihren Kopf. Ließ den Blick von der Fensterglasmalerei hinunter zu den Sonnenstrahlen wandern. Bunt gesprenkeltes Glas traf auf die geballte Macht der Sonne. Diese ließ die Fensterscheiben wie Dutzende von Edelsteine erstrahlen.

"Nicht ganz originalgetreu", sprach sie diesmal leiser, ohne dabei auch nur einmal den jungen Firmenchef anzusehen. Vermutlich weil sie gar nicht mit ihm sprach, sondern mit sich selbst. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich ganz der Faszination hingab. Gerade war sie damit beschäftigt, den Mosaikboden zu bewundern. Ihre Lippen formten ein stummes >wow<, dass er einfach nur den Anblick ihrer Augen genoss, die mit den Fenstern um die Wette funkelten.

"Ich weiß schon", murmelte sie, "nicht die Realität darstellen…sie besser machen."

"Richtig", entgegnete er. Das kurze Ausblenden seiner Präsenz, ließ sie abrupt den Kopf in seine Richtung schnellen, als seine Worte zu ihr durchgedrungen waren.

"Ich fasse zusammen: es gefällt dir." Auf seine Feststellung hin biss sie sich auf die Lippen. Wenn er doch nur selbst-

Stopp!

"Ich", seine Augen wurden eine Spur dunkler, "möchte jetzt gerne, dass du ein paar Schritte läufst - damit ich die Akustik besser einschätzen kann."

"In Ordnung", damit lief sie auch schon los, "und wie weit kann ich gehen? Nicht, dass ich am Ende die Wand im Gesicht habe."

"Was habe ich dir über den virtuellen Raum gesagt?", fragte er mit der Stimme eines strengen Lehrers.

"Ich weiß schon", Rin nahm an Tempo zu. Ihre Absätze prallten auf das Mosaik, als wollte sie diese damit zerschlagen. Theoretisch war es durchaus möglich. "Aber ich erinnere mich auch, was du über diese Testanlage gesagt hast."

"Um das Problem habe ich mich gekümmert", entgegnete er lediglich und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Jetzt hast du mich neugierig gemacht", sie blieb einfach stehen, tat eine halbe Drehung im Stand und stemmte die Hände in die Hüften. "Du wirst das", sie holte mit ihren Armen aus, "alles hier sicher nicht erschaffen haben, damit du einen Ort hast, an dem du dich von deinen Sünden freisprechen lassen kannst."

"Hm, dafür ist es wohl zu spät", ein müdes Lächeln huschte über seine Lippen.

"Ach, jeder kann Erlösung finden."

Beinahe hätte er aufgelacht. Sie konnte aber auch überzeugend klingen - wenn da nicht dieses Aufblitzen in ihren Iriden wäre.

"Sagen wir", erwiderte er stattdessen, "die Auferstehungsgeschichte hat mich zu meinen eigenen Schlussfolgerungen geführt."

Rin riss die Augen auf, dicht gefolgt von einem breiten Grinsen. "Du willst dich hier gegen ihn duellieren, hab ich recht?"

"Ja", er nickte, "Mokuba hat ewig gebraucht, bis er den Wink verstanden hat."

Noch einmal ging ihr Blick über die Kulisse. "Das erklärt die versteckte Dramatik... Aber ich mag die Lichtbrechung, die dieser Raum umgibt. Ein wenig andächtig, still - als wäre man an der Schwelle des Todes, bereit auf die andere Seite zu gehen, nur noch einen Moment auszuharren, für diesen bestimmten Augenblick." Wie die Worte ihren Mund verließen, schafften sie einen unsichtbaren Schleier, der Setos virtuellen Raum mit Wärme umhüllte, dass er kurz glaubte, die Geräte begannen zu überhitzen. Doch dann wurde die Umgebung immer mehr zu den Gedanken, die ihre Lippen ausgesprochen hatten. Es änderte sich so wenig, doch für den jungen Firmenchef waren es bahnbrechende Abwandlungen, die sich hier in feinsten Nuancen offenbarten. Gänsehaut benetzte seine Oberarme. Er war fasziniert, überwältigt und vollkommen überfordert. Überfordert mit sich und dem, was um ihn herum passierte. Sie hatte recht. Ihre Worte waren sein tief versiegeltes Empfinden. Leben oder Tod. Spiel oder Niederlage. Für ihn gab es keine Unterschiede. Und solange er nicht seine verdiente Revanche bekäme, würde er an der Schwelle des Todes auf sein Urteil warten.
 

Mit geschlossenen Augen schüttelte sie den Kopf, fasste sich an den Nacken und schien in ihren eigenen Gedanken fest zu hängen.

"Ich denke", seine Stimme hallte durch den Raum, ließ Rin die Lider aufschlagen, "das Programm der Trainingssimulation ist für den Moment ausreichend mit dem neuen System gekoppelt."

"Heißt das, wir machen an der Stelle Schluss?!", sie blinzelte ihn an. Enttäuschung war aus ihrer Stimme herauszuhören. "Schade eigentlich", murmelte die junge Frau und ließ die Arme sinken, "dieser hübsche Duellschauplatz-" Langsam kam sie zu ihm zurück. In seinem Kopf begann es zu arbeiten. Es war verrückt. Vollkommen unnötig und irrelevant.

"Ich hab' es mir anders überlegt", sagte er, als Rin keine zwei Meter von ihm entfernt war. "Stell' dich auf die gegenüberliegende Seite."

"Ich verstehe nicht", sie sah ihn mit großen Augen an.

"Wie du sagtest: das hier ist ein Duellschauplatz. Wir sollten ihn auf seine Tauglichkeit prüfen."

"Ist das gerade eine Aufforderung zum Duell?"

"Ein Problem damit?", er lächelte sie schief an.

Nein...ich", Rin lief den gesamten Weg zurück, "war nicht darauf gefasst, dass du dich mit mir duellieren würdest. Schließlich tritt Seto Kaiba nicht gegen Duellantenabschaum an."

"Willst du dich etwa drücken?" Stachelte er sie an.

"Oh nein", Rin schüttelte den Kopf, "aber", den rechten Arm angehoben deutete sie auf ihre DuelDisc, "mit welchen Karten?"

"Yamamori", er lächelte, hob den linken Arm, dass sich automatisch eine DuelDisc um sein Handgelenk legte, "dir sollte es doch nicht schwer fallen, aus deinem Repertoire ein Deck anhand deiner Erinnerungen zusammenzustellen. Oder soll ich dir noch einmal das Grundprinzip des Systems erklären?" In seiner zweiten Hand legte sich ein Kartenstapel aus vierzig DuelMonsters-Karten. Rin betrachtete seine Finger, wie diese das Deck zu mischen begannen.

"Wenn das so ist", auch Rin hatte eine Sammlung an Karten in ihrer Handinnenfläche liegen. "Und inwieweit greift das Zufallsprinzip hier ein? Wenn wir schon unsere Decks anhand unserer Gedanken steuern?"

"Das ist immer noch eine Testanlage", entgegnete er, "das Programm beinhaltet selbstverständlich die DuelMonsters-Regeln, sowie einen zuverlässigen Zufallsgenerator. Es ist demnach unmöglich, das Programm auszutricksen. Außerdem", er legte sein Deck in die Disc, "habe ich noch nie betrogen…zumindest nicht in DuelMonsters." Das war noch nicht einmal gelogen. Das eine Mal hatte er nur eine Karte benutzt, die er gestohlen hatte. Aber gegen die Regeln war es nicht gewesen.

"Kaiba", rief sie gespielt entrüstet, "du wirst doch nicht etwa bei einer fairen Runde MauMau geschummelt haben?!"

"Nein", seine blauen Augen begannen angriffslustig zu funkeln - auf eine andere Art als üblich, weniger bedrohlich, "aber gegen meinen Stiefvater bei einer Partie Schach."

"Was?!" Das Entsetzen war eindeutig nicht gespielt. Kaiba entlockte es lediglich ein Schulterzucken. "Habe ich gerade dein Bild des ehrbaren Geschäftsmannes zerstört?"

"Wie-?! Nein", sie schien immer noch überrumpelt, "dass du nicht mit ehrlichen Mitteln arbeitest, ist mir schon bewusst. Außerdem reden wir von besagtem Schachspiel, bei dem der Einsatz eure Adoption war, richtig? Das zählt für mich nicht einmal als Täuschung." Jetzt war es Kaiba, der ein wenig überrascht war.

"Ich habe nur eine Frage", ihre Augen waren weit aufgerissen, "wie zum Teufel kann man denn beim Schach betrügen?! Hatte dein Stiefvater keine Augen im Kopf? Und das von dem ehemaligen Landesmeister…! Also wenn er sich von einem Kind beim Schachspielen abziehen lässt, dann hat er es nicht anders verdient gehabt." Dann murmelte sie noch ein paar unverständliche Wortfetzen. "Hast du deine Figuren ausgetauscht, als er aus dem Fenster gesehen hat?! Echt, Kaiba! Wie hast du das gemacht?"

"Das erzähle ich dir ein anderes Mal."

Verstehe einer diese Frau…interessiert es sie doch tatsächlich nur, wie man beim Schach betrügen kann

Er musste schon wieder lächeln.

"Genug geplaudert." Seto schaltete seine virtuelle DuelDisc ein, dass Rin seinem Beispiel folgte. Blaues Licht umhüllte die Arme der beiden Duellanten. Sobald Rin sich in Position begeben hatte, verriet der Blick ihrer Augen, dass sie bereits im Duellmodus war.

"Und dieses Duell wird ganz sicher aufgezeichnet?", säuselte sie.

"In meiner Firma wird alles überwacht."

Ihm war klar, worauf die junge Frau anspielte. Als Zweitplatzierter in der Weltrangliste würde Rin mit einem Sieg ebenfalls in die TopTen aufsteigen. Anhand ihrer bisherigen Erfolge war es sogar denkbar, dass sie seinen Platz zugesprochen bekäme. Darüber entschied einzig die DuelMonsters Kommission - oder Pegasus persönlich. Wie damals, als Yugi seinen ersten Sieg gegen den damals ungeschlagenen Seto Kaiba eingefahren hatte, war es der Erfinder von DuelMonsters, der über die Köpfe der anderen hinweg entschieden hatte, dass Kaiba der Titel aberkannt wurde, obwohl der Kleinere mit der bunten Stachelfrisur noch nicht einmal auf irgendeiner Bestenliste gestanden hatte.
 

Ohne weiter darauf einzugehen, zog der junge Firmenchef fünf Karten.

"Du fängst an", sagte er, "es heißt doch: Ladys first."

"Es heißt auch: Alter vor Schönheit", erwiderte die junge Frau ganz in ihrem beißenden Ton, "aber wenn du darauf bestehst, werde ich dir den Gefallen tun."

"Das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung, Yamamori", raunte er, wodurch er ihr lediglich ein müdes Lächeln entlockte. Sie schüttelte den Kopf. "Die Boss-Nummer zieht nicht. Das hier ist schließlich DuelMonsters - es ist egal, wer du bist, solange du mich nicht besiegen kannst."

"Dann sollten wir das Mal ganz schnell ändern", sein eiskalter Blick traf auf das Jadegrün ihrer Augen. "Und damit das klar ist: deine Psychonummer solltest du erst gar nicht bei mir versuchen. Im Gegensatz zu deinen bisherigen Gegnern, lasse ich mir nicht von ein paar dummen Sprüchen in die Karten schauen."

"Du denkst, das macht meine Taktik aus?" Rin zog amüsiert eine weitere Karte vom Stapel.

"Nein. Das sollte auch nur eine Warnung sein, dass du mich mit den anderen Plinsen nicht auf eine Stufe stellen solltest."

"Aber nicht doch", säuselte sie, die Karte in ihrer Hand betrachtend. Ihr Blick wandelte sich. Fort war der Schelm. Nicht einmal die Mundwinkel zuckten mehr. Dies war auch das Signal für Kaiba.


 

"Duell - Start!"
 

"Ich rufe Vorhut der Drachen im Angriffsmodus." Der Drache mit Schild und Speer stellte sich vor seine Meisterin. "Und da Vorhut der Drachen ein Erdmonster ist, kann ich ihn ebenfalls rufen - meinen mythischen Wasserdrachen", ein in der Luft hängender Wasserstrudel formte die Struktur des Wasserdrachen, das einige Tropfen durch den Raum, direkt zu dem jungen Firmenchef spritzten. Das Gefühl stand einem unerwarteten Regentropfen in nichts nach. Seto war mit der Darstellung der beiden Drachen vollends zufrieden. Die Monster waren gestochen scharf - schon jetzt zeichnete sich ein Unterschied zu den klassischen Projektionen ab.

Ruhig wanderte sein Blick zurück zu seinem Gegenüber. Rin hatte zwei weitere Karten verdeckt aufs Feld gelegt.

Mit ihrer Drachenkombo versucht sie in der nächsten Runde ihr stärkstes Monster zu beschwören. Eine ihrer Standarderöffnungen. Dann müssten ihre verdeckten Karten-"

"Das war's fürs Erste. Du bist dran, Kaiba." Das sagte sie so trocken, als interessierte es nicht, was Kaiba als nächstes spielte. Der junge Firmenchef wusste es natürlich besser. Ihn faszinierte es ungemein, mit welcher Gleichgültigkeit sie dem mächtigen CEO gegenüberstand. Sobald sie inmitten eines Duells steckte, war die zurückhaltende, wohlerzogene Rin vollends verschwunden.

"Ich ziehe."

Dann wollen wir das Tempo ein wenig hochschrauben.

"Als erstes erledigt mein mystischer Raumtaifun deine linke, verdeckte Karte." Ein Wirbel schoss aus dem Boden. Der Taifun wütete so heftig, dass Kaiba lediglich mitbekam, wie eine Fallenkarte vom Feld gefegt wurde.

"Dann lege ich ebenfalls zwei Karten verdeckt und beschwöre meinen Kaiser Vorse Plünderer im Angriffsmodus." Die verbesserte Version seines damaligen Ungeheuer-Kriegers gab ein primitives Grunzen von sich. Mit 1900 Atk war er um zweihundert Punkte stärker als Rins Vorhut - also das passende Monster, um einen Angriff zu deklarieren.

"Kaiba", Rins Stimme hallte durch den Raum, "diese zwei verdeckten Karten…wenn du mich ernsthaft mit einer Kombination aus dem Zauber Schrumpfen und dem Crushkartenvirus besiegen willst, wäre das eine intellektuelle Beleidigung über alle Maßen."

"Du denkst, ich will dein Deck mit der Fallenkarte Kartenvernichtungsvirus zerstören?"

"Dein Kaiser Vorse Plünderer ist ein Monster von Typ Finsternis - quasi der perfekte Köder für einen direkten Angriff."

Kaiba musste schmunzeln. "Vorausgesetzt, du kommst zu einem Angriff."

Die Chancen standen schlecht für seine junge Duellantin, dass Kaiba sie auch nur in die Nähe seiner Lebenspunkte ließ. Dafür war sein Monster dem ihren viel zu sehr überlegen. Von Seto Kaiba ganz zu schweigen.

"Lass' dich doch einfach überraschen", sagte er und streckte seinen Arm aus. Das Ungeheuer brachte sich in Position - mit dessen Klinge, einer weniger steinzeitlichen Waffe als man vermuten könnte, holte er weit nach hinten aus, rannte dabei direkt auf Rin und ihren Erddrachen zu. Die junge Frau schmunzelte. Zwei Klingen schlugen aneinander, setzten einen ohrenbetäubenden Knall frei, dass die Funken nur so sprossen.

Aber-

Die Power ihres Drachen schnellte auf 2500 Atk nach oben. Der Kaiser Vorse Plünderer unterlag der Waffe seines Gegners, die Spitze des Speeres rammte sich in die Brust des Ungeheuer-Kriegers, dass er in einer einzigen Explosion vom Feld verschwand - und sechshundert Lebenspunkte seines Besitzers mit sich riss.

Ohne eine Miene zu verziehen, blickte er zu Rin, die es kaum erwarten konnte, eine Erklärung abzugeben: "Ich bin dir zu Dank verpflichtet. Als dein mystischer Raumtaifun meine Fallenkarte zerstörte, hast du unweigerlich ihren zweiten Effekt freigesetzt."

"Die Karte Fähigkeitenerbe-"

"Ganz recht. Und wenn Fähigkeitenerbe auf dem Friedhof liegt, kann ich sie aus dem Spiel entfernen, damit sie die Stärke eines meiner Monster um achthundert Punkte erhöht."

"Nette, kleine Ansprache", erwiderte der Chef der Kaiba Corporation, "wenn du jetzt schon all deine Zauber und Fallen verschwendest, um deine mikrigen Monster am Leben zu erhalten", er schüttelte den Kopf, "dann wird dieses Duell schnell beendet sein."

"Wir werden sehen", entgegente sie mit einem Lächeln.

"Erst einmal sehen wir deinem Drachen beim Schrumpfen zu: Weil du meinen Kaiser Vorse Plünderer zerstört hast, verliert deine Vorhut fünfhundert Atk." 1200 Angriffspunkte waren nun wirklich keine Herausforderung mehr. Der Verlust seines Monsters war kaum von Bedeutung gewesen. Er hatte so viele Monsterkarten, mit denen er Rin locker schlagen könnte. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie ihm sechshundert Lebenspunkte hatte nehmen können. "Ich beende meinen Zug."

"Nun denn", Rin zog eine Karte, "wenn du Tempo machen willst, werde ich dem mit Freuden nachkommen: ich opfere meine beiden Monster und hole meinen weißen Nachtdrachen aufs Feld. Zeig' dich, meine schöne Bestie!" Aus Sonnenstrahlen geboren, von der Spiegelung der Fensterscheiben geküsst, erhob sich die erhabene Kreatur. Die mit Diamanten besetzten Schuppen reflektierten die bunten Malereien aus allen Richtungen. Ein lautes Kreischen ließ das Glas vibrieren, als der Drache seine Flügel in Bewegung setzte und mit heftigen Schlägen einen Wind erzeugte, der Rins offenen Haare wie tausende von feine Bänder durch die Luft wirbelte. So eindrucksvoll jede Beschwörung bisher gewesen war; sobald die junge Frau ihren weißen Nachtdrachen rief, konnte kein anderes Monster dagegen halten. Rin hatte genug Übung darin, ihren Drachen in den Fokus zu stellen und diesmal hatte sie sich sogar selbst übertroffen.

"Von allen Monstern, die du aus deiner Sammlungen hättest auswählen können, musste es wieder der weiße Nachtdrache sein?"

"Enttäuscht?", fragte sie, während ihr Blick stolz auf das majestätische Geschöpf hängen blieb.

"Ein wenig", schmunzelte der junge Firmenchef, "du hättest gegen mich jede Karte einsetzen können. Dein Spiel gegen Wotan Arizu hat mir gezeigt, dass du keine Hemmungen hast, meine Monster in meiner Gegenwart zu beschwören."

"Ah, so ist das also", sie sah jetzt wieder zu Kaiba, "du hattest die Hoffnung, dass du sie zu Gesicht bekommen könntest."

"Die Karte wäre zumindest deine einzige Chance gewesen, gegen mich zu bestehen."

"Diese Karte", entgegnete Rin, "ist wirklich so mächtig. Vielleicht setze ich sie beim nächsten Mal ein. Wenn du unser Duell dann etwas ernster nehmen kannst."

Sie hatte ihn durchschaut. Er nahm dieses Duell nicht ernst. Nicht dass er Rin keine Duellfähigkeiten zusprechen würde. Kaiba nahm grundsätzlich die Duelle nicht ernst, wenn sie nicht gegen seinen ärgsten Kontrahenten waren. Dass sie jedoch so darauf reagieren würde. Dass sie sogar auf ihre mächtigste Karte verzichtete, nur weil er eine Niederlage für ausgeschlossen hielt-

"Einverstanden", sagte er, zu seiner eigenen Überraschung, "sollte es jemals ein nächstes Mal geben, werde ich mir mehr >Mühe< geben."

"Ich bin gespannt." Damit widmete sie sich wieder ihrem Drachen zu, der sich in Angriffsstellung begeben hatte. "Hochmut kommt vor dem Fall, Kaiba. Mal sehen wie dir ein direkter Angriff meines Nachtdrachen schmeckt." Sie streckte ihren linken Arm nach oben aus. "Weißer Nachtdrache, greif' seine Lebenspunkte direkt an: Diamantenblitzattacke!"

"Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Ich decke meine Fallenkarte auf: Körperdouble."

"Was ist das?!"

"Da ich mir schon denken konnte, dass du deinen Weißen beschwören würdest und dieser nun einmal gegen direkte Karteneffekte immun ist, habe ich diese nette Falle für dich vorbereitet: Körperdouble erschafft eine exakte Nachahmung deines Monsters - inklusive seiner speziellen Fähigkeiten." Eine Kopie des weißen Nachtdrachen baute sich vor Kaiba auf. Beide Monster entluden ihre Energie. Das Aufeinanderprallen dieser beiden Giganten löste eine Welle an Kraft aus, welche die Kirchenfenster zum Klirren brachte. Rin und Kaiba verlagerten das Gewicht auf ihre Beine, um nicht den Halt zu verlieren. Erst als beide Monster vernichtet waren und es viele kleine Diamanten von der Decke regnete, stellten sich die Duellanten wieder aufrecht hin.

"Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass du damit durchkommen könntest?", rief Seto in die diamantene Rauchwolke, die nur langsam verblasste.

"Nein", antwortete sein Gegenüber, noch immer von Rauch umgeben, "ich war nur neugierig, welche verdeckten Karten du gesetzt hattest."

"Wie-?!

Ein Funkeln trat aus den Schwaden. Ein einziger Luftzug und der Rauch war verschwunden. An dessen Stelle glänzte der weiße Nachtdrache. Groß und mächtig wie er war, streckte er seinen Kopf in Seto Kaibas Richtung aus.

"Als mein Weißer vernichtet wurde, habe ich die hier aktiviert: meine Fallenkarte Zeitmaschine. Sie hat meinen Nachtdrachen unversehrt zurück aufs Feld geholt. Zu guter Letzt spiele ich noch diese Karte verdeckt und beende meinen Zug."

"Sieh' dir dein Monster noch einmal ganz genau an, Rin." Denn Seto war jetzt am Zug.

"Ich spiele Topf der Gier. Wie ich hörte, soll sie deine Lieblingskarte sein, also brauche ich dir nicht zu erklären, was sie kann." Er nahm einfach zwei weitere Karten vom Stapel.

"Dieser Trottel Kaeji", Rin verleierte die Augen, "jeder, der diese Karte nicht in seinem Deck hat, ist einfach nur ein Riesenidiot!"

Wo sie recht hat-

Er sortierte die Karten und zeigte eine von ihnen vor. "Ich rufe meinen Galaxiedrachen." Nicht ganz so majestätisch wie sein Gegenüber erschien der Drache vor seinem mächtigen Bruder. Zweitausend Angriffspunkte waren für ein vier Sterne Monster beachtlich, doch seine wahre Stärke sollte sich erst im Kampf offenbaren. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Gegnern, welche der junge Firmenchef mit dieser Karte konfrontiert hatte, ließ sich Rin zu keinem abfälligen Kommentar herab. Obwohl ihr weißer Nachtdrache um ganze tausend Punkte stärker war, lag Skepsis in ihren Gesichtszügen. Diese war durchaus berechtigt.

"Sieht so aus als, kennst du die besondere Fähigkeit meines Galaxiedrachen."

"Nicht wirklich, aber ich bin mir sicher, dass du sie mir gleich verraten wirst."

"Ich lasse lieber die Karten für mich sprechen", erwiderte Kaiba, "und greife deinen weißen Nachtdrachen an!"

"Einfach so?", Rin blickte verduzt zwischen dem Drachen und Kaiba hin und her.

"Einfach so", bestätigte Kaiba amüsiert, "mein Galaxiedrache greift nur Monster vom Typ Drache an. Dein Weißer ist wie perfekt für einen Angriff geschaffen." Eine Blitzkugel trat aus dem Maul des Galaxiedrachen. Diese wuchs, je näher sie ihrem Ziel kam.

"Der Drache!", rief Rin und starrte zu der Lichtkugel, "seine Power hat sich erhöht."

"Sobald Galaxiedrache gegen ein Drachemonster kämpft, erhöht sich die Atk um tausend Punkte."

"Damit liegen unsere beiden Monster gleich auf!"

"Nicht, wenn ich die hier spiele."

"Nein!"

"Meine Zauberkarte Schrumpfen halbiert die Atk deines Monsters."

"Aber-"

"Oh doch", erwiderte Kaiba gelassen, "die zweite spezielle Fähigkeit meines Drachen: die Effekte seines Gegners sind während der Battlephase inaktiv."

Mit einem Knall wurde der weiße Nachtdrache besiegt - diesmal endgültig, ohne viel Aufsehen. Rins Anzeige ratterte um 1500 Punkte nach unten. Mit großen Augen sah sie zu dem Galaxiedrachen herüber.

Von solchen Monstern habe ich mehr als genug. Meine Kartensammlung übersteigt deine um Weiten, Yamamori. Du hast keine Chance, meine Strategie zu durchschauen.

"Ein nettes Monster", entgegnete Rin mit nicht so netter Stimme.

"Ich habe sie lange nicht mehr einsetzen können", sagte Kaiba und lächelte verschmitzt zu der jungen Frau, "in den letzten Jahren hatte es niemand mehr gewagt, sein Drachendeck gegen mich einzusetzen."

"Unverständlich", sie schüttelte den Kopf, nachdem sie ihren Punktestand von 2500 LP betrachtet hatte. "Sicher, du hast neben deinen weißen Drachen mit eiskaltem Blick noch ein paar andere Drachemonster, mit denen du dich gerne schmückst, aber als reiner Drache-Duellant würde ich dich nicht bezeichnen."

"Ich würde mich in gar keine Kategorie einordnen", erwiderte er, dass Rin nun ebenfalls lächeln musste.

"Ich schon…aber ich werde dir nicht verraten, in welche."

"Ganz schön frech", er hob eine Augenbraue, nicht sicher, ob die junge Frau nur bluffte oder tatsächlich eine Idee hatte, wie Kaiba zu schlagen wäre.

Rins Lächeln wurde daraufhin noch breiter. "Willst du mich etwa übers Knie legen?" Ihre Mimik, die Tonlage - alle schrie nach Provokation -sie kann es einfach nicht lassen. "Du solltest wissen, Kaiba, dass das bisher keiner geschafft hat. So leicht mache ich es dir nicht."

"Vorsicht", seine Augen blitzten gefährlich auf, "ich habe bisher jede Herausforderung angenommen."

"Darauf gehe ich jede Wette ein."

Er wusste, ihre Anspielungen waren ihrem Duellrausch geschuldet. Jenes Phänomen, dem viele erlagen, sobald das Duell begonnen hatte. Trotzdem hoffte ein winziger Teil in ihm, dass sie nicht einfach so daherredete, dass sie ihn wirklich anstacheln wollte.

Bevor er sich noch weiter in Zweideutigkeiten verstricken konnte, hatte sie ihren Zug begonnen. Seto konnte förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf zu arbeiten begann. Sein Galaxiedrache war nicht so leicht zu besiegen. Zumindest nicht, wenn man wie Rin hauptsächlich mit Drachen arbeitete. Wie er seine junge Duellantin einschätzte, hatte sie zwei, drei andere Monster in ihrem Deck, doch die konnten seiner Kreatur nicht das Wasser reichen.

"Ich spiele eine Zauberkarte", Rin legte eine Karte auf die entsprechende Zone. "Doppelbeschwörung - damit setze ich zwei Monster in den verdeckten Verteidigungsmodus."

Rin ist in die Ecke gedrängt. Wie ich sie kenne, wird eines ihrer Monster Reese, die Eisherrin sein. Ihr Monster ließe sich von keines meiner Geschöpfe durch Kampf besiegen...

Sein Blick wanderte zu dem zweiten verdeckten Monster.

Sie weiß, dass ich ihre Karten kenne. Das andere Monster soll nur ihre Taktik verschleiern, damit ich nicht auf die Idee komme, ihr Monster durch eine Zauber- oder Fallenkarte zu zerstören. Netter Versuch, Rin. Dir sollte klar sein, dass ich ganz andere Wege habe, deine Monster zur Strecke zu bringen

Was er ihr nur allzu gerne demonstrieren wollte. Sobald Rin ihren Zug beendet hatte, fing Seto erst an, so richtig in Fahrt zu kommen. Sein Galaxiedrache hatte ihm genug gedient. In seiner Hand wartete bereits das nächste Monster, das es mit Rins Lebenspunkten aufnehmen wollte. "Ich opfere meinen Galaxiedrache, um meinen Cristalldrachen zu rufen." Waren die Diamantenschuppen des weißen Nachtdrachen bereits beeindruckend, bildete der blau-weiße Glanz seiner neuesten Bestie das Tüpfelchen auf dem i. Kreisend zog der Cristalldrache seine Bahnen, ließ grelle, kristallene Funken aus seinen Flügeln treten und hielt schließlich schwebend über Seto Kaibas Kopf inne. Der junge Firmenchef wollte seiner Duellantin schließlich in puncto Performance in nichts nachstehen. Und tatsächlich: Yamamori schien der Anblick seines Drachen zu gefallen. Ihre Augen sogen geradezu dessen Schönheit in sich auf.

"In Natura ein wirklich atemberaubender Anblick", gestand die junge Frau, die wohl noch etwas länger auf den Cristalldrachen gestarrt hätte, wenn da nicht die Kleinigkeit mit dem Duell gewesen wäre.

"Wenn dich diese Bestie schon überwältigt", sprach Kaiba und grinste schief, "dann schauen wir mal, wie dir das gefällt." Er zeigte eine weitere, mächtige Kreatur vor.

"Oh", ihre Seelenspiegel begannen noch stärker aufzublitzen, "der blauäugige alternative weiße Drache. Das Monster kann nur spezialbeschworen werden, in dem man-"

"In dem man das Original in seiner Hand vorzeigt", sprach Kaiba den Satz zu Ende und setzte das Gesagte sogleich in die Tat um. Eine Bestie, so stark wie dessen Namensvetter, baute sich neben dem Cristalldrachen auf. Rin stand einer Mauer aus mächtigen Drachen gegenüber, die mit einem synchronen Schrei den Duellschauplatz für sich beanspruchten.

"Fieses, kleines Monster", Rin sah zu dem alternativen Drachen herüber, der etwas blasser als der Echte schien.

"Ich brauche dir wohl nichts von seinen Spezialfähigkeiten erzählen."

"Er kann ein Monster auf der gegnerischen Seite zerstören - kann aber im Gegenzug nicht angreifen. Außerdem wird sein Name zu blauäugiger weiße Drache, solange sie auf dem Feld oder auf dem Friedhof liegt. Das erspart eine Menge Arbeit, wenn man drei weiße Drachen mit eiskaltem Blick miteinander verschmelzen will."

"Du bist gut informiert."

"Ich bin sogar bestens informiert. Dein Cristalldrache hat auch einen netten Bonus: Wenn er ein Monster von mir zerstört, kannst du ein Drachemonster der Stufe acht von deinem Deck auf die Hand nehmen. Fehlt nur noch die Fusionskarte. Aber wenn mich nicht alles täuscht, wirst du sie bereits gezogen haben." Sie nickte in seine Richtung. "Seitdem du vorhin Topf der Gier gespielt hast, habe ich dich ganz genau beobachtet. Bisher hast du keines der Karten gespielt, die du damals gezogen hattest."

"Selbst wenn du meine Karten erraten haben solltest", er schüttelte den Kopf, "du kannst nichts dagegen unternehmen…Zunächst zerstört mein alternativer Drache eines deiner Monster." Mit einem Knall zerstörte sich die Karte der Eisherrin.

Wusste ich's doch

Als nächstes war sein Cristalldrache an der Reihe. Unbesorgt ließ Kaiba das Monster angreifen. Gegen 2500Atk hatte kein normales Monster eine Chance und der junge Firmenchef bezweifelte, das Rin ein Flippmonster gesetzt hatte.

Nur noch eine Runde und das Duell ist beendet. Im nächsten Zug kann sie maximal ein Monster in die Verteidigungsposition legen; mein Alternativer wird es zerstören, während Cristalldrache ihre restlichen Lebenspunkte vernichtet

"Cristalldrache, greif' ihr verdecktes Monster!" Der Drache schlug mir den Flügeln, ließ den Wind so stark wüten, dass es Rins verdecktes Monster davon trug.

"Du hast soeben meine Falle aktiviert", rief sie, als der Sturm sich gelegt hatte.

"Eine Falle?"

"Ganz recht: sobald dein Cristalldrache meinen Klingenritter besiegt hatte, konnte ich die hier spielen: Endlich frei! Diese Karte wählt zwei Monster auf dem Spielfeld und befördert sie zurück in ihre Decks. Und da du du der einzige bist, der zwei Monster kontrolliert-" Die Projektionen seiner beiden Drachen lösten sich augenblicklich auf. Zurück blieben ein leeres Feld und ein etwas überrumpelter Seto Kaiba. Dass sie tatsächlich seine Monster verjagt hatte. Noch dazu auf so hinterhältige Weise. Ihre Aktionen lösten ein Gefühl in ihm aus. Es war nicht dieselbe Ekstase, wie er sie während der Duelle gegen Yugi Muto verspürte. Viel mehr lockte es jenes Empfinden an die Oberfläche, von dem er glaubte, es längst verloren zu haben.

"Du schindest bloß Zeit", entgegnete Kaiba, der seinen eigenen Worten nicht glauben konnte.

"Denkst du", lachte Rin auf, "ich lasse mich von meinen geliebten Drachen schlagen?! Ich zeige dir, was ich von deinen Plänen halte", sie knallte eine Zauberkarte auf die DuelDisc, "Kartenzerstörung!"

"Diese Karte-" Kaiba riss die Augen auf.

"Wir legen unsere gesamte Hand ab und ziehen jeweils die Karten, die wir verloren haben. Du dachtest doch nicht, dass ich dir in Seelenruhe dabei zusehe, wie du drei weiße Drachen zu einem ultimativen Monster vereinst?!"

Sie legten ihre Karten auf den Friedhof und begannen neu zu ziehen.

Dann waren eben seine blauäugigen weißen Drachen auf dem Friedhof! Es gab genug Möglichkeiten, seine Lieblingsgeschöpfe zurück zu holen.

Warte nur, Yamamori. Das wirst du mir büßen

Seine Augen konzentrierten sich auf die frisch gezogenen Karten.

Was…?!
 

Es geschah ohne Vorwarnung. Die Bilder begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Nur schwer ließen sich die Karten erkennen. Dann - ein Moment der Klarheit. Er sah sie direkt vor sich: da waren die Fallenkarte Verschwundener Wind und Kettenzauber, die Monster Unglückliche Jungfrau, Drache des Lichts und der Finsternis und Axt Drachonaut.

Aber…?!

Das Bild verschwand so schnell es gekommen war. Zurück blieb das, was der junge Firmenchef ursprünglich gezogen hatte. Seine Finger begannen zu zittern. Dies war definitiv kein Nebeneffekt seines Programms. Spürbar war der Puls an seinem Nacken. Er blendete alles um sich herum aus. Eine Weile starrte er einfach nur entgeistert auf seine Hand. Kaiba konnte es noch so oft leugnen - es käme immer wieder dasselbe Ergebnis heraus: er hatte durch ihre Augen gesehen. Waren es nur Bruchteile von Sekunden, hatte es genügt, den jungen Firmenchef aus der Fassung zu bringen.

Ich kann unmöglich ihre Gedanken gelesen haben…wenn das wahr ist, dann…ganz ruhig. Es gibt für alles eine logische Erklärung-

Nach einem tiefen Atemzug fand er seine Beherrschung wieder. Ihm wurde soeben eines bewusst: Rin. Noch war sie am Zug, hatte jedoch seit Minuten nichts mehr gesagt oder getan. Sein Blick ging auf die andere Seite des Feldes. Die junge Frau starrte auf ihre Karten. Sonst schien sie wie regungslos auf der Stelle zu stehen. Aus dieser Entfernung konnte er nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob sie noch atmete. Ihr bleicher Gesichtsausdruck brachte ihm Gewissheit.

"Warum machst du nicht weiter", seine Stimme war fest und klar. Laut genug, dass sie ihn gehört haben musste. Ihr Mund öffnete sich. Ohne zu dem jungen Firmenchef hinauf zu sehen, erwiderte sie: "Ich…ich kann nicht."

Kaiba ließ die Stirn in tiefe Falten schlagen. "Du hast es auch gesehen", entgegnete er so abgeklärt wie es ihm derzeit möglich war. Nun schnellte ihr Kopf nach oben. "Du...Ja, nur ganz kurz. Ich-"

"Schon gut", knurrte er, wobei sein Ärger nicht ihr galt. "Mika!" Er ließ das Programm herunterfahren, die Kulisse verschwand, der Raum kehrte zu seiner ursprünglichen Tristesse zurück. Inmitten des Raumes tauchte der virtuelle Kopf seiner KI auf. "Irgendetwas Neues?" Er war einfach hinausgestürmt. Im Kontrollraum angekommen beugte er sich zu dem Bildschirm herunter und tippte flink ein paar Zahlen- und Tastenkombinationen ein.

"Das System hat einen unautorisierten Login gemeldet."

"Seit wann?"

"Vor zwanzig Minuten erfolgte die Anmeldung."

Das hieß, während des gesamten Duells war Rins DuelDisc nicht nur virtuell eingeschaltet gewesen. Er war Zeuge gewesen; zu keinem Zeitpunkt hatte es eine Möglichkeit gegeben, sich unbemerkt in das System einzuloggen. Rin hatte während der virtuellen Session überhaupt keinen Zugriff auf ihre DuelDisc. Selbst wenn diese ständig um ihren Arm gelegen hatte, hätte sie diese zu keinem Zeitpunkt einschalten können.

"Prüfe die Befehlsfelder vor und während des Duells - vielleicht findet sich innerhalb des Programms eines Lücke, die wir übersehen haben." Seine Augen wanderten über den Bildschirm, verschlangen jedes noch so nichtige Detail.

"Kaiba?" Die weiche, leicht zittrige Stimme drang in sein Bewusstsein ein.

"Kaiba", jetzt wurde ihre Stimme fester. Seto drehte seinen Kopf. Neben ihm stand Rin. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Noch immer zeichnete sich eine Blässe um ihre Wangen ab, die ihm gar nicht gefiel. Ihre Augen flimmerten aufgebracht, wobei sie die vielen aufeinander folgenden Zahlen widerspiegelten.

"Was war das?" Ihre simple Frage brachte ihn ins Straucheln. Sein eigentlicher Plan hatte vorgesehen, Rin so wenig wie möglich mit einzubeziehen. Dieser Plan war nun hinfällig. Ganz genau galt es jetzt abzuwägen, wie viel er ihr verraten sollte. Ihre ruhelosen Seelenspiegel ließen ihm nur wenig Raum für Überlegungen.

"Seto!" Sein Name aus ihrem Mund war wie ein Weckruf.

"Ich kann es dir nicht genau sagen", die Wahrheit ausgesprochen, kam er sich wie ein Narr vor.

"Ein Fehler im System-?"

"Nein", wenigstens diese Antwort konnte er mit Gewissheit geben. "Solid Vision ist nicht darauf ausgelegt, die Gedanken zweier Anwender miteinander zu verschmelzen. Selbst wenn eine Überlappung stattgefunden hätte, wäre das in den Aufzeichnungen vermerkt worden. Es ist also vollkommen ausgeschlossen."

"Also…haben wir jetzt neuerdings telepathische Kräfte oder was?!" Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, dabei sichtlich bemüht, ihren Sarkasmus im Zaum zu halten. Eine neue Charaktereigenschaft, die er an ihr feststellte - sie wurde sarkastisch, wenn sie nervös war.

"Keine Telepathie", entgegnete er trocken, "nur ein Informationsaustausch zwischen unseren DuelDisc's. Warum aber ausgerechnet jetzt und zu welchem Zweck, kann ich dir auch noch nicht sagen. Fest steht, dass dieses Phänomen im Zusammenhang zu deinen außergewöhnlichen Aktivitäten steht."

"Außergewöhnliche Aktivitäten", murmelte die junge Frau.

"So außergewöhnlich, dass sie mein Programm beeinflusst haben." Sie sah ihn einfach nur an, dass Kaiba nicht wusste, was in ihrem Kopf vorging. Also fuhr er einfach fort: "Scheinbar sind deine linken Gehirnströmungen, die du während einer Trainingssimulation anwendest, für das neue System von Nutzen. Als Gegenleistung hat es dich mit besonderen Features ausgestattet - wie zum Beispiel die Fähigkeit, selbstständig das System für sich zu nutzen…auch wenn dir das bis dato nicht klar gewesen ist."

"Aber", entgegnete sie, "was ist mit den anderen? Wenn du sie mit dem Programm arbeiten lassen würdest-"

"Das habe ich bereits." Er sah sie mit seinem eiskalten Blick an. "Ich habe sogar Yoshihiko Tabas DuelDisc so umprogrammiert, dass ihr beide theoretisch zu denselben Leistungen imstande wärd. Doch auf keinen reagiert das Programm so stark wie auf dich. Man könnte sagen, es hat dich auserwählt."

"Das System", sie schluckte, "du sagtest einmal, dass es mit deinem Gehirn verbunden sei."

Dass sie so schnell darauf komnen würde, überforderte ihn für einen Moment. Dabei hätte er es wissen müssen, war sie schließlich nicht auf den Kopf gefallen.

"Warum benötigt es dann meine Gehirn-" Sie hielt inne. Wirkte tief in Gedanken versunken. Deshalb übernahm er die Führung des Gesprächs: "Meine überragenden, logischen und analytischen Fähigkeiten mit deinem kreativen Teil des Gehirns scheinen eine Kombination zu sein, die das Programm für geeignet befindet."

"Dein Gehirn hat eine logische Entscheidung getroffen", sagte Rin, dass Kaiba sie entgeistert anstarrte. Ihre Augen blieben an seinen hängen. "Oh", langsam kehrte die Farbe in ihr Gesicht zurück, "habe ich gerade etwas Dummes gesagt?"

"Nein", raunte er, "meine KI hat damals fast dasselbe gesagt."

Ihre Gesichtszüge wurden weicher. Langsam schien sich die junge Frau zu beruhigen.

"Und wie geht es jetzt weiter? Ich meine…", sie fasste sich an den linken Unterarm, dass ihre Finger sich in den Armschmuck krallten, "was, wenn das jetzt häufiger passiert?"

"Ich denke", Kaiba schloss kurz die Augen, "solange unsere DuelDisc's nicht zur selben Zeit eingeschaltet sind, sollte es keine weiteren Zwischenfälle geben. Trotzdem werde ich Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, falls es sich nicht um einen einmaligen Vorfall handeln sollte."

Seine Augen sahen wieder zu den Datensätzen herüber. "Viel mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausrichten. Die gesammelten Daten reichen nicht aus, um diese Anomalie zu erklären oder dagegen vorgehen zu können. Dafür bräuchte ich schon eine Kopie deines Gehirns", das Letzte sagte er mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.

"Dann tu es doch." War ihre Reaktion darauf, dass Kaiba nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. In ihrem Blick lag jene Standfestigkeit, die keinen Raum für Scherze ließ.

"Weißt du eigentlich, was du da sagst?" Nachdem ihre Seelenspiegel einander prüfend betrachtet hatten, fand der junge Firmenchef allmählich die Sprache wieder. "Eine vollständige Kopie deines Gehirns, die mit dem System gekoppelt wurde, könnte schwerwiegende Folgen für dich haben!"

"Wie ich das sehe", erwiderte Rin und sprach dabei ganz ruhig, "ist ein Teil von mir bereits mit dem System verbunden. Ist es da nicht sinnvoller diesen Teil zu vervollständigen?"

"Sicher-"

"Na also", sie lächelte voller Überzeugung.

"Bist du dir der Tragweite wirklich bewusst?" Er konnte einfach nicht glauben, wie selbstverständlich sie ihm diesen Vorschlag unterbreitete. Diese Frau war doch wahnsinnig! Schließlich hatte sie bei der Sache mehr zu verlieren als er. Es war nicht ihr System, das außer Kontrolle geriet, nicht ihr Problem. Rin widersetzte sich all den Punkten, die dagegen sprachen. Ihre funkelnden Augen sagten alles.

Kaiba schüttelte lächelnd den Kopf. Diese Verrückte war seine Duellantin! Irgendwie schön zu wissen, dass es jemanden gab, der diesen Wahnsinn mit ihm teilte - auch wenn er sich dies nie eingestehen würde.

"Ich wiederhole mich noch einmal, Rin. So ein Vorhaben ist riskant. Es gibt keine Garantie, dass das System nicht sämtliche Informationen an sich reißt. Ich kann dir nicht mehr versichern, ob deine Privatsphäre geschützt bleibt."

"Ich glaube wohl kaum", entgegnete sie keck, "dass du dich dafür interessierst, wann ich meinen ersten Zahn verloren habe oder das erste Mal alleine zur Schule gegangen bin." Weil er sie nicht verstand, fügte sie kopfschüttelnd hinzu: "Du kennst mittlerweile meine dunkelsten Geheimnisse . Du kennst die Wahrheit über meinen Vater. Ich habe dir von dem unangenehmen Vorfall während meiner Schulzeit erzählt, und von meiner unfreiwilligen Kampfaktion gegen sechs potenzielle Vergewaltiger." Letzteres ließ ihn innerlich zusammenzucken.

Augenblick mal. Woher weiß sie, dass ich-

"Mach' dir keine Gedanken", sagte sie. Für einen Moment wusste er nicht, wovon sie sprach. Er war noch ganz durcheinander, dass er glaubte, sie spräche von der Hütte.

"Seit diesem peinlichen Verhör mit dir und deinem Ex-Social-Media-Experten weißt du doch quasi schon alles von mir…nur meine Gedanken - die möchte ich gerne weiterhin für mich behalten."

"Das will ich auch", entgegnete er und richtete sich auf. Die Entscheidung war gefallen. "Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Es liegt jede Menge Arbeit vor uns."

Filler-Episode/ Vor vier Jahren

Rin seufzte. Die Schultasche auf den Boden abgestellt, wartete sie, dass die U-Bahn sich endlich in Bewegung setzte. Eine schöne Bescherung war das! Nachdem sie noch schnell mit Lumina bei Iruka-Nudeln eine ordentliche Portion Ramen verputzt hatte, weil sie glaubte noch genug Zeit zu haben, war sie schließlich zur Haltestelle geeilt und in den Bus gestiegen, der sie zum Busbahnhof und schließlich von dort in die Innenstadt bringen sollte. Dort angekommen kräuselte sie die Lippen. Der Busbahnhof war heute wegen Umbauarbeiten gesperrt, nicht ein Bus stand an dem sonst so überfüllten Busbahnhof. Stattdessen war das gesamte Areal mit Absperrbändern versehen.
 

Sie klammerte sich an den Halterungen über ihrem Kopf fest und schaute auf die Eingangstür.
 

Ihre Mutter schien nichts davon gewusst zu haben. Sonst war sie immer so korrekt und informierte ihre Tochter, sobald sich die Verkehrsbedingungen geändert hatten.
 

Ihr Mund wurde zu einem einzigen geraden Strich. Sicher würde sie sich nachher noch vor ihrer Mutter erklären müssen, warum sie denn so spät heimgekehrt war. Das mit der Sperrung würde sie ihr ja noch abkaufen, aber weshalb sie nicht früher gemerkt hatte, dass was nicht stimmte, brachte Rin sicher in die Bredouille. Sie müsste ihr gestehen, dass sie mit ihrer Freundin essen und deshalb so ins Trödeln gekommen war. Danach wusste Rin, was folgen würde: Sie bekäme wiede einmal zu hören, welch schlimmen Einfluss Luminas Freundschaft auf das Mädchen hätte, und so weiter und sofort. Dabei war es Rins eigene Entscheidung gewesen, noch ein bisschen mit ihrem Lieblingswuschel zu plaudern.
 

Die U-Bahn kam zum stehen; noch eine Haltestelle. Dann würde sie eilig durch die Stadt flitzen, Richtung Wochenmarkt. Die Gasse, die Rin und ihre Mutter sonst immer besuchten, konnte sie vergessen. Es war bereits kurz vor fünf, und wenn ihre Mutter nicht so dringend die Zutaten benötigte, hätte sie längst die Bahn nach Hause genommen. Aber ihre Mutter brauchte die Zutaten. Nicht vom Supermarkt um die Ecke, sondern die Guten vom Fleischer, wenn das heutige Abendessen ein voller Erfolg werden sollte. Der Chef ihres Vaters erwies sich mit seiner Frau die Ehre, da würde ihre Mutter sich hüten, das billige Fleisch von nebenan zu den Okonomiyakis zu servieren.
 

Endlich erreichte sie ihr Halteziel. Die Türen öffneten sich und Rin beugte sich gerade zu ihrer Tasche, als zwei flinke Hände nach dem Henkel griffen. Ein Kerl mit grauer Kapuzenjacke rannte aus der U-Bahn, dass Rin nur noch ein entsetztes >hey< hinterher rufen konnte. Der Dieb war so schnell, und Rin noch völlig neben sich, dass sie erst spät bemerkte, wie jemand die Verfolgung aufnahm. Ebenfalls ein Kerl, der deutlich schneller als sein Vordermann war. Geradezu athletisch, dass ihn schließlich nur eine Armlänge von dem Dieb trennte. Er machte einen Satz, warf den Kerl zu Boden und entriss ihm die Tasche. Das Spektakel schauten sich rund hundert Passagiere an. Die meisten gafften nur wie blöde, während Rin allmählich zu sich fand und in die Richtung der beiden rannte. Derweil hatte es der Dieb geschafft, sich aus der Misere zu ziehen, als der andere ihm die Tasche entwendet hatte und nach der Besitzerin Ausschau hielt. Aber das war Rin herzlich egal. Sie war froh, dass die Tasche in Sicherheit war. Schließlich hatte sie heute mehr Geld als sonst im Portemonnaie und - was noch viel wichtiger war - steckte ihr hart zusammengestelltes Deck im Seitenfach.

"Vielen Dank", Rin tat eine tiefe Verbeugung, als sich der Junge erhoben und ihr die Tasche ausgehändigt hatte. Seine Augen sahen jetzt zu Rin, die den Kopf gesenkt hielt.

"Tut mir leid, dass mir der Mistkerl entwischt ist", sagte er und fasste sich durch die Haare. Sie erhaschte einen Blick auf den großgewachsenen Kerl. Er trug die schwarze Schuluniform der östlichen Domino-City-Oberschule. Dazu die blonden, zerzausten Haare, die ihn irgendwie wild erscheinen ließen, waren sie ein völliger Kontrast zu seiner Aufmachung. Zwei türkisfarbene Augen strahlten sie an. Dabei war ihm noch immer der Ärger anzusehen, dass er den Dieb so einfach entkommen lassen hatte.

"Und dir ist nichts passiert?" Sie merkte, dass sie ihn regelrecht anstarrte und versuchte ihre eindringlichen Blicke zu erklären. Zumal noch immer dutzende Schaulustige um sie herum standen. Nur langsam löste sich die Gruppe auf und die Normalität des Feierabendverkehrs kehrte zurück in die Hallen der U-Bahnstationen.

Mit einem Lächeln erwiderte er: "Alles in Ordnung. Ich hoffe nur, dass du keinen allzu großen Schrecken davongetragen hast."

Mit glühenden Wangen schüttelte sie den Kopf.

"Zur Sicherheit", erwiderte er, "würde ich dich trotzdem noch ein Stück begleiten. Soweit das für dich in Ordnung ist. Vielleicht setzen wir uns kurz in ein Café. Du siehst ziemlich blass um die Nase aus. Ich heiße übrigens Takeshi Kawai." Das war eine Lüge. Rin war gerade alles andere als blass. Aber es schmeichelte ihr, dass er eine Ausrede suchte, um noch etwas bei ihr bleiben zu können. Das passierte nicht sehr oft - eigentlich war es sogar das erste Mal, dass Rin nur zaghaft nickte und dabei versuchte, nicht wie ein verschrecktes Reh auszusehen.

Mit langsamen Schritten verließen sie die U-Bahnstation.
 

Der Weg zum nächsten Café war nicht weit. Sie plauderten ein wenig und als er ein passendes kleines Eiscafé entdeckte, hatten sie bereits ein angeregtes Gespräch begonnen, dass es sich so anfühlte, als würde sie ihn bereits ewig kennen. Takeshi war sportlich und klug. Ein ehrgeiziger, ambitionierter Kerl, der ganz genaue Vorstellungen vom Leben hatte. Genau wie Rin besuchte er das letzte Jahr an der Oberschule und wusste, was er nach seinem Abschluss machen wollte.

"Gerade arbeite ich an ein paar kleineren Aufträgen, aber nach der Schule will ich unbedingt ein duales Studium am Theater oder einer anderen künstlerischen Einrichtung beginnen." Er zeigte ihr seine Werke - Tische, Stühle wie sie ein Tischlermeister kaum besser herstellen konnte. Rin war beeindruckt. Und fasziniert. In seinem Alter war er den meisten Idioten aus ihrer Klasse um Meilen voraus. Sie hing an seinen Lippen, nippte an ihrer heißen Schokolade und versuchte sich auf seine stählernen Augen zu konzentrieren. Dabei stieg immer wieder die Hitze in ihr hoch. Sein Lächeln war zum niederknien, die selbstsichere, coole Stimme, dazu sein Auftreten, das seine Wirkung auf Rin nicht verfehlte. Sie blühte langsam auf. Ließ sich sogar dazu hinreißen, von ihren eigenen Träumen zu schwärmen.

"DuelMonsters?! Wie cool! Und dann hast du es auch noch bis ins Finale geschafft."

Zaghaft nickte Rin. Ihr war es peinlich darüber zu reden. Die regionalen Juniorenmeisterschaften waren nichts Besonderes. Seit die DuelMonsters Kommission die Top-Turniere auf achtzehn Jahre hochgestuft hatte, blieb dem Mädchen nichts anderes übrig als sich in Geduld zu üben und in den eher bescheideneren Kreisen nach würdigen Gegnern zu suchen. Dass Takeshi so viel Begeisterung zeigte und Rins Idee nicht ins Lächerliche zog, gefiel ihr ungemein.
 

Wie sie von einem Gesprächsthema ins nächste rutschten fragte er schließlich, was Rin in die Innenstadt gezogen hatte und auf einmal kehrte die Erinnerung an das Abendessen zurück, sowie der Blick ihrer Mutter, die wohl schon ungeduldig auf sie wartete. Vor Schreck ließ sie beinahe die Tasse fallen. Sie entschuldigte sich bei Takeshi für ihren plötzlichen Aufbruch, doch er sah ihr bloß tief in die Augen und bestand darauf, sie zu begleiten. Schließlich wäre es ja seine Schuld, da er Rin solange aufgehalten hatte. Bei seinen Worten ging eine Gänsehaut von ihr aus, dass sie nur schüchtern nickte und kein Dank der Welt genügte, der ihre Freude zum Ausdruck gebracht hätte. Schnell rannten sie über die Hauptkreuzung in Richtung Wochenmarkt. Die ersten packten bereits ihre Waren zusammen. Rin überkam Panik. Wenn sie jetzt ohne ein vernünftiges Stück Fleisch nach Hause käme…zum Glück blieb Takeshi die Ruhe in Person, arbeitete systematisch die Einkaufsliste mit ihr ab. Ohne ihn wäre sie definitiv aufgeschmissen.

"Wie kann ich das nur je wieder gut machen?" Rin nahm die Beutel entgegen. Sie standen an der Straßenbahnhaltestelle. Takeshi hatte auf den Weg dorthin den Einkauf getragen.

"In dem ich dich wiedersehen darf", antwortete er ohne Umschweife, dass Rin beschämt zur Seite sah. Sein Lächeln war aber auch zum dahinschmelzen!

"Okay", hauchte sie, bevor die Straßenbahn auch schon um die Ecke bog. Sie stieg ein. Takeshi sah ihr noch hinterher, bis die Bahn hinter der nächsten Kreuzung verschwand. Mit klopfendem Herzen rutschte Rin auf einen der freien Plätze.
 

~
 

"Du hast keine Vorstellung! Es war wirklich so wie in einem dieser Bücher. Ich kann jetzt noch kaum das Zittern unterdrücken."

"Man hört es dir an", schmunzelte auf der anderen Leitung ihre beste Freundin.

Nachdem Rin heimkehrt war und ihre Mutter bezüglich ihres späten Erscheinens beruhigt hatte, war sie umgehend zum Telefon geeilt und hatte Lumina auf den neuesten Stand gebracht. Rin hatte ihrer Mutter von der Sperrung erzählt, ebenso von dem missglückten Überfall. Zweites hatte ihre Mutter in Unruhe versetzt, kaufte ihrer Tochter jedoch diese Ausrede ab, da sie erst von ihrer Nachbarin eine ähnliche Geschichte gehört hatte.

"Zum Glück kam dieser höfliche Oberschüler. Du solltest besser nicht mehr so spät mit der U-Bahn fahren." Dass dieser höfliche Oberschüler Rin zu einer Tasse heißer Schokolade eingeladen hatte, verschwieg das Mädchen. Mit dieser abgemilderten Version der Geschichte war sie nochmal glimpflich davongekommen. Hausarrest konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.
 

"Wie ging's weiter?", bohrte Lumina nach, nachdem Rin nur verlegen rumgedruckst hatte.
 

Anfangs war Rin noch unsicher, ob sie ihre beste Freundin wirklich damit behelligen wollte. Noch immer hatte Lumina an ihrer letzten Schwärmerei zu knabbern - ein älterer, verheirateter Mann, der Luminas Kopf ganz schön verdreht, aber eine ebenso tiefe Wunde in ihr Herz gerammt hatte. Das ließ sich die Schwarzhaarige nur nicht anmerken und Rin war so aufgeregt, dass sie nach dieser Aufforderung nicht anders konnte als alles bis aufs kleinste Detail nachzuerzählen.

"Also seht ihr euch bald wieder?"

Rin nickte sich selbst zu und starrte aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien. Die dicke Schneeschicht, die sich im Vorgarten gebildet hatte, würde Rin wohl den nächsten Vormittag kosten.

"Ich hoffe es", hauchte sie und stellte sich vor, wie Takeshi vor ihrem Fenster stünde. So eine schmalzige Phantasie kannte sie sonst gar nicht von sich.

"Hast du ihm deine E-Mail Adresse gegeben?" Luminas Frage riss das Mädchen aus ihrem Tagtraum.

"I-ich", sie hielt inne. Verdammt! Sie hatten doch gar keine Adressen ausgetauscht!

"Rin?!"

"Nein", wimmerte sie, "nein, nein, nein!"

"Echt jetzt?! Du hast vergessen, ihm deine Adresse zu geben? Nicht mal deine Festnetznummer?"

"Es…es ging plötzlich so schnell. Wir mussten uns beeilen und da…" Sie drückte ihr Gesicht ins Kissen. Ihr war nach heulen zumute. Wie konnte das nur passieren? Jetzt hatte sie schon mal einen tollen Kerl kennengelernt, der sie genauso zu mögen schien, und scheiterte bei so einer wichtigen Sache.

"Naja", kam schließlich aus der anderen Leitung, als Rin ihren Kopf gar nicht mehr aus dem Kissen heben wollte, "wenn er schlau ist, sollte er deine Uniform erkannt haben und dich damit finden können."

"Vielleicht", nuschelte Rin und drehte den Kopf.

"Rin?!", drang von unten die Stimme ihrer Mutter.

"Ja?"

"Die halbe Stunde ist rum."

"Ich leg' gleich auf", rief sie und sah auf den Wecker neben sich. Eine halbe Stunde telefonieren war eindeutig zu wenig für einen Teenager, aber ihre Mutter wollte einfach nicht höher gehen.

"Lumina?"

"Hab's schon mitgekriegt", stöhnte ihre beste Freundin, die das Spiel bereits kannte. "Mach' dir erstmal keinen Kopf. Wenn er dich mag, wird er dich finden. Das hier ist schließlich Domino-City und nicht Tokyo."

"Ich hoffe, du hast recht", seufzte das Mädchen.

"Konzentrier' dich jetzt erstmal voll und ganz auf das Finale am Wochenende. Wie ich hörte, soll der Erfinder von DuelMonsters bei der Siegerehrung dabei sein - und wer weiß, vielleicht hast du ja Glück und er nimmt dich nach der Schule unter Vertrag."

"Jetzt bist du es aber, die sich da ganz schön was zusammen spinnt-"

"Rin Yamamori!"

"Ich muss Schluss machen. Sonst lässt sie mich womöglich nicht zum Spiel gehen." Was ihrer Mutter wohl gut in die Karten gespielt hätte. Also verabschiedete sie sich schnell von ihrer Freundin und brachte das Telefon nach unten. Ihre Mutter stand bereits herausgeputzt vor dem Herd. Streng sah sie zu ihrer Tochter und nahm das Telefon.

"Du solltest dir wirklich bessere Freunde suchen." Ohne ihren Satz zu kommentieren holte Rin die großen Teller aus dem Hängeschrank. Als ob jemand anderes mit ihr befreundet sein wollte! In der Schule war sie als Klassenstreberin und Musterschülerin gebrandmarkt. Und seit sie mit dem Kendo aufgehört hatte, sprachen auch ihre ehemaligen Mitstreiter nicht mehr mit dem Mädchen. Ihre vielen zusätzlichen Leistungskurse und dazu der Nachhilfeunterricht in den Ferien hatten nicht gerade Pluspunkte bei ihren Mitschülern gesammelt. Lumina war die einzige, die sich die Mühe gemacht hatte, hinter die Fassade der perfekten Schülerin zu blicken, und nicht einmal ihre Mutter würde sie davon abhalten können, Zeit mit ihrem Lieblingswuschel zu verbringen.
 

Den Rest des Tages versuchte sie die brave Tochter zu sein, die vor dem Chef ihres Vaters eine gute Figur machte. Herr Hashimoto war ein älterer, freundlicher Herr, der ihren Vater in den höchsten Tönen lobte. Er war weniger streng und Rin kannte ihn schon seit Kinderbeinen, dass sie den alten Herren ins Herz geschlossen hatte. Trotzdem konnte sie sich nur schwer auf seine Fragen konzentrieren. Sie dachte an diesen süßen Jungen, den sie womöglich nie wieder sehen würde. Die Enttäuschung vermischte sich mit der Aufregung ihres morgigen Duells. Keine gute Mischung, wie Rin fand. Alles, was ihr blieb, war, sich ganz auf das Finale zu konzentrieren.
 

~
 

Die Nacht bekam Rin kein Auge zu. Ihr war übel. Sie verfluchte das Schicksal, verfluchte ihre Dummheit.

Es war kurz vor vier, als sie schließlich die Augen schließen konnte. Aber der Wecker ließ sie nicht lange schlafen. Sie sah auf ihre gepackte Tasche, in die sie ihre Kleider für das Duell hineingestopft hatte. Rin würde sich erst bei Lumina umziehen. Ihre Mutter hätte ein derartiges Outfit sicher nicht gebilligt. Diese hielt sehr wenig von Rins rockigem Kleidungsstil und wenn sie die neue Lederhose ihrer Tochter entdeckt hätte, wäre sie wohl im Dreieck gesprungen und hätte das Teil eigenhändig in den Ofen geworfen.

"Ich find, du siehst Hammer aus", bestätigte Lumina ihre eigenen Gedanken. "Es soll ja keiner denken, du würdest zimperlich mit deinem Gegner umspringen." Die Schwarzhaarige zwinkerte ihr zu. Rin rollte bloß mit den Augen und zuppelte an ihren Haaren. "Ja ja, schon verstanden, ich bin ein Arsch."

"Ein verdammt heißer in der Hose, Fräulein", legte Lumina noch einen nach. Die beiden Mädchen lachten sich an, dann wurde Rin ganz ernst. Sie war aufgeregter als bei allen Kendo-Wettkämpfen zusammen. Einmal mehr spürte sie, wie sehr sie eine richtige Duellantin sein wollte.
 

"Viel Glück", umarmte sie ihre Freundin und klopfte ihr auf den Rücken. "Zeig' diesem Dinosaurier-Heini, wo es langgeht."

"Okay", murmelte Rin und bestieg den Duellring. Ihr Herz schlug wie wild. So viele Zuschauer hatte sie nicht erwartet. Das Duell fand in einer ehemaligen Lagerhalle statt, gut fünfhundert Menschen konnten sich um den Duellring sammeln. Fünfhundert Menschen auf einen Fleck - das kam ihr doch sehr viel für ein so nichtiges Event vor. Zwar strahlte der regionale TV-Sender die Juniorenmeisterschaften aus, aber dass sich die wirklich jemand anschaute, hatte Rin doch immer stark bezweifelt. Abgesehen von ein paar DuelMonsters Fanatikern wie Rin, die jede Gelegenheit nutzten, um neue Strategien und Karten kennenzulernen.
 

Ein Kommentator in türkisfarbenem Anzug kündigte die Finalisten an. Zuerst stellte er die siebzehnjährige Rin vor. Ihr Gegenüber der amtierende Champion Ty Rex Ryuzaki. der als Glücksbringer die Mütze seines Bruders trug. Ein unangenehmer Zeitgenosse, der Rin nicht einmal begrüßt hatte. Sein Gehabe ließ keinen Zweifel, dass er dieses Duell als Heimspiel betrachtete. Gleich bekäme sie die Chance, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
 

~
 

"Ich spiele Melodie des erwachenden Drachen! Wenn ich eine Karte abwerfe, darf ich mir zwei Drachen von meinem Deck auf die Hand nehmen. Gleich stehst du der ultimativen Zerstörungsmaschine gegenüber! Dafür brauche ich nur meine Zauberkarte aufdecken: Fusion!"

"Was?!" Der Dino-Duellant zuckte zusammen. Auf Rins Spielfeldseite leuchtete Polymerisation auf."

"A-aber", stotterte der Braunhaarige, dessen Mütze ihm ins Gesicht gerutscht war. "Ich habe deinen blauäugigen weißen Drachen aus dem Spiel verbannt. Wie kannst du da den ultimativen Drachen spielen?"

"Das tue ich auch gar nicht", grinste Rin und wedelte mit ihren zwei Weißen vor ihrem Gesicht herum.

"Wa-?!"

"Du scheinst dich aber nicht gut auszukennen", schüttelte Rin gespielt den Kopf. "Zwei weiße Drachen lassen sich auch zu einem Monster vereinen." Damit eröffnete sie den Startschuss für ihre neueste Kreatur. "Blauäugiger Zwillingsausbruch-Drache!" Ein doppelköpfiger Drache breitete sich auf der gesamten Spielfläche aus. Zufrieden betrachtete Rin ihr Monster. Das viele Rumprobieren hatte sich gelohnt. Mit Staunen sahen die Zuschauer zur Bestie hinauf. Populär war dieses Fusionsmonster noch nicht, die dazugehörige Karte existierte erst seit ein paar Monaten, das nächste große Turnier fand erst im Frühjahr statt - also der perfekte Zeitpunkt, ihr neues Lieblingsmonster vorzustellen.

Nachdem das Publikum seine erstaunten Ausrufe eingestellt hatte, war es Ryuzakis Schnauben, das sie als erstes heraushörte.

"Das soll's gewesen sein? So viel Tamtam für ein Monster, das nicht einmal stärker als sein Original ist?!" Er lachte auf. "Mehr hast du nicht zu bieten? Hast du etwa vergessen, dass mein Tyranno mit 3500Atk stärker ist als dein missratener Zwillingsdrache?" Er rückte seine Mütze zurecht. "Mal ganz zu schweigen von Tyrannos Spezialeffekt: sobald du versuchst, mich anzugreifen, brauche ich nur meinen Riesen-Rex opfern und dein hübsches Monster landet in der verdeckten Verteidigungsposition."

"Ach, meinst du?"

"Was soll das heißen, hä?", blaffte ihr Gegner.

"Das soll heißen, dass du ganz schön schwer von Begriff bist. Sonst wüsstest du, dass du erledigt bist. Oder hast du meine verdeckte Karte vergessen?"

"D-das…aber-"

"Zeig' dich", Rin streckte die linke Hand aus, schwarzer Dunst blies auf dem Spielfeld, wirbelte Rins Haare umher. "Diese nette Karte", begann sie zu erzählen, "nennt sich verschwundener Wind und annulliert die Effekte deines kleinen Dinos."

"Das darf nicht sein!"

"Warte, es kommt noch besser", rief Rin, "obendrein werden die Angriffspunkte deines Monsters halbiert."

"Nein!"

"Jetzt ist dein Tyranno meinem Drachen nicht mehr so überlegen."

"Für diesen Zug", knurrte Ryuzaki, "aber glaub' nicht, dass ich dich damit davonkommen lasse. In der nächsten Runde werde ich meinen Dinosaurier zurückholen und deinen Drachen vernichten."

"Irrtum", entgegnete Rin ganz gelassen, "ich sagte doch bereits, dass du erledigt bist, denn mein Blauäugiger ist nicht irgendein Monster." Sie deutete auf die fliegende Kreatur über sich. "Seine besondere Fähigkeit erlaubt es mir, zweimal anzugreifen."

"T-trotzdem…dein, dein Monster hat immer noch nicht genug… b-bleiben noch sechshundert LP übrig."

"Und schon wieder liegst du falsch." Sie zeigte ihre letzte Karte in ihrer Hand vor. "Mit Elfenlicht erhöht sich die Power meines Drachen um vierhundert." Der Drache streckte sich. Nur ein Befehl seiner Herrin und das Duell war beendet. Das virtuelle System schaltete sich ab, die Monster verschwanden und Rin stand einer jubelnden Menge gegenüber, die dem Mädchen applaudierte. Die Arme vor der Brust verschränkt suchte sie nach einem vertrauten Gesicht, als zwei türkisfarbene Augen direkt zu Rin herüber sahen. Takeshi. Ihr Herz machte einen Aussetzer. Er war gekommen, hatte sich an ihr Gespräch erinnert. Das war ohne Übertreibung der beste Tag ihres Lebens! Sie lächelte scheu zu dem Blonden, bevor sie ihre Freundin in der Menge erblickte. Beide Mädchen nickten einander zu. Mehr Zeit gab man ihr nicht. Es folgte die Siegerzeremonie. Der Erfinder von DuelMonsters hatte sich auf die Tribüne begeben. In der Hand hielt er den Pokal, den sich Rin viel kleiner vorgestellt hatte. Ebenso den Chef von Industrial Illusions, der sich ihr mit einem sanften Lächeln näherte. Zum ersten Mal begegnete sie Pegasus J. Crawford - seine Erscheinung war imposant. Allein wegen des Wissens um seines revolutionären Durchbruchs in der Spielewelt. Als er direkt vor der Oberschülerin stand, beugte er sich leicht herunter und gratulierte ihr. "Ein gelungenes Finale, Sie können stolz auf sich sein." Er überreichte ihr den Pokal. Rins Finger waren so rutschig, dass sie fürchtete, er würde ihr sofort wieder aus den Händen fallen. "Wirklich eine nette Abwechslung, dass Sie den blauäugigen Zwillingsausbruch-Drachen gespielt haben. Es war klug, diesen letzten Trumpf bis zum Schluss in der Hinterhand zu behalten." Er klatschte in die Hände. Dann, im Schatten des Applauses, die Stimme des Firmenchefs, die nur Rin zu hören bekam: "Ihnen wird hoffentlich klar sein, dass sie mit diesen Karten niemals eine Zukunft haben werden."
 

...niemals eine Zukunft haben werden

Dieser Satz riss ein tiefes Loch auf.
 

~
 

"Ach, vergiss' den Kerl. Was weiß der schon." Leider eine ganze Menge. Aber Takeshi wollte sie nur trösten und momentan tat es gut, seine sanfte Stimme zu hören. Rin lächelte zaghaft und hauchte ein leises >danke<. Dann wandte sie sich dem Bildschirm rechts von ihnen zu. Auf sämtlichen Leinwänden der Domino-Mall war das Gesicht des Chefs der Kaiba Corporation zu sehen. Dieser kündigte neben seines neuesten Duellanten - Hiro Hacharui - das kommende Event an. Deswegen war also der Busbahnhof neulich gesperrt gewesen! Man hatte das große, runde Gebäude als künftigen Schauplatz ausgewählt. Wie sie die Kaiba Corporation einschätzte, würde wieder einmal eine phänomenale Show stattfinden und dieser Profispieler sollte nun an Seto Kaibas Stelle die Firma präsentieren. Ein bisschen beneidete sie den jungen Mann, der höchstens zwei, drei Jahre älter als Rin sein konnte. Wer würde wohl nicht gerne für Seto Kaiba arbeiten. Seine Duelle waren allesamt legendär gewesen und ein Liebhaber ihrer weißen Drachen war er auch noch.

"Für den Typen willst du nicht arbeiten", sagte Takeshi und deutete mit einem Nicken auf den Chef der Kaiba Corporation. "Das ist ein riesen Arschloch. Der würde glatt deine weißen Drachen mit eiskaltem Blick klauen."

Verdutzt sah das Mädchen zu ihrem Gegenüber. Sein Blick war todernst. Dabei konnte sie sich nicht vorstellen, dass Seto Kaiba Interesse an ihrer Zweitauflage der weißen Drachen mit eiskaltem Blick hatte. Und überhaupt. Der Kerl hatte sicher genug Geld, dass ihm Rins kleiner Schatz wohl kaum interessierte. Vielleicht früher, zu Beginn, als es lediglich vier Exemplare des blauäugigen weißen Drachen gab. Aber heute, seit dem Königreich der Duellanten, hatte es einen regelrechten Ansturm von weißen Drachen gegeben. Aber Takeshi blieb bei seinem Standpunkt. "Mein Cousin", begann er schließlich, "ging mit Seto Kaiba in eine Klasse. Wir haben zwar seit Jahren keinen Kontakt mehr, aber von seiner Schwester weiß ich, dass er nichts Gutes über ihn zu erzählen hat. Er soll ziemlich kalt und berechnend sein."

"Ach so", Rin legte die Hände auf den Schoß. Sie wollte nicht urteilen. Schließlich redeten ihre Klassenkameraden kaum anders über sie. Wer weiß, was wirklich dahinter steckte. Ein versöhnliches Lächeln von Takeshi und ihre Gedanken wurden zerstreut.

"Tut mir leid, das wird sicher das Letzte gewesen sein, worüber du reden wolltest." Er beugte sich nach vorne und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung.
 

Es war ihr drittes Treffen, und Rin wurde von Mal zu Mal aufgeregter. Dieser Kerl war einfach nur wundervoll, nahm Rücksicht auf das Mädchen und konnte sie leicht auf andere Gedanken bringen. Sie wusste, dass er genauso von ihr angetan war und das ließ die Schmetterlinge in ihrem Bauch vor Freude im Dreieck hüpfen. Sie kamen sich emotional in einem Tempo näher, dass Rin ins taumeln geriet. Doch Takeshi fing sie auf. Ein Kuss zum Abschied und sie fühlte sich in seiner festen Umarmung sicher und geborgen. Von seinen Küssen konnte sie nicht genug bekommen. Seine vollen, weichen Lippen, die sich auf ihre legten. Er strahlte so viel Selbstbewusstsein aus, dass Rin sich mitreißen ließ. Sie spürte, wie sie ihm alles geben wollte.
 

~
 

Am Valentinstag war es dann soweit. Takeshi hatte sie zu sich nach Hause eingeladen.

"Du weißt, was das heißt", in Luminas Stimme klang ein bedeutungsschwangerer Ton mit.

"Ich bin doch nicht blöd", entgegnete Rin und fummelte an dem Geschenkpapier herum. Sie hatte einen Schokoladenkuchen gebacken. Nach einem halben Tag harter Arbeit in der Küche war sie mit dem Ergebnis recht zufrieden. Backen lag ihr weniger als kochen, aber ihre Mutter war so lieb gewesen und hatte bei dem Teig geholfen. Rin hatte ihr von Takeshi erzählt, hatte es so dargestellt als wären sie sich zufällig wieder über den Weg gelaufen. Seine heldenhafte Aktion hatte Pluspunkte bei ihr gesammelt, dass Rin zuversichtlich hinsichtlich Yukikos Einverständnis war. Zumindest, was eine Beziehung ganz im Sinne ihrer prüden und konservativen Einstellung betraf. Alles andere lag wohl außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Sie wusste ja noch nicht einmal, dass Rin keine Jungfrau mehr war. Dafür hätte sie Yuichiro wohl persönlich vor den Traualtar gezerrt.
 

Rin blickte auf die dunkelrote Schleife und lächelte. Sobald sie das Geschenk überreicht hätte, wäre sie vielleicht schon in seiner Wohnung.

Takeshi wohnte seit Kurzem alleine. Seine Eltern waren vor Monaten auf eine Dienstreise aufgebrochen.

Bisher hatte er noch keinen offensichtlichen Schritt in diese Richtung gemacht. Erst gestern hatte er sie eingeladen - ganz romantisch zum Essen, am Valentinstag. Dass sich Rin daraus mehr versprach, ließ sie Takeshis versteckte Absichten verzeihen. Aber das brauchte er vorerst nicht zu wissen. Lieber spielte Rin die Rolle des naiven Mädchens, das sich einen unschuldigen Abend mit ihrem Liebsten versprach. Dabei konnten beide kaum noch die Finger voneinander lassen. Selbst auf dem Heimweg, wenn Takeshi sie von der Schule abholte, - extra den weiten Weg von seiner eigenen Schule zurücklegte, um Rin nach Hause bringen zu können - selbst da fiel es ihnen schwer, anständig zu bleiben. Wenn er sie auf seinen Schoß zog und sämtliche Passagiere mit brüskierten Blicken zu ihnen herüber starrten, vergaß Rin so manches Mal die Etiketten, die sie von Zuhause eingebläut bekommen hatte. Dabei schob er ganz beiläufig eine Hand unter ihren Rock. Rin, die den blauen Faltenrock brav bis zu den Knien trug, erschauderte bei der Berührung seiner warmen Hände, die erst bei ihren Oberschenkeln inne hielten, dort über die blanke Haut streichelten, dass Rin am liebsten rittlings auf seinen Schoß geklettert wäre, wenn da nicht die Kleinigkeit mit dem Bus gewesen wäre. Oder die Tatsache, dass sie bisher nicht miteinander geschlafen hatten. Dafür war der Zeitpunkt nie dagewesen. Und Rin war im Stillen auch froh darüber, dass sie es nicht gleich überstürzt hatten.
 

Lumina schüttelte lächelnd den Kopf.
 

Die beiden Mädchen saßen auf der Mauer, direkt vor der Bushaltestelle. Es war Freitag und die meisten Schüler hatte es bereits in das Wochenende verschlagen.
 

"Und du meinst, deine Eltern kriegen davon nichts mit?"

"Wie gesagt", Rin schubste sich von der Mauer ab, "ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich heute bei dir übernachte. Sie denkt, ich bringe dir etwas über die Yayoi-Periode bei."

"Und darauf wird sie reinfallen?" Aus der Tasche ihres Blazers zog Lumina eine Zigarette heraus. Die entsetzten Blicke der Erwachsenen ignorierte der kleine schwarzhaarige Wuschel, ebenso die geschockten Gesichter, sobald sie das lederne Halsband entdeckten. Damit hatte sie Rins Mutter nicht zum ersten Mal vor dem Kopf gestoßen, dass die Schwarzhaarige es seitdem sein ließ, ihre offenen Bekundungen während einer ihrer Besuche zur Schau zu stellen.

"Sie weiß, dass für nächste Woche eine Abfrage ansteht-"

"Und ich eine absolute Niete in Geschichte bin." Lumina nahm einen kräftigen Zug und blies genüsslich die Luft aus.

"Ich habe ihr gesagt, dass ich eine Abschrift mitbringen werde."

"Du glaubst doch nicht, dass du heute noch zum Schreiben kommst."

"Nein", Rin steckte das Geschenk zurück in die Tüte und klappte ihre Schultasche auf, "deshalb habe ich ein wenig vorgearbeitet." Sie zog ein kleines Bündel Papiere heraus und wedelte damit vor Luminas Gesicht herum. "Eine Abschrift ist für dich", sagte Rin so beiläufig, dass ihrer Freundin die Zigarette aus dem Mund fiel.

"Rin Yamamori", schüttelte Lumina breit grinsend den Kopf, "du wirst deinem Ruf gerecht. Du notgeile Streberin, du."

"Doch nicht deswegen", nuschelte Rin und fühlte sich dennoch ertappt. Ihre Freundin drückte die Zigarette aus, dann warf sie sich den Rucksack über die Schulter.

"Du gehst schon?", fragte Rin, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Seit Takeshi sie abholte, hatte es die Schwarzhaarige eilig nach Hause zu kommen.

"Du kriegst das schon ohne mich hin."

"Du weißt, dass du nicht gehen musst. Takeshi würde dich wirklich gerne kennenlernen."

"Ich hab' ihn doch schon kennengelernt."

"Die zwei Minuten", Rin verleierte die Augen. Ihre beste Freundin blieb unverbesserlich. "Ich muss doch wissen", damit sprach Rin etwas versöhnlicher und hakte sich bei Lumina unter, "ob du ihn als würdig erachtest."

"Würde das denn noch deine Meinung ändern?" Skeptisch hob Lumina eine Augenbraue. Rin grinste nur. "Sei doch nicht so. Du bleibst immer meine Liebste. Es heißt doch so schön: >Bruder vor Luder< und Schwester vor…" Mit der freien Hand tippte sich Rin ans Kinn.

"Keine Ahnung", zuckte Lumina lediglich mit den Schultern, "vielleicht >Geschwister vor Fister<?" Darauf gab es einen leichten Seitenhieb von Rin. "Also wirklich, Miss Phoenix! Sie hängen eindeutig zu viel in ihren Chatportalen herum."

"Wenn du wüsstest", säuselte Lumina und lächelte in sich hinein.

"Pass' mir nur ja auf, hast du verstanden?", mimte Rin die große Schwester und bemühte sich, Autorität in die Stimme zu bringen, "nicht, dass dich am Ende so ein Sadist in die Finger bekommt."

"Nein, Yami liebt es bloß zu provozieren, mehr nicht."

"Meinst du?" Rin seufzte. Ihre Freundin war zu stur, um sich irgendetwas sagen zu lassen. Umso überraschender war es damals für Rin gewesen, dass Luminas Vorlieben ausgerechnet darin bestanden, das devote Mädchen zu spielen.

"Denk' du lieber an deine eigenen Grenzen", Lumina nickte in Richtung Fußgängerüberweg. "Wenn man vom Teufel spricht." Mit lässigen Schritten lief Takeshi über die Straße. Seine Augen funkelten Rin bereits von Weitem an, dass dem Mädchen die Schamesröte ins Gesicht stieg.

"Ich lass' euch zwei Turteltäubchen dann mal alleine", damit entwischte ihr Lumina aus dem Klammergriff und huschte in die nächste Seitengasse.

Dieser menschenscheue kleine Flummi

Sie konnte verstehen, dass Lumina nicht unbedingt das fünfte Rad am Wagen sein wollte. Schon allein, weil sie sich damit ihrer eigenen Lage bewusst wurde, und wie sehr sie sich insgeheim eine Beziehung wie diese wünschen würde. Dabei nahm Rin Rücksicht, wenn Takeshi aufkreuzte, ersparte ihrer Freundin das viele Geknutsche und die schmachtenden Blicke. All das half nur nichts. Half nicht über Luminas schüchterne Art, die jeden Fremden einbezog. Und Rin wollte nicht betteln. Machte Lumina bereits genug Kompromisse wegen Takeshi. Heute hielt sie ihr sogar den Rücken frei - wenn Rin auch bereits dasselbe für Lumina getan hatte.

Bei dem Gedanken wurde ihr ganz flau im Magen. Daran zu denken, was nachher womöglich passierte - was nachher wohl sicher passierte…Sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Obwohl es nicht ihr erstes Mal sein sollte, war sie genauso aufgeregt.
 

Rin nahm die Schultasche und ließ sie mitsamt der Geschenktüte vor ihrem Schoß baumeln.

"Entschuldige die Verspätung", rief Takeshi ihr zu, noch bevor er das Mädchen erreicht hatte. Seine Stimme verriet, dass er den Weg über gerannt sein musste.

"Nicht schlimm", entgegnete Rin, die sich dazu zwingen musste, ihm wenigstens ins Gesicht zu sehen. Seine Haare lagen heute noch wilder als sonst. Das lag sicher am Training, freitags hatte er seinen Leichtathletikkurs, dass er es meist nicht schaffte, sie abzuholen. Nur heute, da hatte er eine Ausnahme gemacht.

Er machte einen Satz, dass er direkt vor Rin stand, zog sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf den Mund, dass Rin keine Zeit blieb, die Augen zu schließen.

"Na", grinste er sie an, dass Rin nur schüchtern die Lider senkte. Sein Jackett, das unter der offenen Jacke hervor lugte, machte sie schon nervös. Die Uniform der östlichen Domino-City-Oberschule sah viel erwachsener aus als die der westlichen Oberschule. Dass sie eine Schwäche für derartige Kleidung hatte, machte es nicht besser. Zudem waren die ersten zwei Knöpfe seines Jacketts aufgeknöpft, dass er nicht nur lässig, sondern auch verdammt heiß aussah.
 

Den einen Arm um sie gelegt, drückte er sie eng an sich und lief mit ihr über die Straße. Sie mussten die Bahn Richtung Hafen-City nehmen. Takeshi wohnte am anderen Ende der Stadt, also knapp eine dreiviertel Stunde Fahrt von Rin entfernt.

"Tut mir leid, dass ich mich nicht umziehen konnte. Ausgerechnet am Valentinstag", murmelte das Mädchen, als sie sich ans hintere Ende der Bahn gesetzt hatten.

"Du siehst doch süß in deiner Uniform aus", meinte Takeshi und zupfte an dem Saum ihres Rockes herum. Sie lehnte sich an ihn und ließ den Kopf auf seine Schulter fallen. Rin wollte nicht süß sein - ganz besonders heute nicht. Süß sagten auch ständig ihre Verwandten, dass sie es nicht mehr hören konnte. Nur bei Takeshi machte sie eine Ausnahme. Er wollte ihr schließlich nur ein Kompliment machen.
 

Je näher sie der Haltestelle kamen, umso höher schlug ihr Herz. Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, ließen sie kaum auf das Wesentliche konzentrieren. Als sie schließlich ausstiegen und den Wohnblock ansteuerten, schossen die Bilder nur so durch ihren Kopf.
 

Takeshi wohnte in einem zwölf stöckigen Hochhaus, in der elften Etage. Die Wohnung war klein, der Flur gerade einmal so groß, dass beide hineinpassten. Vorsichtig streifte sie sich die Schuhe ab, Takeshi half ihr bei dem Mantel. Sogleich bemerkte sie einen eigenartigen Geruch.

"Meine Überraschung", lächelte Takeshi, "ich werde heute für uns kochen." Das sagte er voller Überzeugung, obwohl Rin Zweifel kamen. Zwar lebte er seit einiger Zeit alleine, ernährte sich jedoch ausschließlich von Fertignudeln und dem Pizzaservice um die Ecke. Manchmal aß er auch bei seiner Tante - aber auch nur gelegentlich an den Wochenenden.

Rin versuchte sich ihre Skepsis nicht anmerken zu lassen. Wenn er extra für sie kochen wollte, würde sie ihn nicht daran hindern. Zumal es schon süß war, den Blonden hinterm Herd stehen zu sehen. Er hatte Spaghetti auf dem Speiseplan stehen. Nicht gerade das erste, das ihr einfiele, um sich ans Kochen zu probieren. Takeshi meinte, der Koch aus dem Internet hatte es ganz einfach zubereitet. Rin nickte, machte gute Miene zum bösen Spiel. Ihr Magen knurrte schon heftig. Ausgerechnet heute hatte sie die ganze Bentobox gleich in der ersten Pause verputzt. Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder. Der gedeckte Tisch war schon liebevoll eingerichtet. Takeshi hatte sogar Servietten und einen Kerzenständer in die Mitte des Tisches gestellt. Sie nahm die Streichhölzer zur Hand, entzündete drei rote Kerzen. Wenigstens etwas wollte sie dazu beisteuern. Im Moment kam sie sich eher nutzlos vor - auch wenn der leicht verbrannte Geruch ihr etwas anderes sagte.

"Die Soße habe ich gestern Abend vorgekocht", sagte er, während er eifrig in den Topf rührte, dass die rote Flüssigkeit nicht hochkam. Die eine Wand war bereits mit Spritzern versehen. Mit einem Lächeln beobachtete sie ihn dabei, wie er das heiße Wasser der Nudeln abgoss. Sie entschied sich, den Schokoladenkuchen aus dem Flur zu holen. In der Bahn hatte sie Takeshi ihr Valtentinstagsgeschenk überreicht und Takeshi hatte wie ein Honigkuchenpferd gegrinst.

Falls das Essen nicht seinen Vorstellungen entsprach, hatten sie ja wenigstens noch den Kuchen. Das stimmte ihren Bauch ein wenig zufrieden.
 

"So, bella donna", damit stellte er ihr ganz wie ein professioneller Kellner den Teller auf den Platz. Lecker sah es wirklich aus. Noch dazu, wie Takeshi die Nudeln mit der Soße drapiert und ein wenig Grünzeug darauf gestreut hatte, ließen sie kurz die Zweifel vergessen.

"Buon appetito", erwiderte Rin mit einem Lächeln. Sie sah auf die Essstäbchen neben sich.

[l]Soll ich ihm sagen, dass Gabeln besser wären…? Aber dann bringe ich ihn vielleicht in Verlegenheit…nein, ich zieh' das jetzt so durch.

Die Nudeln in den Mund geschoben hielt Rin inne.

"Hm", machte Takeshi und sah sich die Nudeln ganz genau an, "irgendwas stimmt nicht. Sollen die Nudeln so hart sein?" Er legte den Kopf schief.

"Naja", druckste Rin, "wie lange waren sie denn im Wasser?"

"So wie immer", antwortete er, "zwischen drei und fünf Minuten - hat meine Mom auch immer so gemacht."

Rin sah ihn an. Sie konnte nicht anders und unterdrückte sich ein Lachen so gut es ging. "Bei Udon oder Soba stimmt das schon. Die italienischen Nudeln brauchen etwas länger."

"Echt jetzt?!", stöhnte Takeshi und ließ die Essstäbchen sinken. "Ich bin doch echt zu blöd zum Kochen."

"Das konntest du doch nicht wissen."

"Das stand ja so auf der Packung, aber ich dachte, sie hätten es falsch übersetzt." Takeshi fing an zu lachen und auch Rin konnte nicht mehr in sich halten.

"Dabei wollte ich doch was Schönes für dich kochen."

"Der Wille zählt", entgegnete Rin. Schließlich war es das erste Mal, dass ein Junge für sie kochte. Ihrem ersten Freund wäre das nie im Leben eingefallen. Yu steckte da zu tief in dem Rollenbild zwischen Mann und Frau.

"Ich weiß das zu schätzen", ergänzte sie, "du hast dir wirklich Mühe gegeben. Trotzdem sollten wir lieber keine weiteren Nudeln essen. Das würde uns unser Magen nie verzeihen."
 

Sie aßen noch ein wenig von der Soße und einigten sich darauf, künftige Abendessen Rin zu überlassen. Ihr gefiel, dass er es als selbstverständlich sah, Rin öfter bei sich zu haben. Sie beide alleine in der Wohnung fühlte sich fast so an, als lebten sie zusammen. Die Vorstellung verdrehte ihr ganz schön den Kopf.

"Lass' mich wenigstens den Abwasch übernehmen", sagte sie und erhob sich. Nach einem leichten Protest willigte Takeshi ein und kümmerte sich derweil um die restlichen Kleinigkeiten in der Wohnung. Schmutzig war es nicht, aber Takeshi schien ein ziemlicher Chaot zu sein. Hier und da stapelten sich Holzteile und Schrauben. Sie mussten wohl in letzter Minute noch zusammengeschoben worden sein. So sah es zumindest aus. Auf der Couch hatte sich noch die ein oder andere einzelne Socke verirrt, die er auch noch zusammen sammelte. In der Zwischenzeit kümmerte sich Rin um den Abwasch. Die halbe Kücheninsel war mit gebrauchten Töpfen und Schüsseln von gestern. Sie kratzte die verbrannten Fleischstücke von der Pfanne und lächelte stumm vor sich hin. Noch nie hatte ihr Abwaschen so viel Spaß gemacht. Sie war schneller als sonst mit dem Abtrocknen fertig und brauchte nur noch die Gläser polieren. Das machte sie so routiniert, dass sie gar nicht merkte, wie sich Takeshi vor sie gestellt hatte. Er nahm ihr das Glas ab, dann legte er das Geschirrhandtuch auf den Boden. Mit der freien Hand hatte er ihr Handgelenk gegriffen und zog sie zu sich heran. Seine Lippen legten sich auf ihre. Sein Kuss war zärtlich, wie seine Zunge um Einlass bat, kam sie ihrer Bitte ohne Zögern nach. Ein Prickeln bedeckte ihren Körper, sein Kuss wurde fordernder. Während er sie enger an sich drückte, sie gerade zu an seinen Körper presste, stieg Rin die Hitze ins Gesicht, bis sie sich langsam nach unten arbeitete. Noch nie waren seine Küsse so intensiv gewesen. Die Aufregung wuchs. Mit seinen Händen packte er Rin an ihr Hinterteil, hob sie ruckartig an und setzte sie auf die frisch polierte Arbeitsfläche. Vor Schreck riss sie die Augen auf, bevor sie sich erneut von seinen Küssen bezirzen ließ und ganz darin verloren ging. Mehr denn je spürte sie, wie sehr sie es wollte; wie sehr sie ihn wollte. Sie spreizte die Beine ein wenig, wollte sie um seine Hüften schlingen, sich wie eine Schlange um ihn wickeln. Doch Takeshi hielt sie an den Waden fest. Seine Lippen lösten sich von ihr, der Blick wanderte hinunter zu ihren Beinen. Die plötzliche Reaktion ließ Rin den Atem anhalten. Hatte sie womöglich etwas falsch gemacht?

"Ich", Takeshis Stimme hatte sich verändert - sie klang rau und tiefer als sonst, "ich konnte dir noch gar kein richtiges Valentinstagsgeschenk geben." Während er das sagte, sah er nicht einmal zu ihr auf. Dabei hätte sie so gerne in seine Augen gesehen. Wenigstens kurz, um sich zu vergewissern, dass alles gut war. Seine Worte verwirrten das Mädchen.

"Das ist", setzte Rin an und wurde schlagartig wieder still, als er sie mit den Beinen näher zu sich ranzog. Rin rutschte auf dem Holz herum, geriet ins Wanken und stützte sich in letzter Sekunde mit den Unterarmen an der Arbeitsfläche ab. Dadurch war ihr Oberkörper ein wenig nach hinten gewandert, dass Rin ihren Kopf recken musste, um Takeshi richtig sehen zu können. Dieser hatte ihre Beine erst angewinkelt, dann auseinander gespreizt, dass der brave Rock nach unten rutschte, und schließlich ihre Füße auf die Arbeitsfläche postiert. Erst jetzt blickten seine Augen zu Rin, der es langsam dämmerte, was er vorhatte. Die sonst so strahlenden Augen ihres Freundes bekamen etwas Dunkles. So hatte er sie noch nie angesehen. Ein wohliger Schauer breitete sich in ihr aus, obwohl noch immer die Aufregung dominierte. Ohne von ihren Seelenspiegeln zu lassen, die selbst etwas Düsteres in sich trugen, spürte sie, wie seine Hände ihre Beine hinauf fuhren, die Innenseite ihrer Schenkel streiften und langsam das Stück Stoff unter ihrem Rock erreichten. Rin konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. So sehr der Anblick seiner Seelenspiegel sie erregte, war es ihr nicht mehr möglich, ihm weiter dabei zuzusehen. Nicht mit dem Wissen, was er vorhatte.

Ihre Wangen schienen Feuer fangen zu wollen, während er einfach weiter machte, den Saum ihres Spitzenhöschen fasste und wortlos herunterzog. Rin biss sich auf die Lippen. Die Vorstellung, welcher Anblick sich ihm gerade bot, ließ sie eine Mischung aus Scham und Erregung spüren. Eine aufwühlende Kombination, die sie nicht klar denken ließ. Sie schloss die Augen, biss die Zähne so tief in die Unterlippe, dass es schmerzte. Lediglich Takeshis tiefen Atemzüge drangen zu ihr durch. Sie wusste nicht warum, aber sie war sich sicher, dass sein Blick unter ihren Rock gewandert war. Eine Bewegung seinerseits bestätigte Rin in ihrer Vermutung. Er hatte sein Gesicht zwischen ihre Beine geschoben. Sein wildes Haar kitzelte ihre Scham. Rin drehte der Kopf. Als er dann noch einen Kuss auf einen ihrer Schenkel drückte - ganz sanft und behutsam - war es um sie gänzlich geschehen.

"Du bist wunderschön", raunte er. Rin wäre am liebsten im Boden versunken, während gleichzeitig eine Stimme in ihr sagte, sie solle es einfach geschehen lassen. Eine Stimme, die sich in ihren Kopf eingenistet hatte, sobald seine Lippen zwischen ihre Beine gingen. Dass es sich so intensiv anfühlen würde, damit hatte Rin nicht gerechnet. Das Gefühl ließ sie beinahe ihre Verlegenheit vergessen - weich fühlten sich seine Lippen an ihrer empfindsamsten Stelle an. Als würden sie mehrere nadelbreite Stiche gleichzeitig stimulieren wollen. Die Lippen fühlten sich weicher an, als wenn er sie bloß auf den Mund küsste. Dann erst noch seine Zunge, die geradezu magisch auf sie wirkte…

Lumina hatte ihr einmal erzählt, dass es genauso viel Spaß machen konnte wie konventioneller Sex. Dass es sie derart den Verstand kostete, hatte ihr niemand gesagt. Damit hatte sie bisher einfach keine Erfahrung gehabt. Yu hatte sie nie geleckt - höchstens ein wenig mit den Fingern stimuliert, das war aber auch schon alles gewesen. Takeshi schien nicht nur ein feineres Fingerspitzengefühl in Sachen erogener Zonen zu besitzen, sondern auch erfahrener im Umgang mit Frauen zu sein. Sie hatte nie nach seiner Vergangenheit gefragt und gerade interessierte es sie wenig, woher er diese Erfahrung hatte. Dafür war sie viel zu sehr in Besitz seiner Lippen genommen worden, die sie langsam auf den Gipfel zusteuern ließen. Noch nie hatte sich ein Orgsamus so genussvoll in ihr aufgebaut. Rin versuchte ihre Beine zusammen zu pressen, ihre Hüften rhythmisch zu Takeshis Zungenspiel zu bewegen. Immer weiter driftete sie ab, immer tiefer schien sie dieses Kribbeln einnehmen zu wollen. Laute drangen zu ihr durch, fremde Laute, die Rins Lippen verließen, aber nicht wie Rin klangen. Sie windete sich so gut es ging, bäumte sich in einem letzten Kraftakt auf, als sie der Höhepunkt mit voller Wucht traf. Alles drehte sich. Sie stöhnte laut auf - das einzige, wozu sie noch in der Lage war. Ihre Beine wurden wie Pudding, als Takeshi sie auch schon vorsichtig an den Knöcheln festhielt und behutsam ihre Füße herunter zog, dass sie wieder knapp über dem Boden baumelten. Allmählich öffnete Rin ihre Augen. Takeshi grinste sie schief an.

"Hat dir mein Valentinstagsgeschenk gefallen?", fragte er, wobei sein Grinsen noch breiter wurde.

"Ich..", stöhnte Rin, "liebe…es."

"Und ich liebe dich."

Rin richtete sich auf. Perplex starrte sie zu dem Blonden hinauf. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. Er legte eine Hand auf ihren Nacken. Ihre Gesichter waren nun dicht an dicht. Wo noch vor Minuten seine Lippen sie geneckt hatten, drückten sie Rin einen Kuss auf ihren trockenen Mund.

"Ich liebe dich", wiederholte er hauchend.

"I-ich", Rin schloss die Augen, schlang die Arme um seinen Hals, "ich liebe dich auch."
 

~
 

"Wann ziehst du zu ihm?", feixte Lumina und legte den Kopf schief, während ihre Augen die Karten in ihrer Hand verschlangen.

"Lenk' nicht ab", entgegnete Rin trocken und zog eine Karte, "oder glaubst du ernsthaft, dass ich mich von so einem dummen Teenagergequatsche ablenken lasse?" Ihre Augen starrten angriffslustig zu ihrem Gegenüber. Die Schwarzhaarige grinste breit. "Und ich dachte schon, die Duell-Rin wurde von ihrer niedlichen Zwillingsschwester, Miss Rosarote-Brille, verschlungen."

"Denkst du, ich nehm' das hier nicht ernst?!" Allein ihre Stimme verriet, dass sie ihr Duell sehr wohl ernst nahm und dass sie keine weiteren Verzögerungen duldete. Schon gar nicht durch so einen billigen Trick.

Lumina hob eine Augenbraue. Sie hatte aufgehört zu grinsen und wartete, dass Rin ihren Zug machte. Wenn Rin so ernst drein blickte, strahlte sie so viel Dominanz aus, wie die Schwarzhaarige von ihrer zurückhaltenden Freundin gar nicht gewohnt war; und irgendwie traute sich Lumina dann nicht, ihr etwas entgegen zu bringen. Zumindest für diesen Moment.
 

Rin drehte eine ihrer Karten zu Lumina: "Ich spiele Topf der Gier-"

"Ja, ja, schon klar, du ziehst zwei Karten," stöhnte der schwarzhaarige Wuschel, "als ob es jemanden auf der Welt gibt, der das noch nicht geschnallt hätte."

Rin wusste, dass Lumina gerne einmal die Formalitäten ignorierte und ihre Schritte unkommentiert ließ. Nicht selten führte dies zu Diskussionen, die damit endeten, dass beide die Meinung des anderen umgingen. Bei DuelMonsters verstand Rin einfach keinen Spaß und Lumina war viel zu dickköpfig, als dass sie sich von ihrer besten Freundin etwas vorschreiben ließe. Dafür kamen Lumina die Regelungen einfach viel zu hirnrissig vor.
 

Mit einem kühlen Blick, der Rins Augen ganz besonders funkeln ließ, zog sie zwei Karten.

"Ich spiele die Zauberkarte Extra törichtes Begräbnis." Die Karte landete auf der Zauber- und Fallenkartenzone ihrer Spielmatte.
 

Die Mädchen hockten in Luminas Zimmer auf dem Fußboden. Die Beine zum Schneidersitz verhakt saßen sie bereits seit Stunden in ein und derselben Pose. Es war das sechste Spiel in Folge. Allmählich knurrte den Siebzehnjährigen der Magen. Der Sieger würde über das Abendessen entscheiden dürfen. In dieser letzten Runde legte sich die Schwarzhaarige ganz besonders ins Zeug - es hatte lange kein gutes Sushi mehr gegeben und die Pizza Margherita hing Lumina bereits bis zum Hals raus.
 

"Und was soll das sein?" Lumina beugte sich zu der Karte herüber.

"Extra törichtes Begräbnis lässt mich ein Fusionsmonster von meinem Deck auf den Friedhof legen."

"Aha", murrte Lumina, da sie bereits wusste, von welchem Fusionsmonster die Rede war. Rin spielte seit jeher nur mit einem Fusionsmonstertyp, dass ihr Zug keine große Überraschung war.

"Und jetzt", Rin knallte den nächsten Zauber auf die Matte - Wiedergeburt.

"Nicht so voreilig, meine Liebe", säuselte Lumina und deckte ihre eigene Zauberkarte auf, "ich hab' hier noch eine Kleinigkeit - mystischer Raum Taifun. Damit puste ich deine Wiedergeburt vom Feld."

Daraufhin legte Rin die Karte auf den Friedhof ab.

"Da habe ich wohl deinen Plan vereitelt, nicht wahr?" Lumina stand die Schadenfreude ins Gesicht geschrieben. "Und wo wir schonmal dabei sind: Hier ist noch ein netter Schnellzauber." Die Karte erkannte das Mädchen. Es war die Zauberkarte waghalsig voranstürmen, die dem auserwählten Monster 700 zusätzliche Punkte verlieh. "Mit dieser Karte rüste ich meinen Magier des schwarzen Chaos aus." Damit stieg die Angriffskraft ihres Hexers um 3500 Atk - somit war er um genau fünfhundert Punkte stärker als Rins weiße Drachen mit eiskaltem Blick.

"Tja, Pech für deine Drachen", lächelte Lumina und spielte an ihrer Zigarette herum, die sie sich hinter ihr linkes Ohr geklemmt hatte.

Rin ließ das Ganze jedoch kalt. "Glaubst du ernsthaft, dass dein Sadomaso Kumpel mir entkommen könnte?" Damit deckte sie ihre letzte verdeckte Karte auf. "Als ob ich nichts in der Hinterhand hätte - ich aktiviere Burg der Drachenseelen. Wenn ich ein Drachemonster von meinem Friedhof aus dem Spiel verbanne, bekommt einer meiner Weißen einen Bonus von siebenhundert Angriffspunkten!" Sie legte Kindmodo Drache von ihrem Stapel. "Deine Zauberer Heinis werden nie gegen meine starke Drachentaktik ankommen. Gib' doch endlich zu, dass das hier nicht mehr als eine billige Hokus-Pokus-Show ist", Rin schüttelte müde lächelnd den Kopf. Dann gab sie das Startsignal zum Angriff.

"Nun", murmelte Lumina, "meine Monsterkarten sind vielleicht nicht so stark wie deine Weißen, aber-" Sie hatte ebenfalls noch eine Fallenkarte parat. "Wie schmeckt dir das?!", die Schwarzhaarige leckte sich die Lippen, "meine Macht des Spiegels vernichtet deine Weißen! Keiner kann dieser Fallenkarte entkommen. Nicht einmal deine ach so starken Drachen!" Mit aufgerissenen Augen wartete sie, dass Rin ihre Monster auf den Friedhof legte. Das tat sie dann auch.

"Ich weiß, dass das vorhin deine einzige Wiedergeburt war. Dann würd' ich mal sagen, es ist gelaufen."

"Wie recht du doch hast", lächelte Rin. Ihr Blick hatte sich verändert. Dieses Dunkle in ihren Augen, das sogar Lumina von Zeit zu Zeit unheimlich war, und nicht einmal von Rin bemerkt wurde - es war wieder da. "Sieh' deiner Niederlage ins Gesicht!" Das Mädchen zückte eine Karte aus ihrer Hand. Ein Drachemonster, wie Lumina auf den ersten Blick erkennen konnte. Aber kein blauäugiger weißer Drache, soviel stand fest. Diese waren nämlich allesamt auf dem Friedhof.

Dieser Kreatur begegnete Lumina zum ersten Mal. "Na los", säuselte Rin wie die Hexe aus Hänsel und Gretel, die die Kinder in ihr Lebkuchenhaus lockte, "lies'." Dieser Aufforderung kam Lumina nur zögerlich nach. Mit jeder vorangeschrittenen Zeile wuchs das Entsetzen in ihren Augen.

"Das-", der Schwarzhaarigen blieb der Mund offen stehen.

"Du hast dich nicht verlesen", las Rin die Gedanken ihrer Freundin. "Diese Karte ist so mächtig und sie wird dieses Duell dem Garaus machen. Ich schwöre dir, so eine Niederlage wie diese hast du noch nie erlebt."

"Tiefäugiger weißer Drache", murmelte Lumina fassungslos, "was für eine kranke Scheiße ist das denn?!"

"Ein nettes kleines Extra, das ich mir im Finale der Juniorenmeisterschaft verdient habe", entgegnete Rin mit einem diabolischen Grinsen.
 

Es war die Belohnung ihres Sieges gegen Ryuzaki. Statt eines Preisgeldes war den minderjährigen Teilnehmern eine seltene Karte versprochen worden, die exklusiv von Pegasus J. Crawford ausgesucht wurde. Nachdem Rin ihren Preis per Sonderkurier zugestellt bekommen hatte, hatte sie ihren Augen nicht trauen können. Das war nicht nur eine Karte der Secret Rare Stufe - der seltensten und wertvollsten Stufe in DuelMonsters. Sie war eine Zerstörungsmaschine, wie sie Rin noch nie zuvor erlebt hatte.
 

Gelassen legte sie die Karte auf die Monsterzone.

"Ich wusste, dass du es dir nicht entgehen lassen konntest, meine weißen Drachen mit Spiegelkraft anzugreifen. Das war die perfekte Gelegenheit, meinen neuen Schatz auszuprobieren. Sobald ein blauäugig Monster auf dem Spielfeld zerstört wird", fasste Rin zusammen, "kann ich tiefäugiger weißer Drache direkt von meiner Hand beschwören. Aber es kommt noch besser", tiefe Schatten bildeten sich unter Rins Augen, während ihr Lächeln immer breiter wurde. "Für jedes unterschiedliche Drachemonster in meinem Friedhof verlierst du 600 Lebenspunkte. Das macht bei vier Drachemonstern-"

"Zweitausendvierhundert", schluckte Lumina, deren Lebenspunkte auf vierhundert herunter geschraubt wurden.

"Und nun kommen wir zum Besten", Rin deutete auf ihren Friedhof, "wie du sehen kannst, besitzt mein Tiefäugiger gerade überhaupt keinen Angriffspunkt. Aber das wird nicht von Dauer sein, glaube mir. Denn seine dritte spezielle Fähigkeit lässt mich ein Drachemonster von meinem Friedhof wählen. Von ihm bekommt mein Drache dann seine Angriffspunkte. Na, kannst du dir denken, welches Monster ich mir ausgesucht habe?"

Lumina blickte wie hypnotisiert zu ihrer Freundin herüber. "Du…deswegen hast du den ultimativen Drachen auf den Friedhof gelegt! Du wolltest ihn gar nicht mit Wiedergeburt beschwören. Das war bloß eine Falle, damit ich meine verdeckten Karten spiele."

"Ich wusste, du würdest dich in Sicherheit wiegen, sobald du meine Zauberkarte Monsterreanimation zerstört hättest. Mir ist klar, dass du einen Großteil meiner Karten kennst und dass Wiedergeburt nun mal zu den seltenen Karten zählt, weswegen ich auch nur eine in meinem Deck besitze. Aber das ist nicht der einzige Grund." Rin wedelte belehrend mit dem Zeigefinger. "Schließlich kaufen einem so die Gegner ab, man könne nicht mehr auf seinen Friedhof zurückgreifen. Ein ziemlich einfältiger Gedanke."

Lumina gab ein Knurren von sich. Ihre Freundin wusste ganz genau, wieso. Lächelnd sah sie zu dem Magier des schwarzen Chaos. "Lass' mich raten: deine letzte verdeckte Karte ist Ruf der Gejagten, mit dem du entweder deinen Chaosmagier oder deinen dunklen Magier wieder aufs Feld holen wolltest-"

"Das könnte dir so passen", funkelte sie Lumina an, bevor sie eine Hand schützend um die Karte des Magiers legte. "Du würdest doch absichtlich nicht angreifen, nur um mich meinen schwarzen Magier noch einmal beschwören zu lassen, damit du dann beide endgültig vernichten kannst… Ich lasse nicht zu, dass du sie zerstörst! Ich gebe auf."

"Vergiss' es", lachte Rin und riss die Augen auf, "du bist nicht in der Position zu kapitulieren. Das ist immer noch mein Zug und ich will sehen, wie mein Tiefäugiger deinen Hexer vom Feld räumt! Lumina. Wenn du noch einen Funken Duellantenstolz in dir trägst, lässt du mich dein Monster erledigen. Sieh' dem Tod direkt in die Augen!"

"Niemals", Lumina warf sich auf ihre Karte, "mach' das mit diesen Duellantenschnöseln, aber ich weigere mich, meine Lieblinge für deine perversen Machtspielchen zu opfern." Die beiden Mädchen sahen sich lange an.

"Spielverderber", gab Rin schließlich seufzend nach, dann packte sie ihre Karten zusammen.

"Obwohl ich zugeben muss", sagte schließlich Lumina etwas versöhnlicher, "dass mich diese Karte echt umhaut. Mit der könntest du die Profis allesamt vom Feld pusten", mit einem finsteren Grinsen fügte sie hinzu: "ich würde dir nur zu gerne dabei zusehen, wie du damit Seto Kaiba eine vor'm Latz haust."

"In welchem Universum duelliere ich mich mit Seto Kaiba?", schüttelte Rin den Kopf, "mal davon abgesehen, dass er gar nicht mehr spielt."

"Wenn das Herz der Karten es so will", entgegnete Lumina in ihrem völlig übertriebenen Singsang.

"Vergiss' nicht", wandte Rin ein und steckte die Karten zurück in ihre Box, "du hast mir verboten, für die Kaiba Corporation zu arbeiten."

"Du sollst ja auch nicht für ihn arbeiten. Wenn du für Industrial Illusions oder sonst wen spielst, wirst du ihn knallhart zum Duell herausfordern. Dann wird sich ja zeigen, wer der wahre Meister der weißen Drachen ist."

"Für Crawford werde ich sicher nicht arbeiten", murmelte Rin und erinnerte sich nur schmerzlich an die letzten Worte des Firmenchefs. Sie sah auf ihre Deckbox.

"Nimm' dir das nicht so zu Herzen", Lumina faltete die Spielmatten zusammen, "als ob der sich in ein paar Jahren noch daran erinnern wird, was er mal zu einem Mädchen aus der Oberstufe gesagt hat. Und wer weiß: vielleicht wird Kaiba ja sein Status als eiskalter Drachenbezwinger eines Tages aberkannt."

"Du hasst diesen Kerl wirklich, oder?"

Lumina ballte die Hände zur Faust. "Ich werde ihm niemals verzeihen, dass er meine geliebten Kapselmonster eingestanzt hat! Aber genug davon", ihr Blick schweifte zu dem Fensterbrett, auf dem ein paar ihrer liebsten Sammlungen standen. Seit Rin denken konnte war ihre beste Freundin ein begeisterter Sammler dieser kleinen Kapselfiguren gewesen. Wie eine Süchtige war sie von Automat zu Automat gewandert, um die seltensten Figuren in die Finger zu bekommen. Die Krieger-Minifiguren hatten es ihr bei dem Spiel besonders angetan gehabt. Damals sollte ein ganz besonderes Monster herauskommen. Lumina war in der Mittelstufe ganz aufgeregt gewesen. Doch dann hatte die Kaiba Corporation - kurz nach ihrer Übernahme - das Ende von Capsule Monsters bekanntgegeben.
 

Die Matten zurück unters Bett geschoben, griff Lumina nach ihrem Handy.

"Also Pizza?", fragte der schwarzhaarige Wuschel und tippte bereits die Nummer ihres Pizzalieferanten ein.

"Sushi klingt auch gut", entgegnete Rin und zückte ebenfalls ihr Handy. "Mit Takeshi musste ich die Woche auch schon Pizza essen. Etwas Abwechslung schadet nicht."

"Da sag' ich doch nicht nein", rieb sich Lumina die Hände und lauschte dem Telefonat ihrer Freundin, wie diese eine große Sashimi-Box für sie beide bestellte.

"Wirklich großzügig von deinem Freund gewesen, dir dieses Handy zu schenken." Lumina erhaschte einen Blick auf das Display. Rin hatte noch nicht einmal die Tastensperre aktiviert, als ihr die Schwarzhaarige das Handy entriss.

"Hey", rief Rin, als Lumina auch schon los prustete. "Typisch Rin: das erste, was sie sich aufs Handy packt, ist die DuelMonsters-App! Schön zu sehen, dass sich manche Dinge nicht ändern - selbst mit Freund."

"Hm", murmelte Rin und wurde ein wenig rot an den Ohren.
 

Takeshi hatte das Handy eines Tages mitgebracht, und Rin war überglücklich darüber gewesen, dass sie sich von nun an jederzeit sprechen konnten. Zwar trafen sie sich mittlerweile fast täglich und Rin wohnte an den Wochenenden quasi bei Takeshi, aber unter der Woche hatte sie dann doch Sehnsucht nach ihm. Besonders abends vor dem Einschlafen. In seiner Nähe kam sie einfach immer noch am besten zur Ruhe. Sie hatte sich schon so daran gewöhnt, dass ihre Hand ganz automatisch nach dem Blonden suchte. Das Telefonieren - oder hin und wieder eine süße Textnachricht von ihm - halfen dem verliebten Mädchen, die einsamen Stunden zu überstehen.
 

Flüchtig überflog Rin die letzte Nachricht. Takeshis Tante hatte ihn und Rin für morgen zum Mittagessen eingeladen. Da seine Tante in der Abwesenheit ihrer Eltern als Mutterersatz herhielt, empfand es Rin als Riesenschritt, dass man sie dabei haben wollte. Deswegen war sie schon die ganze Woche aufgeregt gewesen.
 

~
 

An diesem Sonntagvormittag putzte sich Rin besonders heraus. Sogar ihre Mutter hatte ihr bei der Frisur geholfen und eine hübsche Spange ins Haar gesteckt. Das Mädchen hatte ihr von der Einladung erzählt. Takeshi hatte bei Yukiko bereits ein Stein im Brett, da sie ihm für sein vortreffliches Benehmen während des Überfalls zutiefst dankbar war. Das erste offizielle Treffen, bei dem das Mädchen ihren Freund hatte vorstellen können, lag auch noch nicht lange zurück, aber Yukiko war so begeistert von Takeshi, dass er seitdem regelmäßig zum Abendessen eingeladen wurde.
 

"Hast du das Geschenk für seine Tante eingepackt?", fragte ihre Mutter und klemmte eine letzte wirre Strähne zwischen eine der schwarzen Klammern.

"Ja, Mutter." So lieb gemeint die Fragereien ihrer Mutter waren, brachten sie das Mädchen völlig aus dem Konzept. Zum Glück traf Takeshi bald ein. Er hatte sie etwas eher abgeholt, damit sie in aller Ruhe durch die Innenstadt kämen.
 

Das Event der Kaiba Corporation hatte wieder einmal halb Domino lahm gelegt. Busse und Bahnen fuhren zu den chaotischsten Zeiten. Mehrere Straßen, allen voran der Busbahnhof, blieben bis auf Weiteres gesperrt. Um was für ein Event es sich nun genau handelte, wurde jedoch nicht verraten. Dabei hatte die Kaiba Corp. zu Beginn ein riesiges Spektakel versprochen, das am Ende wegen technischer Fehler ins Wasser gefallen war. Es hatte etwas mit den Ereignissen der letzten Wochen zutun. Als bei einigen Spielern die DuelDisc's außer Kontrolle geraten waren, hatte es keine weiteren Details für die Öffentlichkeit gegeben. Hin und wieder sah man aus der Ferne ein Monster aufsteigen oder einen Feldzauber aktivieren. Der Rest blieb geheim.

Warum auch immer diese Profis so ein Geheimnis um ihre Duelle machen müssen
 

Trotz Staus schafften sie es rechtzeitig zur Bushaltestelle. Takeshis Tante lebte mit ihrer Tochter in einem Vorort von Domino-City. Sie wohnten in einem kleinen Haus, das die Tante nach der Scheidung hatte behalten dürfen. Es gab einen winzigen Vorgarten, der den Weg zum Eingang mit Frühjahrsblühern schmückte. Rin lief ein Stück hinter Takeshi. Auch wenn sie noch lange kein so menschen scheues Reh wie Lumina war, fühlte sie sich in Anwesenheit Fremder unsicher. Takeshi ergriff von hinten ihre Hand. Ihr Freund strahlte so viel Selbstsicherheit aus, dass auch Rin sich einen Ruck gab, als die Türen sich öffneten und Masago Kawai ihre Gäste mit einem freundlichen Lächeln empfing. Dahinter stand ihre Tochter, die ein Jahr jünger als Rin war, und lächelte ebenfalls.

"Endlich lernen wir uns kennen", das Mädchen mit den kastanienbraunen Haaren nahm Rins Hände und strahlte übers ganze Gesicht, "Takeshi hat mir schon viel über dich erzählt. Rin, richtig? Ich bin Shizuka."

Angesprochene lief rot an und nickte. Die warmherzig offene Art der Jüngeren war für Rin ungewohnt, dass ihr Magen zu rebellieren begann. Doch es half, dass sie schnell warm mit den beiden wurde.

Mit einer tiefen Verbeugung bedankte sie sich für die Einladung und überreichte der Tante das Geschenk. Diese freute sich über das selbstgemachte Gesteck, von dem das meiste ihre Mutter gemacht hatte; Rin hatte ihr lediglich assistiert.

"Was für eine liebe Freundin du hast", sagte seine Tante. Sie saßen zusammen im Esszimmer. Rin schöpfte aus ihrem Repertoire an gepflegter Konversationen am Essenstisch. Sie wusste, dass sie bei den Erwachsenen gut ankam - ein gebildetes Mädchen, das höflich und bescheiden war, kam eben immer gut an. Während sie auf Frau Kawais Fragen antwortete, spürte sie Takeshis Blicke von der Seite, dass sie sich kaum mehr richtig konzentrieren konnte.

Wenn er dabei nur nicht so heiß aussehen würde…

Beinahe flüchtig berührte er ihren Unterarm, dann nahm er sich noch Nachschlag vom Eintopf, wobei er mehr Fleisch als Gemüse auf den Teller packte - eben typisch Takeshi.
 

"Ihr seid ein süßes Paar", schwärmte Shizuka, die Rin mit auf ihr Zimmer genommen hatte. Ihre Mutter hatte Probleme mit dem Abfluss der Spüle, dass Takeshi notdürftig als Klempner herhalten musste. Nicht das erste Mal, dass der Blonde sein handwerkliches Können unter Beweis stellte.
 

"Danke", entgegnete Rin, obwohl sie sich blöd vorkam, keine bessere Antwort auf die Reihe zu bekommen. Warum musste sie auch so steif sein?!

Um von diesem - für Rin - peinlichen Moment abzulenken, lief sie auf den Schreibtisch zu und betrachtete die dort aufgestellten Fotos. Darauf waren ein kleiner Junge und ein noch jüngeres Mädchen zu sehen. Die beiden lächelten in die Kamera. Das Mädchen wirkte unbeschwert, der Junge feixte mit dem Fotografen. Auf einem der Bilder war das Meer abgebildet. Rin griff nach dem Foto und betrachtete die glücklichen Gesichter. Der kleine blonde Junge mit der Wuschelmähne erinnerte sie stark an Takeshi.

"Das ist mein großer Bruder", verkündete Shizuka stolz.

"Takeshi hat ihn einmal erwähnt", erinnerte sich Rin und stellte das Foto zurück an seinen Platz. "Er lebt bei seinem Vater, richtig?"

"Früher, ja. Er hat inzwischen eine eigene Wohnung gefunden. Mein Bruder hatte es nicht leicht. Unser Vater…", sie sah zur Seite, "wenn er getrunken hat, kann er sehr schnell aus der Haut fahren. Mein Bruder hat von uns allen am meisten einstecken müssen. Ich weiß gar nicht, wie er es solange mit ihm aushalten konnte." Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. "Er hat immer einen auf stark und cool gemacht - damit ich mir keine Sorgen mache. Aber so einfach war das gar nicht. Ich wusste ja, was los ist, obwohl mir nie jemand die Wahrheit sagen wollte. Nicht einmal Mama - dabei hat es sie mehr verletzt als sie zugeben mag." Eine Träne huschte über ihre rechte Wange. Mit einem Lachen wischte sie diese aus ihrem Gesicht. "Entschuldige, manchmal gehen die Gefühle mit mir durch. Dabei habe ich längst keinen Grund mehr, mir Sorgen zu machen. Ich weiß, dass mein Bruder nicht alleine ist. Er hat die tollsten Freunde, die man sich nur vorstellen kann", sie strich über das Foto, "und ich habe den tollsten Bruder."

"Man merkt, dass du deinen Bruder liebst."

"Er ist einfach der Beste", sie legte den Kopf schief, "ich weiß gar nicht, warum ich kein aktuelles Foto habe. Dabei haben wir uns erst vor zwei Jahren wiedergesehen."
 

Rin hatte schon immer die Leute in ihrer Klasse beneidet, die einen Bruder oder eine Schwester hatten. Das Mädchen wuchs von Anfang an als Einzelkind auf, dass sie nicht wusste, was sie der Jüngeren sagen sollte.
 

Shizuka wandte sich von dem Foto ab. Sie sah jetzt eindringlich zu Rin, die nicht wusste, ob die Braunhaarige eine Reaktion von ihr erwartete.

"Rin", sprach sie schließlich ihren Namen, wobei sie das Wort wie eine verängstigte Grundschülerin künstlich in die Länge zog. "Kann ich dich etwas fragen?"

"Natürlich."

Die Jüngere wurde schlagartig rot im Gesicht. "Ich weiß, wir kennen uns noch gar nicht so lange, aber wie ich Takeshi und dich zusammen gesehen habe…er hat mir schon so viel über dich erzählt, dass ich das Gefühl habe, dir vertrauen zu können, und…naja…dass du mir bestimmt einen guten Rat geben könntest."

Dass Takeshi so viel über Rin erzählt hatte, war dem siebzehnjährigen Mädchen irgendwie unangenehm. Wer weiß, was für ein Bild sie gegenüber der liebevollen Cousine abgeben musste. Schließlich war sie bloß ein unscheinbares Mädchen, das wegen ihrer guten Noten und der stillen zurückhaltenden Art eher unbeliebt war. Erst das Finale der DuelMonsters Juniorenmeisterschaft hatte bei den männlichen Klassenkameraden für Aufsehen gesorgt. Einer der Jungs hatte Rin im Fernsehen gesehen, dass innerhalb einer Woche die ganze Schule Bescheid wusste. Seitdem fragte sie der ein oder andere Schüler, ob sie nicht Lust auf ein Duell hätte - ganz in klassischer Battle-City-Manier, wo der Sieger die seltenste Karte des Verlierers bekam. In den Wochen hatte Rin eine beachtliche Anzahl an neuen Karten hinzugewonnen. Sicher nicht das, was sich die Jungs unter einem Duell mit dem Mädchen vorgestellt hatten.
 

"Um was geht es denn?", Rin schluckte ihre negativen Gedanken herunter. Schließlich war sie bisher herzlich aufgenommen worden. Das Mädchen, das Rin direkt gegenüberstand, machte nicht den Eindruck, als würde sie ihr etwas vorspielen. Das machte ihr Mut.

"Es geht um einen Jungen", nach längerem Rumdrucksen war Shizuka mit der Sprache rausgerückt.

Als Antwort blinzelte Rin sie an. Damit hatte sie nicht gerechnet. In Sachen Jungs war sie nun wirklich keine Expertin.

Oder vielleicht doch?

"Wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt. Damals hat er mir seine Nummer gegeben. Er sagte, dass er mich mag und dass ich mich jederzeit melden kann, wenn ich mich bereit dafür fühle-"

Zwei Jahre?! Rin machte große Augen. "Und du? Magst du ihn auch?"

Was für eine doofe Frage. Sonst würde sie mir wohl kaum davon erzählen

"Ja", hauchte die Braunhaarige und steckte sich eine Strähne hinters Ohr. Ihre Kopf war hochrot angelaufen. Rin kannte dieses Gefühl nur zu gut. Die Jüngere schien ihn wohl mehr als nur zu mögen, Rin erwiderte nur nichts in diese Richtung, damit Shizuka schnell weiter erzählte: "Ich habe den Zettel mit der Nummer immer bei mir", aus der Tasche ihrer Shorts holte sie ein vergilbtes Blatt Papier hervor. Diesen hielt die Sechzehnjährige wie einen Schatz zwischen den Fingern. Ihre Augen strahlten, während sie das Papier betrachtete. "Ich muss ständig daran denken, was er damals zu mir gesagt hat. Ich möchte mich so gerne bei ihm melden, Rin, aber-," sie zerdrückte den Zettel in ihren Händen und schaute zu dem Mädchen hinauf, "er ist doch ein Freund meines Bruders! Noch dazu drei Jahre älter als ich-" Das aufgeschlossene Mädchen wirkte plötzlich scheu und unsicher. "Was ist, wenn wir feststellen, dass wir gar nicht zusammenpassen? Mein Bruder würde das Gefühl haben, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. Was, wenn ich dadurch ihre Freundschaft aufs Spiel setze, nur weil ich den Freund meines Bruders mag?" Geknickt steckte sie den Zettel zurück in die Hosentasche. "Immer wenn ich kurz davor bin, die Nummer einzugeben, sagt mir eine Stimme, dass ich es bereuen könnte. Und sobald ich den Zettel weg lege, habe ich das Gefühl, dass ich einen großen Fehler mache. Ach, Rin, ich bin so verwirrt. Weißt du vielleicht, was ich tun soll? Ich will nicht, dass du denkst, ich würde die Entscheidung auf dich abwälzen, aber wenn ich dich und Takeshi sehe, - wie toll ihr zusammen passt, obwohl ihr so unterschiedlich seid… - dann glaube ich, dass du dich am besten in meine Lage hineinversetzen kannst."

Rin verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie die Geschichte sie aufgewühlt hatte. Seit zwei Jahren trug Shizuka den Zettel mit seiner Nummer bei sich. So eine Geschichte hätte auch Rin ähnlich gesehen. Statt sich wegen ihres Bruders schlecht zu fühlen, wäre aber Rin zu feige gewesen, sich nach so langer Zeit noch zu melden. Immerhin lagen zwei Jahre dazwischen. Es konnte sich vieles verändert haben. Gefühle konnten sich mit der Zeit verändern. Der Junge von damals konnte nicht ahnen, dass Shizuka Tag für Tag mit sich und ihrer Entscheidung haderte - jedoch nicht an ihren Gefühlen. Genauso wenig schien die Braunhaarige an den Gefühlen des Jungen zu zweifeln, oder daran, dass er womöglich nicht mehr so wie damals empfand. Ihre eigenen Grübeleien behielt Rin für sich. Sie wollte Shizuka nicht noch mehr verunsichern.

"Ich denke", entgegnete sie schließlich, "dass du dir keine Gedanken um deinen Bruder machen musst", sie lächelte, "du hast doch selbst gesagt, dass er die besten Freunde überhaupt hat. So jemand würde nicht das Risiko eingehen, seine Freundschaft zu gefährden. Er muss sich schon sehr sicher sein, dass er mit dir zusammen sein will. Ich hab' mal gehört, dass große Brüder ihre kleinen Geschwister bis aufs Blut beschützen. Kein Junge würde sich wohl freiwillig verprügeln lassen."

"Oh", machte ihr Gegenüber, "so habe ich das noch gar nicht gesehen", ihre glühenden Wangen kehrten zurück, "also meinst du, ich soll ihn anrufen?"

"Deine Angst kann ich dir nicht nehmen. Auch nicht deine Entscheidung. Aber du wirst dich ewig fragen, ob es ein Fehler ist oder nicht. Und manchmal…naja manchmal muss man vielleicht auch einfach damit leben, dass man einen Fehler gemacht hat. Aber dass du die Freundschaft der beiden aufs Spiel setzt, glaube ich wirklich nicht. Hab' einfach ein bisschen Vertrauen in deinen Bruder und seine Freunde - so wie sonst auch."

Wieder wischte sich Shizuka eine Träne aus dem Gesicht. "Danke für deine Worte."

"Keine Ursache." Rin war ebenso erstaunt, wie selbstsicher ihre Antwort herausgeschossen kam. Dabei wusste sie nichts über ihren Bruder, noch über dessen Freunde. Vielleicht richtete sie mehr Schaden damit an, als dass sie eine Hilfe war. Am liebsten hätte sie ihre Worte zurückgenommen. Nichts zu sagen, wäre eindeutig die bessere Lösung gewesen. Zumindest für Rin. Schließlich wollte das Mädchen nicht verantwortlich sein, wenn das Ganze nach hinten losging. Doch es gab kein Zurück. Spätestens als Takeshi ins Zimmer kam und die Mädels zurück in das Wohnzimmer beorderte, trottete Rin den beiden hinterher, während Shizuka nicht entschlossener hätte aussehen können und Rin sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte.
 

"Alles in Ordnung?", fragte Takeshi, der Rin auf der gesamten Heimreise dabei beobachtete, wie sie seufzend aus dem Fenster blickte.

"Ich hätte meine Klappe nicht aufreißen dürfen", murmelte sie.

"Ich verstehe nur Bahnhof", lächelte Takeshi entschuldigend. Daraufhin drehte sich Rin zu ihm um und fasste das Geschehene zusammen.

"Mach' dir keinen Kopf", er umfasst ihr Kinn und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen, "Shizuka ist alt genug, das selbst zu entscheiden. Außerdem hat deine Antwort genau ins Schwarze getroffen. Der Kerl wird nicht so dumm sein, seine Freundschaft wegen der Schwester seines Kumpels aufs Spiel zu setzen. Und wenn, dann ist er sowieso ein Arsch und hätte eine Tracht Prügel verdient. Es heißt doch >Bruder vor-"

"Ich weiß schon", Rin sah zur Seite. Sie lächelte jetzt ebenfalls. Ihr Magen grummelte auch nicht mehr so schlimm. Dafür machte ihr Herz einen Hüpfer. "Es war schön…heute", sagte sie und lehnte ihre Stirn an seine.

"Fand ich auch", er legte einen Arm um sie, "ich freue mich schon, dich irgendwann meinen Eltern vorstellen zu können."
 

~
 

Sie starrte auf die Tafel. Jetzt waren seine Eltern seit vier Tagen von ihrer Dienstreise zurück und Rin hatte seitdem kaum etwas von Takeshi gehört. Natürlich wusste sie, dass die drei sich viel zu erzählen hatten. So viele Monate voneinander getrennt zu sein, konnte sich Rin überhaupt nicht vorstellen - egal wie anstrengend ihre Mutter oder wie streng ihr Vater sein konnten. Trotzdem machte es das Mädchen nervös, ihren Freund so lange nicht zu Gesicht zu bekommen.
 

"Schlagen Sie Kapitel drei in Ihren Lehrbüchern auf", sagte der Geschichtslehrer, dass Rin nach links zu der Lektüre griff. Sie war darin so routiniert, dass sie nicht bemerkte, wie sie die richtige Seite umblätterte.

Hoffentlich liegt es nicht daran, dass sie mit mir als Freundin nicht einverstanden sind.

Sie sah auf den Text.
 

Takeshi und sie hatten bereits ihre Pläne für den Sommer festgelegt: Nach dem Abschluss wollten sich beide eine gemeinsame Wohnung suchen. Rin hatte bereits in einem Modegeschäft nach einem Job gefragt und Takeshi sparte schon fleißig für ihr erstes Mobiliar. Da der Blonde ganz genau wusste, welche Universitäten für ihn in Frage kamen und er mit hundertprozentiger Sicherheit die Stelle in Domino bekommen würde, stand ihrer gemeinsamen Zukunft nichts im Wege. Rin würde sich sowieso nur aus Verpflichtung gegenüber ihren Eltern an der Universität einschreiben. Mit Rins Notenspiegel nahm sie jede Fakultät mit Kusshand auf. Sie würde eh nur solange an der Uni bleiben, bis die Aussicht auf eine Einstellung als Profiduellant winkte.
 

"...Frau Yamamori?", hatte der Lehrer die Frage an Rin weitergereicht.

Das Mädchen erhob sich: "Die Zokujōmon-Zeit."

"Richtig. Danke, Sie können sich wieder setzen."
 

"Echt, Rin", stöhnte Lumina, riss das Plaste auf und schob den Onigiri aus der Verpackung. Genussvoll nahm sie einen großen Bissen ihres Reisbällchens. "Du hascht nischt ma tschugehört und trotschdem rischtig geantwortet."

"Tja, das ist eben meine Superkraft", zuckte Rin mit den Schultern und stocherte in ihrem Mittagessen herum.

"Was war denn vorhin überhaupt los?"

"Nichts Wichtiges. Nur meine typische Grübelei. Ist sowieso Schnee von gestern." Sie kramte aus ihrem Blazer das Handy heraus. "Kannst du mir lieber sagen, was das zu bedeuten hat? Mir schwirren nämlich nur die verrücktesten Fantasien herum. Ich brauche deinen kühlen Kopf." Sie öffnete den Chatverlauf zwischen sich und Takeshi. Lumina griff nach dem Telefon und las den Text. Der schwarzhaarige Wuschel schluckte schwer.

"Und?", Rin riss die Augen auf. Wie Lumina sie so ansah, wurde ihr ganz flau im Magen.

"So wie ich das sehe…also-"

"Nun sag' schon!"

"Es sieht danach aus, als würde er dir einen Antrag machen." Die beiden Mädchen starrten sich fassungslos an. Selbst Lumina wurde rot im Gesicht. "Ich meine", Lumina warf die leere Verpackung in den Eimer neben sich, dann griff sie die Zigarette hinter ihrem Ohr und drehte sie wie verrückt zwischen die Finger. "Ich meine, er will dich heute unbedingt an eurem Lieblingsplatz treffen. Dann sind seine Eltern erst kürzlich nach Hause gekommen. Vielleicht musste er noch ein paar Dinge vorbereiten und hat sich deshalb kaum bei dir gemeldet. Schließlich ist der Kerl verrückt nach dir. Der hat sicher einen triftigen Grund, wenn er dich nicht sehen kann."

"Und ich dachte, ich reime mir da was zusammen", ihre Hände begannen zu zittern. Ein Antrag? Das kam selbst Rin zu überraschend. Beide hatten vor Längerem übers Heiraten gesprochen. Dabei waren sie sich einig gewesen, damit noch ein- zwei Jahre zu warten. Takeshi wollte Rin eine Hochzeit mit allem drum und dran bieten, die ihre derzeitige finanzielle Lage nicht hergeben konnte. Aber allein, dass er sich so viele Gedanken machte, hatte Rin in spannende Vorfreude versetzt.
 

Wenn ihre beste Freundin jedoch sagte, dass er heute Nachmittag um ihre Hand anhalten würde - im Stadtpark, neben der Trauerweide, ihrem Lieblingsplatz - dann musste es stimmen. Lumina war nicht der Typ, der sich aus ein paar belanglosen Sätzen etwas zusammen sponn.

"Und? Wirst du seinen Antrag annehmen?" Luminas Satz verfolgte sie den gesamten Weg über. Sie hatte sich noch schnell Zuhause umgezogen - die biedere Uniform gegen ein niedliches Frühlingskleid getauscht, von dem sie überzeugt war, dass es Takeshi gefallen würde. Mit zittriger Stimme hatte sie ihrer Mutter erzählt, sie würde sich noch schnell in der Mall das neue DuelMonsters-Pack kaufen. Kopfschüttelnd hatte Yukiko die Ausrede hingenommen: "Wegen so einem Quatsch sein Geld verschwenden-"

Heute hatte sie ihr geliebtes DuelMonsters nicht verteidigt. Sie wollte nur schnell weiter, zum Stadtpark, der gut eine Stunde von ihr entfernt war. Dort hatte sie ihr erstes offizielles Date mit ihm gehabt. Stunden hatten sie spazierend in der Kälte zugebracht - dabei ausschließlich geredet. Noch nie hatte sie so schnell einen Draht zu jemandem finden können. Dabei hatte seine Cousine neulich recht gehabt: sie waren verschieden - charakterlich wie in ihren Interessen. Und trotzdem passte es. Ihr wurde ganz heiß im Gesicht, wenn sie daran dachte, dass er womöglich auf die Knie gehen würde. Mit einer Rose oder einem Strauß Gänseblümchen - ihren Lieblingsblumen. Das sähe Takeshi ähnlich - ganz romantisch, während die Trauerweide ihre Äste hin und her schwenken würde…
 

Der Eingang zum Domino-City-Park lag unweit des Banken- und Geschäftsviertels der Stadt, dass sie von Weitem das Kaiba Building ausmachen konnte. Heute interessierte sie jedoch nur eines.

Sie hielt den Atem an, als sie Takeshi nur unweit des Eingangs erblickte. Er lehnte an der Trauerweide, die Hände in die Hosentaschen gesteckt starrte er auf den Boden, dass er Rin erst gar nicht bemerkte. Langsam kam sie auf den Blonden zu. Mit jedem Schritt wurde sie wackeliger auf den Beinen. Ihr wurde schwindelig, die Lippen trocken, dass sie schnell mit der Zunge darüber fuhr. Dass er sie nicht zu sehen schien, machte den Weg zur Trauerweide zu einem Endlosmarsch. Doch schließlich blickte er auf. Noch nie hatte Rin ihren Freund so nervös erlebt. Er wischte die Erde zu seinen Füßen vor und zurück, während er Rin kaum in die Augen blicken konnte. Aus dem selbstsicheren Typen war ein unsicherer Junge geworden. Also gab es doch etwas, das ihn in Verlegenheit bringen konnte. Der Gedanke ließ Rin lächeln. Vermischt mit ihrem derzeitigen Gefühlsbad und den Bildern, die sich in ihrem Kopf abspielten, war es das hellste Lächeln, welches das Mädchen jemals über ihre Lippen gebracht hatte.

Takeshi kam ihr nun ein Stück entgegen. Am liebsten wäre sie losgerannt, in seine Arme gestürzt und hätte ihm einen Kuss auf den Mund gedrückt, der jegliche Unsicherheit aus ihm vertrieben hätte.

"Rin", seine Stimme war rau und kratzig. Das Mädchen blieb direkt vor ihm stehen und sah zu ihm auf. Seine Arme schlangen sich um sie, er drückte sie an seine Brust, dass Rin leicht nach vorne kippte. Daraufhin schmiegte sie sich an ihn, schloss die Augen und lauschte seinem unruhigen Herzschlag.

"Es-", seine Stimme versagte, doch Rin wartete ab, bis er sich gefangen hätte. Sie wollte es ihm nicht noch schwerer machen. Aufmunternd strich sie ihm über den Rücken. "Rin", seufzte er, "es tut mir leid."

Moment! Was?!

"Meine Eltern haben eine Stelle in Fukuoka angenommen. Nächsten Monat ist der Umzug."

Das Mädchen schlug die Augen auf, unsicher, ob sie sich verhört hatte.

Takeshi fasste sie bei den Schultern. Jetzt sah er ihr zum ersten Mal direkt in die Augen. "Ich werde mit ihnen gehen."

Nein, sie hatte sich nicht verhört. Sein Gesicht sprach Bände.

"Oh", hauchte Rin, da sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie sich zu fühlen hatte. Das hier lief eindeutig nicht so ab, wie sie es sich vorgestellt hatte.

"Ich will ganz ehrlich zu dir sein", jetzt sah er wieder zur Seite, "Fukuoko und Domino liegen viel zu weit auseinander. Wir würden uns doch nur etwas vormachen-"

Halt!

"Eine Fernbeziehung kann einfach nicht funktionieren…eine Menge Kummer ersparen…die beste Entscheidung…"

Für Rin war die Zeit stehen geblieben. Takeshis Worte rauschten nur noch wie ein Schnellzug an ihr vorbei. Sie wollte bloß, dass es aufhörte, dass er aufhörte zu reden, dass es aufhörte wehzutun. Das konnte nicht die Wirklichkeit sein. Das konnte er einfach nicht ernst meinen. Vielleicht machte er sich einen Spaß? Wollte Rins Reaktion prüfen. Der Blick Takeshis ließ keinen Zweifel offen - dies war weder ein Scherz, noch träumte sie. Dafür schmerzte es einfach zu sehr. Ihr wurde auf einmal auf eine ganz andere Weise schwindelig.

"Es tut mir leid", sagte er mehrere Male, aber Rin verstand die Bedeutung seiner Worte nicht.

"Soll ich dich noch nach Hause bringen?"

Bloß nicht!

Sie wollte nur noch, dass er ging. Rin wollte endlich allein sein, nicht länger in das beschämte Gesicht des Blonden blicken.

Daraufhin verabschiedete sich Takeshi von ihr. Er war unsicher, ob er sie umarmen sollte, doch Rin nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie die Arme um ihren Oberkörper schlang und ihm zunickte. Takeshi nickte ebenfalls, dann zog er langsam davon. Rin sah seine Jeansjacke im Wind flattern, bis die Sicht durch eine dicke Tränenschicht alles verschwimmen ließ. Als er endlich außer Sichtweite war, konnte sie nicht mehr in sich halten.
 

Das letzte Mal, dass sie so geweint hatte, war in ihrer Kindheit gewesen, als ihr Vater sie ausgeschimpft hatte. Damals hatte sie leise wimmernd in ihrem Zimmer gesessen, gewartet, dass er ihre Entschuldigung annähme, dass wieder alles gut wäre. Das hier fühlte sich weit schlimmer an. Takeshi würde nicht wiederkommen und es würde auch nichts wieder gut werden. Kraftlos, sich von der Stelle zu bewegen, weinte sie unter ihrem Lieblingsbaum, bis die Tränen in ihren Augen zu brennen anfingen. Ein Heulkrampf, der wie ein unterdrückter Schluckauf klang, ließ sämtliche Passanten auf das Mädchen starren. Es interessierte sie nicht, was die Leute dachten, Rin nahm sie überhaupt nicht wahr. Erst die tiefliegende Sonne ließ sie die Tränen von ihrem Gesicht wischen. Sie nahm ihr Handy aus der Jackentasche. Das Hintergrundbild von Takeshi und ihr versetzte ihr einen Stich, dass sie schnell die Nummer ihrer besten Freundin eingab.

"Na endlich", hörte sie Lumina am anderen Ende der Leitung, "ich ich dachte schon, du hättest mich vergessen-"

"Lumina", flennte Rin ins Telefon. Ihre Freundin verstummte augenblicklich, "er-", sie schüttelte den Kopf, "er hat-"

"Bist du noch im Park?"

"Ja."

"Warte, ich werd' zu dir kommen. Beweg' dich nicht vom Fleck." Wo hätte Rin auch hingehen sollen? Nach Hause hätte sie so unmöglich auftauchen können. Sie brauchte jetzt ihre Freundin. Die einzige, die sie verstand und den Trost gab, den sie brauchte.
 

~
 

In den nächsten Wochen konnte sie niemandes Nähe außer die ihrer besten Freundin ertragen. Die Schule war ein notwendiges Übel geworden, das ihr vor Augen führte, wie der Liebeskummer seinen Tribut forderte. Rin konnte kaum noch richtig schlafen. Seit neuestem hatte sie damit angefangen, Unmengen Kaffee in sich hineinschütten, damit sie wenigstens über den Tag kam. Das bittere, schwarze Getränk spiegelte ihre tiefsten Gefühle wider. Lachen tat sie jetzt noch seltener als ohnehin. Ablenken ließ sie sich nur noch von Luminas bizarren Szene-Geschichten oder wenn sie jemand zum Duell herausforderte. Mit ihren Eltern sprach sie kaum. Sobald sie aus der Schule heimgekehrt war, verschwand sie sofort in ihrem Zimmer.

"Abendessen ist bald fertig", verkündete ihre Mutter und sah ihrer Tochter dabei zu, wie sie die Treppe zum Kinderzimmer hinauf trottete.

"Hab' keinen Hunger", entgegnete Rin schon das dritte Mal in Folge."

"Was ist denn nur los mit dir", Yukiko konnte nicht mehr in sich halten. Den Kochlöffel in die Schürze gesteckt stemmte sie die Hände in die Hüften. "Rin Yamamori", rief ihre Mutter - nun etwas harscher, nachdem Rin keine Anstalten machte, stehen zu bleiben. "Dein Benehmen die Tage lässt zu wünschen übrig. Noch so ein ignorantes Verhalten und du hast eine Woche Hausarrest.

"Mir doch egal", entgegnete Rin trocken und starrte auf ihre Füße.

"Rin", ihre Mutter starrte sie mit hochrotem Gesicht an, "jetzt rede endlich mit mir!"

Rin krallte die Finger in das Geländer "Du willst also wissen, was los ist", knurrte das Mädchen. Ihre Stimme wurde lauter, sie drehte sich zu ihrer Mutter und blaffte: "Takeshi hat mit mir Schluss gemacht, das ist los! Bist du jetzt zufrieden?!"

Ihre Mutter blickte sie perplex an. "Aber-"

"Du brauchst dir also keine Sorgen mehr machen, dass ich die Schule vernachlässigen könnte. Ich werde meine gesamte Freizeit mit Lernen verbringen, um dichglücklich zu machen. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden."

"Das ist nicht fair", hauchte ihre Mutter, als Rin bereits in ihr Zimmer gerannt war, die Tür lauthals zugeschlagen hatte. Sie wusste, dass ihre Mutter nichts dafür konnte. Die letzten Tage war sie noch fürsorglicher und rücksichtsvoller gewesen. Aber das war nicht das, was das Mädchen brauchte. Die Schultasche auf den Boden geschmissen, lief sie aufs Bett zu und griff nach dem blau-weißen Kuschelkissen, das sie vor vielen Jahren von ihrer Freundin zum Geburtstag bekommen hatte. Eigentlich war das Kissen mit dem blauäugigen weißen Drachen nur ein Spaßgeschenk der Schwarzhaarigen gewesen. Lumina hatte zu Weihnachten ein ähnliches Kissen, bloß mit dem schwarzen Magier als Motiv, bekommen. Für den Moment, in dem sie am liebsten das Gesicht in das Kissen drucken wollte, bis sie keine Luft mehr bekäme, tat seine Wärme gut. Das flauschige Material schmiegte sich an ihre Wange, dass Rin gut ihre Tränen unter Kontrolle hatte. Sie tat einen tiefen Atemzug. Dann klopfte es an die Tür. Rin wollte ihre Mutter noch nicht sehen, dafür war sie eindeutig noch nicht bereit. Ohne eine Antwort abzuwarten wurde die Klinke herunter gedrückt und ihr Vater stand unter dem Rahmen.

Rin erhob sich augenblicklich von ihrem Bett und warf das Kissen auf die Decke.

"Hat sie dich geschickt?"

Ihr Vater schloss die Tür hinter sich, er kam ein paar Schritte auf sie zu. "Ich hielt es für besser, wenn ich mal nach dem Rechten sehe." Er stand nun direkt vor ihr. Trotz ihres Alters flößte seine große Statur gepaart mit seinem strengen Blick Rin einen enormen Respekt ein.

"Deine Mutter hat erzählt, was passiert ist." Das sagte er ganz friedlich, geradezu einfühlsam. Diese simplen Worte lösten in Rin einen Schalter um, der die unterdrückten Tränen der letzten Wochen wieder hervorbrachte. Zu ihrer Überraschung legte ihr Vater seine beiden Arme um das Mädchen, dass Rin bitterlich zu weinen begann.

"Ich verstehe es einfach nicht", nuschelte sie in sein Hemd. Ihr Vater trug noch die Arbeitskleidung, er musste selbst erst vor einigen Minuten nach Hause gekommen sein. Binnen Minuten hatte Rin einen riesigen nassen Fleck hinterlassen. "Ich verstehe nicht, wie ich mich so irren konnte. Ich dachte, ich dachte…" Saito Yamamori strich ihr über den Kopf - so wie früher, wenn Rin sich die Knie aufgeschürft oder den Kopf gestoßen hatte.

"Vielleicht hat er recht", sie schniefte, "und es war die vernünftigste Entscheidung, gleich Schluss zu machen. Fernbeziehungen sind schwierig, bis nach Fukuoka braucht man mehrere Stunden mit dem Zug…seine Entscheidung war-"

"Dumm", entgegnete ihr Vater. Rin hielt mit offenem Mund inne.

"Und kindisch", fügte er hinzu, "der Junge hat keine Ahnung, was Liebe bedeutet."

Mit dieser Antwort hatte Rin nicht gerechnet. Sie sah zu ihm auf. Seine tiefen, grünen Augen blickten wissend zu Rin. "Als deine Mutter und ich uns kennengelernt haben, war ich zu einem Außendienst in Tokyo beordert worden. Wir haben uns nur an den Wochenenden gesehen. Das hat mich aber nicht davon abgehalten, bei ihr sein zu wollen. Rationalität sollte in diesem Fall keinen Platz haben. Außer man ist zu feige und flüchtet vor der Verantwortung als Mann."

Sie sah ihn mit großen Augen an. Seine Seelenspiegel strahlten so viel Überzeugung aus, dass sie ihm alles abgekauft hätte. Das Mädchen wusste, wie sehr Saito seine Frau liebte.

"Rin", sprach er sie nun wieder mit seiner gewohnten Strenge an, "es spielt keine Rolle, wie oft dir ein Mann sagt, wie sehr er dich liebt. Wenn er es dich nicht spüren lässt, sind seine Worte nichts wert. Und ich meine keine Zärtlichkeiten oder Ähnliches."

Ihr Blick verriet, dass sie nicht wusste, worauf er hinaus wollte. Etwas sanfter erwiderte er: "Du wirst es irgendwann verstehen."

"Danke", hauchte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Jetzt wurde es ihr allmählich peinlich, so aufgedunsen vor ihrem Vater zu stehen. Sie zwang sich zu einem Lächeln, dass auch Saito Yamamori lächelte. "Vergiss' den Jungen. So ein Feigling verdient meine Tochter nicht."

Dass ein Sonnenaufgang in der Stadt so atemberaubend sein würde, hatte sie nicht für möglich gehalten.

Als Rin durch die Drehtür der Kaiba Corporation auf die fast verlassene Straße des Geschäftsviertels von Domino schritt, hatten die ersten zarten Fühler des Morgens ihre Hälse gen Wolkenkratzer ausgestreckt. Gold und Rot funkelten die einzelnen Glasfenster des höchsten Gebäudes der Stadt. Kurz schien es als stünde das Hochhaus in Flammen. Ein loderndes Inferno - in der Einsamkeit des Morgens. Der Anblick zog Rin so magisch an, dass sie den Fahrer auf der anderen Straßenseite erst gar nicht bemerkte. Erst als dieser auf die Hupe drückte, riss sich Rin von dem malerischen Ausblick los und überquerte die Straße.
 

Diese angenehme Stille - sie war trügerisch. Die Ruhe vor dem Sturm.
 

Mit einem Kaffeebecher in der Hand, den sie sich aus dem Automaten der Kantine gezogen hatte, setzte sich Rin auf den Beifahrersitz und blickte verträumt aus dem Fenster.
 

Sie war hellwach, noch völlig aufgedreht und ein wenig nervös. Dieser Abend hatte alles gefordert. Körperlich wie mental. Sie massierte sich das Handgelenk, noch immer glaubte ihr Körper, sie wäre mit allerhand Noppen und Kabeln versehen. Rin war sich während der Datenscsans wie in einer abgedrehten Arztpraxis vorgekommen.

Vor Jahren hatte ihr Hausarzt einmal ein EKG durchgeführt. Dieses war bei Weitem nicht so aufwendig gewesen, wie das Prozedere, das Kaiba veranstaltet hatte. Der junge Firmenchef hatte die ganze Zeit über am Rechner gehangen, während Rin keine zwei Meter von ihm entfernt an besagter Kabelage angeschlossen war, als wäre sie die Energiequelle für dessen Maschinerie.
 

Ein kräftiger Schluck Kaffee ließ sie daran erinnern, weshalb sie Heißgetränke aus dem Automaten verabscheute, doch für den Augenblick genügte die hellbraune Suppe. Es half, die Gedanken zu ordnen.
 

Nachdem Kaiba mehrmals versichert hatte, dass ihre Daten innerhalb des Programms geschützt bleiben würden, hatten sie den Rest der Nacht schweigend verbracht. Kaiba hatte geschwiegen, weil ihm die Arbeit alle geistigen Reserven abverlangte, und Rin, weil sie irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen war. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte Kaiba sie einfach schlafen lassen. Manchmal, wenn sie aus dem Tiefschlaf gerissen wurde, da eines der Geräte zu piepen begonnen oder Kaiba an einem der Regale rumgefummelt hatte, dann spürte sie etwas Warmes, wohlig Riechendes, das sich um ihre Schultern gelegt hatte und Rin zurück ins Reich der Träume beförderte, sobald der Duft sie wie einen zweiten Mantel umnebelt hatte. Ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, hatte Rin nach dem Stoff gekrallt, hatte das Gesicht darin vergraben und seufzende Töne von sich gegeben. Wenn sie tief und fest schlief, war es beinahe unmöglich, die junge Frau zu wecken. Dafür war der gestrige Tag viel zu stressig und nervenaufreibend gewesen - in vielerlei Hinsicht. Der Vorfall während ihres Duells mit Seto Kaiba bildete dabei bloß der Höhepunkt einer Reihe unvorhergesehener Obskuritäten.
 

Aus dem Wagen gestiegen, streckte sie erstmals ihre Glieder. Es tat gut, den eigenen Körper zu spüren - wenn sich dieser auch beklagte, dass er die ganze Nacht kein vernünftiges Bett gesehen hatte. Vielleicht hätte sie es nachgeholt, wenn das heutige Duell nicht gegen Hii Yuta wäre und Rin deswegen nicht schon nervös genug gewesen wäre. Seitdem sie aufgewacht war, hatte nur ein Gedanke ihren Geist bestimmt: sie durfte heute nicht verlieren. War eine Niederlage zu keinem Zeitpunkt gewünscht, blieb ihr diesmal keine andere Wahl, als alles daran zu setzen, dieses Spiel für sich zu entscheiden. Etwas in ihr sagte, dass sie nicht nur um ihretwillen gewinnen musste. Dass es um weit mehr ging als den Ruf einer Firma zu verteidigen oder das eigene Ticket zu sichern. Der Titel des Worldcup-Champions war schon lange zweitrangig geworden.
 

"Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?!" Sobald die Tür ins Schloss gefallen war und Rin möglichst unbemerkt an Luminas Couch hatte vorbeischleichen wollen, war der schwarzhaarige Wuschel abrupt aufgesprungen, hatte mit aufgerissenen Augen zu Rin herüber gesehen, die sich für ihr Zuspätkommen entschuldigte und matt lächelnd den Kopf schief legte.

"Echt, Rin! Es ist sechs Uhr morgens. Der arrogante Penner hat sie doch nicht mehr alle-" Sie wurde schlagartig ruhig, betrachtete Rins zerzaustes Haar und kniff die Augen zusammen.

"Es ist nichts gelaufen", Rin hob die Arme. Der Blick ihrer Freundin war aber auch zum fürchten!

"Ach wirklich…bis zum Morgengrauen…"

"Ich habe dir geschrieben, dass es später wird." Wieso kam sie sich auf einmal wieder wie ein siebzehnjähriger Teenager vor? "Und seit wann stört es dich, wenn ich die ganze Nacht wegbleibe?"

"Du, die Tatsache stört mich nicht, sondern mit wem du die ganze Nacht verbringst."

"Das ist doch Quatsch" winkte Rin ab. Ihr war so gar nicht nach Diskussionen, aber Lumina ließ nicht locker. Der Blick wurde immer düsterer, während sie die Arme vor der Brust verschränkte und die finsterste Miene aufsetzte, zu der ihr schwarzhaariger Wuschel zu dieser Uhrzeit imstande war. "Ach wirklich?! Mann, Rin, dieser Kerl ist definitiv nicht gut für dich. Du solltest da echt die Grenze ziehen-"

"Er ist mein Boss", entgegnete Rin nicht zum ersten Mal, "und das Ganze ist rein beruflich." Sie geriet ins Stocken. Nach dem gestrigen Vorfall war es wohl nicht mehr nur rein beruflich. Selbst Kaiba wäre nicht mehr in der Lage, diese Tatsache zu leugnen. Aber sie ging nicht weiter darauf ein. Rin durfte ihrer Freundin nicht von dem Projekt erzählen. Und selbst wenn: Lumina wäre wohl vollkommen ausgetickt, wenn sie hörte, was Kaiba und sie hinter den Mauern der Kaiba Corporation wirklich trieben. Da wäre Sex wohl das Harmlosere von beidem gewesen.

"Du machst dir selbst etwas vor", grummelte Lumina. Dann seufzte sie und ließ sich auf die Sofalehne fallen. "Aber lass' uns ein anderes Mal darüber reden. Ich will dich nicht auch noch durcheinander bringen. Gerade vor diesem wichtigen Duell."

"Ach, Lumina", Rin setzte sich neben ihre beste Freundin und legte einen Arm um ihre Schulter, "mach' dir nicht so viele Sorgen um mich."

"Wenn du dich endlich wieder normal aufführen würdest, müsste ich mir auch keine Sorgen machen." Lumina bemühte sich um ein Lächeln. "Die hätten einen Mal vorwarnen können. Wer hätte denn ahnen können, dass das Leben mit einer Profiduellantin so an den Nerven zerrt." Sie schüttelte den Kopf. "Es sollte einen Leitfaden für arme, unwissende Mitbewohnerinnen geben."

"Ich werde Mokuba fragen, ob die Medienabteilung auch Bücher herausgibt." Rin knuffte Lumina in die Seite. Solange ihre beste Freundin noch zu Scherzen aufgelegt war, musste sich Rin keine Gedanken machen.

Die junge Frau erhob sich.
 

"Brauchst du heute etwas taktischen Beistand?", fragte Lumina und deutete auf den Schrank, in dem ihre Deckbox lag.

"Nein", winkte Rin ab und machte sich daran, in der Küche frischen Kaffee zuzubereiten. "Yuta spielt nach ganz eigenen Regeln. Ich will mich nicht zu sehr auf eine Strategie versteifen." Sie stellte die Kaffeemaschine ein. "Ich hab so lange an meinem Deck herum gefeilt - wenn es damit nicht klappt-" Sie hielt inne. Das Gesicht des Grünhaarigen kam ihr in den Sinn. Dazu die glasig roten Augen. Wie die Kamera seinen Hass aufgefangen hatte. Hass, den er heute auf Rin projizieren würde. "Wird schon schief gehen", sagte Rin, um Lumina nicht noch mehr in Unruhe zu versetzen.

Ihre beste Freundin kam in die Küche getrottet, riss das Fenster auf und wedelte mit den Händen frischen Wind in die stickigen Räumlichkeiten. Dann begann sie die erste Zigarette des Tages aus der Verpackung zu ziehen. Ihr Blick blieb dabei an den gegenüberliegenden Häuserzeilen hängen, dass Rin ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie wünschte, sie könnte Lumina etwas sagen, das ihren Lieblingswuschel zumindest etwas besänftigen könnte. Dass diese Angst um Rin hatte, war nur allzu verständlich. Würde es der jungen Frau nicht anders ergehen, wenn Lumina an ihrer Stelle heute spielen müsste.

"Wie läuft das eigentlich heute ab?" fragte Lumina, nachdem von ihrer Zigarette bloß noch ein mickriger Stummel übrig geblieben war. "Holen uns wieder Kaibas Diener ab?" Sie zerknüllte das verbliebene Stück in den Aschenbecher. "Die Nachbarn haben mich schon darauf angesprochen. Als dieses Monster von Limousine vor unserem Fußweg geparkt hatte. Frau Kamei schien mir fast einem Herzinfarkt nahe…und ich dachte immer, die Alte wäre aus Stahl."

Beinahe gleichzeitig verdrehten Rin und Lumina die Augen. "Ich habe Mokuba darum gebeten, dass sie uns einen dezenten Wagen schicken sollen. Naja, zumindest was Mokuba Kaiba unter dezent versteht." Nicht, dass der große schwarze Schlitten der Klasse S bescheiden wirkte. Nur das protzige Gefährt, die Limousine, die Rin zu ihrem letzten Duell chauffiert und gleich zwei Hauseingänge in Beschlag genommen hatte, topte alles Bisherige.

"Solange im Stadion nicht so ein Affentheater veranstaltet wird-" Lumina stützte sich mit dem Oberarm am Küchentisch ab. "Ich tue mir diesen Wahnsinn nur dir zuliebe an! Das Stadion im Themenpark war ja schon 'ne Nummer zu groß für mich. Ganz abgesehen davon, dass die Aussicht zum kotzen gewesen ist…und mir vermutlich dieser Anblick wieder nicht erspart bleibt."

"Mit Seto Kaibas Rücken wirst du wohl Vorlieb nehmen müssen." Rin überreichte Lumina einen großen Pott Kaffee. Die Tasse mit beiden Händen umfasst, starrte ihre beste Freundin auf die schwarze Flüssigkeit. "Kaibaland…da ist ein Stadion gewaltiger als das andere. Ich will gar nicht wissen, wie viele Leute sie da heute rein gequetscht bekommen..."
 

~

"Vierzigtausend." Seto Kaiba blickte starr zu den Zuschauertribünen herüber, während von allen Seiten das DuelMonsters-Thema aus den Lautsprechern dröhnte.

"Das ist verdammt viel", Mokuba kratzte sich an den Kopf. Sein Headset rutschte ihm ständig aus der wilden Mähne, dass er es schließlich mit einem Stöhnen von den Ohren abgenommen und sich stattdessen um den Hals gehangen hatte. "Meinst du, unsere Sicherheitsleute bekommen das hin?" Mokuba schien jedenfalls skeptisch.

"Das ist schließlich ihr Job", entgegente Kaiba mit stoischer Miene. "Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir es mit apokalyptischen Spinnern zu tun haben.'' Vorerst musste diese Antwort auch ihm genügen.

"Mann, ich hoffe wirklich nicht, dass Dartz und seine Männer auftauchen. Ich hab allmählich die Schnauze voll, dass unsere Firma ständig in die Scheiße geritten wird."

"Neider wird es immer geben, Mokuba." Doch er musste dem Jüngeren recht geben. Auf das Vergnügen mit Dartz und dessen Lakaien konnte selbst der junge Firmenchef verzichten. Wieder wanderte sein eiskalter Blick zu den Zuschauerrängen. Wie zu erwarten war nichts von dem Blauhaarigen und seinen Anhängern zu sehen. "Aber", seine Stimme verriet den Zorn, den er seit einigen Stunden herunter zu schlucken versuchte, "wenn Amelda recht hat, wird Paradius' Firmenchef hier irgendwo herum lungern." Den Gedanken ausgesprochen, stellten sich ihm sämtliche Nackenhaare auf. Er ballte die Hände zur Faust.
 

Als Mokuba heute Morgen mit Neuigkeiten um die Ecke gekommen war, hätte Kaibas Tag nicht schlechter beginnen können. Der Jüngere der Kaiba Brüder hatte, nach mehreren vergeblichen Wochen, an denen die Telefonverbindungen ständig abgebrochen worden waren, Dartz ehemaligen Handlanger kontaktieren und zu den neuesten Ereignissen ausfragen können. Dank Mokuba, der in Amelda Erinnerungen an seinen kleinen Bruder weckte, war er diesem gegenüber stets redselig gestimmt. Er berichtete dem jungen Kaiba, wovor es Seto immer gegraut hatte: Die Technik, die Dartz einst von ihm gestohlen hatte, war weiterentwickelt worden. Nicht so fortschrittlich wie Kaibas neuestes Projekt, dennoch gefährlich genug, um für jede Menge Ärger zu sorgen. Der junge Firmenchef wusste ja bereits, dass Dartz seine Leute manipulierte und die Chaos DuelDisc als Werkzeug benutzte, um seine lächerliche Götter-Show abzuziehen. Dass er dafür jedoch in unmittelbarer Nähe bleiben musste, war ihm neu. Möglich, dass die Verbindung über Infrarot oder Bluetooth funktionierte - recht einfallslos und rückständig, doch für Dartz' Zwecke ausreichend. Es würde bedeuten, dass sich der Chef von Paradius Inc.

unter das einfache Volk gemischt hatte. Sich seelenruhig im Stadion versteckte, um von dort das Geschehen nach Herzenslust lenken und verdrehen zu können.
 

Die Fingerknöchel wurden weiß. Seine Augen nur noch zwei gefährliche Schlitze.
 

Der Dreh vor den Rooftop-Battles - wenn Dartz an dem Sicherheitspersonal vorbeigekommen ist…womöglich gibt es einen Verräter. Einer, der es tatsächlich wagt, mich zu hintergehen…

Er tat einen tiefen Atemzug. Diese falsche Schlange würde er nicht ungestraft davonkommen lassen!

Du kannst dich nicht ewig verstecken, Dartz. Früher oder später musst du dich zeigen
 

Aus dem Augenwinkel bemerkte er Mokuba, wie dieser von der Bühne sprang und mithilfe der Security auf den Nebeneingang des Stadions zusteuerte. Setos Augen verdunkelten sich bei dem Anblick dieser Menschenmassen.
 

Er hatte keine andere Wahl gehabt. Nachdem die Ticketnachfrage kaum mehr überschaubar gewesen war, hatte Seto kurzerhand umdisponieren müssen. Statt des Themenparks musste nun das zweitgrößte Stadion auf Kaibaland herhalten. Die Kommission hatte ihm solange damit in den Ohren gehangen, bis Kaiba nachgegeben hatte. Die Duellarena neben der Achterbahn war ein Kompromiss gewesen. Das Hauptstadion wollte Kaiba für das letzte Spiel. Die Vorbereitungen waren noch im vollen Gange, dass Kaiba nicht sämtliche Arbeit wieder verwerfen wollte, nur weil die Kommission glaubte, dem mächtigen CEO auf der Nase herumtanzen zu können. Schließlich wusste er, dass diese abartig hohe Nachfrage Hii Yutas Sticheleien geschuldet war. Wenn Seto raten müsste, dann war es wohl Teil seines Plans, die Zuschauerzahl auf ein Dreifaches anzuziehen. Ein größeres Stadion bedeutete auch mehr Raum um unentdeckt zu bleiben. Kein dummer Schachzug von Dartz, wie er zugeben musste. Seine Security würde sich in all dem Chaos dumm und dämlich suchen. Es gab zu viele versteckte Winkel, und selbst wenn Kaiba sie alle kannte, war das keine Garantie, dass Dartz nicht wieder abtauchen würde, sobald jemand hinter sein Versteck gekommen wäre.
 

Die Musik endete, ohne dass es dem jungen Firmenchef aufgefallen wäre. Unruhe machte sich breit, das Publikum konnte es kaum erwarten, die beiden Spieler zu sehen. Die ersten begannen bereits die Namen der Duellanten im Chorus zu singen. Andere wiederum schwenkten ihre selbst gebastelten Fahnen, in der Hoffnung, dass die Kamera ihre künstlerischen Beiträge auffinge. Auch Seto blickte auf die Digitaluhr, die aus dem Backstagebereich hervorlugte.

Noch zehn Minuten

Er hoffte, dass Rin ihre Zeit genutzt und genug Schlaf nachgeholt hatte. Nicht so wie er. Der junge Firmenchef hatte noch Stunden in seinem Büro damit verbracht, die übertragenen Daten auf sein Backup-System zu ziehen. Es war viel Arbeit gewesen, die sich letztendlich ausgezahlt hatte. Die virtuelle Version von Rin Yamamoris Gehirn war nun vollständig mit dem neuen Programm verbunden. Dass das Ganze so schnell über die Bühne gebracht werden konnte, hatte er den ausführlichen Untersuchungen während ihres Krankenhausaufenthalts zu verdanken. MRT, CT…Kaiba besaß sämtliche Aufzeichnungen, die der Chefarzt angefertigt hatte. Endlich zahlten sich seine Investitionen aus!

Wie zu erwarten hatte Kaiba nur beschränkten Zugriff auf die Daten, aber das störte ihn nicht weiter. Bedeutete dies, dass die Informationen nicht einfach das System in Beschlag nehmen konnten. Um alles Weitere würde er sich nach dem Duell kümmern.
 

Als Mokubas Mähne zusammen mit einem weiteren Wuschelkopf auftauchte, stieg auch der junge Firmenchef von der Tribüne. Die gesamte erste Reihe vereinnahmt, gab er letzte Instruktionen an Isono und seine Leute, die ihn auf den neuesten Stand gebracht hatten, und schaltete seine DuelDisc ein.
 

Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Seine Disc war so ausgelegt, dass er damit direkt mit dem virtuellen System verbunden war. Sollten unvorhergesehene Ereignisse auftreten - Kaiba würde vorbereitet sein. Kein zweites Mal würde der Chef der Kaiba Corporation zulassen, dass ein Virus den Ablauf des Worldcups sabotierte.
 

"Uff", neben ihm stand Mokuba und kramte aus der Tasche seines Jacketts einen Schokoriegel hervor. "Soweit alles safe", sagte der Jüngere der Kaiba Brüder und riss die Verpackung auf. Normalerweise konnte es Kaiba nicht ausstehen, wenn Mokuba diese elend süße Zuckerbombe in seiner Gegenwart verschlang. Das Zeug stank nach zu vielen chemischen Zutaten, (als hätte man einen Kaugummiautomaten mit Vollmilchschokolade überzogen und dann noch einmal in die Fritteuse geworfen) dass Seto allein beim Anblick seines Bruders, der genüsslich den Riegel in sich hinein stopfte, der Appetit verging. Heute unterdrückte sich der Chef der Kaiba Corporation einen Kommentar. Dafür war er viel zu angespannt, dass jedes Wort wie eine scharfe Anklage rübergekommen wäre. Seinen Frust bekäme dann nur der Jüngere zu spüren - und Mokuba war heute der Letzte, an dem er seinen Ärger auslassen wollte.

"Wenn dasch Gantsche vorbei isch, will isch Urlaub", schmatzte der schwarzhaarige Wuschel und ließ die leere Verpackung in seiner Hosentasche verschwinden.

"Kannst ihm ja deinen Vorgesetzten einreichen", entgegnete der Ältere trocken.

"Ha-ha", Mokuba verschränkte die Arme vor der Brust. "Übrigens", murmelte der Schwarzhaarige, dass es bei der Lautstärke im Stadion fast unterging, "nicht, dass du gleich sauer wirst, aber-"

"Waaaaahnsinn!" Hörte es Kaiba auch schon dicht hinter sich jubeln. Mit starrem Blick sah er zu seinem jüngeren Bruder herunter. Dieser zuckte mit den Schultern und versuchte ein entschuldigendes Lächeln aufzusetzen.

"Zieh' dir mal diese Aussicht rein!"

Der vertrottelte Köter hat mir gerade noch gefehlt

Und er war nicht allein - natürlich nicht. Nur unweit hörte er die etwas ruhigere Stimme des ehemaligen Königs der Spiele.

Die können auch nicht alleine aufs Klo gehen, oder?

Der junge Firmenchef versuchte, das Gerede so gut es ging auszublenden. Bei Jonouchis Lautstärke fast ein Ding der Unmöglichkeit.

"Mann, ich bin echt gespannt, was Rin gegen diesen Hii ausrichten will", die Stimme des Blonden klang auf einmal weniger heiter - fast schon erwachsen für dessen Verhältnisse.

"Ja", bestätigte sein bester Kumpel, "das wird keine leichte Sache. Hii Yuta ist ein extrem starker Gegner. Seine Karten haben es in sich. Wenn Rin nicht aufpasst, wird er sie gnadenlos fertig machen."

"Na wenigstens kann Orichalcos sie nicht mehr ins Koma versetzen. Mann, das war damals echt 'ne kranke Scheiße gewesen."

"Rin sollte trotzdem vorsichtig sein. Vielleicht hat Dartz schon die nächste irre Idee am Start…ähm ich meine", Yugi geriet ins Stocken, "natürlich wird alles gut gehen. Die Leute vom Worldcup geben ihr bestes, damit niemand zu Schaden kommt… Tut uns leid, Lumina. Wir wollten dich nicht erschrecken."

Da war also Rins kleine Freundin abgeblieben. Hatte sich der Kindergartentruppe angeschlossen. Kaiba wäre es egal, wenn Lumina ihm nicht damit den ganzen Dreck von der Straße angeschleppt hätte.

"Ihr denkt also", die Stimme der kleinen Frau klang gebrochen, "Rin hat keine Chance gegen Hii?"

"So würde ich das nicht sehen", erwiderte Yugi. Der Kleinere sprach so sanft, dass Kaiba sein Lächeln im Rücken spürte. "Ich habe Rin ein paar Mal spielen sehen und ich glaube, dass sie noch nicht alles von sich gezeigt hat."

"Das stimmt."

"Weißt du, um in DuelMonsters zu bestehen, braucht man zwei entscheidende Dinge. Zum einen die Kontrolle über das Duell und zum anderen den Mut, ein Risiko einzugehen. Ohne diese beiden kann man nicht gewinnen."

"Und außerdem", fügte Jonouchi gut gelaunt hinzu, "werden wir Rin so richtig anfeuern, dass die Bude wackeln wird. Wirst sehen, mit einer ordentlichen Portion Unterstützung kann sie gar nicht verlieren."

Kaiba konnte gar nicht anders als die Augen zu verdrehen. Dieses ständige Gesülze von Teamwork und Freundschaft hing ihm schon zum Halse raus.

Die lernen es nie

"Hm", mischte sich die Schwarzhaarige in die Unterhaltungen ein, "lieber nicht. Rin kann es überhaupt nicht ab, wenn ihr zugejubelt wird."

"Was?!", rief ein entsetzter Katsuya Jonouchi. "Und was ist mit den Fans?!"

"Wie ich Rin kenne, kriegt sie das Publikum gar nicht mit. Wenn sie sich duelliert, ist sie wie ein Pferd mit Scheuklappen. Die ist da voll in ihrem Tunnelblick gefangen. Sie würde es wohl nicht einmal merken, wenn ich ihr zujubeln würde…und wenn, dann würde es ihr gar nicht gefallen."

"Ach", erwiderte der Blonde gelassen, "Rin ist einfach noch nicht auf den Geschmack gekommen. Die Ärmste weiß gar nicht, was sie verpasst. Wenn meine Freunde nicht immer für mich dagewesen wären… glaub' mir, ich wäre so einige Male am Arsch gewesen."

"Man darf es Rin nicht übel nehmen. Wenn sie DuelMonsters spielt, wird sie ein wenig sonderbar. Sie nimmt das Ganze viel zu ernst."

Sie wäre auch dumm, wenn sie es nicht ernst nehmen würde

"Dann", jetzt war es wieder Yugis helle, warme Stimme, die zu ihr sprach, "unterstützen wir Rin eben auf mentale Art."

"Mental?"

War ja klar, dass dieser Schwachkopf keine Ahnung hat

Kaiba entlockte es ein schwaches Lächeln. Einen passenden Kommentar an seinen ehemaligen Mitschüler hatte er bereits auf den Lippen. Die Atmosphäre auf der Bühne hielt ihn davon ab.

Bevor Yugi etwas darauf erwidern konnte, schalteten sich zwei Scheinwerfer ein, tränkten die Tribüne in ein grelles Licht, dass das Publikum augenblicklich zur Ruhe kam. Heijis Stimme hallte durch die Boxen - schrill und hoch motiviert kündigte er das kommende Duell an.

"Wird es schon heute eine Entscheidungsschlacht geben? Oder werden nach dem Duell die Karten neu gemischt?"

Kaibas Mund wurde ein einziger gerader Strich.

"Wie siehst du das Seto", Mokuba blickte auf die Tribüne, während seine Stirn tiefe Falten schlug - ein äußerst seltener Anblick.

"Ich weiß es nicht, Mokuba. So jemandem wie Yuta stand Yamamori noch nie gegenüber. Mag sein, dass sie sich schon auf der Straße begegnet sind, aber sein wahres Gesicht wird sie noch nicht gesehen haben."

Rin

Auf Kommando betrat seine Duellantin die Tribüne. Ihr Blick war auf die andere Seite des Duellrings gerichtet. Ohne große Verzögerung schritt auch Hii Yuta auf seinen Platz. In seiner üblichen Aufmachung unterschied er sich kaum von den anderen Spinnern seines Teams. Die dunkelblaue Bikerjacke war ihm mindestens zwei Nummern zu groß und auch sonst sorgte sein Outfit dafür, dass er wie der entflohene Sträfling eines Jugendgefängnisses aussah.

"Yamamori", seine krächzende Stimme hallte über die gesamte Tribüne. Die junge Frau erwiderte seinen hungrigen Blick. Dieser Bursche lechzte nach Blutvergießen. Vielleicht nicht auf die herkömmliche Weise, aber am Ende würde er Rin bluten sehen wollen. Kaiba spürte, wie sich alles in ihm anspannte.

"Heute", Yuta legte den Kopf schief, er begann zu grinsen, "holen wir unser kleines Spielchen von damals nach. Aber diesmal ohne Einmischungen - nur du, ich und unsere DuelDisc's."

"Einverstanden", kam es klar von Rin Yamamori.

"Sehr schön", damit fuhr Yuta seine Chaos DuelDisc aus. Grünes Licht umhüllte die Technik. Dem kam Rin umgehend nach. Das strahlende Blau ihrer eigenen DuelDisc legte sich auf die junge Frau wie eine zweite Haut. Stählern war ihr Blick. Sie hatte sich also entschieden. Von nun an gab es kein Weg zurück.

Sobald ihre DuelDisc eingeschaltet war, blendete Rin alles um sich herum aus. Wo noch vor wenigen Sekunden die Aufregung dominiert hatte - Aufregung wegen der Menschenmassen, Aufregung wegen Seto Kaiba, Aufregung wegen der unbekannten Gefahr, Aufregung wegen der Ungewissheit, die Ungewissheit verlieren zu können… - herrschte jetzt ein absoluter Fokus auf ihre vierzig Karten, die akribisch gemischt wurden. Das Prozedere war eigentlich immer dasselbe. Karten mischen, mit den Karten des Gegners tauschen, wieder mischen und zurückgeben. Diesmal starrten ihre jadefarbenen Seelenspiegel einzig auf ihren grünhaarigen Kontrahenten, von dem sie überzeugt war, dass keine seiner Drohungen bloßes Gerede waren. Er hatte sich auf diesen Moment vorbereitet, womöglich schon während ihrer ersten Auseinandersetzung. So wie er sie angrinste, seine Finger um den Kartenstapel schloss und diesen sicher auf das vorgesehene Fach seiner Chaos DuelDisc fixierte, ließ sie das Wesen dieses fanatischen Duellanten sehen. Hii Yuta, Gefolgsmann von Dartz - alles hatte er aufgegeben; sich selbst, sein Limit, um nur noch für dieses eine Ziel kämpfen zu können: Rin zu besiegen. Sie alle zu besiegen. Für welchen Zweck auch immer. Die rubinroten Iriden, welche die junge Frau dabei keine Sekunde aus den Augen ließen, sprachen eine deutliche Sprache - er wollte gewinnen. Nein, er musste gewinnen. Genauso wie Rin. Das einzige, worin sich die beiden Spieler glichen.
 

"Bereit unterzugehen, Yamamori?", feixte ihr Gegenüber und ließ die spitzen Schneidezähne aufblitzen.

"Nicht, bevor ich dich zur Strecke gebracht habe", entgegnete Rin, die erst im Nachgang den Beigeschmack ihrer Wortwahl zu spüren bekam. Yutas Grinsen wurde ein Spur breiter, unterstrich das Wahnsinnige, dass sich die junge Frau vornahm, nicht weiter auf seine Provokationen einzugehen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Zufallsgenerator über ihren Köpfen, der Yuta auserkoren hatte, den ersten Zug zu machen. Daraufhin verschwand die Maschine, wurde ersetzt durch den Punktestand der beiden Spieler, der lediglich vom Publikum eingesehen werden konnte. Der Jubel der Menge ging an der jungen Frau wie ein Schnellzug vorbei. Ebenso das dumpfe Pochen in ihrer Brust, das sich nicht gerade gesund anhörte. Rin fokussierte sich, ließ die linke Hand über den Kartenstapel wandern und fünf Karten daraus ziehen.

Diese Karte…

Wie ein Pokerspieler ließ sich keiner der beiden in sein Blatt schauen, das Lächeln in Yutas Gesicht war genauso eine Fassade wie Rins stoische Miene.

"Nun denn", Yutas Stimme bohrte sich durch ihren Kopf, er sprach auf einmal so finster, dass der Ausdruck seiner Augen beinahe schwach im Vergleich zu den brummenden Tönen aus dessen Kehle wirkte. Der Kerl hatte definitiv eine dunkle Seite, und diese würde er erst jetzt so richtig zum Vorschein bringen.

"Ich beschwöre Prometheus, König der Schatten." Es hatte begonnen. Aus dem Boden stieg dunkler Nebel, aus dem wiederum eine finstere Gestalt emporstieg. Prometheus, der aus einem roten Mantel, einem goldenen, knöchernen Brustpanzer und einer extra Portion Finsternis bestand, reckte die Arme in die Höhe, stieß einen - für Unterweltler typischen - Laut aus, der die Lautsprecher zum vibrieren brachte und richtete sich vor seinem Beschwörer auf. Sein fulminanter Auftritt stumpfte etwas ab, nachdem Rin die mickrige Angriffspower des Monsters erblickte. In jedem anderen Fall hätte sie einen abwertenden Kommentar abgegeben. Ein Monster mit 1200 Atk und dann hatte ihn Yuta auch noch in Angriffsposition beschworen! Im Falle von Dartz' Duellanten ersparte sie sich derartige verbale Attacken. Wenn sie eines aus seinen Duellen gelernt hatte, dann, dass die Stärke seiner Monster nicht auf deren Grund-Atk aufgebaut war.

Orichalcos

Ein Schaudern durchfuhr die junge Frau.

Ich darf nicht zulassen, dass er diese Karte spielt

"Keine Angst, Yamamori", sagte der Grünhaarige, wobei er mit einer weiteren Karte in seiner Hand wedelte, "wir beiden kommen noch früh genug zu unserer Revanche. Dafür sollten wir unser Duell an einem passenderen Ort verlegen, findest du nicht auch?" Er legte den Kopf schief.

"Was willst du damit sagen?", versuchte Rin so gleichgültig wie möglich zu klingen.

"Ich will damit sagen, dass die Atmosphäre noch nicht meinem Geschmack entspricht. Schließlich sollst du dorthin gebracht werden, wohin Menschen wie du hingehören."

"Du weißt schon, dass wir unser Spiel hier spielen müssen."

"Wer sagt denn, dass wir dafür irgendwohin müssen? Immerhin habe ich meinen Gott auf meiner Seite", er zeigte auf seine DuelDisc, "und er wird dich ohne Umschweife in die Hölle befördern!" Damit knallte er die Karte auf die Zauberkartenzone. Ein kurzes, helles Aufblinken, bevor ein schwarzer Schleier das Feld bedeckte. Und nicht nur das Feld. Da gesamte Stadion wurde von der Finstenis verschlungen, dass die Leere einen neuen Gefährten dazugewonnen hatte. Langsam blickte sich die junge Frau um. Die Dunkelheit war authentisch, ebenso die aufsteigenden Schwaden, die sie ein wenig frösteln ließen. Der Rest kam von Prometheus, den Rin lediglich schemenhaft erkennen konnte. Dafür hörte sie umso deutlicher das Schnauben, das von dem Unterweltler ausging.

"Nett", entgegnete Rin, obwohl ihr die gestochen scharfe Grafik den Atem geraubt hatte. Dies hier ließ sich definitiv mit Seto Kaibas Technik vergleichen. Nicht unbedingt beruhigend, wenn man bedachte, was Rin bereits alles darüber erfahren hatte.

"Dachtest du", Rin sah zurück zu ihrem Gegner, "du könntest mir Angst einjagen, indem du im Stadion das Licht ausknipst? Da musst du schon etwas mehr auffahren."

"Natürlich", lächelte Yuta, "jemand, der sich der Finsternis verschrieben hat, wird sich hier wie zu Hause fühlen. Aber nur keine Sorge, ich werde mich darum kümmern, dass du es dir nicht allzu gemütlich machen kannst. Doch zunächst aktiviere ich den Effekt von Verlockung der Finsternis. Diese Zauberkarte erlaubt es mir, zwei Karten zu ziehen. Eine davon wird verbannt, die andere bleibt auf meiner Hand." Gesagt, getan, wobei die letzte gezogene Karte sogleich auf das Spielfeld gelegt wurde.

Das muss eine Falle sein. Sein Deck ist vollgestopft mit Karten, die sein Deck aus dem Spiel nimmt…aber immerhin keine Orichalcos-Karte

Paradius' mächtige Geheimwaffe blieb wohl vorerst in Yutas Kartenstapel - zumindest war Rin davon überzeugt, dass ihr Gegenüber keine Sekunde zögern würde, diese Zauberkarte auszuspielen. Kurz schweiften ihre Gedanken zu den Worten, die Kaiba ihr zu Orichalcos gesagt hatte, ab. Eine Karte, die Menschen ins Koma versetzen konnte. Wenn das erst der Anfang war-

"Du bist dran…Rin Yamamori", Yuta sprach ihren Namen lang und genüsslich aus. Zusammen mit diesem Lächeln und dem hungrigen Blick kam in der jungen Frau das Bedürfnis auf, dieses Duell nicht künstlich in die Länge ziehen zu wollen. Ihr Gegner war ein anderes Kaliber als jeder bisherige Duellant, dem sie seit dem Battle-City-Turnier gegenüber gestanden hatte. Sie zog eine Karte.

Ich muss es zu Ende bringen, bevor er eines seiner Supermonster beschwören kann…von Orichalcos ganz zu schweigen. Denk' nach, Rin. Ich habe die Karte in der Hand, mit der ich Yuta ganz schnell in die Enge treiben könnte…naja, zumindest eine davon

"Ich spiele zwei Karten verdeckt", rief sie, kniff dabei leicht die Augen zusammen. Diese Dunkelheit. Ausgelöst durch die Zauberkarte Verlockung der Finsternis, hätte sie nach ihrer Aktivierung längst verschwunden sein müssen. Doch die dunklen Schleier blieben, genauso das drückende Gefühl und die eisige Kälte, welche die Leere mit sich brachte. Gehörte das zur Show? Wohl kaum. Trotzdem hätte sie sich gerne überzeugen lassen, hätte ihre Augen zu Seto Kaiba gelenkt, in dessen Blicken vielleicht ein wenig Klarheit hervorgegangen wäre. Etwas in ihr hielt die junge Frau davon ab, zu dem jungen Firmenchef herüber zu sehen. Ein Empfinden, ein innerer Sturm, der sich drückend auf ihre Brust gelegt hatte und eine seltsam, fremde und gleichzeitig absolut vertraute Welle des Zornes wachrief. Das hier war nicht sein Werk. Woher sie das wusste, war ihr selbst noch nicht ganz klar. Vielleicht, weil diese Hologramme dunkel und gefährlich wirkten. Bösartig war das treffende Wort für diesen Auftritt. Kaibas Technik war vieles, aber bösartig…?

Es fühlt sich einfach nicht richtig an. Kaiba…was wird hier gespielt?

Plötzlich, ohne Vorwarnung, versuchten sich ihr die Erinnerungen der gestrigen Nacht wie eine Sturmböe aufzudrängen. Sie waren so klar, wie am Abend selbst. Waren es bloß ein paar Sekunden gewesen, in denen sie in Kaibas Gedanken geblickt hatte, hinterließ dieser Moment einen bleibenden Eindruck. Diese Überlegenheit, dieses überragende Selbstbewusstsein; all die Empfindungen - so überwältigend. Wie auch jetzt. Was als dumpfes Grollen auf der Oberfläche schwamm, schien direkt vom Chef der Kaiba Corporation auszustrahlen. Sie zögerte. Wenn sie schon Kaibas Gedanken spürte, was würde erst passieren, wenn sie sich in die Augen blickten und er ihre Gedanken erkannte, ihr Unbehagen, ihre Unsicherheit spürte. Schnell schüttelte sie das Chaos aus ihrem Kopf, konzentrierte sich wieder auf das Duell, darauf, was im Augenblick wirklich zählte.

Aus dem Augenwinkel betrachtete sie Prometheus. Das Monster machte ihr weniger Sorgen. Vielmehr war es Yutas verdeckte Karte, die im Grunde alles bedeuten konnte.

Ich kann nicht warten, dass Yuta seinen nächsten Zug macht und vielleicht ein noch stärkeres Monster beschwört. Und wer weiß, was passiert, wenn er erst einmal Orichalcos aufs Feld gebracht hat

Sie musste ihm etwas entgegensetzen, das wusste sie. Egal, welche Risiken damit verbunden waren, es konnte zukünftig nur schlimmer werden. Eine Karte aus ihrem Blatt gezogen, legte sie diese auf die Monsterkartenzone. "Und ich beschwöre Blizzarddrache im Angriffsmodus. Mein Drache sollte deinen Unterweltler mit Leichtigkeit schlagen können." Zur ihrer eigenen Kreatur herüber blickend, ließ der Blizzarddrache einen Schwall Wasser aus seinen Flügeln treten, bevor er im nächsten Augenblick die Schwingen ausbreitete und einen Angriff vorbereitete. Seine 1800 Atk waren genug Vorsprung, um es gegen Hiis Monster aufzunehmen. Und tatsächlich: der Drache attackierte Prometheus, der kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Mit einem wuchtigen Knall zerschmetterte ihn Rins Kreatur, dass er in Abermillionen Einzelteile zersprang. Sechshundert Lebenspunkte nahm es von dem grünhaarigen Duellanten. Nichts worüber sich Rin ernsthaft freute, war die verdeckte Karte von Yuta ungespielt geblieben. Nicht gerade ein gutes Zeichen, wenn man bedachte, dass Rins Angriff dafür vorgesehen war, Yuta aus der Reserve zu locken und eben diese Karte zu aktivieren. Ihr Gegenüber jedenfalls nahm Prometheus Niederlage mit einem Schulterzucken hin. "Mach' nur so weiter", säuselte er und zog eine Karte, "ich brenne darauf, dein verdorbenes Wesen aus dir herauszukitzeln", dann aktivierte er die Zauberkarte Geschäfte mit der finsteren Welt. "Wir beide ziehen jetzt zwei Karten und werfen eine davon ab."

"Hast du noch was anderes drauf als ständig deine Karten auf den Friedhof zu schicken?" Rins Mundwinkel zuckten. Nicht, weil sie kurz davor gewesen wäre zu lachen.

"Was denn?", erwiderte Yuta lächelnd, "nehme ich dir etwa das Vergnügen, meine Monster vom Feld zu jagen? Genießt du den Anblick der Zerstörung so sehr?" Er schüttelte belustigt den Kopf. "Yamamori, du bist wirklich nicht mehr zu retten. Aber was soll man von Kaiba Corps. Marionette auch anderes erwarten-" Seine Zunge fuhr seine trockene Oberlippe entlang. Ein Tick, dem er scheinbar öfter nachgab, war der Mund bereits ganz wund und rissig. Kurz schweifte sein Blick von ihr ab, dann, als wäre er aus einem Traum aufgeschreckt, blinzelte er und widmete sich wieder seinen Karten.

"Kaiba Corps. Marionette?" Rin funkelte ihn an. Ist das sein ernst?! "Schon mal in den Spiegel geschaut?"

"So spricht nur jemand, der keine Ahnung hat."

"Dann klär' mich doch auf. Sag' mir, wie man auf die Idee kommt, die Welt vor dem Untergang zu bewahren, in dem man so ein Theater veranstaltet."

"Es ist sinnlos, einer verdorbenen Seele die Botschaft hinter unserem Handeln begreiflich zu machen", er schüttelte den Kopf, "du wirst es nie verstehen! Aber das spielt keine Rolle, denn wenn der Tag gekommen ist, wirst du nicht dabei sein, um ihn miterleben zu können."

Die junge Frau kräuselte die Lippen. Sie wurde zunehmend nervöser. Was war es nur, dass Hii Yuta ihr derart die Nerven rauben konnte? Als ob ein paar Drohungen schon genügten, ihr Innerstes zum Zittern zu bringen. Zum Glück hatte sie ihre Gefühle unter Kontrolle, von außen war sie hart wie Granit, ihre Blicke tödlich wie eh und ihr Mantel unterstrich den Kampfmodus, in den sie sich begeben hatte, dass niemandem auffiel, wie sehr Yutas Präsenz sie verängstigte. Ungern gestand sie sich ein, dass sie Angst hatte. Geballt mit einer extra Ladung Adrenalin, war es eine ungesunde Mischung, welche die eigenen Grenzen zwischen Richtig und Falsch zu vermischen drohte.

"Wollen doch mal sehen", sagte Paradius' Vorzeigeduellant, "wie dir das schmeckt: ich werfe eine weitere Karte ab und beschwöre ihn - der Trickreiche." Der nächste Unterweltler erschien auf Yutas Spielfeldseite. Diesmal mit deutlich mehr Angriffspunkten ausgestattet, konnte er Rins Blizzarddrachen gefährlich werden.

"Schauen wir doch mal, was dein kleiner Drache dagegen unternehmen kann." Damit gab er das Signal zum Angriff.

"Vergiss' es", entgegnete Rin mit ausgestrecktem Arm, "ich aktiviere meine Falle - Schildspeer! Damit bekommt mein Drache zusätzliche 400 Angriffs- und Verteidigungspunkte. Macht 2200 Atk für meine hübsche Bestie. Tja, so viel zu deinem Trickreichen." Dieser verlor den Kampf, verschwand ebenso wie Prometheus auf dem Friedhof und hinterließ einen entspannten Ausdruck auf Yutas Gesichtszügen. Er legte noch eine zweite Karte verdeckt und beendete seinen Zug.

Verdammt

Die junge Frau unterdrückte es, die Zähne zusammenzubeißen. Sie fühlte eine derartige Unzufriedenheit, dass für einen Moment die Nervosität vergessen war. Auch wenn sie Yuta weitere zweihundert Lebenspunkte genommen hatte und Rin ein weiteres Mal von der Macht des Orichalcos verschont geblieben war, wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie genau nach Yutas Pfeife tanzte.

"Yuta", Rin war am Zug, ihr lodernder Blick stand im völligen Kontrast zu ihren wahren Empfindungen, "wenn du dich wieder über mich lustig machen willst-"

"Was dann?", redete er ihr dazwischen, "willst du mir wirklich drohen, Yamamori? Nachdem du gesehen hast, wie ich deinesgleichen eine vernichtende Niederlage nach der anderen zugefügt habe?"

"Meinesgleichen", Rins Augenbrauen zogen sich zusammen, "wohl kaum."

"Du denkst etwa, du unterscheidest dich von dem restlichen Abschaum? Diese arroganten, selbstgefälligen Narzissten, die ihre Seele der Finsternis verschrieben haben? Die, ohne mit der Wimper zu zucken, Geschäfte mit den Teufeln abgeschlossen haben, die unsere Welt ins Verderben stürzen wollen? Denkst du ernsthaft, du hebst dich von ihnen ab?" Er ging einen Schritt zurück. Dabei wirkte es, als machte er sich darauf gefasst, jeden Moment auf sie zuzusprinten. "Vielleicht hast du recht", sprach er weiter, ein wenig ruhiger, aber keineswegs beruhigend, "aber nicht zum Besseren."

"Ich habe mich nicht der Finsternis verschrieben", entgegnete Rin, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, sich vor diesem jungen Mann zu verteidigen.

"Oh doch", er riss die Augen auf, "und ich werde es dir beweisen!"

"Du vergisst scheinbar eine Sache: nämlich, dass ich jetzt erst einmahatte am Zug bin und ich dir sicher nicht die Chance geben werde, mir irgendetwas zu beweisen. Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber auf deiner Seite ist kein einziges Monster und", sie legte eine Karte aufs Feld, "wenn ich ihn hier spiele, wird es gleich schwarz für dich aussehen." Der Klingenritter erwies sich die Ehre, schwang sein Schwert und gesellte sich zu dem Blizzarddrachen, dass beide kampfwütig ihre Stimmen erhoben.

Zuerst ließ Rin ihren Drachen angreifen. Die Bestie schwang die Flügel, setzte Wasser frei und-

"Ich aktiviere meine Fallenkarte!", rief Hii Yuta, streckte seinen Arm in Richtung aufgedeckter Karte aus. Drei Hohepriesterinnen stellten sich vor ihren Besitzer. "Waboku beendet die Battlephase und mir wird kein Schaden zugefügt."

"Ich kenne die Karte", murrte die junge Frau, während sie den Blizzarddrachen dabei beobachtete, wie dieser zurück auf seinen Platz flog.

"Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde es dir leicht machen." Er legte den Kopf schief, musterte sie, als wäre Rin allein für sein Vergnügen ins Stadion gekommen. Sie kannte diesen Blick. Während ihres ersten Duells hatte er sie genauso angesehen - kurz bevor seine Männer dazugekommen waren. In Rin zog es sich schmerzlich zusammen. Keine Sekunde hatte sie darüber nachdenken wollen, was passiert wäre, wenn Mokuba ihr nicht zur Hilfe gekommen wäre.

Lass' das! Hör auf, dich von diesem Fanatiker so einschüchtern zu lassen! Er ist dein Gegner. Dein Ticket für die finalen Spielen. Blend' den Rest einfach aus.

"Ich glaube", erwiderte Rin und schlug ihren Zopf wie eine lästige Fliege nach hinten, "dass du dieses Duell nicht ernst genug nimmst."

"Oh, und wie ich unser Duell ernst nehme." Yuta riss die Augen auf. "An diesem Sieg hängt viel mehr dran, als du dir vorstellen kannst."

"Dann hör' endlich auf, Zeit zu schinden."

"Mit dem größten Vergnügen", Zeige-und Mittelfinger zogen die oberste Karte vom Stapel. Den rechten Arm zur Seite ausgestreckt, verfiel er in schallendes Gelächter, als er sie betrachtete.

"Es hat begonnen", seine Fratze verschmolz mit den dunklen Schwaden. Er schlug die gezogene Karte auf das entsprechende Feld als beschwor er Satan persönlich. "Dein Untergang ist nahe, Yamamori. Der Augenblick ist gekommen. Erfahre die Macht unseres Gottes, die Macht von Orichalcos!" Greller als jedes Licht, stieß die Chaos DuelDisc grüne Funken hervor. Dutzende von Linien und Zeichen in unbekannter Schrift breiteten sich kreisförmig über die gesamte Bühne aus. Im Original war es deutlich imposanter; nicht einmal die beste Simulation während der Trainingseinheiten konnte dagegen mithalten.

Sobald eines der Ringe direkt auf Bauchhöhe durch sie hindurch gerauscht war, durchdrang Rin eine Art Druck, der sie auf eine unangenehme Weise am Bauchnabel kitzelte.
 

"Um die grünen Ringe war etwas eingebaut, das den Verlierer in einen komatösen Schlaf versetzt hat."
 

Nein, nein, nein! Das ist unmöglich. Crawford hat es selbst gesagt. Er hat die Karte umgeschrieben, sie ist nicht mehr so gefährlich wie damals
 

Voller Ehrerbietung blickte ihr Gegner zu seinem neuesten Werk herüber. Er schien sich sichtlich wohl zu fühlen - inmitten von Orichalcos und dessen einnehmenden Leuchten, das sogar Yutas eigene Seelenspiegel wie glühend heiße Kohlen aussehen ließ.

"Nur ein Vorgeschmack dessen, was dich erwartet", sagte er. "Ich habe noch viel mit dir vor."

Reflexartig ging sie einen Schritt zurück. Ein Fehler, denn ihr Gegenüber brannte nur darauf, Rin in die Enge zu treiben.

"Scheint so", entgegnete er breit grinsend, "du kennst die wahre Kraft hinter dieser Zauberkarte. Was sie einst bewirken konnte." Seine Stimme wurde ein lautes Flüstern. "Es ist wahr, Orichalcos war… nein", er hob den linken Zeigefinger belehrend in die Höhe, "sie ist so mächtig. Egal, wie viele Feinde sich uns in den Weg stellen, wir werden unserem Meister die Treue schwören. Ihm und unserem Gott."

"Dein Gott", erwiderte Rin, "wird dir in diesem Duell auch nicht helfen können."

"So spricht nur ein Ungläubiger. Aber wer nicht hören will", er nahm die nächste Karte von seiner Hand, "für den lasse ich meine Karten sprechen! Ich spiele finsterer Ausbruch. Mit dieser Karte kann ich ein schwaches Monster vom Friedhof zurückholen, und sieh' mal, wer von den Toten auferwacht ist." Prometheus kehrte aus dem Boden direkt auf das Spielfeld zurück. Augenblicklich wurde er in die Macht des Orichalcos eingesogen, blassrot leuchteten seine Augen auf, bevor ihm die Feldzauberkarte zusätzliche fünfhundert Angriffspunkte verlieh.

"Okay, Prometheus ist zurück", diesmal war es Rin, die mit den Schultern zuckte, "aber mit 1700 Atk kommst du trotzdem nicht weit."

"Mein Monster ist ja auch noch nicht fertig", lachte Yuta zurück und nickte in Richtung Prometheus. "Ich sollte dir von seiner besonderen Fähigkeit erzählen: Wenn ich ein Monster von meinem Friedhof verbanne, erhält mein König der Schatten vierhundert Angriffspunkte dazu. Und - nehmen wir mal an - ich würde zwei Monster verbannen", er entfernte zwei Karten aus dem Spiel, "dann erhält mein Monster sogar achthundert weitere Punkte." Der anfänglich schwache Unterweltler baute sich zu seiner vollen Größe auf, bis er mit 2500 Atk das stärkste Monster auf dem Spielfeld war. Mit zusammengepressten Lippen betrachtete Rin den aufgeboosterten König. Sein Schnauben war zu einem röchelnden Laut übergegangen, dass sich ihr der Magen drehte.

"Und es kommt noch besser", rief ihr grünhaariger Kontrahent und offenbarte allen Anwesenden seine verbliebene, verdeckte Karte. "Flucht aus der finsteren Dimension!"

"Das-"

"Schön, du kennst sie", Yuta hob seine Augenbrauen, "dann weißt du ja, was jetzt kommt." Vor seinem Haupt tauchte ein schwarzer Wirbel auf, wuchs, dehnte sich aus, bis ein Teil von Hii dahinter eingeschlossen wurde. Wind blies durch die Bikerjacke, plusterte diese auf, dass er die Sicht auf das Amulett freigab, welches mit Orichalcos eins zu sein schien. Der kleine, tropfenförmige Stein war genauso intensiv, genauso einnehmend wie die holographische Projektion der Spielfeldzauberkarte selbst.

Rin hielt den Atem an, als der Wirbel Gestalt annahm, jenes Ungeheuer erschuf, vor dem selbst die junge Frau einen Heidenrespekt hatte.

Der oberste Herrscher des Horrors - der Erzunterweltler Kaiser

Yutas gefürchtetes Monster steckte sein Territorium ab. Es suhlte sich geradezu in der Dunkelheit, während es sein schwarz-rotes Breitschwert schwang, einen tiefen, grollenden Ton von sich gab, das jeden Horrorstreifen vor Neid erblassen ließ und sich letztendlich auf seinem selbst erbauten Thron aus totgeweihten Unterweltlern niederließ. Als dann auch noch Orichalcos die Power dieses ohnehin schon gewaltigen Riesen weiter aufstockte, hatte der Erzunterweltler das gesamte Spielfeld für sich eingenommen. 3500 Atk - doch damit nicht genug.

Der hat mir gerade noch gefehlt

Egal, wie viele Stunden sie vor dem Rechner zugebracht hatte, um Hii Yutas Duellfähigkeiten auf die Schliche zu kommen - erst jetzt wusste sie, wie gefährlich er wirklich war, wie gefährlich sein Erzunterweltler Kaiser für sie werden konnte.

"Als erstes", damit riss Yuta sie aus ihrer Starre, "aktiviere ich den Effekt von Erzunterweltler Kaiser! Indem ich einen Erzunterweltler von meiner Hand verbanne, kann ich eine beliebige Karte auf dem Spielfeld zerstören." Seine Augen zeigten auf Rins Blizzarddrachen. Natürlich. Schließlich könnte die Kreatur Yuta gefährlich werden. Nicht wegen seiner Angriffsstärke; die lag weit unterhalb der Power, die der Herrscher des Horrors mit sich brachte. Tückisch war Blizzarddraches Effekt, der Yutas Erzunterweltler einfach mal für eine Runde außer Gefecht setzen konnte. Bevor Rin auch nur in die Nähe ihres eigenen Zuges kam, setzte ihr Gegenüber die besondere Fähigkeit seines Erzunterweltlers frei. Ihr Drache sackte zusammen, zerfiel zu einer einzigen Wasserlache, die von der Finsternis aufgesogen wurde. Übrig blieben Klingenritter, sowie dessen Besitzer. Die junge Frau ließ den Blick zwischen ihrem Monster und denen ihres Gegners hin und her schweifen.

Mit Orichalcos hatte sie gerechnet. Aber dass auch Yutas stärkste Karte innerhalb der ersten drei Runden erscheinen würde, war ihr weit weniger in den Sinn gekommen.

Natürlich. Darauf hätte ich gleich kommen müssen. Erzunterweltler Kaiser ist einer der Gründe, warum Yuta seine Karten zwischen Spielfeld und Verbannung hin und her schiebt.

Ein tiefer Atemzug drang aus ihrer Kehle.

Nicht ich habe Yuta seine Fallenkarten ausspielen lassen. Sein Plan war von Anfang an, dass ich meine verdeckten Karten ausspiele…

"Bist du bereit, Yamamori?", Hii Yuta zeigte auf die junge Frau, welche nicht auf seine Frage antwortete.

"Prometheus", befahl er seinem ersten Monster, ohne von seinem Gegenüber abzulassen, "greif' Yamamoris Klingenritter an - Klaue der Finsternis!" Der Unterweltler flog auf seinen Gegner zu. Sein Umhang flatterte, während seine linke Hand dem Klingenritter einen heftigen Schlag verpasste, dass diesem das Schwert zu Boden fiel, bevor aus dem Monster selbst aberdutzende von kleinen Splittern wurden und Klingenritter vom Spielfeld verschwand. Die Punkteanzeige ratterte Rins Lebenspunkte nur so nach unten, bis sie bei 3100 zum Stehen kam. Der Verlust ihrer Lebenspunkte war ein geringer Preis im Vergleich zu der leeren Monsterzone, die nun ihre Spielfeldseite schmückte. Ohne Verteidigung war Rin selbst zur Zielscheibe des nächsten Angriffs geworden. Flüchtig huschte ihr Blick zu der verdeckten Karte.

Wenn ich sie einsetze, bringt das nichts gegen seinen Erzunterweltler Kaiser... Yuta weiß das nicht. Vielleicht-

"So. Kommen wir zu dir", Yuta zeigte auf die junge Frau, die leicht in die Hocke gegangen war, "du sagtest, mein Gott würde mir in diesem Duell nicht beistehen. Falsch! Er wird es sein, der dich die Fehler deiner Selbstsucht spüren lassen wird. Rin Yamamori, mach' dich auf sein Urteil gefasst. Erzunterweltler", seine Augen waren so groß als würden jeden Moment die Augäpfel aus ihren Höhlen treten, "greif' Yamamoris Lebenspunkte direkt an. Zeig' ihr, was wir mit solch unreinen Seelen wie ihren machen. Klinge des Untergangs!"

Der Herrscher des Horrors war nur eine Armlänge von Rin entfernt, als das Breitschwert seine Energie freisetzte und auf die junge Frau zielte. Eine Druckwelle genügte - und schon hatt es Rin den Boden unter den Füßen gezogen.

Das menschliche Auge vermochte nicht den Augenblick zwischen Beginn des Angriffs und jenem Moment, in dem die Attacke Rin getroffen hatte, wahrzunehmen. Dafür geschah alles zu schnell, zu unvorbereitet und viel zu heftig. Eine halbe Umdrehung - und schon schleuderte es Rin Yamamori bis ans Ende des Podiums, mit dem Gesicht voran, dass die rechte Wange einen Teil des Bühnenscheinwerfers streifte, bevor der schlanke Körper nur unweit des Bühnenrands zum Stehen kam. Schallwellen - die Ursache war schnell gefunden und durchaus logisch, sofern Logik in einem derart wahnwitzigen Spiel überhaupt noch legitim war.

Das Publikum riss es von ihren Sitzplätzen. Niemand hatte eine derart explosive Reaktion kommen sehen. Erstaunen, Entsetzen, Angst und Neugierde hallten in ihren Ausrufen wider - die Neugierde überwog bei den meisten, die nur dafür gekommen waren, um eine gute Show geliefert zu bekommen; als wären sie Zuschauer eines Wrestling-Kampfes - durchstudiert bis auf die Knochen, mit künstlicher Dramatik versehen. Dummköpfe waren sie allesamt - Menschen, die seit Jahren das sahen, was sie sehen wollten. Um ihrer selbst willen und natürlich ihres schlechten Gewissens wegen.
 

"Rin!'

"Oh nein."

"Steh' auf, Rin!'

"Scheiße, hat sie verloren?"

"Alles in Ordnung…? Rin…? Seto, was-"

Nachdem Rins Name einmal der Reihe nach ausgerufen wurde, erreichte Mokubas Stimme als letztes den jungen Firmenchef, dass er ganz mechanisch das Gesicht zu seinem kleinen Bruder drehte, der mit offenem Mund zu dem Älteren hinaufsah. Für einen kurzen Augenblick streiften sich die Blicke der beiden Kaibabrüder, bevor Setos Seelenspiegel erneut zu dem am Boden liegenden Körper hinaufsahen. Rin hatte sich nicht von der Stelle bewegt, keine Regung ging von der jungen Frau aus, obwohl Seto zu glauben meinte, ein dumpfes Stöhnen vernommen zu haben.

Dass sie bei Bewusstsein war, stand außer Frage. Die Sicherheitsmaßnahmen während der Duelle schlossen einen regelmäßigen Check von Herz- und Pulsfrequenz mit ein, dass, sobald einer der Werte stark von der Norm abwich, sofort eine medizinische Fachkraft zur Stelle wäre. Da Kaiba weder einen Arzthelfer sah, noch von einem seiner Männer informiert worden war, konnte sich der junge Firmenchef sicher sein, dass Rins Zustand stabil war. Und gerade weil er das wusste, verstand er nicht, warum sein Herz ihm derart in den Ohren sauste.
 

"Oh Mann, Rin!", rief jetzt Mokuba eine Spur panischer.

Der junge Firnenchef ballte die Hände zur Faust. Das alles war zu viel. Erst die Neuigkeiten am Morgen, dann die Nachricht von Isono, dass ihnen Dartz entwischt war, und jetzt auch noch das. Druck baute sich auf. Seto war drauf und dran, seine DuelDisc abzustreifen und sie diesem grünhaarigen Wicht in seine schmierige Visage zu schlagen. Hiis Grinsen ging ihm über beide Ohren, seitdem Kaibas Duellantin zu Boden geworfen worden war und einfach nicht aufstehen wollte.

Dieser-

"Ey, Kaiba, das kann doch nicht dein ernst sein, oder?!" Die Stimme von Katsuya Jonouchi war direkt an seinem rechten Ohr, "dieser ganze Technikscheiß-"

"Mein Bruder hat gar nichts damit zu tun", verteidigte ihn Mokuba und stellte sich neben seinen großen Bruder. Rot leuchteten die Wangen. Er war aufgebracht, wütend und ein wenig verängstigt. Das erkannte Seto auf den ersten Blick. Beunruhigend, wenn er daran zurückdachte, wann der schwarzhaarige Wuschel das letzte Mal so aufgewühlt gewesen war. Lange war es her und Seto hätte nie für möglich gehalten, seinen kleinen Bruder jemals wieder in solch einer Situation zu erleben. Um sich über die Gründe den Kopf zu zerbrechen, blieb keine Zeit. Dafür herrschte zu viel Durcheinander, zu viel unkontrolliertes Chaos und - nicht zuletzt - gab es da noch seine eigenen Gefühle, mit denen er sich am wenigsten befassen wollte.

"Yutas DuelDisc läuft nicht über unseren Server", sprach der Schwarzhaarige hektisch, schaute dabei zu Seto, als suchte er nach einer Bestätigung, "keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber es hat nichts mit uns zu tun. Wir würden Rin niemals verletzen. Sie ist unsere Duellantin."

"Ach ja?!"

Der junge Firmenchef brauchte nicht in das vertrottelte Gesicht dieses Blondschopfes zu sehen, um zu wissen, dass Jonouchi ihn ansprach.

"Mokuba hat recht. Auf das System von Paradius' Duellanten hat die Kaiba Corporation keinen Einfluss", entgegnete der mächtige CEO so abgeklärt wie immer. Dabei fehlte nicht viel, dass er anstelle von Dartz' Lakai dem Blonden an die Gurgel gegangen wäre. Als ob er sich im Augenblick mit sinnlosen Wortgefechten herumschlagen wollte!

"Kaiba!", ließ Yugi Mutos bester Kumpel einfach nicht locker, "du musst dieses Turnier abbrechen! Egal, ob du was damit zu tun hast oder nicht", sein Arm war ausgestreckt, zeigte auf die Bühne, zeigte auf Rin, die sich seit dem direkten Angriff nicht mehr bewegt hatte.

"Kaiba, hörst du?! Du musst-"

"Ich[ muss gar nichts", entgegnete Seto und verzog keine Miene, "Yamamori hat dieses Duell begonnen. Sie wusste, dass es Risiken geben würde. Sie hat sie akzeptiert, als sie Yutas Herausforderung angenommen hat."

"Du bist echt das Letzte", Jonouchi erhob seine Stimme, "schon vergessen, dass sie dir erst neulich den Arsch gerettet hat…?! Mann, sind dir deine Mitarbeiter so egal, dass du sie lieber am Boden sehen willst, statt dich einfach mal zu bequemen und ihnen zu helfen?!"

"Was für ein Dämlack bist du eigentlich?!" Kaiba drehte sich zu dem Blonden um. Seine eiskalten Blicke trafen mit voller Wucht den ehemaligen Klassenkameraden, dessen eigenen Blicke sich im Moment genauso sehen lassen konnten.

"Wenn", fuhr der junge Firmenchef keifend fort, "dieses Duell abgebrochen wird, verliert Rin automatisch das Spiel und der Sieg geht an Hii Yuta. Ist es das, was du willst?! Hast du vergessen, dass diesem grünhaarigen Irren nur noch ein Sieg fehlt, bevor er mit der nächsten Maschine nach Kairo verschwindet?!"

Jonouchi sah ihn mit großen Augen an. Scheinbar hatte er es vergessen. Seto schnaubte.

"Ich rate dir, beim nächsten Mal dein Gehirn anzustrengen, bevor du mit irgendwelchen haltlosen Anschuldigungen um die Ecke kommst." Damit wandte sich Kaiba endgültig von dem Blonden und dem restlichen Anhang ab. Neben Jonouchi hatte Yugi Muto den Arm um Rins Mitbewohnerin gelegt. Aus dem kleinen Wuschelkopf war ein verstörtes Knäuel geworden, das bleich wie eine Kalkwand hinauf zu ihrer besten Freundin geblickt hatte. Kaiba war froh, dem Anblick entkommen zu können.

"Kaiba, du", knurrte Jonouchi leise vor sich hin, bevor Yugis Stimme ihn zu besänftigen versuchte.

"Kaiba hat recht", sagte der ehemalige König der Spiele, wobei sein sanftmütig unschuldiger Ton zu selbstbewusst und ernst gewechselt hatte. So klang er eigentlich immer nur, wenn er sich duellierte, wenn er - in Setos Vorstellung - der andere Yugi war. Der einstige König der Spiele hatte viele Namen, doch für den jungen Firmenchef zählte nur einer: jene dunkle, geheimnisvolle Seite, die ihm damals die größte Niederlage seines Lebens beschert hatte und sogar das Revanche-Duell für sich entscheiden konnte. Für ihn passten der gutmütige kleine Yugi und der ernstzunehmende Gegner Yami bis heute nicht zusammen.

Im Augenblick fragte sich der junge Firmenchef, was Muto dazu veranlasst hatte, in diesen Modus zu switchen. Wusste er vielleicht mehr als Kaiba? Oder war dies Teil seines Charakters, in welchem das Bedürfnis zu hausen schien, die Menschheit vor Spinnern wie Yuta und dessen Meister beschützen zu wollen?

"Hii Yuta darf nicht die Endrunde gewinnen", sagte Yugi und Jonouchi nickte zustimmend. Zum ersten Mal an diesem Tag war Seto einer Meinung mit dem Kindergarten.

"Aber irgendetwas müssen wir doch tun können", der Bunthaarige schüttelte den Kopf, dass ihm einzelne goldene Strähnen ins Gesicht fielen, "vielleicht können wir die Kommission davon überzeugen, das Duell für ungültig zu erklären", überlegte Yugi und heimste sich ein abschätziges Lächeln von Seto Kaiba ein. "Du glaubst doch nicht, dass Pegasus dieses Duell beenden wird. Er ist mindestens ein genauso großer Spinner wie Dartz. Bei diesem Anblick bekommt der doch glatt einen Ständer." Er schüttelte den Kopf. "Dieses Duell wird bis zum Ende laufen. Akzeptier' es oder nicht."

"Und was ist mit Yutas Technologie?" wandte er sich an seinen größten Widersacher, "kann man da denn gar nichts machen?"

"Das ist so gut wie unmöglich", antwortete Kaiba und ließ die Fingerknöchel knacken, "solange Orichalcos auf dem Feld ist, werden diese Mätzchen weitergehen."

"Orichalcos, sagst du", Yugi machte große Augen.

"Schon wieder?", kommentierte Jonouchi und schaute auf den Feldzauber.

"Die Karte", fuhr der junge Firmenchef fort, "sie fungiert als unsichtbare Mauer. Ein Schutzwall für die virtuellen Simulationen. Innerhalb der Feldzauberkarte funktioniert das System, als befänden sich Yuta und Yamamori im Cyberspace." Was sie physikalisch gesehen auch taten, doch der Chef der Kaiba Corporation wollte nicht allzu sehr ins Detail gehen.
 

Ihm war es in dem Moment klar geworden, als er den Anruf von Isono erhalten hatte.

Nachdem Yutas Zauberkarte Verlockung der Finsternis einfach nicht vom Feld verschwinden wollte, hatte Kaiba sein gesamtes Team auf Dartz und seine Handlanger angesetzt. Nur jemand, der über das System gebieten konnte, war in der Lage, solche holographischen Effekte auszulösen, und da Kaiba selbst nicht dafür verantwortlich war, kam natürlich nur einer in Frage. Der junge Firmenchef hatte innerlich getobt, als die Spuren darauf schlossen, dass Dartz wieder einmal abgetaucht war. Und das - welch unerwartete Fügung! - kurz nachdem Orichalcos beschworen wurde. Kaiba war sich nun sicher: sobald Orichalcos auf dem Spielfeld war, brauchte es Paradius' Firmenchef nicht mehr. Das System funktioniert autark, solange die grünen Ringe die beiden Duellanten einschlossen. Eine sichere Sache, da es bisher niemandem gelungen war, Orichalcos vom Feld zu jagen.
 

"Das klingt, als hätte Dartz einen Weg gefunden, seine Gegner auch ohne komatöse Mittel auszuschalten." Yugi musterte die grün leuchtenden Linien, als könnte er den Trick dahinter ergründen. Er seufzte. "Dem Verlierer blüht zwar nicht mehr der sogenannte Dornröschenschlaf, aber wenn das so weitergeht, landet am Ende wieder einer in der Intensiv." In Yugis Armen zuckte Lumina Phoenix zusammen, dass der ehemalige König der Spiele den Griff noch enger um die zierliche Gestalt legte.

"Apropos Verlierer", nickte Jonouchi und zeigte auf die Bühne, "irre ich mich oder sollten Rins Lebenspunkte nicht längst auf Null gefallen sein? Immerhin hatte Yutas Erzunterweltler Kaiser 3500 Atk - und Rins verdeckte Karte ist auch noch auf dem Feld. Aber seit Klingenritter zerstört wurde, hat sie keine weiteren Lebenspunkte verloren."

Blitzmerker

"Das werden wir wohl bald erfahren", erwiderte Yugi, strich dabei über den schwarzhaarigen Schopf der jungen Frau, die an ihrem linken Daumen zu nagen begonnen hatte.

"Leute!" Das war Mokuba. Der Jüngere der Kaibabrüder hatte sich weit über das Absperrgitter gelehnt. Mit der rechten Hand zeigte er auf das Spielfeld. "Rin steht wieder auf."

Alle, inklusive Seto Kaiba, ließen ihre Köpfe nach oben schnellen. Tatsächlich. Auf dem Podest tat sich etwas. Rin hatte die Oberarme nach vorne genommen, stützte sich auf dem schwarzen Parkett ab und richtete sich langsam auf. Etwas wackelig kam sie auf die Beine, mehrere Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst, der Pony hing schlaff über ihren Augen. Die rechte Wange war feuerrot - als hätte jemand mit der flachen Hand mehrere Stunden drauf eingeschlagen.

Das wird dieser grünhaarige Kobold noch büßen

"Du wirst meinen Erwartungen gerecht, Yamamori", Hii Yutas Lächeln brachte das Fass zum Überlaufen. "Ein Angriff meines Kaisers und du stehst schon wieder auf beiden Beinen. Nicht nur das: du bist immer noch im Spiel. Du weißt gar nicht, wie glücklich mich das macht. Schließlich will ich meinen Spaß mit dir haben, bevor ich dich in die Hölle befördere."

Rin reagierte nicht darauf. Ihr Gesicht war den Zuschauerrängen zugewandt, die Miene, ein einziger gerader Strich bestehend aus zwei zusammengepressten Lippen, ließ keine Emotionen durchsickern. Es war nicht auszuschließen, dass die junge Frau unter Schock stand. Das würde zumindest erklären, weshalb sie so lange auf dem Boden ausgeharrt hatte.

"Eines musst du mir noch verraten", Yuta lächelte noch immer stumm in sich hinein, "wie hast du es angestellt?"

"Hüter des Schreins", sagte Rin. Nie hatte sie gefühlloser als in diesem Moment geklungen.

Fast wie-

"Eine Fallenkarte wird es wohl kaum gewesen sein", entgegnete ihr Gegenüber und deutete mit einem Nicken auf die verdeckte Karte.

"Hüter des Schreins ist eine Monsterkarte. Erinnerst du dich noch? Als du Geschäfte mit der finsteren Welt gespielt hast und wir beide eine Karte auf den Friedhof legen mussten? Meine war Hüter des Schreins. Und sobald Hüter des Schreins auf dem Friedhof liegt und ein Drachemonster auf meiner Spielfeldseite vernichtet wird, aktiviert sich sein Spezialeffekt und er kehrt an Stelle des gefallenen Drachen zurück. Jedoch liegt seine Def weit unter den Angriffspunkten von Erzunterweltler Kaiser, weshalb er gleich wieder vom Feld verschwunden ist."

"Du enttäuscht mich nicht, Yamamori. Verteidige dich nur mit allem, was du hast. Winde dich, steuere gegen die Unabdingbarkeit der Niederlage! Schon bald wirst du mehr als nur den blanken Boden küssen. Wie ich dir schon sagte, die Strafe unseres Gottes wird dich mit voller Härte treffen. Dies war erst der Anfang."

"Dein Gott", wiederholte Rin, ohne etwas an ihrem Gesichtsausdruck zu ändern. Sie wischte sich die Strähnen aus den Augen. "Du meinst dieses hässliche Seeungeheuer?"

"Sprich' nicht von Dingen, die du nicht verstehst", zischte Yuta, "du weißt nichts über unseren Glauben…oder unseren Gott. Aber eines sag' ich dir: er wird dich vernichten. Dich und deine verdammte Technik! Denn niemand kann es mit seiner Stärke aufnehmen. Seine Macht ist grenzenlos. Nicht so wie deine Höllenmaschine, die du mit falschem Stolz um dein Handgelenk trägst."
 

"Du meinst, Technik hat seine Grenzen?"
 

Rin ballte die Hände zur Faust.
 

Falsch-

"...Genialität kennt keine Grenzen!" Ihre Seelenspiegel blitzten wie zwei Schlangen, die auf ihre Beute zu sprangen, auf. Für einen Moment klappte dem jungen Firmenchef die Kinnlade herunter.

Diese Worte…Meine Worte…Sie hat doch nicht etwa…

"Pah", rümpfte Yuta die Nase. Die junge Frau drehte sich zu ihrem Gegner um.
 

"Und das werde ich dir hier und jetzt beweisen!"
 

Nun waren es Setos Seelenspiegel, die wie rauschende Wellen zu wüten begannen.

Rin, was hast du vor?

"Ich aktiviere meine Fallenkarte!", ihr Ruf hallte durch das gesamte Stadion nach.

"Jetzt?!", quatschte da jemand aus den hinteren Reihen.

Die Hand ausgestreckt, lag der Fokus auf Rins DuelDisc, die zunächst nur ein schwaches Leuchten freisetzte, bevor sich blitzartige Stränge um ihr gesamtes Handgelenk schlängelten.

"Seto", hauchte vor ihm der Jüngere. Aber Seto hörte nicht hin. Die Stimme der jungen Frau - nein! ihre gesamte Erscheinung war es, die ihn vollends eingenommen hatte. Wild flatterte Rins Mantel, als die Fallenkarte in gleißendes Licht gehüllt wurde. Daraufhin folgten hellgrüne, Röhrchen artige Linien, die farblich gut zu Orichalcos passten. Der Rest passte wiederum nicht zusammen. Die Linien überzogen einmal den gesamten Boden, es folgte die Decke, bis das würfelförmige Stadion vollends damit bedeckt wurde und die Duellarena wie das Innere eines Rechners aussehen ließen.

"Cybernetzwerk!" Rin hatte noch immer den Arm ausgestreckt. Die Menge stieß ein beeindrucktes Raunen aus.

"Krass!", brachte es Katsuya Jonouchi auf den Punkt.

Seto spürte, wie ihn Wellen des Systems trafen. Kleine, sanfte Schübe, die nur ein sensibler Experte wahrnehmen konnte. Er wusste nicht, ob er sich zuerst der überragenden Grafik, der lebensechten Darstellung widmen oder sich doch um Rins DuelDisc Gedanken machen sollte, die jeden Augenblick den Geist aufgeben könnte.

"Unmöglich", stieß er zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Seine Worte gingen im tosenden Applaus unter. Erst jetzt schien die Mehrheit verstanden zu haben, dass Kaiba Corps. Duellantin noch im Rennen war. Doch für wie lange? Wenn jener unwahrscheinliche Fall eingetroffen war, würde die DuelDisc nicht mehr lange mithalten.

Das ist ausgeschlossen. Das kann nicht sein

Jegliche Versuche, die Logik dahinter zu begreifen, scheiterten allesamt. Er wusste das. Und trotzdem-

Der junge Firmenchef zückte sein Smartphone aus der Manteltasche.

Es ist nicht möglich, die DuelDisc zu hundert Prozent mit dem neuen System zu verknüpfen. Selbst wenn, wie soll sie das angestellt haben?

Seine Augen verengten sich. Natürlich kannte er den Grund. Schnell tippte er eine Nachricht ab. Die Antwort kam abrupt und seine Augen sogen die vor ihm liegenden Daten auf.

"Scheiße."

"Hast du was gesagt, Seto?"

"Nein, Mokuba."

Jüngerer kratzte sich an den Hinterkopf und schaute weiter zu dem spektakulären Geschehen hinauf. Cybernetzwerk hatte angefangen zu wirken. Nicht nur für das Spiel. Yutas Lächeln war immer noch da, wenn sich auch ein finsterer Schatten um seine Augen gelegt hatte.

"Du legst es wirklich drauf an", sagte Dartz' Anhänger, ohne sich zu erklären. Stattdessen legte er zwei Karten verdeckt ab und beendete seinen Zug. Sobald Rin eine neue Karte vom Stapel gezogen hatte, leuchtete ihre DuelDisc auf. "Ich erkläre dir jetzt Cybernetzwerks Effekt: in jeder Runde lässt sie mich ein Maschinemonster von meinem Deck aus dem Spiel nehmen - bis drei Runden um sind."

"Und dann?", fragte ihr Kontrahent, der absschätzig Rins Vorhaben beobachtete.

"Das wirst du noch früh genug sehen", entgegnete die junge Frau, "erst einmal spiele Cyberdrache im Angriffsmodus."

"Cyberdrache?", von der Tribüne blinzelte Jonouchi zu Rins Monsterzone hinauf. Sein bester Kumpel tat es ihm nach. "Rin wird doch nicht vorhaben, was ich denke…"

"Oh doch", erwiderte Lumina Phoenix leise, "genau das hat sie vor."

"Das ist gut. Wenn sie die drei Runden schafft, hat sie eine Chance, das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden."

"Mit einem Monster, dass 2100 Angriffspunkte hat?!", kommentierte Jonouchi und legte den Kopf schief. "Gegen den Erzunterweltler hat er keine Chance und wenn Rin Pech hat, aktiviert Yuta seinen Effekt und schickt Cyberdrache sofort wieder in die Wüste."

"Kommt drauf an", erwiderte Yugi und zeigte auf Rin, die zum Schluss zwei weitere Karten verdeckt abgelegt hatte. "Rin hat einen Plan."

Und dieser könnte durchaus klappen.

Wenn Rin vorher nicht die Nerven verliert

Ihren Gegner hatte sie damit auf jeden Fall ein paar Nerven geraubt. Er schaute zu dem Drachen, der Maschine hinauf, die in Größe gleichauf mit dem Erzunterweltler Kaiser lag. "So tief ist deine Seele schon gefallen? Dass du dieser Höllenbrut den Vorrang gibst?"

"Drache bleibt Drache", Rin blieb vollkommen gelassen, "egal ob Schuppen oder Metallpanzer."

"So siehst du das also?" Yuta schüttelte schmunzelnd den Kopf, "das erklärt so einiges. Aber egal: deine Machine wird es nicht lange machen. Mein Kaiser wird ihn vom Feld jagen und deine restlichen Lebenspunkte gleich mit!"

"Nicht so voreilig, Grünschnabel! Als erstes kümmert sich mein Drache um deinen scheußlichen König." Prometheus, der zurück auf 1700Atk geschrumpft war, wurde von der grellen Lichtkugel des Drachen verschlungen. Kurz erhellte Cyberdrache das Spielfeld, bevor die Dunkelheit wieder die Oberhand gewann. Vorsichtig öffnete Yuta die Augen. Auf seiner Seite fiel die Anzeige um 400 Lebenspunkte.

"Das wird auch nichts nützen", Hii Yuta legte augenblicklich nach. Kaum den Zug begonnen,

machte sich der Herrscher des Horrors bereit zum Angriff. Ebenso Rin, die sich auf den nächsten direkten Treffer vorbereitete. Erbarmungslos schlug der Erzunterweltler auf Cyberdrache ein.

"Ich decke meine Fallenkarte auf: Schaden adieu!" Mit aller Macht hielt sich die junge Frau auf den Füßen. Dabei vibrierte selbst der Boden, als der Erzunterweltler seine Attacke ausführte. Der jungen Frau entlockte es ein Lächeln. "Schaden adieu verhindert, dass mein Monster während des Kampfes zerstört wird. Aber das ist nicht das beste an dieser Karte: der Schaden, den ich erhalte, wird auf dich doppelt übertragen!"

Yuta riss die Augen auf.

"Ganz recht: die Differenz unserer beiden Monster liegt bei 1400 und sobald der Angriff durchgeführt wird, hast du verloren."

"Träum weiter", rief ihr Gegenüber und deckte seine Fallenkarte Verstärken auf. Statt den Erzunterweltler mit fünfhundert Atk zu verstärken, rüstete er Rins Cyberdrachen damit aus. Die Punkteanzeige der beiden Duellanten fiel weiter. Die Zuschauer gröhlten. Der Ausgang des Duells war ungewiss und das stachelte die Menge an.

"Noch so ein Angriff und Yuta ist erledigt", Jonouchi grinste schief, "so viel zu seinem übermächtigen Unterwelter. Weiter so, Rin!"

Kaiba schüttelte den Kopf. Noch war die junge Frau nicht aus dem Schneider.
 

Runde zwei und Rin nahm ein weiteres Maschinemonster aus ihrem Deck, Cyberdrache setzte sie in den Verteidigungsmodus.

Du setzt alles auf dieses eine Monster. Aber ist das wirklich klug? Wenn der Plan schief geht, wird er dich zermalmen.

Yuta hatte noch nicht einmal seine frisch gezogene Karte betrachtet, als er bereits einen nächsten Angriff startete. Wieder sprintete Erzunterweltler Kaiser los, wieder ließ Rin eine ihrer Fallenkarten aufdecken. "Teuflische Ketten", rief sie durch zwei Stahlketten hindurch, die kurz hinter ihr aufgetaucht waren und geradewegs auf Yutas Monster zuflogen. Dieser grinste finster. "Denkst du, derselbe Trick klappt ein zweites Mal? Meine Falle finstere Bestechung wird deine teuflischen Ketten vernichten. Zwar darfst du eine Karte ziehen, aber deinen Cyberdrache schafft sie mir endlich vom Hals." Teuflische Ketten explodierte, noch bevor Hiis Unterweltler getroffen werden konnte. Mit Genuss betrachtete Paradius' Musterschüler sein Werk. "Aber-", seine Miene erstarb. Der Kaiser hielt vor dem Cyberdrachen inne. Ein lauter, sirenenartiger Klang ertönte, gefolgt von einem roten Licht, das in pulsartigen Schüben aufleuchtete.

"Dachtest du, ich benutze denselben Trick zweimal?!" Rin streckte ihrem Gegner eine Konterkarte entgegen. "Roter Neustart annuliert deine Fallenkarte", sofort schossen die Ketten erneut auf den Erzunterweltler Kaiser zu, umwickelten ihn, bis er sich nicht mehr bewegen konnte.

"Das kann nicht sein", knirschte ihr Gegenüber mit den Zähnen, "Fallenkarten müssen vorher gesetzt werden. Deine Abwehr hätte gar nicht funktionieren dürfen."

"Roter Neustart", erklärte die junge Frau und schickte die Karte auf den Friedhof, "bildet eine Ausnahme. Sie darf direkt von der Hand gespielt werden…wenn ich dafür die Hälfte meiner Lebenspunkte opfere."

"Was?!", riefen Jonouchi, Yugi und Mokuba im Chor.

"Mann", der Blonde schüttelte den Kopf, "Rin muss ja echt überzeugt von diesem Cyberdrachen sein."

"Dass sie alles dafür riskiert…", entgegnete Yugi, "Kaiba, weiß sie es? Warum sie gewinnen muss?"

Ohne sich umzudrehen, antwortete der mächtige CEO: "Ich habe ihr alles erzählt, was sie wissen muss."

"Und das andere?"

"Du meinst diese an den Haaren herbeigezogenen Unterstellungen?"

"Kaiba?!", Yugis entrüstete Stimme erhob sich, "es ist wichtig, dass Rin weiß, worauf sie sich eingelassen hat. Du kannst ihr doch nicht so etwas Wichtiges vorenthalten!"

"Diese Fakten sind nie bewiesen worden", erwiderte der junge Firmenchef kühl. In seinen Augen waren es nichts als böse Gerüchte. Im Laufe der Jahre hatte es zu viele Feinde, zu viele eifersüchtige Konkurrenten gegeben, die mit ähnlichen Mitteln, ähnlichen Geschichten versucht hatten, seine Firma schlecht dastehen zu lassen. Dartz' haltlose Anschuldigungen für seinen Zerstörungstripp spielten zu perfekt in die Karten dieses unberechenbaren Firmenchefs. Dass er angeblich Frau und Kind verloren hätte, die Technik daran schuld gewesen wäre - Technik, an denen Firmen wie Industrial Illusions und die Kaiba Corporation involviert sein sollten. Seto hatte wenig für Dartz' melodramatische Lebensgeschichte übrig. Selbst wenn die Anschuldigungen der Wahrheit entsprachen; in Seto Kaibas Augen war es ein billiger Versuch, das eigene Versagen zu rechtfertigen. Dartz hatte seine Familie nicht beschützen können und jetzt versuchte er die Kaiba Corporation und allen anderen hoch technologischen Firmen den schwarzen Peter zuzuschieben.
 

Nicht weiter auf Yugis Beschwörungen eingehend, starrte Seto auf die Lebenspunkteanzeige:
 

Yamamori, Rin: 1100 LP - Yuta, Hii: 1000LP
 

Die dritte Runde brach an. Ein letztes Mal leuchtete das Stadion in den Farben der Fallenkarte Cybernetzwerk. Diesmal legte die junge Frau keine weitere Karte ab; diesmal gab es lediglich einen leisen Knall, der Rins letzte verdeckte Karte in Millionen von Einzelteile zerlegte - Cybernetzwerks finaler Akt. Der wahre Kampf begann genau jetzt: Erhobenen Hauptes streckte sich der Cyberdrache, stieß ein Kreischen aus, als zu seiner Linken zwei große Lichtkugeln erschienen, sich ausdehnten und daraus zwei weitere Cyberdrachen entwuchsen.

"Rin hat jetzt drei Cyberdrachen auf dem Feld?" Mokuba, der seit einer halben Stunden das Absperrgitter umklammerte, drehte sich zu den Experten um. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er riss die Augen auf. "Ist das…ist das möglich, Seto?" Angesprochener antwortete nicht. Sein Fokus lag auf seiner Duellantin, welche sich nicht von Hiis hasserfüllten Blicken abwenden konnte. Nicht aus Angst, wie es schien, denn ein sonderbares Lächeln zierte ihre Lippen, als sie die linke Hand über ihr Blatt wandern ließ, eine bestimmte Karte herausholte und auf die DuelDisc legte.

"Nein!", knurrte Yuta, der sein Unglück kommen sah.

"Oh doch", entgegnete Rin, "Polymerisation! Ich verschmelze meine drei Drachen miteinander und bekomme somit das ultimative Monster." Gleichzeitig erhoben sich die Cyberdrachen, flogen bis zur Decke des Stadions, wo sie sich mit tosenden Blitzen zu einer gewaltigen Kreatur vereinigten. Einer Kreatur, die den Herrscher des Horrors um das Vierfache überragte. Der dreiköpfige Drache streckte seine metallenen Flügel aus, dass sich ein riesiger Lichtschwall über den Köpfen des Publikums erhob. Mokuba und Jonouchi schützten die Augen mit ihrem Oberarm. Yugi kniff leicht die seinigen zusammen, während er den schwarzhaarigen kleinen Anhängsel etwas zur Seite drehte. Nur Seto blickte direkt in die Lichteinstrahlungen. Das grelle Weiß in der Iris machte ihm nichts aus, war er es gewohnt von einer weißen, mächtigen Kreatur geblendet zu werden. Ganz automatisch gingen seine Mundwinkel ein Stück nach oben. Die Kreatur würde wohl nie den blauäugigen weißen Drachen an Schönheit übertreffen, doch seine Power würde selbst jemand wie Seto Kaiba nicht abstreiten können.

Cyber End-Drache. War dein » Bild einer sündigen Firma, die die Weltherrschaft durch ihre Technik an sich reißen will ?«

Gedanklich schüttelte er den Kopf.

Du verblüffst mich, Yamamori. Ich dachte, du könntest dich nicht mit Maschinemonstern anfreunden. Not macht erfinderisch, wie ich sehe. Wollen doch mal sehen, wohin dich das bringt

"Ich finde", die junge Frau ließ den Kopf in den Nacken fallen, betrachtete ihr Monster, betrachtete dessen beträchtliche Angriffskraft von 4000, "es wird Zeit, dass du die wahre Stärke von Technik kennenlernst."

"Die Quelle allen Übels", auch Yuta sah hinauf, "ein Spiegelbild der Unfähigkeit, das nahende Ende zu sehen. Stattdessen wollt ihr immer mehr, wollt sie größer und stärker machen. Das Wichtigste habt ihr dabei aus den Augen verloren."

"Und das wäre?"

Der Grünhaarige sah zu seiner Gegnerin. "Den Menschen."

"Ich glaube", Rin warf ihren Pferdeschwanz nach hinten, "du verwechselt da was. Aber genug geplaudert", sie zeigte auf den Erzunterweltler, "deine Horrorfratze war schon lange genug auf dem Feld. Los, Cyber End-Drache, Angriff auf seinen Erzunterweltler Kaiser! Super strident blaze!" Die Maschine folgte Rins Befehl als wäre bloßer Gehorsam die reinste Genugtuung. Seine Attacke hätte in diesem Augenblick nicht beeindruckender aussehen können. Eine alles vernichtende Lichtkugel löschte Hii Yutas Erzunterweltler aus. Keine Falle, kein Konter konnten dagegen etwas unternehmen.

"Yeah, stark!", jubelte der Jüngere der Kaibabrüder. Jonouchi, der von hinten auf Mokuba draufgesprungen war, schloss sich den Freudengesängen an, klemmte den Schwarzhaarigen unter seinen Achseln ein und lachte auf. "Gut gemacht, Rin! Diese grünhaarige Flachpfeife hat nur noch fünfhundert Lebenspunkte. Tja, ich würde mal sagen: aus die Maus."

Aus? Sicher nicht. Dartz hat ihn nicht umsonst in seine Fittiche genommen. Er hat zwar sein stärkstes Monster verloren - doch für wie lange? Wie viele Asse hat Yuta in Petto, bis Rin die Fallenkarten ausgehen?

Zudem gab es da noch Orichalcos, ein nicht zu ignorierender Punkt, und was innerhalb der Kreise wirklich vor sich ging, konnte Seto nur erahnen.

Jetzt bloß keinen Fehler machen!
 

"Alter, was guckst du denn so bedröppelt?" Jonouchis Stimme ging dem jungen Firmenchef durch sämtliche Nervenzentren. Rin sollte sich möglichst beeilen, damit er endlich dieser Nervensäge entkommen konnte.

Nur unweit hinter dem jungen Firmenchef antwortete Yugi: "Kommt dir Yutas Verhalten denn nicht seltsam vor, Katsuya?"

"An dem Kerl ist so einiges seltsam."

"Ich meine während des Spiels. Wir wissen, dass sein mächtigstes Monster Erzunterweltler Kaiser ist und dass seine Fähigkeit auf weiteren Erzunterweltlern aufbaut. Also warum hat er den Effekt erst einmal benutzt?"

"Na, weil der Kerl seine Karten schlecht gemischt hat, so einfach ist das", zuckte Jonouchi mit den Schultern.

"Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Womöglich wartet er noch auf den richtigen Zeitpunkt."

"Da kommt er aber ganz schön spät, findest du nicht? Schließlich musste er den Guten wegen seiner Fallenkarte aus dem Spiel nehmen."

Das wird Yuta nicht aufhalten

Seto verschränkte die Arme vor der Brust.

"Bruder", Mokuba sah nicht mehr ganz so glücklich aus, "denkst du auch, dass Yuta was im Schilde führt?"

"Wir sollten ihn noch nicht abschreiben", entgegnete der Ältere und folgte weiter dem Geschehen auf der Bühne. Es war eine Wohltat das leere Monsterfeld auf der gegnerischen Seite zu erblicken. Nach Setos Geschmack konnte es gerne so weitergehen - zumindest wollte er sich noch etwas länger dieser Illusion hingeben.

"Ich lege eine Karte verdeckt und beende meinen Zug", sprach Rin relativ gefasst. Entgegen ihrer üblichen Art, zeigte sie wenig Emotionen. Die glühende Stelle unterhalb ihres rechten Auges schien umso deutlicher jene Rachegelüste widerzuspiegeln, die für solch ein Verhalten durchaus angebracht gewesen wären. Bei dem bloßen Gedanken ballten sich Setos Fäuste, dass er seinen eiskalten Blick auf Dartz' lebende Marionette lenkte. "Ich lege ebenfalls zwei Karten verdeckt ab", sagte Hii Yuta.

"Ein Monster in verdeckter Verteidigungsposition?", fragte Rin ungläubig. Doch Yuta machte einfach weiter: "Außerdem spiele ich diese hübsche Zauberkarte: Begräbnis aus einer anderen Dimension. Wie ich deinem Gesicht entnehmen kann, weißt du, was sie kann."

"Deinen Kaiser zurück auf den Friedhof legen."

"Genauso ist es."

"Glaub' nicht, dass ich dir die Chance geben werde, deinen hässlichen Unterweltler noch einmal aufs Feld zu holen."

"Komm erstmal an mein Monster vorbei", lachte Yuta abfällig auf.

"Selbst wenn dein Monster in Verteidigungsposition ist, ändert das nichts." Der Cyber End-Drache flog auf das verdeckte Monster zu.

"Es ist vorbei!" Yutas Stimme war erfüllt von Gelächter. Mit jedem Zug schien der Wahnwitz die Oberhand zu gewinnen. Die nächste Lichtkugel breitete sich aus, steuerte Yutas verdeckte Karte an, dass zwei rot glühende Augen inmitten des Lichts aufblitzten.

"Du hast soeben den Effekt meines Monsters freigesetzt - nächtlicher Angreifer." Yuta zeigte auf auf die leere Monsterzone.

"Nächtlicher Angreifer?!"

Verdammt

"Nächtlicher Angreifer wählt ein Monster auf den Spielfeld-"

"Und vernichtet es" formte Rin die Worte mit ihren Lippen und starrte auf den Boden, aus dem die blau leuchtenden Arme des Unterweltlers hinausragten. In der rechten Hand hielt das Monster ein gezacktes Schwert, das er in einem präzisen Wurf Rins Cyber End-Drachen zwischen die Augen schleuderte.

"Wenn mein Drache fällt", rief Rin, die Zähne gebleckt, "dann reißt er dich mit in den Abgrund! Denn auch mein Monster hat eine besondere Fähigkeit! Nämlich die Fähigkeit des durchschlagenden Schadens! Und bevor mein Monster auf dem Friedhof verschwindet, nimmt er deine restlichen Lebenspunkte."

"Ach ja?!", Yutas Mundwinkel verzogen sich auf unnatürliche Weise, "dann pass mal auf, was ich mache! Ich decke meine Fallenkarte auf - Regenbogenleben."

"Was ist das?"

"Regenbogenleben wandelt den Schaden, den mir deine Maschine zugefügt hätte, in Lebenspunkte um."

"Das ist-"

"Tja", Yuta ließ den rechten Zeigefinger rotieren, "im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass man einer Maschine niemals trauen sollte. Diese Mistdinger haben immer ein, zwei hinterhältige Überraschungen parat - genauso dein Cyberdrache, von dem du dich verabschieden kannst…Was…?! Aber-" Der Grünhaarige wich einen Schritt zurück. Cyber End-Draches Kreischen übertönte selbst das Publikum.

"Mann, ich glaub, ich sterbe gleich", Jonouchis Klammergriff an seinem kleinen Bruder wurde eine Spur heftiger, Mokubas Wangen begannen sich wie ein Eichhörnchen aufzuplustern.

Die Menge grölte, als Rins Fallenkarte Zeitmaschine die Bühne betrat - eine Karte, die zum Standardrepertoire gehörte. In Kaiba zog es sich merklich zusammen. Er hatte wieder diesen Druck auf der Brust, ein unbestimmtes Gefühl. Womöglich Angst? Doch wovor, und wieso gerade jetzt? Der junge Firmenchef schüttelte diesen lästigen Gedanken von sich.

Vor ihm stieß Mokuba einen Seufzer aus. "Und ich dachte, sie hätte Yuta endlich platt gemacht. Aber jetzt hat der Typ wieder viertausend Lebenspunkte."

"Aber nicht mehr lange", munterte ihn Jonouchi auf, "Cyber End-Drache ist immer noch nicht besiegt und beim nächsten Mal - Bam! - schnappt er sich Yuta und der Albtraum ist vorbei."

"Wollen wir's hoffen", entgegnete Mokuba und schaute zu Paradius' Spitzenduellanten, der soeben seinen Zug startete. Dunkler Geist der Verbannung betrat die Bühne. Ein eher schmächtiges Monster mit 1600 Atk - kein würdiger Gegner für Rins Maschinendrachen, selbst als Orichalcos ihm zusätzliche Kraft verlieh. Dass er ihn überhaupt in Angriffsposition beschworen hatte, war eine Beleidigung im höchsten Maße. Daran änderte auch nichts die verdeckt gesetzte Karte.

Eine Falle - eindeutig. Aber Rin muss ihn angreifen. Sie hat keine andere Wahl

Das wusste die junge Frau und schickte Cyber End-Drache in den Kampf. Diabolisch blitzten Hii Yutas Seelenspiegel auf. "Ich aktiviere den Effekt meines dunklen Geistes!" Augenblicklich löste sich das Monster in Luft auf.

"Was ist passiert?", rief Rin, während ein aufkommender Sturm Zopf und Mantel umher flattern ließ.

"Mein dunkler Geist der Verbannung hat sich geopfert, um für eine noch mächtigeren Bestie Platz zu schaffen. Du wirst ihn noch kennen…"

"Erzunterweltler Kaiser", der jungen Frau stockte der Atem.

"Ganz recht", nickte Yuta, "und dank meiner Fallenkarte undurchdringbarer Angriff, wird mein Monster nicht zerstört." Dafür raubte ihm Cyber End-Drache fünfhundert Lebenspunkte - ein schmerzhafter Trost, wie Seto in Rins Augen ablesen konnte. Die Lider begannen unruhig zu flattern. Ohne groß Worte zu wechseln, legte sie eine letzte Karte verdeckt ab und beendete ihren Zug.

"Rin", hörte der junge Firmenchef Lumina Phoenix wimmern. Seine Intuition hatte ihn wohl nicht getrügt. Hier lief gerade überhaupt nichts glatt.

"Was ist denn, Rin Yamamori?!" Hii Yuta zückte eine Karte aus seinem Stapel, "wenn ich raten müsste, würde ich sagen, du hast dich verkalkuliert. Du weißt gar nicht, wie viel mir dein Schweigen verrät. Du dachtest, ich wäre mit meiner Verteidigung am Ende, nachdem ich nächtlicher Angreifer gespielt hatte. Nun scheint es, dass deine Reserven sich dem Ende neigen."

"Hör' auf zu reden, und spiel!", zischte Rin, welcher ein Schweißtropfen von der Stirn fiel.

"Mit dem größten Vergnügen! Ich spiele stummer Friedhof und werfe eine Karte ab. Tja, ich denke, deine Glückssträhne ist vorbei, Yamamori. Ich habe meinen Erzunterweltler von Gilfer auf der Hand und sobald ich ihn auf den Friedhof gelegt habe, kann ich den Effekt meines Kaisers aktivieren!" Yutas Lachen reflektierte bis zu dessen Monster. Unter heftigem Widerstand zersprang Cyber End-Drache zu winzigen kleinen Splittern. Die entsetzten Ausrufe aus der ersten Reihe drangen wie ein Echo durch Seto Kaibas Ohren.

"Scheiße, Cyber End-Drache, er ist-", Mokuba riss sich von Jonouchi los. Die wenigsten hatten es kommen sehen, und diejenige, die es kommen gesehen hatten, wussten nichts darauf zu erwidern. Dafür war Yutas Lachen zu beherrschend, zu absolut. "Deine Technik hat versagt, Yamamori. Am Ende kann es nur eine wahre Macht geben." Seelenruhig setzte er seinen Zug fort, beschwor ein weiteres Monster - König des Schreckens, der ihm in jeder Stand-by Phase 800 LP kosten sollte, doch was scherte es den Grundhaarigen, wenn er nur einen Angriff ausführen musste, damit seine Gegnerin erledigt wäre. Es bedurfte nicht einmal eines direkten Befehls, als Erzunterweltler Kaiser auf Rins Lebenspunkte losging.

"Nein!", die junge Frau deckte ihren letzten Gegenangriff auf, "Angriff annullieren!" Yutas Battlephase endete - was man von Rins nahender Niederlage nicht sagen konnte.

"Diese Fallenkarte", säuselte Yuta, "deine letzte Verteidigung. Ich sehe es in deinen Augen. Du hast keine Karte in deiner Hand, die dich jetzt noch retten könnte. Du hast alles auf eine Karte gesetzt - und bist gescheitert. Weißt du, was dir jetzt noch bleibt?"

Im Raum war es ganz still geworden. Die Zuschauer lauschten mit gebannten Gesichtern dem vor ihnen liegenden Geschehen. Sogar Kaiba konnte nichts weiter tun, als Rin ins Gesicht zu starren. Der jungen Frau waren sämtliche Gesichtszüge entglitten.

Es kann nicht vorbei sein. Das kann nicht sein

Wie ein Hauch drangen die Worte tief in sein Bewusstsein ein:
 

"Gib' auf!"
 

"Gib auf!"


 

Für einen Moment war es als stünde sie inmitten einer Wasserblase. In ihren Ohren drangen die Töne wie ein Rauschen, die Sicht verschwamm direkt vor ihren blassgrünen Augen, die von Dunkelheit und Orichalcos einnehmender Präsenz eingeschlossen worden waren. Das Publikum war für sie nicht existent. Das schwarze Nichts, in das sie hineingezogen worden waren und seit Cyber End-Draches Vernichtung nun endgültig gewonnen hatte, ließ die Tribüne vollends aus ihrem Sichtfeld verschwinden
 

Ich.Soll.Aufgeben.

Schwer ließ sich der Satz herunter schlucken. Ein Brocken, der sich zäh durch die Speiseröhre führen ließ. Die Kehle war trocken, der Puls unkontrolliert hoch, das spürte sie auch ohne dieses Rauschen in den Ohren. Die Blase platzte, ließ sie erkennen, dass es nichts dahinter gab - nur Leere, Verzweiflung und vier Karten in ihrer rechten Hand. Ihre Wange pochte, sie wusste nicht, ob es jemals einen vergleichbaren Schmerz gegeben hatte. Noch nie war sie geschlagen worden, aber sie war sich sicher, dass dieses Gefühl einer Ohrfeige sehr nahe kam. Die Empfindung wurde nur von den Schmerzen im rechten Handgelenk übermalt. Tausend Nadelstiche schienen gleichzeitig durch ihr Gesicht hindurch zu stechen, das Prickeln war entsetzlich, es juckte und brannte im gleichen Maße. Und der Arm - der hatte seit der Aktivierung von Cybernetzwerk sein Mitspracherecht verloren. Ein Stromschlag, ähnlich dem, welchen sie einst im Duell gegen Zigfried und Hacharui verspürt hatte, kribbelte unaufhörlich vom Ellenbogen bis in die Fingerkuppen. Die gegenwärtige DuelDisc war nicht dafür geschaffen, derart hoch auflösende Bilder zu projizieren, geschweige denn die virtuellen Hologramme mit allen sechs Sinnen auf das höchste Level hoch fahren zu lassen. Woher sie wusste, dass es so war, dass das System die vollen hundert Prozent erreicht hatte, obwohl ihr Gerät nicht im Stande war, alles eins zu eins wiederzugeben, war ihr nicht klar. Sie wusste es einfach, den Impuls, dem Adrenalin und wochenlanger Erfahrung geschuldet, die sie mit Seto Kaiba im Cyberspace gesammelt hatte.

Sie sehnte sich nach einer Pause, einer ruhigen Minute, etwas Zeit für sich. Das Duell schaffte sie. Zwei hochentwickelte virtuelle Simulationen innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden forderten ihren Tribut. Selbst Kaiba hatte auf so viele aufeinander folgende Sessions verzichten wollen, und Rin begriff allmählich warum. Ein Teil von ihr wünschte, es würde einfach vorbeigehen. Das Duell, Yutas verbissener Drang, sie vernichten zu wollen - einfach alles. Es war leicht, der Stimme in ihrem Kopf nachzugeben; der Stimme, die >aufgeben< für eine Option hielt, ja, es sogar begrüßte, dass der Satz mehrmals wie ein Echo zu ihr sprach - immer und immer wieder. Schwer stieß sie den Atem aus. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Stocksteif stand sie ihrem Feind gegenüber, welcher einfach nicht aufhören wollte zu lächeln. Sein Lächeln hatte viele Facetten, und diesmal wirkte der Ausdruck auf seinem Gesicht geradezu sanft (sofern man den irren Blick außer Acht ließ), dass ihre Schmach nicht größer ausfallen könnte.

"Du bist ausgebrannt", sagte er, nachdem Rin kein einziges Wort über die Lippen gebracht hatte. Sie konnte nicht sprechen. Der Brocken lag ihr so schwer, schnürte die Kehle zu, dass sie drohte, daran zu ersticken.

"Was könntest du mir noch entgegensetzen?", fragte Yuta und antwortete prompt selbst, "gar nichts. Die einzige Karte, die dich vielleicht retten könnte, wäre Wiedergeburt. Aber Wiedergeburt hast du nicht auf der Hand. Ich brauche keine Gedanken lesen, um dir in die Karten zu blicken, Yamamori. Da ist nichts, das dir helfen könnte. Du bist allein, kein Monster könnte es mit der Macht meines Kaisers und Orichalcos aufnehmen. Ich hatte es dir gleich gesagt." Er schüttelte den Kopf. "Du hast dich für die falsche Seite entschieden. Du hättest dort bleiben sollen, wo du hingehörst. In dein einfaches, bescheidenes Leben von damals." Er blickte sie ernst an. "Vielleicht solltest du einfach umkehren, dein Leben mit deiner kleinen Studentenfreundin genießen, dich mit deinen Eltern versöhnen…" Rin starrte zu Yuta, der einfach weiter erzählte. "Dein Leben kann nicht so sinnlos gewesen sein, dass du es dafür", er zeigte auf das Stadion, zeigte auf die Zuschauertribüne, die Technik - auf einfach alles, das Rin mit dem Chef der Kaiba Corporation verband, "aufs Spiel setzt. Geh' Heim, Rin Yamamori. Sei wieder das brave, unscheinbare Mädchen, das ihre Eltern stolz machen will, und gib' auf."

Die nächsten Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Die junge Frau ließ den Blick zu ihrem Gegenüber schweifen.

"Hab' ich nicht recht?" Yutas Lächeln war auf seinen Lippen zurückgekehrt. Der Wahnsinn ereilte ihn in Schüben, ein Knecht seiner eigenen Phantasien, die durch Dartz' sadistische Rücksichtslosigkeit gefördert worden waren. Mehr war er in ihren Augen nicht und mehr darin zu sehen, bedeutete, sich einzugestehen, dass in dem Grünhaarigen mehr steckte als Paradius' willenloses Werkzeug. Für Mitgefühl war es zu spät, das musste sie sich einreden - Runde für Runde, denn für Yuta war sie auch nur eine Marionette des größten Spiel Unternehmers der Welt.

Tief stieß Rin einen Atemzug aus, fast schien es, als wollten Wolken aus ihrem Mund entweichen.

"Du", raunte die junge Frau, deren Stimme durch den Saal vibrierte. Wie von einem Traum erwacht riss sie die Augen auf. "Glaubst du ernsthaft, du würdest mich kennen?" Immer dunkler wurden die Schatten unter ihren Augen, die Seelenspiegel flackerten im Licht, welche durch die Spielfeldzauberkarte ein extra Schimmern verliehen bekommen hatten. Ohne die Menge um sich herum zu beachten, deren Gesichter bloß aus verschwommenen dunklen Flecken bestanden, die unverständliche Laute von sich gaben war sie ganz auf ihre Wut fokussiert. Irgendwo waren auch ihre Freundin und Kaiba, doch im Augenblick zählte nur eine Person, weshalb sie düsteren Tones fortfuhr: "Du hast keine Ahnung. Du nimmst dir heraus, über mich zu urteilen, aber du weißt nichts. Nicht, wer ich bin oder warum ich hier stehe", die Lippen bebten vor Zorn, die Zähne zwangen sich mit Mühe und Not auseinander zu gehen. "Und dass du meine Familie ins Spiel bringst-" Das Knacken von Knochen und Rins freie Hand war zur Faust geballt.

"Ich", rief sie, als holte sie für die nächste verbale Attacke aus, "gebe nicht auf! Niemals!" Plötzlich war sie hellwach - und niemals klarer im Kopf als jetzt. Wie sie sich hatte gehen lassen, verstand die junge Frau selbst kaum. Der Moment der Schwäche, der Hilflosigkeit - das war die alte Rin. Aber diese Rin war tot. Es gab kein Zurück mehr. Adrenalin kehrte zurück, das Blut pumpte ordentlich durch ihre Adern, dass sie sich lange nicht mehr so lebendig gefühlt hatte.

"Rin Yamamori", knurrte Yuta durch den Saal. "Menschen wie du kotzen mich an", er holte in einer theatralischen Geste mit dem rechten Arm aus. Auch er schien aus einem Traum erwacht, jedoch aus einem völlig anderen. "Weil es euch in eurem perfekten Leben so unsagbar langweilig ist…weil ihr keine wirklichen Probleme kennt-", spuckte er jedes einzelne seiner Worte mit Verachtung und Abscheu heraus. "Ihr wisst nicht, wie es auf der anderen Seite aussieht. Was es heißt, ums Überleben zu kämpfen -wirklich ums Überleben zu kämpfen. In den Kanalisationen nach Essen zu suchen oder die eigenen Freunde ans Messer zu liefern, damit man nicht selbst verraten wird…Nein. Ihr seid blind für das Leben außerhalb eurer perfekten, kleinen Traumblase. Ihr erfindet das hier, weil ihr glaubt, damit die Leere in euren Herzen ausfüllen zu können. Das ist nichts weiter als ein Spiegelbild eurer falschen, trostlosen Wünsche und eine Beleidigung an alle, die für euren Wohlstand bluten mussten." Yuta schüttelte den Kopf. "Du behauptest, dass ich dich nicht kenne? Ich kenne dich sehr wohl, Rin Yamamori. Euch kleinen verzogenen Gören aus der Großstadt - ihr seid doch alle gleich. Sieh' dich doch nur mal an! Du hattest alles. Ein friedliches Zuhause, warmes Essen, eine gute Schule, Freunde…und wofür hast du es eingetauscht? Für eine Firma, die dir das Leben aussaugt, dich manipuliert und kontrolliert, bis nur noch dein nutzloser, schwacher Körper übrig bleibt und du achtlos weggeworfen wirst." Unnatürlich hoben sich die Mundwinkel, dass sein Lächeln mehr und mehr einer seelenlosen Fratze glich.

"Und die da", Yuta fuchtelte mit den Armen, zeigte auf die Zuschauertribünen und lachte leise in sich hinein. "Diese ahnungslosen Trottel. Feiern dieses gottlose Spiel, als wäre es die Antwort auf ihre hoffnungslosen Seelen."

So siehst du also die Welt…?

Rin sah absichtlich weg. Ein Teil von ihr stimmte dem grünhaarigen Duellanten zu. Die Menschen waren naiv und blind. Sie wusste das, sie selbst hatte dazu gezählt, hatte sich von dem Rausch des Sieges, der Euphorie der Massen blenden lassen. Von den Dutzenden packenden Duellen, die von den mächtigen Firmen als >Sensation des Jahres< präsentiert wurden und ein Spektakel nach dem nächsten angekündigt hatten. Dass aus einem Kartenspiel ein Spiel des Lebens geworden war, hatte Rin in ihrer Jugend auch nicht sehen wollen. Sie hatte den Kampf der Duelle geliebt, den Nervenkitzel einer packenden Partie, die tausend Strategien und Möglichkeiten dahinter. Vielleicht hätte sie es bemerkt, wenn sie die Augen für das geöffnet hätte, das ihr nun gnadenlos von Hiii Yuta ins Gesicht geschlagen wurde.

Nein! So darfst du es nicht sehen, Rin! Lass dich nicht in seine Finsternis hineinziehen
 

"Du bist die Ahnungslose von uns beiden", setzte er pausenlos fort als würde er einen Schlag nach dem nächsten austeilen. Sein Lachen wurde lauter, doch die Leere darin breitete sich in unheimlicher Geschwindigkeit aus. "Euer sogenanntes Spiel wird ein Ende haben. Eure Technik wird fallen - ihr werdet fallen und wir werden diejenigen sein, die den Anfang einer neuen, friedvollen Epoche einleiten werden."

"Friedvoll?", knirschte Rin mit den Zähnen. Sie hatte genug gehört. Noch ein weiteres Wort und sie selbst würde noch den Verstand verlieren.

"Du hast recht", gab sie trocken zu, "ich weiß nichts von dem Leben, aus dem du gekommen bist, wie grausam es für dich gewesen sein muss…Aber", sie blickte ihm fest entschlossen ins Gesicht, "das gibt dir noch lange nicht das Recht, die Leute zu terrorisieren und ihnen das Leben schwer zu machen, nur weil sie deine Ideale nicht teilen! Du redest von Frieden, doch deine Leute bringen nichts als Chaos und Zerstörung. Ihr missbraucht die Turniere, um eure fehlgeleiteten Ziele durchzusetzen und dann stellt ihr euch hin und sagt, dass ihr die Guten seid? Siehst du denn gar nicht, dass du es bist, der wie eine Spielfigur herum geschubst wird?"

"Du hast keine Vorstellung, was ich durchmachen musste, Yamamori", entgegnete ihr Gegenüber und bekam ein gefährliches Funkeln in den Augen. Ob er ihr tatsächlich zuhörte, war zu bezweifeln. "Meister Dartz ist der einzige, der mich versteht, der mich aus diesem Sumpf herausgezogen hat", er zeigte auf sich und hämmerte mit dem Daumen auf seine Brust. "Ich schulde ihm mein Leben! Du wirst nie verstehen, was es heißt, jemandem alles bieten zu wollen und zu wissen, dass es nie genug sein wird." Er riss sich sichtlich zusammen, sein Atem ging flach, doch in seinem Innersten schien auch er nicht vollkommen kalt für diese Welt. "Für dich ist das, was wir machen, Terror, aber ich sage dir - mein Meister wird mich und die anderen erlösen. Da draußen lauern nämlich ganz andere Gefahren. Gefahren, die dich nicht nur das Leben kosten, nein", er schüttelte den Kopf, "etwas Großes kommt auf uns zu, die Technik deiner ach so tollen Firma ist nur der Anfang, und wer sich für die falsche Seite entscheidet, der wird elendig verrecken."

"Mag sein", murmelte Rin, die nicht weiter darauf eingehen wollte. Yuta zur Vernunft zu bringen, war ein Akt des Unmöglichen. Seine Vorstellungen waren in Stein gemeißelt - oder zumindest so sehr von Dartz bearbeitet, dass niemand zu ihm durchdringen konnte.

"Und bis es soweit ist", entgegnete die junge Frau, während sie ihre linke Hand zur DuelDisc führte, "werden wir weiterspielen."

"Ganz wie du meinst", zuckte Yuta mit den Schultern, "es ist zwecklos, aber was soll man einem abgerichteten Schoßhund schon sagen?"

Die Lippen fest zusammengepresst, dass sie jegliche Farbe verloren, legte Rin Daumen und Zeigefinger auf das Deck. Der Moment war gekommen, die nächste Karte entschied über Sieg oder Niederlage. War sie bereit, die Konsequenzen zu tragen? Die Verantwortung zu übernehmen, für das, was folgen sollte?

Ich darf jetzt nicht zweifeln

Innerlich schüttelte sie mit dem Kopf.

Sie vertrauen darauf, dass ich gewinne

Wen Rin mit sie meinte, darüber wollte sie im Augenblick nicht weiter nachdenken. Egal ob Vertrauen oder nicht. Niemand wollte, dass Rin aufgab. Sie selbst schon gar nicht.

Die junge Frau gab sich einen Ruck und zog. Die Karte lag schwer zwischen ihren Fingern, welche von den Anstrengungen des Duells wund und rau geworden waren. Nur langsam wanderte der Blick auf die Vorderseite. Flüchtig weiteten sich die Augen. Das hatte man ihr also als letzten Ausweg vor die Füße geworfen? Eine Zauberkarte? Nein, nicht irgendein Zauber. Wenn es dort oben jemanden gab, dann war er ein ebenso großer Zocker wie Rin. Die Karte war nicht nur riskant. Sie blindlings als Ausweg zu benutzen, war fast so, als hätte jemand einen Rettungsring mit einem Autoreifen verwechselt.

Ihr Blick schweifte von der Karte zu ihrem Kontrahenten.

Eine unberechenbare Karte für einen unberechenbaren Gegner. Was habe ich schon zu verlieren…?Ach ja! Alles

"Ich setze zwei Karten verdeckt", rief die junge Frau. Die Entscheidung war gefallen. Aus dem Bauch heraus, denn ihr Verstand hatte gerade keinerlei Befugnisse.

"Wirklich?!", lachte Yuta, der mit aufgerissenen Augen auf Rins Spielfeldzone blickte.

"Das bedeutet also >nicht aufgeben< für dich? Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen, erspare dir die Blamage, aber du bettelst geradezu darum, dass ich dich vernichte." Sein Körper bebte, vermutlich konnte er es nicht abwarten, ihr den finalen Schlag zu verpassen. Ihm Gegenüber versuchte Rin, sich nicht die Anspannung anmerken zu lassen. Aus dem Augenwinkel erhaschte sie einen Blick auf die vorderste Reihe, oder das, was Orichalcos davon übrig gelassen hatte. Die Sicht war selbst mit größter Mühe kaum zu überblicken, aber etwas erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ein eiskalter Blick ruhte auf ihr, selbst zwischen all der holographischen Technik, spürte sie Seto Kaibas blaue Augen, die Unergründlichkeit, die in seinen zwei Seelenspiegeln steckte und sie auf einmal ganz ruhig werden ließen. Er war da. So wie die anderen. Wenn sie über Orichalcos' Psychospielchen hinaus sah, entdeckte sie, dass es mehr gab. Sicher war es nur Einbildung von Rin, doch aus eben dieser Ecke schien eine derartige Sicherheit auszukommen, dass sie es sich erlaubte, sich dieses Gefühl zu eigen zu machen - wenn auch nur für diese letzten Züge.

Kaiba…

"Du bist dran", sagte sie mit Nachdruck und wappnete sich für das Ende.

Alles oder nichts

"Wie du meinst", grinste sie ihr Gegenüber an und machte sich für seinen Zug bereit.

"Endlich", rief er, ungeachtet der achthundert Lebenspunkte, die ihm Terrorkings Anwesenheit kostete. Yuta lag immer noch mit über 1600 Punkten vorne, ein Angriff von seinem Erzunterweltler Kaiser und Rins letztes Stündlein hätte geschlagen. Mit wachsamen Blicken verfolgten die Zuschauer das Geschehen. Die Endgültigkeit in Yutas Augen, sowie die Tatsache, dass Rin ohne Monster in den Kampf zog, ließ die Mehrheit ihren Sieger küren. Rin wusste es. Man hatte sie abgeschrieben. Das Publikum hatte seine Show bekommen, die Rufe der Mehrheit sprach für Paradius' Duellanten, der jeden von Rins Zügen durchschaut und vereitelt hatte.

"Bist du bereit, Yamamori?", rief Yuta, breitete die Arme aus und blickte hinauf zu seinem stärksten Monster. Erzunterweltler Kaiser erhob sich, die Finsternis saugte sich an ihm fest, dass nur noch Orichalcos ein schwaches Licht entsandte. Kein wirklich beruhigendes Licht, das Grün stach Rin von mal zu mal mehr in die Augen und wenn sie nicht aufpasste, würde die Feldzauberkarte noch ernsthafte Schäden hinterlassen. Also sah sie zu Yuta, der sein mächtiges Monster in den Kampf schickte. Dreitausend Angriffspunkte und fünfhundert zusätzliche durch Orichalcos. Wer keinen Respekt hatte, der hatte nie Bekanntschaft mit dem holographischen System der Kaiba Corporation gemacht. Ein direkter Angriff war wie ein näher rückender Sturm und in Rins Fall gab Dartz verunglimpftes Systemupdate einen extra Schub, der nicht nur ihren Mantel zum Tanzen brachte.

"Ich bin bereit", entgegnete Rin leise. Nie hatte sie entschlossener sein müssen. Es fühlte sich weder richtig noch falsch an.

Es ist wie es ist

Ein dunkles Grollen und der Erzunterweltler stürmte auf Rin zu.

"Der Sieg ist unser", krächzte Hii Yuta und stieß ein gequältes Lachen aus, welches ihm auf halber Strecke im Halse stecken blieb. "Wieso…?! Was ist das für ein Licht?!" Seine roten Augen starrten auf die junge Frau - oder besser gesagt, auf das Licht, das in sanften Schüben über Rins Körper glitt. Der lilane Schimmer umhüllte sie, die Menge verstummte, nur das Surren der Lichteffekte hallte in ihren Ohren wider.

"Meine Fallenkarte", entgegnete Rin und beobachtete, wie das Licht an Gestalt gewann, "Seelenwechsel!" Eben jenes Licht schuf die Gestalt der Bestie, der sie ihr ganzes Vertrauen schenkte.

"Du", Yuta stierte zu Rins weißen Nachtdrachen. Die Bestie erhob sich, das Glitzern seiner unzähligen Schuppen reflektierte im Lichte Orichalcos'. Die Flügel ausgebreitet schuf der Nachtdrachen eine Schutzmauer zwischen Rin und ihrem Gegner.

"Dass du allen Ernstes glaubst, mit dieser Karte gewinnen zu können", knurrte Yuta, sichtlich unschlüssig ob er sich über Rin lustig machen oder doch lieber für ihre Dreistigkeit verfluchen sollte.

"Nicht mit dieser Karte", entgegnete Rin und blickte zu ihrer Bestie hinauf, "aber mit diesem Monster."

"Du setzt all deine Lebenspunkte auf diesen Drachen?!", er schüttelte schmunzelnd den Kopf, scheinbar hatte er sich für eine Empfindung entschieden, "du bist hier die Wahnsinnige, Yamamori. Du musst doch wissen, dass dieses Spiel vorbei ist, sobald ich dein Monster zerstöre."

"Ich kenne den Effekt meiner Fallenkarte", sagte sie ohne jegliche Emotionen, "Seelenwechsel schützt mich vor sämtlichen Schaden. Im Gegenzug verliere ich das Duell, sobald mein auserwähltes Monster das Spielfeld verlässt."

"Was für ein nutzloser Zug", Yuta nickte seinem Erzunterweltler Kaiser zu, "vielleicht mag deine Bestie stark sein, aber mein Kaiser ist deinem Drachen um Längen überlegen."

"Noch", erwiderte die junge Frau und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Sinnlos! Das Spiel ist aus."

"Ach ja?!", gelassen deutete Rin auf Yutas Finsternismonster, der zu seinem Gebieter sprang und sich zurück auf dessen Thron begab.

"Diese Fallenkarte", spie Yutas aus.

"Falsch", widersprach ihm Rin, "Feindkontrolle ist eine Zauberkarte. Besser gesagt ein Schnellzauber, und mit seiner Hilfe habe ich dein hässliches Ungetüm in den Verteidigungsmodus versetzt."

"Du schindest Zeit, Yamamori", damit legte Yuta selbst eine Karte verdeckt ab, "aber mach' nur so weiter. Der Ausgang dieses Duells ist längst entschieden."

"Meinst du?", säuselte Rin und nahm die oberste Karte vom Stapel. Ausgiebig betrachtete sie diese, dann sagte sie gedankenversunken: "Glaubst du an das Schicksal, Yuta?"

"Dass du dieses Wort überhaupt in den Mund nimmst", entgegnete er und funkelte sie angriffslustig an.

"Lassen wir doch", ihre Hand fand die DuelDisc mit der leeren Zauberkartenzone, "das Schicksal entscheiden. Wer gewinnt oder verliert, ist vielleicht vorherbestimmt", ihr Blick wanderte zurück zu Yuta, "akzeptieren wir es, egal was kommt."

"Wie du willst", lächelte sie der Grünhaarige an, "so oder so - dein Ende ist gekommen."

"Warten wir's ab!", sie knallte all ihre Reserven aufs Spielfeld. "Ich lege drei Karten verdeckt und beende meinen Zug."

"Ha", mit zusammen gekniffenen Augen starrte Yuta zu ihr herüber, "du bist nicht nur verrückt sondern auch dumm. Du enttäuschst mich, Yamamori. Schade, und ich dachte, es könnte zum Ende noch spaßig werden." Er legte seine Hand auf Terrorking.

"Du hättest mich angreifen sollen, als du noch die Chance hattest. Naja, dann muss ich wohl für etwas Unterhaltung sorgen. Ich opfere meinen Erzunterweltler Terrorking und beschwöre meinen Schädel-Erzunterweltler." Ein stärkeres Monster machte Terrorking Platz. 2500Atk und das Licht von Orichalcos machte ihn genauso mächtig wie ihren Nachtdrachen.

Sein Schädel-Erzunterweltler ist wie mein Nachtdrache - Fallen und Zauber bringen nichts bei ihm! Das ist also sein Plan…

"Tja", säuselte der Grünhaarige weiter, "und da nun ein weiterer Erzunterweltler in meinem Friedhof liegt, kann ich den Effekt meines Kaisers aktivieren. Ich werde mit Freuden zusehen, wie dein kleiner weißer Nachtdrache von der Bildfläche verschwindet - und dich gleich mit in die Tiefe reißt!"

"Darauf habe ich nur gewartet", rief die junge Frau und streckte den Arm aus, "ich aktiviere meine Fallenkarte ultimative Vorhersehung!"

"Ultimative Vorhersehung?"

"Ganz richtig. Sobald ein beliebiger Effekt aktiviert wird, brauche ich nur die entsprechende Karte von meiner Hand ablegen und -Wusch!- annulliert sich der Effekt deines Kaisers.

"Und ich dachte, du hättest deine Verteidigung längst verbraucht." Noch lachte Yuta, doch die Mundwinkel bewegten sich langsam, gefährlich langsam nach unten.

"Ich habe nur auf den richtigen Moment gewartet."

Naja, eigentlich auf die richtige Karte

Sie legte Kindmodo Drache auf den Friedhof. "Aber es kommt noch besser! Sobald Kaisers Effekt vereitelt wurde, verschwindet nicht nur seine Fähigkeit." Aufs Stichwort begann der mächtige Erzunterweltler sich zwischen den Schatten aufzulösen. Mit starrem Blick verfolgte Paradius' Spieler, wie das Finsternismonster von der Bildfläche verschwand. Ein lautes Donnern, mehr blieb von dem Kaiser nicht übrig, als er in winzige Teilchen explodierte.

"Schön, du hast meinen Kaiser vernichtet", Yutas Stimme klang eine Spur kratziger als sonst, "trotzdem wird es dir nichts nützen." Er deckte seine Zauberkarte auf. "Baou! Dieses mächtige Schwert gibt meinem Schädel-Erzunterweltler 500 zusätzliche Angriffspunkte." Ein Breitschwert legte sich um die Pranken des Erzunterweltlers, sein animalisches Gebrüll jagte Rin kurzzeitig einen Schauer über den Rücken. 3500 Atk waren eine Ansage, noch dazu konnte der Ausrüstungszauber die Effekte derjenigen Monster annullieren, die es angegriffen und zerstört hatte; in Rins Fall eine Tatsache, die nichts an den Konsequenzen änderte, die sie mit Seelentausch unwiderruflich in Bewegung gesetzt hatte.

"Wie du dich windest, ist wirklich einmalig", sagte der Grünhaarige und schüttelte den Kopf, "keiner meiner Gegner war bisher so dickköpfig und uneinsichtig wie du. Aber nichtsdestotrotz ist es nun vorbei!"

"Das sehe ich anders!", Rin deckte ihre zweite verdeckte Karte auf. "Zwillingstwister zerstört deine Zauberkarten!"

Ein Wirbelsturm fegte über das Spielfeld hinweg und sog Baou in seinen Strudel der Zerstörung.

Das Schwert war verloren, der Erzunterweltler büßte ein paar Zentimeter seiner Größe ein und war mit 3000 Atk auf seinen letzten Zustand geschrumpft.

"Na und?!", lachte Yuta und stemmte die Hände in die Hüften, "dann sind unsere Monster eben gleichstark. Das bedeutet trotzdem für dich, dass du verlierst, oder hast du vergessen, dass dein Drache nur wegen deiner Fallenkarte Seelentausch noch steht? Sobald unsere beiden Monster vernichtet worden sind, ist das Spiel für dich gelaufen." Er zeigte seine Zähne. "Und jetzt, Schädel-Erzunterweltler! Vernichte Yamamoris Nachtdrachen!" Das Monster gehorchte, stürmte auf den Drachen zu, wobei er in der Mitte des Stadions in die Luft sprang und zum ultimativen Angriff überging. Blitze traten aus seinen Händen, eine geballte Ladung Energie war bereit, auf den weißen Nachtdrachen loszugehen.

"Ich decke meine letzte Fallenkarte auf", rief Rin. Der Ruf wurde von Schädel-Erzunterweltlers Attacke beinahe vollständig untergraben.

"Schlimmes Desaster. Sie zerstört sämtliche Fallen- und Zauberkarten."

"Zwecklos", lachte ihr Gegner, "siehst du denn hier irgendwo noch eine Karte?!"

Langsam wanderte ihr Blick zum Spielfeldrand, dass Yutas Lachen noch lauter ertönte. "Orichalcos? Hast du denn nicht aufgepasst? Du kannst Orichalcos nicht vernichten!"

"Oh doch!", Rin riss die Augen auf.

"Da brauchst du schon mehr als eine Fallenkarte."

"Ich weiß." Ihre Augen wanderten hinauf zum weißen Nachtdrachen, welcher inmitten eines Kampfes steckte, dessen Ausgang er selbst nicht vorhersagen konnte. Die beiden Monster lieferten sich ein Kopf an Kopf rennen, Blitze und Lichtattacken schufen eine gigantische Wolke, welche die Kreaturen vor der Außenwelt abschlossen.

"Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?", nun wanderte ihr Blick zurück zu ihrem Gegner, "es stimmt, Orichalcos kann einmal pro Zug nicht von Zauber- oder Fallenkarten zerstört werden."

"Und wo willst du jetzt noch eine Fallenkarte aus dem Ärmel schütteln", hickste Yuta, dessen Augen wie zwei überreife Äpfel hervorzustechen drohten.

"Das brauche ich gar nicht", entgegnete Rin und deutete mit dem rechten Zeigefinger auf die immer schwärzer werdende Wolke. "Zwillingstwister. Schon vergessen, dass ich sie gespielt habe? Scheinbar kennst du nicht die Fähigkeit dieser Karte. Wenn sie aktiviert wird, kann sie nicht nur eine, sondern gleich zwei Zauberkarten zerstören. Beim ersten Mal hat es nicht geklappt, weil Orichalcos' Effekt sie beschützt hat, aber jetzt-"

"NEIN!", schaltete sich Yuta dazwischen, "du kannst Orichalcos nicht vernichten."

Doch zu spät. Brüllen brachte nicht. Der Zauber bekam einen Riss, die Ringe brachen nach und nach auseinander, bis nur noch Splitter an die einstige Macht von Orichalcos erinnerten. Die Menge hielt den Atem an. Inmitten der vernichtenden Explosion, die aus der Wolke hervortrat und Schädel-Erzunterweltler als Verlierer kürte, drang aus den Lautsprechern die Stimme des Kommentators lauthals hervor.

"Rin Yamamori hat soeben die mächtigste Spielfeldzauberkarte zerstört,"

Heijis Worte dröhnten aus allen Richtungen. Seiner Stimme zu urteilen, schien es, als könnte er das Gesagte selbst kaum glauben. Da war er nicht der einzige.

Fassungslos - Augen und Mund weit aufgerissen - blickte Paradius' Vorzeigeduellant auf die Überreste des Spielfeldes. Als Überlebender ging der weiße Nachtdrache hervor, sein weißes Licht brachte die ersehnte Sicht auf das Stadion. Finsternis wich, ein sternenklarer Himmel breitete sich direkt über den Köpfen der Zuschauer aus.

Endlich

Rin ließ ihre Gedanken fließen, tat, was sie seit Wochen zurückgehalten hatte - sie überließ dem System ihre Gedanken, verschmolz Bilder und Emotionen zu einem einzigen Gemisch, wofür die Decke als Leinwand hinhalten musste. Es knackte, das Dach schien auszubrechen und hervor kam die Schönheit des Weltraums. Das Antlitz ließ alle Anwesenden ihre Hälse recken. Für einen Moment hatte es den Menschen die Sprache verschlagen, bis Hii Yutas gequälte Stimme die Stille brach.

"Rin Yamamori", er fletschte die Zähne, "es ist noch nicht vorbei."

"Doch", erwiderte die junge Frau. Ihr nächster Zug und weißer Nachtdrache zerstörte Yutas verbliebenen Lebenspunkte. Die Menge kehrte auf den Boden der Tatsachen zurück. Der Jubel brachte das Stadion zum vibrieren, von überall hörte sie ihren Namen rufen. Die Stimme des Kommentators heizte das Publikum nur noch mehr an, dass das gesamte Stadion bloß aus Schreien und Rufen bestand. Mit der linken Hand die DuelDisc abgestreift, lösten sich die Hologramme auf. Die Euphorie hatte sie nicht gepackt. Ihre Miene blieb eisig, als sie zu ihrem Kontrahenten herüber blickte, dessen Fassungslosigkeit sich in grenzenlosen Hass verwandelt hatte.

"Das ist nicht das Ende", Yuta hatte die Fäuste geballt, "ich schwöre dir, diese Firma wird dein Untergang sein!"

Die Strähnen zur Seite geschoben, wappnete sich Rin für das, was ihr eigenes Spiegelbild ihr entgegen schleudern würde. Die Spiegel von Kaiba Corps. Badeanstalten waren keine einfachen Neonröhrchen, nein! Der komplette Umkleidbereich war mit Hightechlampen versehen. Sonderanfertigungen - was auch sonst-, dass keine Falte, keine Pigmentstörung, kein Fusselchen diesem perfekt ausgeleuchteten Glas verborgen bliebe - einen faustgroßen blauen Fleck durch einen mehr als ungünstig gelegenen Scheinwerfer schon mal gar nicht. Einerseits vor Schmerz gab es da noch einen Rest Stolz, der sie die Augenbrauen zusammenziehen ließ, dass es ihrem Gesicht einen zerstreuten Ausdruck verlieh, der an einen durchnässten Köter an einem Donnerstagnachmittag erinnerte. Der Anblick war weniger verstörend als unglaublich frustrierend. Sie hatte es kommen sehen. Dass der erste Blick in den Spiegel nicht gerade zum Jubeln gewesen war, verstand sich von selbst, aber auch jetzt, nachdem sie einmal von Zuhause zur Firma gefahren war, um dort die wenige Zeit für sich ausschöpfen zu können, hatte sich nichts an dem Schock, an den Flashbacks, die mit dem Hämatom einhergingen, geändert. Der blaurote Fleck unterhalb ihres Auges war mehr als ein schmerzhaftes Erinnerungsbleibsel eines fragwürdigen Duells gegen einen noch fragwürdigeren Gegner. Das pochende Etwas, das sie zwei Stunden ihres Morgens gekostet hatte - nur damit ihr Gesicht nicht dem eines demolierten Verbrechers eines drittklassigen Gangsterstreifens erinnerte - brachte ihr weit mehr ein als ein angeknackstes Ego.
 

Seufzend klemmte sich Rin auch noch die letzten Strähnen hinters Ohr, dann packte sie die Längeren zwischen die Hände und konstruierte einen improvisierten Zopf, bevor sie damit begann, jeden einzelnen Zentimeter ihres Gesichtes abzutasten. Jedes Detail wurde kritisch in Augenschein genommen. Ein leiser Hoffnungsschimmer, dass die Ergüsse bald verheilt sein würden, war nach diesem Moment passé. Bereits jetzt bereute sie, die Badeanstalten der Kaiba Corporation aufgesucht zu haben. Zwei Stunden Arbeit waren dahin, sie musste noch einmal komplett von vorne beginnen, damit die Leute bei ihrem Anblick nicht reißaus nahmen, oder - was noch viel schlimmer und wahrscheinlicher war -, dass sie Rin mit Mitleid ansahen. Rin biss sich auf die Lippen. Nicht weil der Schmerz von pochend zu stechend gewechselt hatte, genauso wie die Farbe von Blau zu Lila switchen wollte. Die Tatsache, dass man sie wie ein wehrloses Opfer betrachten könnte, trieb ihr beinahe Tränen in die Augen. Tränen des Zornes - auf sich selbst und diejenigen, die immer noch nicht begriffen, was für ein perfides Spielchen gespielt wurde. Ihr war bewusst, dass sie weder ein Opfer noch eine Unschuldige war. Jetzt musste das nur noch die Presse kapieren, dass man sie nicht wie ein angeschossenes Reh darstellte, das sich vor Paradius' »leeren Drohungen« einschüchtern ließ. Damit gäbe sie sich schon zufrieden, doch die Boulevardpresse schien andere Pläne mit ihr zu haben.

Kaiba könnte mal ruhig etwas dagegen unternehmen. Sonst hält er sich doch auch nicht zurück
 

Seufzend (obwohl ihr Seufzer mehr einem Stöhnen glich) griff sie zu der Tube, die ihr Maki vor zwei Tagen gegeben hatte. Gerade wünschte sie den Imagedesigner an ihrer Seite. Schminken gehörte noch nie zu ihrer Paradedisziplin und auch technisch hatte sie nicht genügend Talent, um sich in eine weniger demolierte Spitzenduellantin zu verwandeln.

Die paar Handgriffe mussten für den Anfang genügen. Die weiße Pampe tat seine Pflicht, Rin machte ihr keine Vorwürfe - solch einer Hausnummer war selbst Makis Wunderwaffe nicht gewachsen. Wenigstens leuchtenden einem die Töne nicht mehr so entgegen. Bei der Farbkonstellation könnte man meinen, der schwarze Rotaugendrache und der weiße Drache mit eiskaltem Blick hätten sich in einer abartigen Fusion zusammengetan. Der Gedanke ließ sie schmunzeln, aber nur kurz, weil Schmunzeln eindeutig eine noch schlechtere Idee war als ein paar Runden durch das Becken zu kreisen. Dabei hatte das Wasser so gut getan! Für einen Moment hatte sie sich einfach treiben lassen, hatte die letzten Tage hinter sich gelassen und war einfach nur durchs Wasser geschwommen, als wäre der Wahnsinn bloß ein schlechter Traum, aus dem sie nur erwachen musste. Die Temperaturen waren perfekt gewesen, die Feuchtigkeit hatte gekühlt und gleichzeitig ihren Körper mit Wärme umhüllt, dass es sich wie eines ihrer wohlig warmen Daunenkissen angefühlt hatte. Der blaue Fleck an der Wange hatte sie daran erinnert, dass sie der Realität nicht entrinnen konnte, weshalb sie mit einer Mischung aus Frust und Wehmut aus dem Becken gestiegen war.
 

Zum Abschluss gab sie noch eine ordentliche Portion Make Up und etwas Puder auf das bereits vollgekleisterte Gesicht. Das letzte Mal hatte sie sich für ihren Nebenjob im Maidcafé so schminken müssen und das nur, weil ihr Chef sie dazu genötigt hatte.

Oh Mann

Sie sah wieder halbwegs normal aus, aber von ihrem richtigen Ich schien sie weit entfernt.

Wenn ich wüsste, was mein richtiges Ich ist…

Gerade spiegelte sich eine Fremde im Glas wider. Die Lippen zu einem geraden Strich verzogen, bemühte sie sich, nicht weiter an Hii Yuta und dessen krankhaften Ideologien zu denken. Oder daran, was er ihr am Ende des Duells gedroht hatte. Die Warnung unter den Teppich zu kehren, war sicher keine gute Idee, doch im Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als die Erinnerungen nach hinten zu packen und alles Weitere auf später zu verschieben. Die letzte Runde stand noch an. Ihr finales Duell gegen Yoshihiko Taba. Medien und Presse schienen sich bereits einig, dass Kaiba Corps. Newcomer des Jahres das Ticket einstreichen würde. Nicht, dass Rin nicht schon genug Druck verspürte! Eigentlich hatte sie die leise Hoffnung gehabt, dass ihr Sieg gegen Paradius' Vorzeigeduellanten die Endrunde entscheiden würde. Dass sie nicht mehr gezwungen wäre, gegen narzisstische Spinner um die finalen Spiele in Kairo kämpfen zu müssen.

Träum weiter

Natürlich sah das die Kommission anders. Das letzte Duell einfach als Freundschaftsspiel anzusehen, war eine lächerliche Vorstellung - und naiv obendrein, das wusste sie, noch bevor sie den Satz zu Ende gedacht hatte. Mehrere Millionen hingen an diesem letzten Spieltag. Werbung, Sponsoren und nicht zu vergessen das ganze Merchandise, das während des Spielewochenendes verkauft werden sollte. Wie viel Seto Kaiba in die Spiele investiert hatte, wollte sie sich gar nicht ausmalen - sicher genug, um als Mitglied der Kommission sein Veto einzulegen, um das zu bekommen, was er wollte und Rin ein weiteres Mal zappeln zu lassen. Wann hatte der junge Firmenchef schon einmal die Chance gehabt, gleich zwei seiner Duellanten in die letzte Runde zu schicken - den krönenden Abschluss eines Turniers, dessen Intention Rin immer mehr in Frage stellte?

Erst gestern war es offiziell gemacht worden. Dass Yoshihiko Taba eine letzte Chance zugesprochen bekam. Selbstverständlichkeit war das nur wegen Hii Yutas Niederlage möglich gewesen (schon klar!). Da Rin nun als einzige in ihrer Gruppe mit einer Verliererquote von Null Prozent in das Duell ginge und ihr Gegner somit als Außenseiter galt, brächte ihm ein Sieg gegen die junge Frau den Sieg für die gesamte Endrunde ein. Eine Regelung, welche Rin bis heute nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte. In DuelMonsters schien man sich die Dinge einfach schön zu reden und so für sich zu drehen, dass sie der Kommission den nötigen Profit einbrachte - gleiches galt wohl auch für die Endrunden, dass Rins hart erarbeitete Siegerfolge einfach für nichtig erklärt wurde, damit der Nervenkitzel und die Spannung aufrecht erhalten blieben.
 

Die Schultern gestrafft löste Rin ihren Zopf und ließ die braune Mähne über ihre Wangen fließen. Sie zubbelte noch ein wenig an einzelnen Strähnen, bevor sie sich für die Menge dort draußen gewappnet fühlte und sich mit einem tiefen Atemzug vom Beckenrand schubste, um das Foyer der Kaiba Corporation zu durchschreiten.

Eigentlich hatte sie sich ja abgewöhnt, die Blicke nach unten zu richten. Als schüchterner Teenager hatte es sie unscheinbar werden lassen und genau das brauchte Rin - das Gefühl unsichtbar zu sein. Als Seto Kaibas Vorzeigeschild ein mehr als illusorischer Wunschgedanke, aber für den Moment musste der Glaube daran genügen.

Nur noch durch die Drehtür und sie hätte es geschafft. Die Blicke im Rücken verdrängte sie im Geiste, genauso wie all die Angestellten, die ihr neugierig hinterher sahen.

Okay, die Lederhose hätte echt nicht sein müssen
 

Die Kleiderwahl war aus einer reinen Routine entstanden. Rin hatte sich die erstbesten Klamotten geschnappt, bevor sie ihren kalten Kaffee herunter gewürgt hatte und aus der Wohnung geeilt war. Normalerweise war es nicht nötig, in Stress zu verfallen, für den Rest der Woche stand nichts an, dass sie sich ganz auf das letzte Duell konzentrieren konnte, doch die leere Wohnung lag drückend auf ihrem Gemüt. Da kam es wie gelegen, dass sie endlich wieder die Gelegenheit hatte, sich gegen die KI im Trainingsgelände zu behaupten. Nach drei Tagen, an denen Seto Kaiba ihr striktes Duellverbot erteilt hatte (noch nie hatte er auf etwas so beharrt wie darauf), war es geradezu befreiend, endlich wieder die DuelDisc anlegen zu können und die virtuellen Simulationen auf sich einwirken zu lassen. Ohne Duellwahnsinn und einem apokalyptischen Spinner, der Rins Gesichtshälfte verunstaltete, war es eine willkommene Ablenkung zu den Gewissensbissen, die sie gegenüber ihrer besten Freundin hatte.
 

Hinter der Drehtür wartete eine kühle Brise, gefolgt von einem ebenso kühlen Blick eines unzufriedenen Duellanten. Yoshihiko Taba hatte sich von der Wand abgestützt, dass er beinahe in Rin hinein gerannt wäre.

"Aus dem Weg, Yoshi", entgegnete Rin und bemühte sich so gelangweilt wie möglich zu klingen.

"Wieso?", entgegnete ihr Mitstreiter mürrisch, "weil du jetzt die Nummer eins bist? Bild' dir bloß nichts darauf ein."

"Du wiederholst dich", Rin hatte jetzt nicht die Nerven, sich mit einer beleidigten Leberwurst zu befassen. Darum drückte sie Yoshi von sich, in der Hoffnung, den arroganten Schnösel endlich loszuwerden. Leider streifte sie nur ein Stück seiner Schulter, dass es kaum Eindruck auf ihren Mitstreiter erweckte.

"Deine Glückssträhne wird bald vorbei sein", redete er einfach weiter, ungeachtet, dass Rin ihm bereits den Rücken gekehrt hatte. Widerwillig blieb die junge Frau stehen.

"Du bist nichts Besonderes, Yamamori", fuhr er fort. Sie hörte das Rascheln von Papier, vermutlich hatte er sich eine Zigarette aus der Tasche geholt. "Solange du als Werbehäschchen funktionierst, ist alles gut und schön, aber das geht vorbei. Schneller als du glauben magst. Und wenn ich dich erst einmal besiegt habe, wird kein Hahn mehr nach dir krähen."

"Du nimmst deinen Mund ganz schön voll", Rin drehte sich nicht um - diesen Triumph gönnte sie ihm nicht, "schließlich warst du es, der sich vor Hii Yuta zum Volldeppen gemacht hat."

"Nur ein kleiner Rückschlag", winkte Yoshi ab, aber seine Stimme verriet ihn. "Dieses Business ist nichts für kleine Mädchen wie dich. Du versteckst dich hinter deinem Image, aber glaube mir, wenn du gegen mich spielst, wird dir dein Status nichts nützen."

"Ach ja?", sie ließ ihre Stimme vor Gleichgültigkeit strotzen, "ich bin gespannt, was du mir zu bieten hast. Bisher hast du dich bloß aufgeblasen und dein Revier markiert. Ich frage mich, wie du dich herausreden willst, wenn ich mit deinem selbstgefälligen Gesicht den Boden aufgewischt habe."

"Hmpf", es gab ein Klacken. Feuer traf auf Filter und Tabak, der Rins Nacken als qualmenden Rauch streifte, "ich werde der Welt beweisen, dass hinter deinen scharfzüngigen Worten nur ein einfaches, verunsichertes Mädchen steckt, das glaubt, Eindruck zu erwecken, indem es Seto Kaiba kopiert. Aber glaube mir", er nahm einen tiefen Zug, die Rauchwolke hatte nun ihre Wangen erreicht, "du kannst nicht wie er sein. Du bist bloß eine billige Kopie, der man bald überdrüssig sein wird."

"Bist du fertig?", raunte Rin, den Kopf gedreht, dass sie aus dem Augenwinkel sein arrogantes Grinsen sehen konnte. Ohne einen weiteren Konter abzugeben, marschierte sie auf die andere Straßenseite. Sie hasste es, dass ein Teil von ihr sich von Typen wie ihm runterziehen ließ. Yoshi war ein Blender, der sich über die Jahre durch Geld und Bekanntschaften an der Spitze der DuelMonsters-Branche halten konnte. Seine Spiele waren geprägt von teuer erkauften Karten und überboosterten Decks. Ihn vor der Welt zu entblößen, sähe Rin als eine Genugtuung für all die Jahre, in denen sie nie niemand ernst genommen hatte - eben weil sie ein genauso großer Drachennarr war wie er, obwohl sie beide nichts gemeinsam hatten (naja, fast nichts)

Verlier' jetzt nicht die Nerven wegen dieser Flachpfeife

Zumindest nahm sie es sich fest vor. Den Rest verdrängte sie. Ebenso das Echo seiner Stimme, das wie ein Chor quakender Frösche in den Ohren schmerzte.

Etwas zu ruppig riss sie die Tür ihres Lieblingscafés auf. Wieder einmal konnte sie sich auf die Kundschaft verlassen, die lieber nur schnell ein paar Sandwiches kaufte, bevor sie auch schon wieder davon eilte, dass die junge Frau nicht wieder ungläubigen Gaffern und vermeintlich mitfühlenden Kollegen gegenüber treten musste.

"Mein Gott, Rin!", stieß Makoto aus, als Rin an den Tresen herangetreten war. "Ich dachte, es wäre-"

"Nur Show?", beendete Rin mit einem gequälten Lächeln den Satz, "dir auch einen schönen Tag", mit einem Wink beugte sie sich zu ihrer Lieblingskassiererin vor.

Hör endlich auf zu lächeln!

Sie berührte die verunglimpfte Stelle.

"Ich wollte sagen, »nicht so schlimm«, aber… das kann ich mir wohl schenken." Die Braunhaarige schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich der Kaffeemaschine zu und spendierte Rin einen extra starken Kaffee. Dabei hantierte sie an der Maschine, so wie sie es immer bei Seto Kaiba tat. Gespannt beobachtete sie, wie die Bohnen etwas grober gemahlen wurden, das Rattern der Maschine einen herben, leicht würzigen Duft hinterließ. Nach einem Schluck musste die junge Frau feststellen, dass der Kaffee gar nicht so viel stärker schmeckte, sondern der Geschmack dadurch an Intensität gewann.

Muss ich mir merken

"Und? Wie geht es dir?", fragte Makoto nach einer Weile, als Rin bereits glaubte, das Thema als abgehakt betrachten zu können.

"Es sieht schlimmer aus als es ist", entgegnete Rin locker.

"Das beantwortet nicht meine Frage", zwinkerte sie die Kassiererin an.

"Es geht mir gut, ehrlich. Und wenn du aufhörst, mich mit diesen großen runden Kulleraugen anzusehen, dann wird es mir noch viel besser gehen."

"Tschuldige", erwiderte Makoto und schnappte sich den Lappen neben den Longdrinkgläsern.

"Mir tut es leid", Rin wischte sich über die Augen, dabei achtete sie darauf, keinen Zentimeter Wange zu berühren, "ich wollte dich nicht so anfahren."

"Schon okay, du bist gestresst. Das verstehe ich ich. Glaube mir, wenn du mit einem süßen, aber dauergestressten Verlobten zusammenlebst, nimmt man solche Dinge nicht mehr so persönlich", Makotos Lächeln war wieder einmal Balsam für die Seele. Nach all dem falschen Grinsen und Lachen konnte sie sich immer auf die Braunhaarige verlassen.

"Ich muss das einfach fragen", fuhr Makoto feinfühlig fort, "als ich dich da auf der Bühne habe liegen sehen…ich habe mir Sorgen gemacht, weißt du?" Sie wischte den Tresen, obwohl Rin vermutete, dass sie bloß nach einer Beschäftigung suchte.

Da war sie nicht die einzige. Wenn sie an Yamamotos besorgte Telefonate und SMS dachte, wurde ihr ganz mulmig.

"Mach' dir echt keine Sorgen um mich", sagte Rin und zog die Kaffeetasse zu sich heran, "der Schrecken ist ja vorbei. Jetzt kann ich mich ganz aufs Finale konzentrieren. Und Yoshi", ein tiefer Schluck und das schwarze Gold rollte ihre Zunge entlang, sie merkte nicht einmal, dass sie ihn Schwarz trank - ein Unding! -, "er ist vielleicht ein arrogantes Arschloch, aber bei ihm muss ich wenigstens keine Angst haben, dass er mir mein Gehirn wegpusten wird."

Nicht bei Yoshis miserabler Performance von neulich. Und der Typ bezeichnet sich als Kaiba Corps. Nummer eins…?

"Da hast du recht", entgegnete die Kassiererin mit einem unsicheren Ausdruck im Gesicht, "und? Schon eine Idee, wie du Yoshi schlagen kannst?"

"Ehrlich gesagt, nein", seufzte Rin. Um ihren Gegner machte sie sich weit weniger Sorgen, aber sein Buster Blader könnte ihr eine Menge Ärger bereiten. Nur zu gut erinnerte sie sich an die unzähligen Male, als sie mit Lumina im Wohnzimmer ihres Elternhauses gehockt und das Kriegermonster ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte. Neben dem schwarglänzenden Soldaten war der Buster Klingenkämpfer eines der gefürchtetsten Krieger in DuelMonsters und ihre beste Freundin war definitiv jemand, der seine Stärken in vollen Zügen ausschöpfen konnte.

Lumina…

Nach einem kräftigen Zug hatte Rin ihre Tasse geleert.

"Musst du schon wieder los?", fragte Makoto und schaute auf die Uhr, welche erst kurz nach zwei anzeigte. Keine Zeit für die junge Frau, die schon gerne einmal bis um fünf in ihrem Lieblingscafé verbrachte und Makoto Gesellschaft genoss.

Die junge Frau nickte. "Ich will heute nicht so spät nach Hause kommen und Lumina mit etwas Süßem überraschen." Die Kaffeetasse zur Seite geschoben beugte sie sich zu den Leckereien herüber. Die Entscheidung war schnell gefallen. Mit dem Finger zeigte sie auf die weißen Schokobrownies - eine von Luminas Leibspeisen.

"Vielleicht nimmt sie meine Entschuldigung an", sagte Rin und beobachtete, wie Makoto zwei Stückchen für sie einpackte.

"Habt ihr euch gestritten?", fragte die Kassiererin nach.

"Nein, aber seit dem Duell geht sie mir aus dem Weg. Zumindest hab ich das Gefühl, dass sie absichtlich weg bleibt, um mich nicht sehen zu müssen."

"Vielleicht bereitet sie sich nur auf das Auslandsjahr vor. Da stehen doch sicher einige Erledigungen an", entgegnete Makoto und überreichte der jungen Frau die Kiste mit den Brownies.

"Vielleicht", murmelte Rin. So wirklich glaubte sie nicht, dass es am Studienstress lag. Dafür kannte sie ihren schwarzhaarigen Wuschel viel zu gut.

Rin hasste die Funkstille zwischen sich und ihrer besten Freundin. Lumina war eher der Typ, der Konflikten aus dem Weg ging. Der sich lieber zurückzog anstatt zu sagen, was los war. In der Regel konnte Rin gut damit umgehen. Wenn sie aber selbst Anlass für Luminas Verhalten war, sah die Sache etwas anders aus.

Die Brownies waren nicht nur als Versöhnungsgeschenk gedacht. Vor dem Wochenende wollte sie sich mit Lumina aussprechen. Wenn ihr schwarzhaariger Wuschel Probleme hatte, das Duell gegen Yuta zu verarbeiten, dann musst sie mit Rin darüber reden. Gemeinsam würden sie schon eine Lösung finden.

Die Kiste fest in den Armen ließ sich Rin zurück zur Wohnung fahren. Ihr war bewusst, dass sie viel zu viel Zeit in der Firma verbrachte und dass Arbeit und Studium sich ständig überschnitten. Sie wollte wenigstens die wenigen verblieben Tage dazu nutzen, genügend Erinnerungen mit Lumina zu teilen, bevor Auslandsstudium und Duellbranche eine großen Umbruch einstimmen würden. Die drei Wochen, die ihnen noch blieben, wollte Rin noch in vollen Zügen ausschöpfen, doch Lumina war immer außer aus, wenn sie aufwachte oder von Besorgungen zurückgekehrt war.

Die Stufen hinaufgestiegen, überlegte Rin, wie sie ihren schwarzhaarigen Wuschel vorsichtig darauf ansprechen könnte. Bisher hatten sie sich immer ohne Worte verstanden und die junge Frau hoffte, dass ein leckeres Stück Brownie da Abhilfe schaffen könnte.

"Ich bin wieder da!", rief Rin, nachdem die Wohnungstür nicht abgeschlossen war und das nur eines bedeuten konnte.

"Und rate Mal", rief sie weiter und streifte ihre Schuhe ab, "was ich mitgebracht habe." Die Kiste in die Luft gehalten, lief Rin auf die Küche zu und blieb mitten im Rahmen stehen.

"Mutter?!"

Ihre Arme sanken nach unten. Sie rechnete mit vielem. Lumina und einer Gruppe schwarz gekleideter Subs oder zwei zwielichtige Kerle mittleren Alters, die für eine Zigarette und Rins Spezialkaffee hergekommen waren. Nichts, womit die junge Frau nicht schon ein paar Mal überrascht worden wäre. Damit wusste Rin umzugehen. Aber ihre Mutter?!

Yukiko Yamamori, die auf einem der bunt gewürfelten Stühle saß, erhob sich. Ihre weiße Bluse mit dem knielangen braunen Faltenrock harmonierte perfekt zu den hochgesteckten Haaren, die mit einer hölzernen Spange festgehalten wurden. Die Strähnen waren wieder einmal akkurat eingearbeitet worden, der Kamm hatte ganze Arbeit geleistet und hatte die blonden dicken Strähnen stramm und glatt nach hinten geschoben. Wenn die Haare aus dem Gesicht waren, wirkte Yukikos Gesicht geradezu frisch und mädchenhaft. Die weichen, runden Züge und dazu das dezente Makeup (ihre Mutter hatte noch nie viel Schminke nötig gehabt) hatten ihr oft Komplimente eingebracht, dass sie nicht nur einmal für Rins ältere Schwester oder die junge Tante gehalten wurde. Wie sie sich elegant von ihrem Platz erhob, dabei den Rock glättete, dass keine Knitterfalte eine Chance gehabt hätte, verkörperte sie in einer einzigen Pose die Generation von Frauen, für die viele Nachfolgenden ihr Respekt und Neid entgegenbrachten.

Der Ausdruck war weniger Zeugnis ihrer guten Stube. Vielmehr war er einer Reihe von Ereignissen und Entscheidungen geschuldet, die Yukiko Yamamori zu einer ehrgeizigen und überfürsorglichen Mutter gemacht hatten, die das Wesentliche aus den Augen verloren hatte.

Die Empfindungen hinter dem scheinbar perfekten Gesicht waren Rin nur allzu gut bekannt. Die Vorwürfe und das Entsetzen - sofort versteifte sich die junge Frau. Alles in Rin schrie nach Abwehrhaltung.

"Was machst du hier?", fragte sie kühl, noch bevor ihr Kopf den Satz vervollständigt hatte.

"Was ich hier mache?!", Yukikos Stimme hob sich. So wie sie es immer tat, wenn sie nervös oder aufgebracht war. Mittlerweile konnte Rin ihre Mutter gut genug einschätzen. Sie wusste, wann ein Gesichtsausdruck zur Sorge veranlasste oder nur ein Automatismus ihre Mutter dazu trieb, so ernst und vorwurfsvoll auszusehen, und gerade war Yukiko nicht bloß auf eine ihrer routinemäßigen Floskeln aus.

Aus dem Augenwinkel warf Rin ihrer besten Freundin einen irritierten Blick zu, welcher von Lumina einfach ignoriert wurde, in dem die Schwarzhaarige auf den Aschenbecher vor sich starrte. Mit den Fingern puhlte sie an der rosanen Spinne herum, als würde sie das Ganze nichts angehen.

"Wann hattest du vor, es mir zu sagen?", die Stimme ihrer Mutter zwang Rin dazu, sich wieder ihr zu widmen.

"Wovon redest du?"

"Von deinem Krankenhausaufenthalt", piepste Yukiko. Die Wangen glühten, eine Mischung aus Zorn und Kummer, die bald die ersten Tränen einfordern würden. Damals hatte es auch so begonnen. Vor vier Jahren, als ihre Mutter ins Zimmer gestürmt war, das Telefon in der Hand und Rin zur Rede gestellt hatte.

Wie kann sie davon wissen? Die Presse hat es doch erfolgreich vertuscht. Warum-?!

Mit offenem Mund starrte die junge Frau zu ihrer Mutter herüber.

"Denkst du, es war eine Freude erfahren zu müssen, dass die einzige Tochter im Begriff ist, ihr Leben wegzuwerfen?", Yukiko schüttelte den Kopf, dass eine blonde Strähne aus ihrer Spange glitt. "Nicht, dass ich es nicht von dir gewohnt wäre, dass du dich lieber sinnlosen Spielereien hingibst, als etwas Anständiges aus dir zu machen. Aber das…!", sie schluckte, "wie konntest du es mir verheimlichen, Rin?"

"I-ich-", Rin wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Mutter war die letzte, die von den Duell gegen von Schroeder erfahren sollte.

"Wag' es nicht, dich herauszureden, Rin!", Yukikos Augen weiteten sich, nur um die Tränen zu unterbinden - oder um zu demonstrieren, dass sie kurz davor war zu weinen, in der Hinsicht konnte sich Rin nie sicher sein.

"Ich habe von Anfang an gewusst, dass dieser Beruf nichts für dich ist, aber dass du dafür auch noch deine Zukunft opferst-"

"So ist das nicht", erhob Rin ihre Stimme. Sie hatte Mühe, nicht wie das eingeschüchterte siebzehnjährige Mädchen zu klingen, das seit Jahren versuchte, ihrer Mutter gerecht zu werden, "dass ich im Krankenhaus war, hat nichts mit der Arbeit zu tun. Es war ein Unfall."

"Lüg' mich nicht an!", eine Träne kullerte Yukikos rechte Wange hinab, "du wusstest, dass ich nicht damit einverstanden bin, dass du dein Leben als billige Servicekraft, Barkeeperin oder was auch immer du dir die Jahre hast einfallen lassen, um mich zu ärgern, verschwendest."

"Ach, so hast du das also gesehen?", entgegnete Rin und warf die Kiste neben sich auf den Boden, "dass ich das gemacht habe, um dich zu ärgern? Entschuldige, aber es geht nicht um dich! Es geht um mein Leben, und ich entscheide, wie ich es führe. Wann verstehst du das endlich?"

"Nicht, wenn es heißt, dass ich dich die nächsten Male im Krankenhaus besuchen muss", ließ ihre Mutter einfach nicht locker. Die Tränen waren versiegt, aber auch nur, weil die Hitze ihren gesamten Kopf und die Wangen in Beschlag genommen hatten. Ihrer bleichen Haut verlieh der Röte ein extra Leuchten, dass nicht viel zur überreifen Tomate fehlte. "Oder was geschieht als nächstes?", warf sie direkt einen nach, "wird irgendwann die Polizei vor meiner Haustür stehen? Werde ich über die Zeitung von deinem Tod erfahren? Willst du das wirklich, Rin?"

"Übertreib doch nicht ständig, Mutter. Wenn du endlich aufhören würdest, nur das Schlechte zu sehen-"

"Wie kann es da etwas Gutes geben?", Yukikos Stimmung wechselte sekündlich. Ihr wimmern brachte Rin beinahe dazu, Mitleid zu empfinden. Aber dann dachte sie an ihre Mitbewohnerin, ihre beste Freundin, die wie eine Statue auf ihrem Platz hockte, und die Wut kehrte mit einem Ruck zu ihr zurück.

"Rin", beschwor sie ihre Mutter, "ich will doch nur das Beste für dich."

"Das Beste für mich, ist aber nicht das, was du dir darunter vorstellst, Mutter", knurrte Rin und ballte die Hände zur Faust. "Der Unfall war eine einmalige Sache", sie atmete tief ein, senkte den Blick, um nicht vollkommen die Beherrschung zu verlieren. Gerade galt ihr Zorn nicht nur ihrer Mutter, doch diese badete aus, wozu ihre beste Freundin nicht imstande schien. "Ich weiß, dass du dir nur Sorgen machst und das kann ich auch verstehen, wirklich. Aber, du kannst es nicht ändern. Lass' es auf sich beruhigen, okay? Ich verspreche, ich werde dir nicht noch einmal so einen Schrecken einjagen." Das letzte brachte sie gerade so mit zusammengepressten Zähnen hervor.

"Du weißt gar nicht, wie oft ich diesen Satz früher hören musste", entgegnete Yukiko und sah ihre Tochter flehend an, "wie oft dein leiblicher Vater-"

"Mein Vater", spie Rin aus und funkelte ihre Mutter wütend an, "lass' ihn da raus!"

Wenn es vieles gab, das Rin ertrug - aber dieses Thema…

"Ich will dich doch nur beschützen, Rin. Ich will nicht, dass du dieselben Fehler begehst wie er!"

"Ich will nichts davon hören", die junge Frau fuchtelte mit den Armen und drehte sich um, "und ich will nichts über ihn hören. Nie wieder." Am liebsten hätte sie sich die Ohren zu gehalten.

"Rin", flüsterte Yukiko.

"Bitte geh' jetzt", Rin versuchte sich zu sammeln, doch vergebens. Es war ein heikles Thema - er war ein heikles Thema - und Rin wünschte, ihre Mutter hätte es nicht angeschnitten. Schon allein den Namen zu hören, brachte ihre Nerven an ihr Limit.

"Also schön", knickte Yukiko ein und schritt an ihrer Tochter vorbei, die ihr nicht ins Gesicht sehen konnte. "Ich werde dir etwas Zeit geben…bis du wieder zur Vernunft kommst", mit diesem letzten Dämpfer verschwand ihre Mutter. Vorsichtig fiel die Tür ins Schloss.

"Ist das dein Ernst?!", jetzt drehte sich Rin zu ihrer besten Freundin. Die Stimmung war angespannt, das Knistern in der Luft spürbar, dass Rin es in einer einzigen Geste zum Entladen brachte. "Du hast meine Mutter angerufen und ihr von dem Vorfall erzählt?!" Sie breitete den linken Arm aus. "Meine Mutter! Der letzte Mensch auf diesem Planeten, dem ich davon erzählen würde. Und seit wann verbrüderst du dich mit ihr? Oder kannst du mir vernünftig erklären, was dieser Mist sollte?"

"Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?", entgegnete Lumina nicht minder aufgebracht als Rin, dass die junge Frau vor Überraschung die Augen aufriss. Lumina in einem derartigen Tonfall zu hören, war Rin nicht gewohnt.

"Sie ist die einzige, die dich noch auf den Boden der Tatsachen bringen kann."

"Wirklich?", fassungslos starrte Rin ihre beste Freundin an. Lumina stierte derweil weiter auf ihren Aschenbecher als würde die Spinne jeden Moment zum Leben erwachen.

"Meine Mutter, die Null Verständnis hat, die keine Ahnung hat, was ich will-"

"Was du willst?!", Lumina schob den Aschenbecher beiseite, "weißt du überhaupt noch, was du willst?" Die Schwarzhaarige drehte sich um, und obwohl ihr Gesicht von unzähligen Haaren bedeckt war, sah Rin das zornige Funkeln ihrer Seelenspiegel. "Du wolltest DuelMonsters Profi werden", sagte Lumina als wüsste Rin nichts von ihren Plänen, ihren Wünschen. "Du wolltest dein Geld mit deinem Talent und deinem Ehrgeiz verdienen. Was ist davon übrig geblieben, Rin? Sag' es mir!"

Die junge Frau antwortete nicht, aber Lumina schien auch auf keine Antwort abzuzielen. Ungehindert fuhr sie fort: "Hast du überhaupt noch den Durchblick? Was du dir und deinen Mitmenschen antust?"

"So denkst du von mir?", Rin wusste nicht ob sie wütend oder traurig sein sollte. Gerade würde sie liebend gerne etwas kaputt treten.

"Ich weiß gerade gar nicht, was ich von dir denken soll", erwiderte Lumina und verzog das Gesicht, "du hast dein Ziel völlig aus den Augen verloren. Du duellierst dich nicht mehr um deinetwillen, sondern…", das Ende des Satzes blieb sie Rin schuldig, doch die junge Frau konnte sich schon denken worauf die Schwarzhaarige hinaus wollte.

"Sei ehrlich, Lumina. Geht es hier überhaupt noch um mich, oder darum, dass du von Anfang an ein Problem damit hattest, wo ich arbeite?"

Ein verächtliches Schnauben und Lumina sprang vom Stuhl auf. "Ich hatte kein Problem, dass du für eine machthungrige Firma arbeitest, die dich eigentlich nur ausbeuten will. Oder damit, dass deine Vorgesetzten Riesenarschlöcher sind. Ich habe ein Problem mit dir! Wie du einem narzisstischem Egomanen hinterher rennst und dir bereitwillig das Hirn wegblasen lässt, nur damit du dir weiterhin schön einreden kannst, dass es ja »rein beruflich« ist." Lumina machte mit Zeige- und Mittelfinger zwei Gänsefüßchen, dass Rin knurrend entgegnete: "So ein Schwachsinn!", sie wusste, dass sie eine Spur zu laut darauf reagiert hatte, aber um es zurückzunehmen, war es längst zu spät. "Ich mache das nicht für Kaiba, und das weißt du!"

"Oh doch, Rin. Oder warum hast du dich auf das Spiel gegen Zigfried von Schroeder eingelassen? Die Rin, die ich kenne, hätte sich niemals für einen Kerl geopfert, dem es scheißegal ist, was aus ihr wird."

Das stimmt nicht. Er-

"Du hast dich verändert", Lumina schlang die Arme um ihren Oberkörper. Das verletzliche, kleine Wesen war zurückgekehrt. Die Lumina, die nach Rins Duell zitternd und bleich nach Hause getrottet war.

"Ich dachte, du kennst mich", Rin war ganz leise geworden, der Groll saß tief, zu viele Gefühle prasselten gerade auf sie ein, "du kennst meine andere Seite. Mein Spieler-Ich."

"Mag sein", Lumina sah auf ihre Füße, "aber ich weiß nicht, ob ich sie weiterhin ertragen kann…"

Stille.

Beide Frauen verharrten schweigend. Ein Luftzug wehte durch die Küche, wirbelte schwarzes und braunes Haar sanft zur Seite.

"Was willst du mir damit sagen, Lumina?", Rin war die erste, die sich traute zu sprechen, auch wenn sie das eigentlich gar nicht wollte.

Lumina seufzte resigniert. "Ich kann das nicht, Rin", sagte sie und schloss kurz die Augen, "du riskierst dein Leben und ich kann nur tatenlos dabei zusehen. Diese ständige Angst um dich - sie macht mich noch kaputt."

"So wird es doch nicht immer sein", Rin machte einen Schritt auf ihre beste Freundin zu, "wenn erst einmal-"

"Was?!",redete ihr die Schwarzhaarige dazwischen und wich einen Schritt zurück, "du meinst, nachdem dich Paradius' Duellanten fertig gemacht haben? Ich habe gehört, was sie über Dartz' Technik erzählt haben! Ich kenne die Geschichten", sie schüttelte den Kopf, verdrängte die Erinnerung. Wie schlimm es um ihren schwarzhaarigen Lieblingswuschel stand, wurde ihr erst jetzt richtig bewusst. "Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn die beste Freundin zusammenbricht, weil aus dem Duell ein Spiel ums Überleben geworden ist? Weißt du, was es heißt, Todesangst um den Menschen zu haben, der einem alles bedeutet? Nein, das kannst du nicht. Weil du nur noch damit beschäftigt bist, zu gewinnen, dir irgendetwas zu beweisen, von dem ich annahm, dass du es nicht nötig hättest."

"Das stimmt nicht, ich-"

"Schon gut", winkte Lumina ab, "es ist für uns beide wohl das Beste, wenn ich erst einmal Abstand von diesem ganzen kranken Mist gewinne."

"Ist das dein ernst?", Rin sah mit offenem zu, wie Lumina nach ihren Boots griff, die sie auf das Fensterbrett abgestellt hatte.

"Ich würde dir jetzt nur im Weg stehen", murmelte Lumina und band die Schuhe einen nach dem anderen zu. "Vielleicht kommst du irgendwann zur Vernunft, doch bis dahin…" Auch Lumina lief an Rin vorbei, das Gespräch zerrte nicht nur an der jungen Frau und mit schnell pochendem Herzen blickte sie ihrer besten Freundin hinterher, welche Rin schließlich hinter zugeschlagener Haustür verschwinden sah.

"System starten. Virtuelle Simulation beginnt in fünf - vier - drei…

Solid Vision fuhr hoch. Was einst als Spielerei eines vom Erfolg besessenen und von Rachegelüsten geplagten Jungen von sechzehn Jahren begonnen hatte, entfaltete in seiner derzeitigen Stufe das neueste Level technologischen Fortschritts. Das Licht schaltete sich aus, die Trainingsanlagen der Kaiba Corporation waren startbereit, die aktuelle Version des Systems in seinen vollen Zügen zu präsentieren, dass ein Wimpernschlag genügte, um die Hologramme auf ihre vollen hundert Prozent hochzufahren. Das gesamte Firmengelände konnte nun das ganze Potenzial nutzen, dass die Bilder in reinstem 4K erstrahlten und 3D Simulationen kaum noch von der Realität unterschieden werden konnten.

Die Arme vor der Brust verschränkt, stand Seto Kaiba inmitten seiner eigenen Schöpfung und betrachtete stoisch die Wunder, die mit seiner Technologien einhergingen. Wie ein Gott gebietete er allein durch seinen Willen und dem seines überdruckschnittlichen Gehirns, dass die Lichtprojektionen nacheinander eingeschaltet wurden und die eigens zur Veranschaulichung gefertigte Simulation gestartet wurde. Farben glänzten und strahlten so grell, bis sie den unendlichen Kosmos präsentieren, den der mächtige CEO schon als Kind als Maßstab allem Perfekten erwählt hatte. Die Sequenzen waren ihm so vertraut, jedes winzige Detail akribisch einstudiert, dass es sich wie ein gewöhnlicher Mittwochnachnittag anfühlte und nicht wie Tag X in der Geschichte von DuelMonsters.

Ohne auf die Gesichter hinter sich zu achten, ließ der junge Firmenchef die Szenen zu einem ganzheitlichen Gebilde entstehen, welches nicht zum ersten Mal die Räumlichkeiten schmückte - und ganz sicher nicht das letzte Mal.
 

Es war der erste Tag, an dem Seto Kaiba sein System einem ausgewählten Publikum präsentierte. Er hatte sie alle versammelt, nachdem er sich ganz sicher war, dass das System bereit wäre. Monatelange Testphasen und ständige Kontrollen, was Sicherheit und Geheimhaltung anbelangten, waren nötig gewesen, um ein Ergebnis wie das heutige hervorbringen zu können. Schweiß und Nerven hatte es gekostet und Seto hatte jede einzelne Sekunde genutzt, um alles herauszuholen. Ja, Kaiba hatte sich sehr gut auf diesen Tag vorbereitet. Nur den besten und engagiertesten Mitarbeitern wurde die Ehre zuteil, das neueste System vorgestellt zu bekommen. IT- Experten, Wissenschaftler aus aller Welt und natürlich die talentiertesten Programmierer, die Seto Kaiba von überall her eingekauft und abgeworben hatte - sie alle saßen im Kontrollraum, die Arme ebenfalls wie wichtige Persönlichkeiten verschränkt, standen sie in Reihe und Glied und sahen sich das Wunder an. Weißkittel, Anzugträger und die klassischen Schlapperjeans und Einheitsfanatisten - jede Berufsgruppe trug seine Uniform und jeder schien sich als Huhn auf der Stange zu sehen. Große Namen waren unter ihnen, selbst außerhalb der Insel waren es alles großartige Köpfe, die das Privileg erhalten hatten, die Ersten sein zu dürfen, die Seto Kaibas Genialität live mit ihren eigenen Augen miterleben durften.
 

Sobald der Raum vollends in die virtuelle Welt eingetaucht wurde und die Bilder hinter der Glaswand zur vollen Schönheit erstrahlten, begannen Sound und Akustik ihr ganzes Können unter Beweis zu stellen. Ohne auch nur den Hauch einer Emotion zu offenbaren, wartete der mächtige CEO, dass die Vorstellung endete.
 

"Es ist wie...als wäre man auf einer Raumsonde und blickt aus dem Fenster...oder wie man das dort nennt. Nur statt das Weltall zu sehen, erblickt man eine neue fantastische Dimension-"

Warum schossen gerade jetzt diese Worte durch seinen Kopf? Die Worte eines Laien, unbedeutend für seine Arbeit. Und wieso entlockten sie ihm ein flüchtiges Grinsen, bei dem seine Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde ein Eigenleben entwickelten? Komisch, wie etwas so Triviales so ins Schwarze treffen konnte.

Wochen war es her, doch schienen Ewigkeiten dazwischen, als er Rin hinter dieser Glaswand hatte sitzen sehen. Seitdem hatte er an dem System gefeilt, hatte es perfektioniert, es an die Spitze des Unmöglichen getrieben, bis er irgendwann so etwas wie Zufriedenheit verspürt hatte. Doch Rins erster Eindruck, der allererste Eindruck eines Eingeweihten, hatte er nicht vergessen und es fühlte sich noch immer frisch und ehrlich wie an jenem Abend an. In dem Moment hätte kein Gefühl authentischer sein können und Kaiba musste sich eingestehen, dass er ihre Begeisterung genossen hatte - wie alles Nachfolgende natürlich auch.

Du weichst vom Thema ab
 

Fünf Minuten dauerte die Simulation - genug Zeit, um den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass es Seto Kaiba wieder einmal geschafft hatte. Sicherlich hätten es auch weniger getan, doch man gönnte den anderen ja sonst nichts...
 

"Einfach genial", hörte er den ersten Wissenschaftler sagen, da waren die Simulationen noch nicht einmal richtig abgeschlossen worden.

"Sie haben es wieder einmal geschafft, Seto Kaiba."

"Einfach nur brillant."

"Wahrhaftig ein Meisterwerk."

"Sie sind wirklich ein Genie, Herr Kaiba."

Angesprochener ließ die Lobeshymnen über sich ergehen. Hinter seinem Rücken tauschten sich die Experten aus, wetteiferten miteinander, wer den jungen Firmenchef wohl den meisten Honig uns Maul schmieren konnte. Seto Kaiba prognostizierte ein Unentschieden.

Die Vorschau war beendet, der Chef der Kaiba Corporation drehte sich langsam zu seinem exklusiven Publikum um, das mit seinen Schleimereien noch nicht am Ende war. Er musste zugeben, dass die Vorführung nur halb so befriedigend war, wie er es sich vorgestellt hatte. Normalerweise sprang er auf Anerkennung und Bewunderung mehr an; zumal die Männer allesamt ältere, erfahrene Profis in ihren Fachgebieten waren und Kaiba diesen Wichtigtuern gerne auf den Boden der Tatsachen beförderte, indem er ihnen zeigte, wie klein und dumm sie im Vergleich zu ihm waren. Wie hatte es seine KI einmal so schön formuliert: dass er positiv darauf reagierte, wenn er an seine Genialität erinnerte wurde? Und wer wäre er, wenn er seiner eigenen Schöpfung widersprechen würde?

Heute wollte der Funke nicht übergreifen. Seine Angestellten bewiesen nicht zum ersten Mal, wie leicht sie auszutauschen waren, wenn es um Kernkompetenzen und Fachwissen ging. Ihre einstudierten Schmeichelein hätten genauso gut in einen Glückskeks hineingepasst - ganz zu schweigen von den Kommentaren bezüglich des technischen Teils.

Da hätte ich mir ja gleich ein paar Klatschaffen anschaffen können…die wären auch deutlich billiger gewesen

Er schnaubte - ein verächtliches, gelangweiltes Schnauben eines Mannes, der schon zu viele Erfolge zu verzeichnen hatte, dasss selbst eine Erfindung wie diese nicht mehr den nötigen Kick verschaffte.

Es folgte eine standardmäßige Besprechung, Details für die weiteren Projekte wurden auf die nächsten Wochen angesetzt, dass der Chef der Kaiba Corporation einen Haufen hochmotivierter Mitarbeiter von der Leine ließ, die noch im Vorbeilaufen in hitzige Diskussionen verfielen. Programme mussten neu kodiert, die Sicherheitsstufen um- und eingestellt werden und ganz zu schweigen von der alten KI, die Schritt für Schritt durch eine neue, verbesserte Variante ersetzt werden sollte. Seto Kaiba hatte bereits abgeschaltet, noch bevor der Letzte den Kontrollraum verlassen hatte. Bereits im Vorfeld war ihm klar gewesen, dass niemand etwas an Solid Vision 2.0 auszusetzen hätte. Allein die Tatsache, dass es keinen gab, der es mit dem jungen Firmenchef aufnehmen konnte, geschweige denn etwas besseres auf Lager hatte, etwas, dass es mit dieser virtuellen Realität aufnehmen könnte. Nicht zu vergessen, dass es alles Hosenscheißer waren, die meinten, die kleinste Kritik brächte ihnen die Kündigung auf den Tisch. Kein unrealistischer Fall, - keineswegs -, aber nur, wenn plausible Gründe vorlagen, und wie oft war so etwas schon vorgekommen?
 

Zwei weitere Male ließ Kaiba die Simulationen von Anfang bis zum Ende durchlaufen. Er war nicht unzufrieden, aber wirklich glücklich war er auch nicht.
 

"Irgendwie hat es mir beim ersten Mal besser gefallen."

Abrupt drehte er sich um. Zurück innerhalb der Trainingseinheiten reflektierte Rin Yamamoris Gesicht durch die kugelsichere Fensterscheibe. Sie trug einen beigefarbenen Rollkragenpullover, die in einer engen hochsitzenden Jeans steckte, dass sie sowohl leger als auch chic aussah. Ihre jadefarbenen Seelenspiegel waren auf ihn gerichtet. Selbst die günstigen Lichteinwirkungen des Kontrollraums täuschten nicht darüber hinweg, dass die junge Frau erschöpft aussah. Sein Magen zog sich zusammen. Der blaue Fleck war noch nicht verheilt und würde wohl noch einige Wochen ihr weiches Gesicht zieren.

Dieser abgefuckte Spinner…

Die Machtlosigkeit, welcher der junge Firmenchef während des Duells gegen Hii Yuta ausgesetzt gewesen war, nagte schwer an seinem Ego - und noch viel mehr an seinem Gewissen, das seit Kurzem zum Leben erwacht schien.

"So?", sagte Kaiba, ungeachtet der Gefühle, die in ihm tobten. Von außen ließ er niemandem in sein Innerstes blicken, dass er die Arme vor der Brust verschränkte und herausfordernd zu seiner Duellantin herüber blickte. "Willst du mir etwa weismachen, dass du etwas an meinem System auszusetzen hast?", die Frage war bewusst provokant gestellt, die Tonlage hätte die meisten seiner Angestellten längst in die Hosen scheißen lassen.

"Es ist perfekt", entgegnete Rin, die sich an den Schrank neben dem Mischpult gelehnt hatte und die Arme vor dem Körper baumeln ließ. Ihre Haltung verriet weder Unsicherheit noch etwas, das sie in die Karten blicken ließ. Ihr Pokerface war noch nicht ausgereift, aber deutlich besser als das der meisten Menschen, die ihm in die Augen blickten, dass er nicht sicher war, was gerade in ihrem hübschen Kopf vorging.

"Vielleicht ist es zu perfekt", fügte sie dann nach einer kurzen Pause hinzu. "Beim ersten Mal wirkte das Weltall nicht so…vollkommen…ja, ich weiß", sie verdrehte die Augen, während sie Kaiba dabei beobachtete, wie dieser durch die Tür direkt auf sie zu schritt, "»nicht die Realität darstellen - sie besser machen« (irgendwie schien sie Gefallen daran zu finden, ihn zu zitieren), aber ist es nicht das, was es so besonders macht?", sie nickte in Richtung Fensterscheibe. Obwohl die Simulation beendet war, wusste Seto genau, wovon sie sprach.

"Gleich sagst du noch, dass es auf die inneren Werte ankommt", Kaiba betonte das »Innere« auf eine besonders herablassende Art.

"Das tut es doch auch…in deinem Fall", erwiderte seine Duellantin mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre kecke Antwort brachte ihn dazu, überrascht die Augen zu weiten.

"Du willst also immer noch behaupten, dass es mit Flackern besser ist?", fragte er schließlich, um sich weiterhin nichts anmerken zu lassen. Er trat an die Gerätschaften und schaltete sämtliche Systeme auf Standby.

"Ja", bestätigte Rin schulterzuckend.

"Du bist die erste, die sich beschwert", er sah ihr absichtlich nicht in die Augen, sie sollte zappeln, glauben, dass sie es sich mit ihm verscherzt hatte. Doch Rin Yamamori ignorierte seine Kaltherzigkeit.

Stattdessen entgegnete sie: "Möchtest du lieber von mir hören, wie grandios, talentiert und toll du bist?"

"Muss ich nicht", erwiderte er trocken und stellte sich direkt vor sie - die Augen dabei fest auf einen kleinen Fleck ihrer linken Iris gerichtet, "das hast du doch gerade." Ein teuflisches Grinsen seitens Seto Kaiba und Rin wurde puterrot im Gesicht. Der Anblick entlockte ihm nur kurz Genugtuung, das Mahl auf ihrer Wange leuchtete so heftig, dass er meinte, es auf seiner eigenen Haut zu spüren. Die junge Frau bemerkte seinen Blick, spürte, wie er die Warnung von Paradius' willenlosen Sklaven anvisierte.

"Damit kommt er nicht durch", raunte er, den Blick nicht von ihr ablassend. Mit der linken Hand streifte er eine Strähne ihres weichen dunklen Haares, dass es Rins Schläfe berührte. Es fehlte nicht viel, die Versuchung war groß, die Strähne einfach hinters Ohr zu klemmen, flüchtig die Wunde zu berühren, die sie ohne Jammern hingenommen hatte. Seto hielt den Atem an. Seine Augen hatten Rins eigene Seelenspiegel gefunden, die ihn ohne zu zwinkern ebenfalls anblickten, als wäre der jungen Frau die Luft abhanden gekommen.

Sie war die erste, die aus ihrer gemeinsamen Starre erwachte. "Also", abrupt wandte sie sich ab, fast schon beschämt senkte sie den Blick, drehte den Kopf ein Stück zur Seite, dass ihre Verbindung gekappt war.

Idiot

Der junge Firmenchef zog sich zurück.

Es war ein Fehler, und warum ihre Zurückweisung ihn mehr ärgerte als sein Verhalten, verstand er auch nicht.

"Wie geht es jetzt weiter?" Es war offensichtlich, dass sie vom Thema ablenken wollte, doch so leicht war das nicht. Die Arme vor der Brust verschränkt, konnte Kaiba ihre neue DuelDisc aufblitzen sehen. Wie es der Zufall so wollte, war die DuelDisc während des Duells gegen Yuta kaum beschäftigt worden. Die paar Kratzer und technischen Mängel hätten mit Leichtigkeit behoben werden können, aber Kaiba wollte kein Risiko eingehen. Das alte System war mit hundert Prozent völlig überlastet. Was das für kommende Spiele bedeuten könnte, konnte er sich nur all zu gut vorstellen. Sobald Solid Vision 2.0 in den Startlöchern stünde, würde er sich um eine entsprechende Konsole kümmern.

"Das Thema der… Gedankenübertragung ist noch nicht vom Tisch", sagte er und zwang die junge Frau dazu, ihn anzusehen. Widerwillig tat sie ihm den Gefallen. Auch ihm war dieses Thema nicht angenehm, aber es gab zu viele Sicherheitslücken bezüglich ihrer privaten Gedanken. Ihre Augen wirkten schwach und ausgelaugt, nur mit Mühe konnte sie seinem stählernen Blick standhalten.

"Ich dachte, du hättest einen Weg gefunden, den Informationsaustausch unserer DuelDiscs zu unterbinden."

"Ja, aber das ist nur eine vorübergehende Lösung. Bis ich herausgefunden habe, wie ich diesen Telepathen-Quatsch abstellen kann - und ich meine, ihn wirklich abstellen kann und nicht einfach nur auf Eis legen - bis dahin müssen wir lernen, damit umzugehen. Es kontrollieren. Glaub' mir, mir gefällt das noch weniger als dir. Aber es muss sein."

"Du sagtest, es kontrollieren?" Rin schien überrascht.

"Natürlich. Ich will nicht, dass wir eines Tages aufwachen und nicht mehr wissen, wer wir eigentlich sind."

"Meinst du das ernst?"

"Was dich betrifft, halte ich es nicht für unwahrscheinlich."

Jetzt sah sie ihn vollkommen ahnungslos an. "Was willst du damit sagen?"

"Im Duell gegen Yuta…", begann er und sah sofort, wie sich alles an ihr anspannte, "ich will diesem grünhaarigen Zwerg nicht recht geben, aber es gab einen Moment, das schienst du nicht ganz du selbst zu sein. Zumindest, was deine Gedanken betrifft." Er sah es in ihrem Kopf rattern.

"Mein System ist nicht wie das von Dartz", stellte er klar und sah sie durchdringend an, "es soll den Spieler nicht zu einer Marionette der KI machen. Solid Vision arbeitet für den Duellanten - nicht umgekehrt."

"Das weiß ich", entgegnete sie leise. Ein müdes Lächeln und Rin winkte die Angelegenheit ab.

"Du redest von dem Augenblick, als ich gesagt habe, dass Technik keine Grenzen kennt - stimmt's? Kaiba…", seufzte sie, "ich weiß, dass das deine Gedanken waren - deine Stimme war schließlich sehr deutlich in meinem Kopf und noch höre ich mich nicht an wie du", leise grummelnd fügte sie hinzu, "auch wenn das einige glauben wollen."

"Du…wusstest es?", er wusste nicht, was er davon halten sollte.

"Natürlich. Ich", sie wandte den Blick ab, dass ihre Augen das Pult anstarrten, "ich habe ihn absichtlich gesagt, weil ich…naja, ich fand ihn einfach cool und hab ihn kopiert." Sie sah wieder zurück zu ihm. "Du musst dir also keine Gedanken machen, dass ich plötzlich den Verstand verliere oder zu einem Werkzeug von dir werde. Meinen freien Willen gebe ich nicht so einfach her. Aber", mit der rechten Hand griff sie nach ihrem rechten Unterarm, der Armschmuck reflektierte das Licht an der Decke, dass die Initialen deutlich hervorstachen, "vielleicht hast du doch recht und wir sollten an unserer Selbstkontrolle arbeiten."

"Gut", entgegnete Kaiba, obwohl es so viel mehr zu besprechen gäbe und sie von einem gut noch weit entfernt schienen. Zum Beispiel müsste geklärt werden, was sie eigentlich hier machten? Das neue System war in der nächsten Phase, Yamamoris Gehirn vollständig ins System kopiert und die Endrunden fast beendet. Wenn er die Anomalie außer Acht ließ, hätte die Arbeit für beendet erklärt werden können. Doch das war sie nicht. Es gab noch zu viele offene Fragen, zu viele Rätsel. Der junge Firmenchef hatte das Gefühl, nur noch tiefer hinein zu geraten, ein Strudel, in den er absichtlich hineingesprungen war, weil es ihn von irgendwoher angelockt hatte. Die Arbeit wäre erst beendet, wenn Kaiba sie für beendet erklärte. Dass er ihre Gedankenüberlappung als Ausrede benutzte, um mit ihr arbeiten zu können, sah der mächtige CEO nicht. Er sah das Risiko dahinter - aber auch den Nervenkitzel und das war es, was ihm neuen Ehrgeiz verlieh. Erst gestern hatte er beschlossen, sich Yamamoris virtuellem Gehirn zu stellen. Weniger metaphorisch denn auf intellektueller Ebene. Wenn er den geheimen Raum nicht vollends lösen konnte, musste er zu härteren Mitteln greifen, um die Kontrolle über sein System zurückzuerobern.

Also zurück zu den geheimen Anlagen der Kaiba Corporation! Der junge Firmenchef hatte ein Konzept erarbeitet, mit dem er und Rin lernen konnten, ihre Gedanken für sich zu behalten. Dafür hatte Kaiba seine DuelDisc und die seiner Duellantin umbauen müssen. Eine Arbeit, die ihm kaum Mühe gekostet hatte. Es hatte ein paar Handgriffe und einen neuen Speicherchip gebraucht, um weitere Daten von den Geräten ablesen zu können. Zudem war sein Programm darauf ausgelegt worden, jede Veränderung auf Yamamoris DuelDisc zu analysieren. Auch die verschärften Sicherheitsmaßnahmen sorgten dafür, dass ihre versteckten Logins für den jungen Firmenchef und dessen KI schnell und effektiv entschlüsselt wurden. Das alles erklärte er Rin, bevor er damit begann, die Übungen vorzustellen, die sie anschließend zur Verbreitung und Analyse durchgehen sollten. Wider ihres typischen Verhaltens war die junge Frau kaum bei der Sache. Natürlich wandte sie sämtliche Techniken an, die ihr Seto Kaiba penibel genau erklärt hatte, und auch sonst führte sie sämtliche Anweisungen ohne den kleinsten Fehler aus. Trotzdem merkte Seto Kaiba, dass was nicht stimmte. Die Euphorie fehlte, die strahlenden Augen, die neugierig jedes technische Detail in sich aufsogen und wie einen Schwamm auf ihr Gehirn übertrugen. Rin Yamamori arbeitete mit hundert Prozent - nicht mit den üblichen hundertzehn, an die Kaiba sich bereits gewöhnt hatte.

"Was ist los?", fragte er schließlich, nachdem er die Kopfhörer abgelegt und zur Wasserflasche gegriffen hatte. Blinzelnd sah ihn seine Duellantin an. Auch sie hatte die Kopfhörer abgestreift, am Hals hängend drangen noch die Wald- und Wiesengeräusche heraus.

Seto schraubte den Deckel zu, stellte die Flasche zurück auf den Arbeitstisch.

"Du bist nicht bei der Sache", und das störte ihn irgendwie.

"Entschuldige", Rin tat einen tiefen Atemzug. Sie hatte nicht einmal genug Elan, dagegen zu protestieren, "du hast recht. Ich bin…abgelenkt."

"Etwa immer noch wegen Dartz' Wackeldackel?"

"Nein", murmelte die junge Frau, der es sichtlich unangenehm war, darüber zu sprechen. Der eiskalte Blick ihres Sitznachbarn, der einfach nicht aufhören wollte, sie anzusehen, ließ sie seufzend resignieren.

"Ich habe mich mit meiner Freundin verkracht."

Seto zog die Augenbrauen zusammen, dass Rin den Blick schweifen ließ und leise fortfuhr: "Es ging darum, wie ich mich duelliere und dass ich angeblich nur noch um des Sieges willen spiele."

"Wir reden über deine kleine Mitbewohnerin oder?", Seto hatte das Bild der schwarzhaarigen Frau vor Augen. Die verstörten leeren Blicke während des Duells. Wirklich labil schien die Kleine nicht gewesen zu sein.

"Sie kommt nicht damit zurecht, dass ich mich verändert habe…", sie schüttelte den Kopf und zeigte ein winziges, trauriges Lächeln. "Entschuldige. Ich wollte dich nicht damit nerven. Ich weiß selbst nicht, warum ich dir das erzähle."

Und Seto hatte keine Ahnung, warum er zuhörte. Demnach waren sie quitt.

Dass sie das so mitnimmt…ich vergesse manchmal, dass sie auch anders sein kann

"DuelMonsters ist wie Krieg", sagte Kaiba und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, "in die Ecke gedrängt, zeigt der Mensch seinen wahren Charakter und es entscheidet sich, wer das Zeug zum Überleben hat und wer nicht."

"Und was ist der Preis für diejenigen, die überleben?"

"Das musst du schon selbst herausfinden", entgegnete er und schlug die Beine übereinander. "Wie dem auch sei", er stützte sich mit den Ellenbogen an der Lehne ab und ließ die Finger seiner beiden Hände ineinander verhaken. "Genau aus dem Grund halte ich nichts von Freundschaften. Wenn sie nicht einmal damit klar kommt, dass ihre Freundin bei den Profis spielt, hat sie nicht kapiert, worum es hier geht."

"Lumina", erwiderte Rin und drückte die Hände auf ihren Schoß, "sie ist mehr als eine Freundin. Sie ist wie eine Schwester für mich."

"Wenn sie deine Schwester wäre, würde sie dir zur Seite stehen - egal, was kommt. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede."

"Vielleicht", hauchte die junge Frau, den Blick in die Ferne gerichtet. Das Schweigen war erdrückend, Kaiba hätte nie damit anfangen sollen. Schnaubend erhob sich der junge Firmenchef. Eher aus einem Impuls heraus, schritt er zu einer der vielen Schranktüren und öffnete das mittlere Fach mithilfe einer Zahlenkombination. Rin beobachtet ihn schweigend dabei. Als er dann eine silberne Geldkassette herausholte, packte die junge Frau dann doch die Neugier. Sie richtige sich ebenfalls auf und schaute über Kaibas Schulter hinweg, wie dieser die Kassette öffnete.

"Da ist doch nicht Geld versteckt, oder?", konnte es sich die junge Frau einfach nicht verkneifen. Als Antwort lächelte Kaiba träge. "Meinst du, hier horte ich mein Geld für schlechte Zeiten?"

"Keine Ahnung? Wie hortet denn ein Chef eines Multimilliarden Dollar Konzerns sein Geld für schlechte Zeiten?"

"Wie jeder vernünftige Milliardär natürlich - in Aktien und Wertpapiere."

"Wie langweilig." Der Kommentar entlockte beiden ein leichtes Schmunzeln. Dann wurde Kaiba wieder ernst. Er klappte den Deckel auf.

"Ein kleines Extra für die Weihnachtszeit", erklärte er, als er drei Tennisballgroße Kugeln herausfischte.

"Die Goldene sieht aus wie Ra in seinem Kugelmodus", bemerkte die junge Frau auf Anhieb.

"Das ist reiner Zufall - wenn auch irgendwie passend. Halt mal", er legte ihr die Kugeln in die freie Handfläche. Gespannt sah sie zu den Kugeln und wieder zu Kaiba. Der junge Firmenchef hatte nach der zusammengerollten Spielmatte aus Schaumstoff gegriffen, welche ebenfalls in der Kassette versteckt gewesen war.

"Die Matte ist nicht wie die sonstigen", entgegnete Rin, während ihr Chef besagte Matte ausrollte und auf den Tisch legte - mitsamt der Geldkassette, in der noch weitere Kugeln lauerten - in rot, lila und gold.

"Es braucht keine fünf Monster- und Fallenzonen. Decks sind auch nicht nötig… Leg' die goldene Kugel auf die Monsterzone - das ist die sechseckige mit dem Stern in der Mitte", wies er sie an. Perplex nickte Rin und folgte der Anweisung. Sobald die Kugel die Matte berührte, wurde ein Mechanismus freigesetzt. Es gab ein leises Surren. Schließlich klappte die Kugel auf und ein dreidimensionaler Kampfochse sprang heraus. Über der halb offenen Kugel schwebte das Krieger-Ungeheuer, brüllte und schwang seine Axt.

"Miniaturprojektionen", erklärte Kaiba, der Rin keinen Moment aus den Augen ließ. Die junge Frau hatte die Augen weit aufgerissen, wie ein Kind das ein Geschenk auspackte strahlte sie fasziniert auf das Hologramm.

"Dann stehen die goldenen Kugeln also für Monster?"

"Richtig."

"In den grünen sind dann bestimmt Zauber und in den lilanen Fallen."

"Sehr clever, Yamamori."

"Jaja", grummelte Angesprochene, bevor sie sich wieder der Spielmatte zuwandte und wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen begann.

Na bitte, geht doch

"Es ist eine vereinfachte Variante von DuelMonsters", sagte Kaiba und ließ eine der grünen Kugeln auf das entsprechende Feld fallen. Ein Tornado wütete, das Monster wurde aufgesogen und zersprang in seine klassischen Splitter. Die Kugel schloss sich wieder. Rin biss sich auf die Lippen. Nur sehr gut konnte sich der junge Firmenchef vorstellen, wie sie ihren Freudenschrei geradeso unterdrücken konnte. Er kannte das Gefühl nur selbst all zu gut.

"Taschen- DuelMonsters. Nicht zu verwechseln mit dem anderen kindischen Zeug, das seit Jahrzehnten den Markt verseucht. Eigentlich sind es auch eher Sammlerobjekte. Wie gesagt, es ist ein Extra, dass die Kaiba Corporation exklusiv zur Weihnachtszeit auf den Markt bringen wird."

"War das deine Idee?", fragte Rin, den Blick nur schwer von den Kugeln lassend.

"Wessen denn sonst?", entgegnete er so herablassend wie eh, "mir war langweilig und ein paar nette Spielereien kommen immer gut an."

"Das machst du, wenn dir langweilig ist?", prustete Rin, "und was machst du, wenn du schläfst? Deine Firma leiten?"

"So in der Art."

Seine abgeklärte Antwort brachte Rin aus dem Konzept. Sie schüttelte den Kopf und spielte ihr Schnauben herunter.

Freches Weib

"Obwohl ich zugeben muss, dass die Idee natürlich jeden Sammler und Fan anlocken wird", sagte sie und schmunzelte in sich hinein.

"Wenn man erst einmal ein ganzes Set zusammen hat… Mit einzigartigen Monstern und limitierten Stückzahlen. Und sobald ganze Packs angeboten werden und man immer wieder dieselben kaufen muss, weil sich nur eine der Kugeln ständig unterscheidet…hm, natürlich kann man erst richtig loslegen, wenn man ein Thema komplett hat - und das zu schaffen, ist beinahe unmöglich. Dafür muss man genügend Zauber und Fallen besitzen, welche natürlich schwieriger zu bekommen sind als Monster…" Sie spielte mit den verbliebenen Kugeln in ihrer Hand. "Für den Kauf einer neuer DuelDisc könnte man eine Spielmatte als Anreiz erhalten", murmelte sie weiter, als hätte sie bereits vergessen wo und mit wem sie hier war, "oder zwei Kugeln - wenn man erst einmal damit angefangen hat, wird es unmöglich sein, aufzuhören."

"Ich hatte keine Ahnung, dass du lieber in die Kommerzabteilung wechseln willst."

"Huh?!", sie sah ihn jetzt erstmals wieder richtig an, "nein, äh…ich hab nur laut vor mich geredet."

"Also wie man den Leuten ihr Geld aus der Tasche zieht, hast du schon mal begriffen", er nahm ihr die Kugeln ab und legte sie zurück in die Kasse. Sein eigenes verschmitztes Grinsen konnte er dabei kaum unterbinden, "mal sehen, was sich machen lässt."

Nicht eine deiner besten Ideen, Rin

Mit flauem Magen passierte sie den Backstagebereich des zweitgrößten Stadions auf Kaibaland. Ihren letzten Besuch hatte sie nicht so glücklich in Erinnerung - Sieg hin oder her - und dass die Leute so taten, als wäre das letzte Spiel kein von Wahnsinn getriebenes Duell gewesen, machte Rin zudem auch noch wütend.

Die übergröße Sonnenbrille gerichtet, versuchte sie die Unauffällige zu spielen. Wobei sie eher die Unnahbare war - die Unnahbare mit den viel zu hohen Wildlederstiefeln und einem gelben quietschenden Lederrock aus Teenagerzeiten, den sie nicht so kurz in Erinnerung gehabt hatte. Das passierte, wenn man seit Tagen nicht mehr zur Reinigung kam.

Ich bin doch nicht gewachsen - oder…ach, jetzt red' nicht so einen Blödsinn!

Immer wieder zupfte sie in einem unentdeckten Moment an den Enden, zog den Rock herunter, sobald zwei Schritte ihre Oberschenkel aufblitzen ließen.

Ist das da hinten Kaiji…?! Wenn mich einer erkennt, bin ich definitiv geliefert

Nervös spielte sie mit einer Strähne, die nicht in die Spange gesteckt worden war. Die junge Frau hatte die vorderen Partien zusammengenommen und nach hinten gesteckt, dass der Rest ihrer Haare leicht wallend ihren Rücken entlang liefen. Sie wusste, dass sie kynki mit süßem Mädchen von Nebenan kombinierte - eine Konstellation, die sie sonst die Nase rümpfen ließ, aber gerade war sie sowieso auf einen undefinierbaren Selbstfindungstrip, also warum nicht mal was Neues ausprobieren?

Daran ist nur der Schlafentzug schuld

Wenigstens sah sie nicht mehr wie eine Schlägerbraut aus. Durch Makis Hilfe, der so freundlich gewesen war, und Rin einen Besuch abgestattet hatte, um mit ihr über den Look für das letzte Duell zu sprechen, war der blaue Fleck, der mittlerweile einen dominant lilanen Farbton angenommen hatte, fast vollständig verschwunden. Die eckige Sonnenbrille tat ihr Übriges, dass nichts von ihrem Duell gegen Hii Yuta übrig geblieben war.
 

Einer der Security-Männer blickte scharf zu der jungen Frau herüber. Rin schluckte schwer, sie wollte nur ungern die Brille abnehmen. So langsam bekam sie ernsthafte Zweifel, ob sie das wirklich durchziehen sollte. Immerhin war es der letzte Tag vor dem entscheidenden Duell. Genauso gut hätte sie in den Trainingsanlagen der Kaiba Corporation stehen und selbst ein paar virtuelle Duelle bestreiten können. Ihr Deck gegen Yoshi war noch nicht komplett, sie konnte sich einfach nicht zwischen drei Karten entscheiden und so kurz vor dem finalen Ende durfte sie nicht nachlässig werden.
 

"Ausweis", murrte der große Kerl mit dem kantigen Kinn und einer demolierten Nase, die Rin an einen zerbeulten Stoßdämpfer erinnerte. Sie ließ sich nicht anmerken, dass sie am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Nicht, weil ihr der Kerl Angst machte. Sobald er Rin erkannt hätte, würde er sich nicht mehr wie ein gefährlicher Schlägertyp verhalten, da war sie sich ziemlich sicher. Dafür kannte sie Kaibas Handlanger zu gut. Diese bösen, dreinblickenden Kerle, die ihr Boss von sonst so aufgegabelt hatte, waren zwar gefährlich, doch wollten sie genauso wenig Ärger machen wie Rin. Vor allem, wenn dieser Ärger Seto Kaiba galt und seine schlechte Laune schon einmal ein paar Köpfe rollen ließ.

Und wenn ich mich einfach vorbeischleiche…okay, ich habe gerade selbst gehört, wie bescheuert das klingt

Innerlich seufzte Rin. Sie wollte es nicht dazu kommen lassen, dass man sie erkannte. Die ersten Zuschauer standen hinter dem Muskelprotz, und wenn die erst einmal mitbekamen, dass sich Rin Yamamori unter das Publikum mischen wollte, wäre es mit der Privatsphäre vorbei.

Den Mist hast du dir selbst eingebrockt, Rin

"Ich", begann die junge Frau und straffte die Schultern. Sie war auf alles gewappnet, und dann wiederum auch nicht. Bevor sie zu einer scheinheiligen Ausrede ansetzen konnte, nahm ihr jemand von hinten das Gespräch ab.

"Dein ernst, Kawakame?!", es war Mokuba Kaiba. Den Schwarzhaarigen würde Rin von überall heraushören und seine Stimme war gerade das Wohlklingendste, was ihre Ohren vernehmen konnten. Er hatte sich neben die junge Frau gestellt. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte er ernst zu der Security hinauf. Dieser zuckte mit den Mundwinkeln, bevor er wortlos Platz machte und sowohl den jungen Kaiba als auch Rin in die erste Reihe lotste.

"Wirklich, Mokuba? Die erste Reihe?", möglichst selbstsicher schritt sie den beiden Kerlen hinterher. Fragende Blicke waren auf die junge Frau gerichtet, doch noch schien sie niemand erkannt zu haben.

Was ein neuer Look schon ausmacht

"Du bist eine von uns, schon vergessen?", Mokuba drehte den Kopf und grinste sie breit an, "natürlich kommst du in die erste Reihe. Was denkst du, wie Seto reagieren würde, wenn er wüsste, dass seine Favoritin irgendwo auf den billigen Plätzen sitzt?"

Seine…Favoritin…?

"Wenn du meinst", murmelte sie peinlich berührt. Rin wollte keine Debatte darüber führen, was Seto Kaiba möglicherweise in ihr sehen könnte und was nicht. Zu viele wenn's, die Rin nicht gebrauchen konnte. Dabei würde sie bloß ihrer besten Freundin in die Karten spielen, und an Lumina zu denken war gerade das Letzte, was sie wollte. Nur aus dem Grund hatte sie Mokuba darum gebeten, ihr eine Karte für das letzte Duell in Gruppe Blau zu besorgen. Die gemeinsame Wohnung war seit Tagen wie ausgestorben, sowohl Rin als auch Lumina bemühten sich, dem jeweils anderen aus dem Weg zu gehen, dass sogar die Badezeiten peinlich durchgetaktet wurden. Wann dieses kindische Verhalten endlich aufhören würde, wusste Rin nicht und im Moment wollte sie einfach nur das kommende Duell im Kopf haben. Aus dem Grund, und keinem anderen, war sie hier.

"Übrigens", warf Mokuba ein, noch bevor sie die erste Reihe erreicht hatten, "du bist nicht die einzige, die sich dieses Duell unbedingt ansehen will. Wenn Jonouchi in die Finalen Spiele einziehen sollte, werden sich seine Freunde diesen Moment nicht entgehen lassen."

"Seine…Freunde?"

"Oh ja", lachte der Jüngere der Kaiba Brüder und drehte den Kopf zurück nach vorne, "Jonouchi hat einen großen Freundeskreis - die Leute sind wie eine Familie. Aber keine Panik. Yugi hat mir versprochen, dass sie dich aufnehmen werden."

"Sie wollen was?!" Rin konnte sich einen entsetzten Ausruf nicht verkneifen. Sie war nicht der Typ, der sich gerne in Gruppen aufhielt. Und neue Freunde wollte sie sich auf Zwang auch nicht zulegen.

Ich bin eindeutig zu alt für diesen Quatsch

Mokuba antwortete ihr nicht, stattdessen hörte sie ihn bloß verschwörerisch kichern.

Mokuba, du…

"Ah, Mokuba! Was geht?"

Rin hatte gar nicht mehr die Zeit, sich über den schwarzhaarigen Wuschel zu beschweren, als der Securitymann auch schon stehen geblieben war, das rote Absperrband zur Seite geschoben hatte und damit Rins Chance auf eine Flucht vertan war. Wer Mokuba als erster begrüßt hatte, wusste Rin nicht. Es war ein überraschend herzlicher Empfang, den Jonouchis Fanclub? an den Tag legte. An vorderster Front stand Yugi Muto, der allein durch seine Haarpracht den anderen die Show stahl. Selbst innerhalb seines Freundeskreises schien er eine Art Fixpunkt zu sein und die Ausstrahlung, die ihn umgab, gab ihm recht.

"Toll, dass ich dich mal außerhalb deiner Duelle kennenlernen darf", sagte der Bunthaarige so liebenswürdig, dass Rin fast schon etwas verlegen war. Sein Lächeln erinnerte an das von Makoto, es lag so viel Unschuld darin, dass sich Rin ein wenig falsch vorkam.

"Ja, finde ich auch", sagte sie und überlegte, ob sie doch die Brille abnehmen sollte.

"Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass wir uns schon einmal begegnet sind", sagte der König der Spiele und kratzte sich am Nacken. Ehe Rin zur Antwort ansetzen konnte, mischte sich Mokuba dazwischen.

"Ich lass' Rin in eurer Obhut, okay?"

Mokuba klingt ja so, als bräuchte ich jemanden, der auf mich aufpasst

Sie wusste nicht, ob ihr die Art von Fürsorge passte. Schließlich war Rin alt genug, um gut auf sich aufzupassen und vor allem Mokuba sollte am besten wissen, dass sie keinen Beistand nötig hatte.

"...mein großer Bruder braucht mich hinter der Bühne und die Kommission…", er verdrehte genervt die Augen, "was die schon wieder alles von mir wollen…aber naja, dir wünsche ich viel Spaß, Rin", grinsend klopfte er ihr sanft auf die Schulter, dann sprintete er nach vorne, auf die Bühne und schließlich verschwand er hinter den Scheinwerfern.

Erwartungsvoll wurde sie von Yugi Muto angesehen, bis sich seine großen runden Augen weiteten und er entschuldigend sagte: "Oh, ja. Das hätte ich fast vergessen. Du kennst die anderen ja noch gar nicht." Er deutete hinter sich auf eine kleine Gruppe Leute. Hauptsächlich Freunde aus Schulzeiten, darunter Ryu Bakura - einer der Finalisten des letzten Worldcups. So ruhig und schüchtern hatte sie sich den Vize Champion nicht vorgestellt, aber es war beruhigend, dass nicht jeder so eine Attitüde an den Tag legte wie Yoshi oder ein paar andere Kandidaten in ihren Kreisen.

"Wir haben schon viel von dir gehört, Rin. Ich darf dich doch Rin nennen, oder?", fragte die Brünette mit dem Longbobschnitt. Anzu Mazaki - Rin hatte schon von den Gerüchten gehört. Dass der König der Spiele eine Fernbeziehung mit einer berühmten Tänzerin aus den Staaten führte, und dass sie sich letzen Winter sogar verlobt haben sollten. Der Ring an ihrem linken Finger war auf alle Fälle keine Antrappe.

"Ja, gerne", entgegnete Rin, die völlig überfordert mit so viel Offenheit und Freundlichkeit war.

"Wow, ich fass' es nicht!", brüllte von irgendwo die Stimme von Katsuya Jonouchi und brachte Rins Belastbarkeit an Überschwenglichkeit an eine harte Grenze. Bevor Rin sich umsehen konnte, war der Blonde auf die Gruppe zugestürmt und hatte Yugi in eine Quetschumarmung verwickelt. Breit grinsend sah Jonouchi sie an, und Rin schenke ihm ein kurzes, unsicherer Lächeln.

"Wolltest dir wohl mal ein Spiel eines echten Profis ansehen, was?" Stolz zeigte er auf sich. "Ich garantier dir: Katsuya Jonouchi wird diesen Sieg einfahren und dann geht's", mit einem Arm ließ er den Kleinen los und machte mit der Hand Flugbewegungen nach, "ab nach Kairo."

"Wenn du so weiter machst, ist dein nächster Aufenthalt das Krankenhaus, weil du Yugi erwürgt hast", entgegnete Hiroto Honda, ein langjähriger Freund von Jonouchi.

"Oh", der Blonde sah auf seinen besten Kumpel hinab, dessen Hautfarbe es mit der seiner Haare aufnehmen konnte.

"Alles okay", hüstelte Yugi und Jonouchi klopfte ihm noch einmal beherzt auf die Schulter.

"Typisch, Jonouchi", entgegnete Anzu und stemmte die Hände in die Hüften, bevor sie von dem Blonden in eine fette Umarmung gedrückt wurde. "Schön, dass du es rechtzeitig geschafft hast", sagte er liebevoll.

"Als ob ich dich bei diesem wichtigen Spiel im Stich lassen würde", meinte sie streng, doch im nächsten Augenblick sah sie ihn mit fürsorglichem Blick an.

"Meine Schwester sollte auch gleich dazustoßen", meinte Jonouchi und schaute sich derweil im Saal um. Dabei kratzte er sich an den Kopf und ließ den Blick hin und her schweifen.

Seine Schwester? Wer kommt denn noch alles?

Sie war es nicht gewohnt inmitten einer so großen Freundesclique zu stecken. Es machte ihr Angst und holte Rin aus ihrer Komfortzone, die lediglich aus ihr und Lumina bestanden hatte.

"Ähm", räusperte sich Yugi. Erst jetzt bemerkte Rin, dass er sie die ganze Zeit angesehen hatte. "Um auf meine Frage zurückkommen-"

"Ja, natürlich", nickte Rin. Sie entschied jetzt doch, die Brille abzunehmen, sie kam sich schon dämlich vor, "du hast recht", bestätigte die junge Frau, "das war vor etwa fünf Jahren. Aus dem Spieleladen deines Großvaters habe ich meine weißen Drachen mit eiskaltem Blick."

"Wusst' ich's doch!", jubelte der König der Spiele und lächelte, "mein Opa hatte sie dir zurücklegen lassen, richtig?"

Rin konnte nicht fassen, dass er sich daran erinnerte. Yugi Muto war damals hinter dem Ladenbereich gewesen, sie hatte ihn nur flüchtig gesehen. Zu der Zeit war Rin eine Mauerblume, hinter ihrem langen Faltenrock und der großen schwarzen Schultasche war sie niemand gewesen, der Beachtung verdient gehabt hätte.

"Mein Großvater war damals überzeugt davon, dass du die Drachen bekommen solltest", erzählte Yugi, als wäre es erst Tage her, "er meinte, du hättest etwas in deinem Blick…" Seine eigenen lilanen Seelenspiegel blickten sie tiefgründig an, und Rin meinte, noch etwas anderes als Unschuld darin zu erblicken.

"Das ist sehr nett von ihm gewesen", versuchte Rin auf das einzugehen, was sie im Moment am wenigsten verwirrte.

"So ist er schon immer gewesen", nickte Yugi, "ein bisschen seltsam, aber das Herz immer am rechten Fleck."

Neben den Gefühlen, die sie wegen des Streits mit Lumina hatte, bekam sie jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre blauäugigen weißen Drachen nicht mehr spielte.

Klasse…
 

Das Gespräch fand ein abruptes Ende. Jonouchi quetschte sich zwischen Yugi und Rin vorbei, um ein weiteres Pärchen zu begrüßen. Wenn man bedachte, dass es nur noch wenige Minuten bis zum Duellstart war, wunderte es Rin, wie entspannt und sorglos der Blonde schien.

Müsste er nicht längst hinter den Kulissen sitzen?

Scheinbar war Katsuya Jonouchi nicht der Typ Spieler, der sich an die Regeln des Worldcups hielt - zumindest, was die Anweisungen des Veranstalters betraf. In dem Fall wollte Rin unter keinen Umständen mit ihm tauschen.

"Oh mein Gott! Rin?" Ihren Namen zu hören, brachte sie dazu, sich langsam nach hinten zu drehen. Keine zwei Meter von ihr entfernt, strahlte sie ein bekanntes Gesicht aus ihrer Vergangenheit an. Rin rutschte die Kinnlade herunter.

"Shizuka", hauchte die junge Frau. Auch wenn ihr die Haare nicht mehr bis zu den Hüften reichte und sie Shorts gegen knielange Glockenröcke getauscht hatte, erkannte sie die junge Frau sofort. Shizuka Kawai schien es ähnlich zu ergehen. Statt eine weitere Reaktion abzuwarten, warf sie sich ihr in die Arme. Derweil konnte Rin nichts anderes tun, als starr geradeaus zu blicken. Erst das Einschalten des DuelMonsters-Thema brachte sie zurück in die Gegenwart. Auch sie legte die Arme um die knapp zehn Zentimeter kleinere Shizuka. Von ihr hatte Rin nur gute Erinnerungen behalten.

"Gut siehst du aus", murmelte Rin in ihr Ohr.

"Danke, du auch. Ich hätte dich fast nicht erkannt, aber mein Cousin meinte…"

Takeshi?!

Sie hörte kaum noch zu. Die Situation wurde immer seltsamer, dass sie vorsichtig von ihr ließ.

"Ich glaube es einfach nicht", Rin schaute der jungen Frau mit den kastanienbraunen Haaren in die Augen, "dann ist dein Bruder-"

"Genau", bestätigte die Jüngere und legte die Hände auf Rins Schultern. Ihre Rehaugen von damals waren noch genauso einnehmend wie früher.

"Hab ich irgendwas verpasst?", die Wiedersehensfreude ließ auch Katsuya Jonouchi verwirrt zurück. Er kratzte sich an den Kopf, sein Blick wechselte zwischen Rin und seiner jüngeren Schwester hin und her.

"Rin und Takeshi waren in der Oberstufe ein Paar. Sie waren einmal zusammen bei uns essen. Sie war es übrigens, der ich alles zu verdanken habe."

"Was?! Wieso mir?", fragte Rin und löste sich von Shizuka. Diese nickte eindringlich. "Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast mir damals geraten, mich darauf einzulassen. Meine Gefühle und-", sie wurde ganz rot im Gesicht, "und das habe ich gemacht. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich nie den Schritt gewagt und mich darauf eingelassen."

Langsam erinnerte sich die junge Frau an das Gespräch zurück. Auch wenn sie es ein wenig anders in Erinnerung hatte. Wie aufs Stichwort stellte sich ein schwarzhaariger Kerl neben Shizuka. Den Arm um sie gelegt grinste er Rin an, die nicht glauben konnte, was gerade passierte.

"Ryuji Otogi", sie konnte nicht anders als ihn anzustarren.

"Oh, Kaibas Duell-Ass kennt meinen Namen", entgegnete Otogi, dass Rin nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob er sarkastisch war oder doch leichte Anerkennung mitschwang.

"Dann muss ich mich wohl bei dir bedanken", fuhr er fort, und Rin wäre am liebsten im Erdboden verschwunden, weil sie einfach keine Ahnung hatte, wie sie aus diesem schrägen Traum jemals wieder erwachen sollte.

Ich habe Shizuka mit Ryuji Otogi zusammengebracht

Dem coolsten Spieleerfinder in ganz Domino und obendrein Ladenbesitzer des wohl größten Spielegeschäfts der Welt.

Wenn Lumina das jemals erfahren sollte, wird sie mich killen. Sie ist seit der Mittelstufe in den Kerl verschossen…

Rin schluckte schwer. Das Bild ihrer Freundin legte sich schwer um ihr Herz. Nicht einmal in einem Moment wie diesem konnte sie mit ihrer Freundin reden. Die Welt lief eindeutig aus dem Ruder.

"Zufälle gibt's", hörte sie Katsuya Jonouchis Stimme wie ein Rauschen im Hintergrund. Erst sein langer Arm, der sich einmal kurz um sie gelegt hatte, riss sie aus ihren Gedanken. "Dann sind wir ja sowas wie eine Familie."

"Ähm, nein", brachte Rin voller Scham heraus, "wir sind seit Ewigkeiten getrennt und-"

... einfach nein!

"Wenn ihr dann mit euren Familienangelegenheiten fertig seid", die eiskalte Stimme ließ Rin zusammenzucken. Mechanisch drehte sich ihr Kopf zur Seite. Seto Kaiba blickte genauso drein wie er sich angehört hatte. Am liebsten wäre Rin davongerannt. Heute war eindeutig nicht ihr Tag und von nun an konnte es nur noch schlimmer werden. Die Laune des jungen Firmenchefs war auf dem Tiefpunkt (sofern diese wirklich einen Tiefpunkt erreichen konnte). Die Augen sprühten vor Verachtung, dass Rin am liebsten in Deckung gehen wollte, auch wenn sie genau wusste, dass sein Groll nicht ihr galt. Vielleicht ihrem Rock, den er zweimal mit seinen stählernen Augen abgescannt hatte, aber hauptsächlich galt sie dem Blonden neben Rin. Katsuya Jonouchi erwiderte Kaibas hasserfüllten Blick, indem er ihn einfach anlächelte. Fehlenden Mumm konnte sie ihm eindeutig nicht vorwerfen.

"Hast du nicht ein Duell zu spielen, Jonouchi?", fragte Kaiba. Rin konnte förmlich das Eis zwischen seinen Zähnen knistern hören. "Oder hast du endlich kapiert, wo dein Platz ist?"

"Pah", erwiderte Jonouchi und ballte die linke Hand zur Faust. Sein Lächeln war auf Angriffsmodus übergegangen, die Zähne blitzten gefährlich auf, "von dir lass' ich mir diesen Moment nicht verderben, Kaiba. Ob es dir passt oder nicht, aber ich nehme an diesem Turnier teil und ich werde die Endrunden gewinnen."

"Dann solltest du deinen Hintern in Bewegung setzen und dich hinter die Bühne begeben. Oder ist dein Gehirn so winzig, dass du dir diese eine Regel nicht merken kannst?"

Wenn er fünf Minuten vor Spielbeginn nicht bereit ist, wird er automatisch disqualifiziert

Rin wusste es sehr genau, und auch Jonouchi schien sich zu erinnern. Panisch blickte er auf die digitale Anzeige - zwei Minuten blieben ihm noch.

"Hier", sagte Kaiba und warf etwas Klobiges in Jonouchis Richtung, "vergiss' das nicht."

Ganz selbstverständlich fing der Blonde den Gegenstand auf, den Rin erst jetzt als nagelneue DuelDisc erkennen konnte.

"Was soll ich damit?", entgegnete Jonouchi, "ich hab meine eigene DuelDisc", damit deutete er mit geschwellter Brust auf seinen linken Arm. Die vergilbte DuelDisc leuchtete matt zwischen den Scheinwerfern, auch Rin erinnerte sich an das Gerät.

"Du wirst sie dir umlegen und dann das alte Ding in den Müll werfen, kapiert?", erwiderte Kaiba schroff, dass Rin meinte, seine finstere Aura zu spüren.

"Vergiss' es!", konterte Jonouchi und war kurz davor, die Disc zurück zu ihrem Besitzer zu werfen, als Kaiba plötzlich neben ihm stand. Keiner wusste, wie er so schnell dorthin gekommen war, doch jeder blickte die beiden Sturköpfe mit angehaltenem Atem an. Den etwas Kleineren am Kragen packend fuhr Kaiba mit einem Zischen fort: "Das war keine Bitte! Hast du schon vergessen, was dieses Drecksding angerichtet hat?"

Rin zuckte zusammen. Noch nie hatte sie Kaiba derart in Rage erlebt. Sie hatte ihn schon wütend oder verärgert gesehen - doch in diesem Zustand strahlte er etwas Gefährliches aus.

"Mir ist scheißegal, was aus deinem minderbemittelten Erbsenhirn wird, Jonouchi, aber sollte das alte Ding um deinen Arm noch einmal mein System oder meine Spielerin gefährden, werde ich dich eigenhändig von dieser Bühne zerren und dich dorthin befördern, wo nichtsnützige Schwachmachten wie du hingehören", er zog ihn zu sich heran, es fehlte nicht viel und ihre Nasenspitzen hätten sich berührt. "Hast du das kapiert?"

"Kaiba", knurrte Jonouchi, ebenfalls kurz davor die Fassung zu verlieren.

"Kaiba hat recht", mischte sich Yugi in die Unterhaltung ein, bevor diese zu einer Schlägerei ausarten konnte, "sei vernünftig, Jonouchi. Das ist es einfach nicht wert."

"Yugi hat recht, Alter", bestätigte Honda, "es ist doch bloß eine DuelDisc."

Eine DuelDisc, mit der er viel verband - sogar Rin konnte die Nostalgie hinter Jonouchis Blick erkennen.

"Na schön", murmelte Jonouchi und streifte die Disc von seinem Arm, nachdem er sich schroff von Kaiba gelöst hatte. Es passte ihm nicht, gegen seinen Rivalen klein beizugeben. "Das mach' ich nicht deinetwegen, kapiert?", wandte er sich direkt an den Chef der Kaiba Corporation, "und denk ja nicht", fügte er mit knirschenden Zähnen hinzu, "dass ich mich für die neue DuelDisc bedanken werde, Kaiba!"

"Ich werde dir die Rechnung zuschicken lassen", entgegnete Angesprochener mit einem Wink. Dann setzte er sich in Bewegung, der Mantel flatterte hinterher und im nächsten Augenblick war der junge Firmenchef verschwunden. Auch Jonouchi machte sich bereit. Von allen Seiten gab es Zusprüche, Schulterklopfen und jede Menge Glückwünsche, dass Rin stumm den Freunden zuhörte und Jonouchi auf nonverbale Art alles Gute wünschte. Sie wollte, dass der Blonde gewann. Nicht nur, weil er ein netter Kerl war und seit Jahren auf Anerkennung aus zu sein schien, die ihm eindeutig zustand. Wenn Jonouchi gewann, wäre er in den Finalen Spielen in Kairo dabei und jemand wie ihn könnte Rin in einem fremden Land gut gebrauchen.

Sofern ich es überhaupt bis nach Kairo schaffe

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Herz pochte wie wild, als stünde sie selbst jeden Moment auf der Bühne. In seine Lage versetzen konnte sie sich auf alle Fälle.

"Du schaffst das, großer Bruder!", hörte Rin Shizuka jubeln, als der Blonde auf die Bühne gerufen wurde. Der Applaus war ohrenbetäubend. Rin fragte sich, ob Jonouchi wusste, wie beliebt er eigentlich war. Jemand wie er hatte es nicht mehr nötig, sich zu beweisen.

Überschwänglich winkte Jonouchi seinen Fans zu. Die junge Frau entdeckte sogar einige Mitarbeiter der Pizzeria. Das Logo auf den Basecaps war unverkennbar, dass es Rin ein Schmunzeln entlockte.

Das Duell startete und die beiden Duellanten legten einen spektakulären Anfang hin. Shin`ichi Saboru war ein würdiger Gegner, von Anfang an gab er alles und ließ sich von Jonouchis Würfeldeck nicht aus der Ruhe bringen. So verbissen wie Shin`ichi war kein anderer Spieler. Obwohl die Spannung zum Zerreißen war, konnte Rin nicht ganz bei der Sache bleiben. Ständig schwirrte ihr Kaibas Reaktion im Kopf herum. Seine Worte, die Rin ganz kirre machten.

Klar, will er sein System schützen, aber-

Dass dies auch für sie galt, hätte sich Rin bis dato nicht vorstellen können und auch jetzt wusste die junge Frau nicht so genau, was sie davon halten sollte. Bei der Session war es nicht anders gelaufen. Kaiba war nett zu ihr gewesen. Nicht auf seine typische Seto-Kaiba-Art - sondern richtig nett, und für Rins Zustand war es weniger hilfreich, um sich davon nicht beeinflussen zu lassen.

Bild' dir nichts drauf ein. Er ist immer noch dein Boss. Vielleicht will er auf freundschaftlicher Basis mit dir weiterarbeiten…ja, genau! Weil er ja deutlich gemacht hat, wieviel er von Freundschaften hält

Ein Grollen brachte Rin dazu, ihren Kopf zu heben. Blutrot färbte sich der Himmel über dem Spielfeld, als aus der Dunkelheit der schwarze Rotaugendrache seine Fühler ausstreckte, sich in voller Größe aufstellte und seinem Gebieter einen dramatischen Auftritt verpasste. Das Monster war gewaltig, seine Aura düster und zugleich machtvoll, wie es nur der Finsternisdrache vermochte. Ein wohliger Schauer legte sich auf Rins Haut. Drachen waren einfach ihre Lieblinge und auch für Jonouchis Geschöpf hatte sie nichts als Bewunderung übrig. Mit 2400 Atk war er nicht so stark wie ihr weißer Nachtdrache oder gar mit dem Blauäugigen gleichzusetzen, doch mit den richtigen Karten und dem nötigen Können war Rotauge ein Monster, das den Sieg einbringen konnte. Und so schlecht sah es für den Blonden gar nicht mal aus. Zusammen mit Gerfried hatte Jonouchi eine starke Basis, die Shin`ichis Monsterzone überlegen war.

"Ich decke jetzt meine Fallenkarte auf", entgegnete Jonouchi so selbstsicher wie nur jemand klingen konnte, der sich seiner Überlegenheit bewusst war, "Verstärkung!" Gerfried wurde mit fünfhundert weiteren Angriffspunkten aufgeladen, dass der dunkle Krieger nur noch sein Schwert auf Shin`ichis Monster richten musste. Gerümpelzerbrecher ging auf die Knie und sein Gegner verlor weitere Lebenspunkte.

"Toll", Shizuka streckte die geballte Faust in die Höhe. Wie ein kleines Kind freute sie sich für ihren großen Bruder. Der Rest der Bande schien auch zufrieden. "Katsuya wird gewinnen."

"Mit seinem schwarzen Rotaugen hat er den Sieg so gut wie in der Tasche", pflichtete ihr Honda bei. Rin beobachtete derweil das Drachenmonster. Schwarzer Rotaugendrache hatte es auf Capoeiraptor abgesehen - einer von Shin`ichis Dinowrestler. 1800Atk waren keine Herausforderung für ihn und so purzelten weitere Lebenspunkte von Shin`ichis Punkteanzeige.

"Aber-", war es Jonouchis langjähriger Freund, der als erster bemerkte, dass der Dinowrestler nach dem Kampf nicht vom Spielfeld verschwunden war. Im Gegenteil, Capoeiraptor ging in den Verteidigungsmodus, als wäre er nicht soeben von Jonouchis stärkstem Monster überwältigt worden.

"Seine besondere Fähigkeit, nehme ich an", kommentierte Ryu Bakura das Offensichtliche, doch Shizuka schien fassungslos.

"Was hat das zu bedeuten?"

"Ganz ruhig", beschwichtigte sie ihr Freund, "für diesen Zug ist Capoeiraptor in Sicherheit - wir werden abwarten müssen, was Saboru als nächstes plant."

Nichts, das Jonouchi Freude bereiten sollte. Rin sah es an Shin`ichis Blick. Er hatte noch ein Ass im Ärmel - sowie 1400 Lebenspunkte.

"Danke, dass du meinen Gerümpelzerbrecher zerstört hast", lächelte er Jonouchi breit an, "jetzt habe ich die Chance, dir ein weiteres nettes Monster vorzustellen." Mit der ausgestreckten rechten Hand präsentierte Shin`ichi seine eigene mörderische Kreatur.

"Dinowrestler Pankratops", las Jonouchi mit zusammengekniffenen Augen, "ein sieben Sterne Monster? Tja, wird etwas knapp für dich, oder? Schließlich musst du zwei Monster opfern, um ihn zu beschwören."

"Falsch", rief sein Gegenüber, "wenn mein Gegner mehr Monster besitzt als ich, kann ich Pankratops aufs Feld rufen ohne ein Monster zu opfern." Der muskelbepackte Dinosaurier betrat das Feld, eine grüne Aura umgab das Erdmonster, das mit seinem Gebrüll das Stadion zum Zittern brachte. Das virtuelle System war leistungsstark, selbst bei einem Laien wie Shin`ichi Saboru, doch Rin bemerkte sofort den Unterschied zu ihren eigenen Duellen.
 

Pankratops' 2600 Atk brachten ihm genug Power, um es mit Jonouchis Rotaugen aufzunehmen. Jonouchi machte sich bereit für einen Konter, als Shin`ichi lauthals zu lachen begann.

"Denkst du, ich will deinen Drachen angreifen?! Pankratops Fähigkeit erlaubt es mir, dein Monster einfach so vom Feld zu pusten."

"Was?!" Nicht nur der Blonde machte große Augen. Der Dinowrestler zeigte sein ganzes Können, ging in eine für Wrestler typische Eröffnungspose und schickte Jonouchis mächtige Kreatur ins Nirvana. Rotauge hatte nicht einmal mehr die Zeit sich gebührend zu verabschieden, als er auch schon in Millionen von Splittern zerlegt wurde. Geschockt starrten seine Freunde zu dem blonden Duellanten hinauf.

"Oh nein, Katsuya!", Shizuka fasste sich an die Brust. Auf einmal war es ihr eigener Bruder, der um seine Lebenspunkte bangen musste. Mit einem lauten Knall wurde Gerfried vom Feld gefegt. Shin'ichis nächstes Monster war bereit zuzuschlagen. Ein leer gefegtes Gegnerfeld ließ auch Katsuya Jonouchi die Zähne zusammenbeißen. Ein direkter Angriff und der Blonde konnte sich von seinem Ticket verabschieden. Nun hatte auch Rin die Spannung gepackt.

"Ich decke meine Karte auf", Jonouchi streckte seinen Arm aus, "Sündenböcke!"

Erleichtert atmete seine jüngere Schwester aus.

Er hat Sündenböcke gespielt. Das heißt wohl, dass er ganz schön in der Klemme steckt.

Jonouchis Anspannung war zum Greifen nahe.

"Katsuya sollte erst einmal in Sicherheit sein", sagte sein braunhaariger Kumpel und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Ich weiß ja nicht", schüttelte Bakura den Kopf. Sein Blick war voller Zweifel. "Seine Dinowrestler sind nicht zu unterschätzen. Du hast gesehen, was Pankratops mit Katsuyas Rotaugen gemacht hat. Wer sagt, dass er es nicht wieder kann?"

Rin stimmte ihm im Geiste zu.

Die meisten unterschätzen das Dinowrestler-Thema. Weil es in den vorletzten Battlepack nur so von diesen Monstern gewimmelt hat, hat sie kaum einer ernst genommen. Ein schwerer Fehler

Die nächste Runde verlief in einem typischen Katz- und Mausspiel - Shin'ichi erledigte die Böcke seines Gegners und Jonouchi ließ verzweifelt die Blicke über seine Karten gleiten. Panik machte sich breit, die Schwere einer Niederlage machte nicht nur dem Blonden zu schaffen.

"Oh nein. Mein großer Bruder darf nicht verlieren", Shizukas Stimme klang herzzerreißend. Unwillkürlich musste Rin an Seto Kaibas Worte von neulich denken.

Eine Schwester unterstützt einen in jeder Angelegenheit…?

"Wir dürfen ihn nicht aufgeben", sagte Anzu und blickte zu ihrem ehemaligen Schulkameraden hinauf, "Katsuya weiß, was dieses Duell bedeutet. Er wird nicht aufgeben. Also dürfen wir das auch nicht."

"Anzu hat recht", bestätigte Yugi. Seine Stimme klang dunkler als sonst, die großen kreisrunden Augen waren zu zwei gefährlichen Schlitzen geworden. Rin kannte den Blick - zahlreiche Duelle hatte Yugi Muto mit ebendiesem Ausdruck bestritten.

"Katsuya gibt seine Freunde nicht auf!"

Was meint er damit?

Mit Beginn des nächsten Spielzuges war Rin wieder ganz bei dem blonden Duellanten. Jonouchi hatte dieses Glühen in den Augen. Ein Pokerspieler ohne Pokerface - mit dieser Methode konnte nur Katsuya Jonouchi Erfolg haben.

"Ich beschwöre Axträuber - im Angriffsmodus!", verkündete Yugis bester Kumpel. Ein normales vier Sterne Monster mit 1700Atk konnte nur Jonouchi mit so viel Stolz und Coolness verkünden, dass die junge Frau nicht anders konnte, als Respekt für ihn zu empfinden. Dass die Lage mehr als ungünstig für ihn stand, schien ihn nicht zu interessieren.

"Ehrlich jetzt?", lachte ihn Shin'ichi Saboru aus und schüttelte seine dunkelrote Mähne. Vor ihm bauten sich seine Dinowrestler auf, als wollten sie in sein Gelächter mit einstimmen.

"Wart's nur ab!", grinste ihn sein Gegenüber an, "jetzt kommt nämlich meine Fallenkarte ins Spiel", die Karte, die seit Anfang des Duells auf dem Spielfeld lag, wurde nun freigelegt. Ein kleines Teufelchen sprang hervor, träge hielt er einen riesigen Würfel in der Hand und ließ ihn spielend leicht rotieren. "Zerwürfelte Würfel", erklärte Jonouchi."

"Und was kann dein Würfel?", fragte sein Gegner, dem es völlig gleich schien, was Jonouchi als nächstes aufdeckte.

"Er würfelt", meinte er bloß und grinste noch breiter, "hast du was anderes erwartet? Und wenn er eine eins oder sechs würfelt, darf ich eine Karte mit einem Würfel ziehen."

"Hä? Was?!", Shin'ichi drückte die Gedanken eines ganzen Publikums aus.

"Ist das wieder einer von Katsuyas Witzen?", fragte Ryuji Otogi und ließ eine Augenbraue nach oben schnellen.

"Vermutlich nicht", antwortete Yugi, dem wohl dasselbe durch den Kopf ging wie Rin.

Natürlich baut er auf diese Karte…aber was dann?

Der kleine trostlose Teufel begann den Würfel in die Luft zu werfen. Enthusiasmus sah anders aus, aber die Rotationen, die der Würfel vollführte, ließen die Zahlen zu einer einzigen schwarzen Masse verschwimmen. Schließlich landete der Würfel auf dem Boden und rollte noch ein Weilchen vor sich hin.

Und wenn er keine der Zahlen trifft, verschwindet die Karte…und vielleicht auch seine letzte Chance

"Komm' schon", feuerte ihn einer seiner Freunde an, als könnte Jonouchi irgendetwas an dem Ergebnis ändern. Noch zweimal drehte sich der Würfel und - siehe da! - blieb bei der eins stehen. Jonouchi grinste wie ein Honigkuchenpferd. "Na, kannste dir denken, welche Karte ich als nächstes vom Deck hebe?"

"Egal was es ist, es wird dir nichts nützen", entgegnete Shin'ichi und musterte ausdruckslos den Würfel.

"Tja, Mann! Die Show hat gerade erst begonnen." Wie zu erwarten, hatte Jonouchi seine Engelswürfel gezogen. Damit ließ er ein weiteres Mal die Würfel rollen.

Dungeon Dice Monster hätte eher sein Spiel werden sollen

Rin kannte niemanden mit so viel Glück. Jonouchi würfelte eine fünf und stockte die Power seines Axträubers auf.

"Dein Monster ist immer noch schwächer als meins", feixte sein Gegner. Tatsächlich lag Axträuber noch vierhundert Punkte hinter dem Dinowrestler und auch die Clique schien Zweifel an Jonouchis Rechenkünste zu hegen.

"Dann kommen wir doch zu meiner zweiten verdeckten Karte", der Blonde blieb der Optimismus in Person, sein Lächeln ging ihm über beide Ohren. Die nächste Fallenkarte offenbarte sich. Die Hälfte der Zuschauer hatte seinen Aha-Moment.

"Totenkopfwürfel", Yugi lächelte, "guter Zug, Katsuya." Ein drittes Mal rollten die Würfel, der kleine, schwarze Teufel gab alles und beschenkte seinen Besitzer mit einer fetten Sechs. Sofort schnellten die Angriffspunkte von Pankratops nach unten. Nun stand es 2200Atk zu 2000Atk. Die Menge johlte. Das Comeback des vielfach gefeierten Champions heizte die Menge an.

"Los', Axträuber!", befahl Jonouchi das gegnerische Monster anzugreifen, "zeig' diesem aufgepumpten Dino wo der Hammer - äh, ich meine die Axt hängt!" Axträuber sprintete los. Auf Dinowrestler Pankratops - ohne Erbarmen.

Ein »endlich« konnte man Jonouchi von den Lippen ablesen. Den meisten erging es ähnlich, bis Shin'ichis Lachen selbst den lautesten Fan übertönte. "Netter Versuch, Blondie, aber ich hab' was Besseres", er streckte seine Hand aus, "ich aktiviere ebenfalls eine Fallenkarte: Staubtornado. Er zerstört deinen Totenkopfwürfel." Und weg war die Fallenkarte - und ein Teil von Jonouchis Selbstvertrauen gleich mit. Vierhundert Lebenspunkte sausten von der Anzeigetafel und ließen Dutzende entsetzte Gesichter zurück. Mit 1100LP war noch nichts verloren - aber dem ratlosen Gesicht dort oben schien eine Niederlage nun doch nicht mehr so abwegig.

"Das kann doch nicht sein", knirschte Hiroto Honda mit den Zähnen und schien kurz davor, die Absperrung mit seinen Fäusten zu zerschlagen. "Wenn er verliert-"

"A-aber", zitterte Shizukas Stimme, "er kämpft doch für Mai…"

Mai… Mai Kujaku?

Jetzt, wo sie darüber nachdachte…irgendwie schien schon damals während der Verlosung etwas in der Luft gehangen zu haben. Rin hatte nicht nachhaken wollen und auch jetzt war sie unsicher, ob sie sich in die Privatangelegenheiten der Freunde einmischen sollte.

Wenn er sich wegen ihr duelliert, wird es etwas mit ihrem Wechsel zu tun haben. Jonouchi schien ja auch noch eine offene Rechnung mit Paradius Inc. zu haben. Aber dass er wirklich mit Mai befreundet ist-

Die Gerüchte um eine mögliche Affäre hatte Rin nur für eine weiter Werbestrategie gehalten. Mai Kujaku und Katsuyas Jonouchi schienen kaum etwas gemein und auch eine Liebesbeziehung wurde nie offiziell bestätigt.

Möglich, dass die zwei mehr verbindet - oder verband. Sie wirkte beim letzten Mal nicht gerade gut auf ihn zu sprechen…

"...wie siehst du das, Rin?" Es dauerte eine weiteren Anlauf und eine Wiederholung ihres Namens, bis Rin aus ihren Grübeleien erwachte.

"Ich?", fragte Rin etwas unsicher, als alle Augen plötzlich auf sie gerichtet waren.

"Ja. Wie schätzt du Katsuyas Chancen ein?", es war der ehemalige König der Spiele, der Rin in die Diskussionen mit einbezog.

"Nun", Rin wägte ihre Worte genau ab, "ich denke, dass es gegen Saboru nicht einfach wird."

"Aber Katsuya, er", Shizuka rang mich sich und ihren Gefühlen.

"Ich will damit nur sagen", hob Rin ihre Hände. Sie wollte nicht diejenige sein, die Shizuka zum weinen brachte. "Sein Gegner hat einen guten Grund zu gewinnen."

"Das stimmt", entgegnete Yugi und blickte ernst zu den beiden Duellanten hinauf, "Shin`ichi Saboru spielt für seine Tochter, die sehr schwer krank sein soll. Die Medikamente und Behandlungskosten verschlingen alles an Geld. Jeden Cent, den er verdient, gehen für die Arztrechnungen drauf."

"Wie furchtbar", Shizuka schlug sich die Hand vor den Mund.

Yugi nickte. "Katsuya weiß das. Deshalb fällt es ihm auch so schwer, mit aller Macht zu kämpfen."

Er hat ein schlechtes Gewissen

Rins eigenes Gewissen meldete sich zu Wort. Wäre die junge Frau in derselben Situation wie der Blonde, hätte sie dann auch Mitleid mit Saboru gehabt? Oder hätte sie skrupellos bis zum bitteren Ende gespielt, so wie Lumina behauptete? Bisher hatte sie nie vor der Entscheidung stehen müssen. Ihre Gegner waren entweder hochnäsige Wichtiger oder verkorkste Spinner gewesen.

"Saboru hat sich verdammt gut vorbereitet", entgegnete Rin und musterte Jonouchis Blick. Der letzte Sündenbock war vom Feld verschwunden, Jonouchi blieb nichts als dieser eine letzte Zug.

Flüsternd fügte sie hinzu: "Aber ob er auch mit dem Unmöglichen rechnet?"

"Wie meinst du das?", blinzelte sie der Bunthaarige von der Seite an.

"Naja", kratzte sich Rin an die Schläfe, "wenn ich es richtig in Erinnerung behalten habe, müsste es noch eine Kartekombination geben, die ihn retten könnte. Vorausgesetzt, dass er noch immer mit ihnen spielt."

"Weißt du, was sie meint, Yugi?", fragte vor ihnen Hiroto Honda. Rin wusste nicht, wem die Antwort galt, doch der ehemalige König der Spiele antwortete mit einem »ja«.

Zurück auf dem Spielfeld warteten alle darauf, dass Jonouchi zog. Langsam wanderte die Hand zum Deck, die Fingerspitzen berührten die oberste Karte, die er aus dem Stapel zog. Seine Augen weiteten sich und im nächsten Moment präsentierte er Shin'ichi und der Welt die Zauberkarte Topf der Gier. Zwei weitere Karten kamen seiner Hand hinzu.

"Sorry, Alter", sagte Jonouchi, und Rin wusste, dass das Spiel entschieden war. Nur sein Gegner verstand nicht, worauf der Blonde hinauswollte.

"Du kannst mich nicht mehr besiegen, Jonouchi", rief er verbissen und ballte die Hand, an welcher die DuelDisc befestigt war, zur Faust.

"Ich brauchte nur noch eine Karte", entgegnete Jonouchi ganz ruhig.

"Was soll das heißen?! Von welcher Karte sprichst du?"

Er zeigte die entsprechende Karte vor.

"Babydrache?", prustete Shin`ichi, "willst du mich verarschen?"

"Nein."

Shin'ichi schüttelte den Kopf. "Und jetzt erzählst du mir, dass du die ganze Zeit Zeitzauberer auf der Hand hattest - eine Karte, die mich hätte besiegen können? Willst du dich über mich lustig machen?"

"Ich habe höchsten Respekt vor dir", diesmal schüttelte der Blonde mit dem Kopf, so ernst wie er dreinblickte, wirkte es, als wollte er sich jeden Moment entschuldigen, "aber ich habe ein Versprechen gegeben", Jonouchi kniff die Augen zusammen, "darum darf ich jetzt nicht schlapp machen." Er knallte die nächste Karte auf das Spielfeld - Fusion.

"Dein tausendjähriger Drache wird dich nicht retten", rief ihm Shin'ichi zu.

"Ich habe nie gesagt, dass ich ihn spiele."

"Und was-"

Mit einem lauten, weinerlichen Krächzen flog Babydrache hoch in die Luft. Ein weiteres Kreischen und der Drache erhielt Verstärkung.

"Das ist doch Alligatorschwert", Bakura riss die Augen auf. Der Unglaube war berechtigt. Alligatorschwert war nicht nur eines von Jonouchis ersten Monstern überhaupt. Ein einfaches Ungeheuer mit läppischen 1500Atk war die letzte Kreatur, womit irgendjemand gerechnet hätte. Allen voran Shin'ichi, der die wenig eindrucksvolle Fusion zwischen Alligatorschwert und Babydrache wortlos verfolgte.

Alligatorschwertdrache - kein wirklich einfallsreicher Name…aber darauf kommt es jetzt nicht an

"Du willst mich ernsthaft mit diesem Ding da angreifen?", Shin'ichis Lächeln wirkte angespannt, trotz der scharfen Worte.

"Mein Alligatorschwertdrache mag vielleicht nicht so stark sein wie dein Muckidino", Jonouchi sollte wissen, dass dies eine starke Untertreibung war. Mit 1700Atk hatte sein Fusionsmonster keine Chance gegen Dinowrestler Pankratops.

"Aber", entgegnete der Blonde und riss die Augen auf, "aber er ist stark genug, um dich zu besiegen."

"Was willst du damit sagen?"

"Ich will damit sagen, dass Alligatorschwertdrache eine ganz besondere Fähigkeit hat. Wenn mein Gegner Monster von Element Erde, Feuer oder Wasser hat, kann mein Alligatorschwertdrache direkt angreifen."

"Was?!" Shin'ichi taumelte einen Schritt zurück. So langsam begriff er, dass Jonouch ihn keineswegs verarschen wollte.

"Und da dein Dinowrestler das Element Erde hat-"

"Nein!", Shin'ichi fasste sich an den Kopf, "ich…ich kann nicht mehr verlieren….ich habe", er schüttelte den Kopf, "ich habe alle deine Taktiken studiert, ich habe…"

Das Herz der Katzen vergessen

Oder zumindest Jonouchis Herz. Ein unberechenbarer Duellant, der niemals aufgab - Pechvogel und Glückspilz in einem. Das war Katsuya Jonouchi.

Der Typ ist einmalig

Schlaff fiel Shin'ichi Saboru auf die Knie.

"W-was…", der Rest seiner Worte ging in dem Jubel unter. Alligatorschwertdrache löschte seine restlichen Lebenspunkte aus. Das Duell war beendet, der Sieger bereits mit Gejohle verkündet worden. Rin ließ es mit einem unguten Gefühl zurück. Obwohl sie sich freute, kam keine Freude auf. Ähnlich musste es Katsuya Jonouchi ergehen, auch er stimmte nicht in den Jubel ein. Er lief auf seinen Gegner zu, legte eine Hand auf dessen Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Verdutzt riss der Verlierer den Kopf hoch. Sie wechselten ein paar Worte, dann nahm er Jonouchis Hand und ließ sich nach oben ziehen. Erst jetzt ließen sich die Spieler feiern. Gewinner wie Verlierer. Saboru hatte es verdient. Die Hände in die Luft gestreckt, nahm Shin`ichi seine Niederlage hin. Egal, was Jonouchi ihm gesagt hatte, es hatte Shin'ichi ein erleichtertes Lächeln verpasst, dass dem Sieger im Herzen eine neue Bedeutung verlieh.

>>Tick - Tack - Tick - Tack - Tick…«
 

Ging es fortwährend durch ihren Kopf. Der Countdown hatte begonnen. Ihr Herz drückte sich schmerzhaft zusammen. Sie spürte einen undefinierbaren Druck, als wollte sich etwas um ihren Körper schlängeln, sich winden, anpirschen - um dann im richtigen Moment abzudrücken. Fort waren Übelkeit und Aufregung. In Rin war eine gewisse Leere - und der Druck in ihrer Brust, der mit dem Rhythmus des Sekundenzeigers im Einklang war.
 

» Tack - Tick - Tack «
 

"Alles okay?" Eine warme Hand legte sich auf ihre eigene, die sich wie ein Klumpen Eis anfühlen musste. Die Kälte hatte Einzug in Domino gehalten. Fort waren der Sommer und die letzten Strahlen, die ihre Heimatstadt erträglich gemacht hatten. Mit dem Mitternachtsgewitter war das letzte bisschen Wärme fortgespült worden. Zurück blieben nichts als Kälte und der beißende Wind des rauen Meeres. Eigentlich liebte sie die nasse, kalte Jahreszeit. Die fallenden Blätter, die unzähmbaren Gewässer, die im Hafen Dominos besonders wild und ungestüm waren. Sie hatte gerne an der Reling gestanden, den Wind über ihren Trenchcoat ziehen lassen und mit ihrer besten Freundin über Sinn und Unsinn philosophierte, während alte Rentnerpärchen in Partnerlooks und Wanderstöcken an ihnen vorbei marschierten.
 

Und uneigentlich? Uneigentlich konnte es Rin kaum erwarten, dass der Herbst vorüber zog und die Vergangenheit mit sich riss. Zurückzublicken war im Moment das dümmste, das sie anstellen konnte, und so konzentrierte sie sich auf das freundliche Gesicht auf der anderen Seite des Tisches.
 

Bei jedem war die Kälte angekommen. Nur Yamato schien noch immer wie ein Kachelofen zu glühen. Oder war Rin es, die von innen nach außen zu Eis erstarrt war? Jedenfalls tat seine Wärme gut, genauso wie der Blick in diese haselnussbraunen Augen Linderung für die eigene gepeinigte Seele verschaffte.
 

»Tick - Tack «
 

"Ja, ich denke schon", entgegnete Rin und zwang sich zu einem Lächeln, das kaum ihre Lippen, geschweige denn die Augen erreichte. Die zwei Seelenspiegel waren blass, die Pupillen kaum noch mit den strahlenden Jadesteinen zu vergleichen. Ein bisschen Kajal hatte dafür gesorgt, dass die Augen nicht vollkommen untertauchten, etwas Lidschatten umschmeichelte das Ganze, obwohl Maki in wenigen Stunden alles verwerfen würde, was Rin sich ins Gesicht geschmiert hatte.

"Kopf hoch", wenigstens war Yamatos Lächeln noch so authentisch wie am ersten Tag. Seine braunen Augen blickten freundlich und hoffnungsvoll zu ihr herüber. Das gab auch Rin ein klein wenig Kraft.
 

Der Schwarzhaarige war der einzige, dem sie von ihrem Krach mit Lumina erzählt hatte (abgesehen von Kaiba…Seto Kaiba!). Sie hatte jemanden gebraucht, der einfach nur zuhörte, und als Yamato gestern Abend bei ihr angerufen und gefragt hatte, wie es ihr ginge, hatte sie ihm einfach ihr Herz ausgeschüttet. Im Nachhinein kam sie sich ziemlich egoistisch vor und ihr schlechtes Gewissen erreichte einen neuen Höchststand. Aber Yamato war so verständnisvoll gewesen, dass sie es für einen winzigen Moment einfach zugelassen hatte. Ihr wichtigster Halt entglitt ihr mehr und mehr, dass Yamatos Gegenwart wie ein verzweifelter Rettungsanker in einer verlassenen, dunklen See war. Ein warmer, trostspendender Anker, wie Rin zugeben musste und immer wieder erstaunt war, wie nahe sich zwei Menschen kommen konnten, obwohl Yamatos Gefühle zwischen ihnen standen.
 

"Das wird schon wieder" Selbst ein so lahmer Spruch klang aus Yamatos Mund überzeugend.

"Mal sehen", nuschelte Rin, die auf seine dunkelblaue Armbanduhr starrte, als hätte sie die Antwort auf all ihre Fragen.
 

»Tick - Tack - Tick - Tack«
 

"...Lumina braucht Zeit", meinte der Schwarzhaarige und drückte ihre Hand ein wenig. Vielleicht war so viel Nähe nicht gut, besonders für Yamato, doch Rin hatte nicht die Kraft, sich seiner Wärme zu entziehen. Sonst hatte die junge Frau immer wieder als Trostpflaster herhalten müssen - gerade in der Mittelstufe, als Freundschaften hart erkämpft werden mussten -, da war es doch nicht verkehrt, selbst einmal von diesem Gefühl zu kosten, und Yamato schien jemand, der sich bereitwillig als solches zur Verfügung stellte.

"Glaube mir, sie meint es bestimmt nicht so", fuhr er fort, "sie macht sich einfach nur Sorgen, so wie das Freunde eben machen."

"Ich weiß nicht. In ihrem Blick lag etwas Endgültiges", Rin schüttelte sich, schüttelte die Gedanken aus ihrem Kopf, bevor sie die Überhand gewannen, "möglich, dass sie nie wieder etwas mit mir zu tun haben will."

"Und wenn du dich entscheiden würdest?", fragte Yamato vorsichtig an, "ich meine nicht, dass du das sollst. Aber…vielleicht erwartet sie, dass du den ersten Schritt machst."

"Indem ich es sein lasse? DuelMonsters aufgebe, nachdem ich jahrelang versucht habe, meinen Traum zu verwirklichen?" Sie wollte nicht verärgert klingen - doch sie tat es. Das alles fühlte sich falsch an. Genauso sehr, wie ihre fehlende Hälfte nicht mehr um sich zu haben. Es war komplizierter als Rin sich überhaupt vorstellen konnte, und doch gab es zwei Punkte, auf die sie unmöglich verzichten konnte - Lumina und DuelMonsters. Dass sie einmal zu der Entscheidung kommen müsste, sich für eines zu entscheiden, hätte sie nie für möglich gehalten und trotz des Bruchs zwischen ihr und dem schwarzhaarigen Wuschel war es schwer, auch nur eine Sekunde daran zu denken, das Duellieren aufzugeben. Hatte Lumina am Ende recht, hatte sie sich so verändert, dass es ihr nur noch ums Gewinnen ging?

"Yamato, ich…", sie entzog sich seiner Hand, "ich kann nicht mehr aufhören. Das ist jetzt mein Leben. Ich will das."

Ich brauche das

Aber das musste er nicht wissen. Sie fasste sich an die Brust. "Es ist ein Teil von mir. Und wenn sie das nicht akzeptiert…" Den Rest traute sie sich nicht auszusprechen. Wenn sie in Gedanken nicht einmal dazu bereit war, wie sollte sie sich dann der Realität stellen?

"Ich verstehe", nickte der Schwarzhaarige und griff nach seinem Kaffee. Auf einmal schien er seine Hand irgendwo anders festhalten zu wollen. Die Fingerknöchel verkrampften, das Weiß stach hervor - genauso wie der Milchschaum am Tassenrand. "Manchmal passieren Veränderungen im Leben, die man nicht kontrollieren kann." Yamato blickte aus dem Fenster des Cafés. Vorbeiziehende Geschäftsleute, deren Mäntel auf und ab wippten, waren die einzige Herbstromantik, die man hier finden konnte. In Yamatos Blick schien sich jedoch noch ein anderes Gefühl widerzuspiegeln. "Egal, wie sehr man die Kontrolle behalten will", sagte er in Gedanken versunken, "sie entgleitet, sobald uns etwas Großes überrollt. Macht, Kontrolle, Liebe… - ganz es egal, was. Wenn es passiert, sollten wir es einfach zulassen."

"Das klingt…", Rin blinzelte. Die kryptischen Worte hatten sie kurz ihren Schmerz vergessen lassen. Mit einem Lächeln wandte er sich Rin zu.

"Ich werde dich auf alle Fälle unterstützen", wechselte der Schwarzhaarige so abrupt das Thema, dass Rin ihn mit großen Augen anglotzte.

"D-danke", nuschelte Rin. Womöglich war es das beste, nicht all zu sehr nachzuhaken. Yamato schien nur ihr Bestes zu wollen und allein der Versuch war süß - und mehr als ihr überhaupt zustand.

"Und du meinst nicht, dass ich dich hinfahren soll?", er beugte sich ein wenig vor. Sein Grinsen ließ die Augen funkeln. Dieser Yamato war ihr vertraut. Rin atmete erleichtert aus.

"Lieber nicht", entgegnete die junge Frau, obwohl sie das letzte Mal, als Yamato sie ins Stadion gefahren hatte, als spaßig empfunden hatte. Das erste große Duell, die Vorfreude, die Erwartungen… Das Ganze wirkte bereits so weit weg. Als Rin sich noch normal gefühlt hatte, und Lumina nicht-

"Das ist wirklich nett, aber nein", ihr Blick schweifte ab, "außerdem besteht die Kaiba Corporation darauf, dass ich mit dem Helikopter gebracht werde." Richtig wäre gewesen, zu sagen, dass Seto Kaiba darauf bestand. Niemand anderes stand hinter dieser Anweisung und die Nachricht auf ihrem Handy kam von keinem geringerem als ihm. Noch erstaunlicher als die Nachricht ihres Bosses war die Selbstverständlichkeit, mit der Rin seine Nachricht aufgenommen hatte. Sie erinnerte sich nicht, wann Privatnachrichten zwischen ihnen zur Normalität geworden waren.

"Ist vielleicht besser so", Yamato ließ sich zurück auf seinen Stuhl sinken. Noch immer lag die Kaffeetasse in seiner Hand und mit einem kräftigen Zug leerte er den gesamten Inhalt. Dabei machte er ein Gesicht, als genoss er jeden einzelnen Tropfen. Sie saugte den Anblick in sich auf.

"Ich kenne niemanden, der seinen Kaffee kalt trinkt - und das mit solch einer Leidenschaft", entgegnete Rin und ließ die Mundwinkel ein wenig zucken.

"Wie heißt es doch: kalter Kaffee macht schön", der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern.

Jetzt konnte sich Rin doch ein Lächeln nicht verkneifen. "Also das ist dein Geheimnis."

"Hast du gerade gesagt, ich sehe gut aus?" Sein eigenes Lächeln bekam etwas Spitzbübisches, er hob die linke Augenbraue und intensivierte seinen Blick.

"Vielleicht", antwortete Rin und ließ ihre Lippen hinter ihrer eigenen Tasse verschwinden. Trotz des Schalks in seinen Augen erkannte die junge Frau eine gewisse Genugtuung. In jedem anderen Fall wäre sie vor Schüchternheit im Boden versunken, doch die Zeiten lagen hinter ihnen. Genauso wie Rin nicht mehr die unscheinbare, scheue Blume war, die mit zittrigen Fingern die Nummer eines unbekannten, gutaussehenden Typen tippte, während Zweifel über ihre Fähigkeiten oder ihr Äußeres aufkamen.

So wie es jetzt war - zwischen ihnen - schien es perfekt. Und überhaupt, es gab keine unnötigen Sorgen, Ängste, Gewissensbisse… natürlich hielt das Gefühl nicht lang, die Realität kam wie ein Schnellzug auf sie zugerast. Yamato verabschiedete sich von ihr, und zurück blieb nichts als Leere, die nicht einmal ihre Lieblingskassiererin vertreiben konnte. Das Abschlussduell gegen Yoshihiko Taba übernahm die Kontrolle über ihr Denken. Nicht auf die Weise, wie sie es sich vielleicht gewünscht hätte. Ein paar letzte Griffe an ihrem Deck hätten nicht geschadet, und auch die einzelnen Kombinationen hätte sie im Zweifelsfall noch einmal durchgehen können. Nur ließen sie ihre Gedanken keinen klaren Kopf behalten. Das finale Spiel war wie der letzte Schritt, der ihr fehlte, um Lumina endgültig zu verlieren. Sie wusste nicht, woher die Erkenntnis kam, aber sie war sich sicher, dass nach diesem Duell das Schicksal ihrer Freundschaft besiegelt wäre. Und Lumina wusste es auch, warum sonst hätte sie sich all die Tage versteckt und einen hohen Bogen um die junge Frau gemacht? Wenn die Schwarzhaarige so an ihr hing, wie Rin an Lumina, dann hörte auch sie das Ticken des Countdowns.
 

"Wir feuern dich an - versprochen." Makotos Stimme drang kaum zu ihr durch, Rin wusste die Geste ihrer neuen Freundin zu schätzen, die lieb gemeinten Worte, doch bedeuteten sie ihr kaum etwas. Mühsam hob Rin den Kopf, ließ ein Lächeln zu, dass ihre Augen noch blasser erscheinen ließ. "Danke, Makoto", hauchte die junge Frau und lehnte das Stück Buttercremetorte ab, das ihr Makotos Verlobter aufmunternd zugeschoben hatte. Wie eine feste Einheit standen er und die Kassiererin hinterm Tresen, und ein weiterer Blick auf das Pärchen verriet, dass sie es zweifellos auch waren. Die junge Frau hätte noch ein paar Stunden hier sitzen und den beiden Liebenden dabei zusehen können, wie sie fast synchron die Häppchen für die Aftershowparty befüllten. Winzige Tartes, herzhafte Kekse und gefüllter Blätterteig - der Sieger des heutigen Spiels würde mit mehr als einem vollen Magen nach Hause kehren. Gerade verspürte ihr Bauch weniger Hunger, auch wenn ihr bei weitem nicht so übel war, wie bei ihrem ersten Duell gegen von Schroeder Corps. Duellanten. Die Leere war einfach überall, und so schleifte sie sich schließlich zum Kaiba Building, ließ einen Blick über die gespiegelten Reflexionen schweifen, als wäre dies ihre letzte Gelegenheit.

Ich werde nicht verlieren

Sie hatte nie in Erwägung gezogen, dass Kaiba den Verlierer aus seinem Team rauswerfen könnte. Mit dem Abschlussduell würde der Chef der Kaiba Corporation ein Vermögen verdienen, dass der Name des Siegers bloß noch Haarspalterei wäre.

Und wenn ich verliere…schmeißt er mich dann raus? Wird er so tun als hätte es diese Verbindung zwischen uns nie gegeben…?

Die Hände in die Tasche ihres Trenchcoats gesteckt, zückte sie ihr Deck. Vierzig Karten - sorgfältig ausgewählt. Sie hatte keinen Zweifel - an keiner einzigen Karte. Rin vertraute ihrem Deck, den Monstern, ihren geliebten Drachen und dem Ass in ihrem Ärmel. Sie packte das Deck, der Stapel fühlte sich schwer und bedeutend an.

Ich brauche dich…Lumina
 

»Tick - Tack - Tick…«
 

Es hörte nicht auf. Ihr Blick wanderte auf die Digitaluhr. Das Hightech Modell im Backstagebereich des größten Stadions auf Kaibaland gab keinen Mucks von sich. Aber das brauchte sie auch nicht. Die Sekunden, die unten rechts in rot blinkenden Ziffern herunter gerattert wurden, waren schlimmer als jedes Ziffernblatt.

"Noch zehn Minuten", steckte einer der Sicherheitsleute den Kopf zwischen die Tür. Als könnte Rin nicht lesen. Geistesabwesend nickte die junge Frau, ließ den Kopf hängen und starrte auf das Metallarmband. Keinen Tag hatte es gegeben, an dem sie nicht die Initialen der Kaiba Corporation an ihrem Unterarm getragen hatte. Das Material war leicht und doch drückten Luminas Worte schwer auf das Metall, dass es Rin von innen zu verglühen drohte.

"Seid ihr bereit?!", johlte Heiji ins Mikrofon. Der Moderator hatte die Musik zum Verstummen gebracht. Laute, quietschende Stimmen. Rin hatte noch nie etwa für Popsternchen und Hüfte wackelnde Boybands übrig gehabt. Die Musik war jedoch nebensächlich, genau wie der Rest war das Ganze an Rin vorbeigezogen. Der Bildschirm auf der gegenüberliegenden Seite war unwichtig, die Musik- und Tanzeinlagen bloß ein weiteres Rauschen in ihren Ohren. Lediglich der Bass zwang sich ihr schmerzhaft auf. Der Rhythmus schien sich mit Rins Herzschlag zu verbinden - oder umgekehrt? Der Takt war holprig, dann wiederum schnell und unbeherrscht, um anschließend inne zu halten, den Rhythmus zu verlieren und letztendlich wieder von vorne zu beginnen. Eine Endlosschleife - treffender hätte es für sie nicht sein können.
 

Als erstes stellte Heiji noch einmal die ehemaligen Top zwanzig des diesjährigen Worldcups vor. Die Menge jubelte, jeder einzelne Spieler wurde noch einmal von der Menge gefeiert, trotz seiner Niederlage, die ihm schließlich das Turnier gekostet hatte. Hii Yutas Namen erwähnten sie kein einziges Mal, aber vielleicht hatte Rin bereits angefangen, den Namen aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Heute würde sie definitiv nicht an Dartz' Machtspielchen und Manipulationen denken. Das hatte sie sich selbst geschworen.

Weitere Namen fielen. Sponsoren wurden vorgestellt, Produkte unterschwellig beworben, wobei die Neuauflage der DuelDisc Ende des Monats natürlich nicht fehlen durfte. Rins Augen wanderten zu ihrer eigenen Disc, den scharfen Kanten, dem hellen, strahlenden Blau, das sie jedes Mal an den Verlust ihrer weißen Drachen erinnerte. Es war das erste Opfer, das sie für ihre Karriere hatte bringen müssen. Genauer betrachtet, hatte alles damit angefangen und vielleicht wäre das Leben anders gelaufen, wenn sie sich gegen diesen Schritt entschieden hätte…

"Das ist nicht das Gesicht eines Gewinners." Die Stimme erschreckte Rin. Die junge Frau hob den Kopf und sah in Seto Kaibas unermüdliche Augen. Wann er in ihr Zimmer gekommen war, wusste sie nicht. Kaiba war wie eine Raubkatze - oder Rin einfach nicht bei der Sache, die Grenzen waren nicht ganz klar.

"Was machst du hier?", fragte sie, die Stimme gesenkt, dass der junge Firmenchef die Chance bekam, ihren Kommentar einfach zu ignorieren.

"Du bist meine Duellantin, schon vergessen?", er verschränkte die Arme vor der Brust. Der eiskalte Blick richtete sich an sie, Rin hatte keine Ahnung, ob er verärgert war, und wenn dem so war, weshalb. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte überhaupt nicht denken.

"Außerdem", sein herablassender Blick deutete auf ihr Deck, "bin ich noch immer Teil der Kommission. Ich kann kommen, wann immer ich will. Egal, aus welchem Grund."

"Und jetzt?", fragte Rin, welche die Schwere seiner Seelenspiegel kaum ertragen konnte. Nicht jetzt, so kurz vor dem Duell, und nicht mit diesen Gefühlen, die so so sehr verwirrten. "Willst du mir etwa Glück wünschen?" Sie versuchte selbst, herablassend zu klingen. Es machte sie wütend, dass er sie so ansah, sie musterte, als würde er seine Entscheidung bereuen, Rin in sein Team aufgenommen zu haben.

Du bist ein Spielball. Vergiss' das nie

"Yamamori", raunte er. Dass er ihren Nachnamen benutzte, gefiel ihr nicht, es bedeutete nichts Gutes. Würde er ihr ein Ultimatum stellen? Würde er sie vielleicht sogar zwingen zu verlieren, weil Yoshi die bessere Wahl war? Sie hatte die Tage viel darüber nachgedacht. Darüber, wo ihr Platz war und welche Rolle sie im Zweifelsfall einzunehmen hatte. Sie kam immer wieder auf dasselbe Ergebnis.

"Willst du die Endrunde gewinnen?", fragte er lediglich, wobei seine Lippen ein einziger gerader Strich waren.

"Spielt das eine Rolle?", fragte sie zurück, "egal, ob ich dieses Duell gewinne oder nicht, für dich macht es keinen Unterschied. Du kannst gar nicht verlieren. Ist es nicht das, was du wolltest?"

"Ich weiß", entgegnete er trocken, "aber das beantwortet nicht meine Frage."

"Du willst eine Antwort?", funkelte sie ihn an, dabei hatten ihre Seelenspiegel überhaupt keine Kraft, "ja, ich will gewinnen. Aber ich weiß nicht, warum."

"Hm." Seine Reaktion enttäuschte sie. Warum war er hier? Um zu sehen, wem er die besseren Aussichten zusprechen sollte? Wer das Zeug hatte, bis zum Ende durchzuhalten?. Da hatte er bei Rin einen schlechten Tag erwischt!

"Ich werde dich nicht blamieren, wenn es das ist, was dich beunruhigt", sagte sie resigniert und schloss für einen Moment die Augen.

"Gibt es einen Grund?", krätschte er in ihre finsteren Gedanken hinein, "warum du dich duellierst?"

Rin öffnete die Augen. Ein wenig war von seinem eiskalten Blick gewichen, dafür sah er noch unberechenbarer aus. Nach einem kurzen Moment erwiderte Rin: "Ja."

"Dann zeig' es mir, dass es sich dafür zu kämpfen lohnt. Denn so wie du jetzt bist", er drehte sich um, Rin wusste, dass er im Begriff war zu gehen und sie wollte - trotz der widersprüchlichen Gefühle - nicht, dass er ging, "hast du keine Chance." Er schritt durch die Tür, dann war er verschwunden. Mit offenem Mund starrte Rin auf die Stelle, die seinen Mantel hatte verschwinden lassen.
 

"Wir wären soweit, Frau Yamamori", ein junger Kerl mit Headset und Klemmbrett ersetzte die einschüchternde Ausstrahlung des mächtigen CEOs. Wie ein Roboter erhob sie sich, die nächsten Bewegungen waren ein Automatismus, sie spürte nicht, wie ihre Beine in Richtung Stadion schritten. Ebensowenig vernahm sie Heijis Stimme, der Yoshihiko Taba als erster angekündigt hatte. Von allen Seiten drang die Musik aus sämtlichen Lautsprechern. Man hatte einen harten, dröhnenden Sound für Yoshis Eröffnung gewählt. Es hatte etwas von einem Boxkampf. Die ersten Minuten, wenn die Kämpfer die Arena erklommen. So war es auch hier, die Duellanten schritten vom Eingang des Stadions durch eine schlauchförmige Lücke, die zwischen den Zuschauerrängen Zwecks dieser Zurschaustellung geschaffen worden war. Das Publikum feierte Kaiba Corps. langjährigen Profi und Yoshi selbst suhlte sich in seinem Erfolg, stolzierte die Stufen zur Bühne hinauf und blieb in der Mitte stehen, um den linken Arm in die Höhe zu halten und die Faust zu ballen.

"Sie sind als nächste an der Reihe", sagte Isono, den Rin erst jetzt zwischen den schwarz gekleideten Bodyguards erkannte. Rin nickte, ein weiterer Assistent schob Rin zur doppelseitigen Flügeltür und schon stand auf dem Kreis, der mit Klebeband am Boden markiert worden war.

"Noch fünf, vier, drei…"

Heiji kündigte den zweiten Spieler des Abends an. Rin fasste sich ans Armband. Es würde wirklich passieren. Das große Finale und sie war dabei - auf der Zielgeraden.

Allein.

Einsam.

"...einen fetten Applaus für Rin Yamamori!

Zwei Männer rissen das Tor auf. Die Scheinwerfer säumten den Weg. Laser beschienen die umliegende Umgebung. Die Eröffnung des Worldcups war spektakulär gewesen. Als Beobachter inmitten der Zuschauermengen hatte Rin den Start eines neuen Lebens läuten hören. Doch das Stadion glich kaum noch der Kulisse von vor drei Monaten. Das Dach wurde eingefahren, bunte Lichtreflektionen ließen die Wände wie eine von Drogen heraufbeschworene Halluzination erscheinen. Im Mittelpunkt stand Rin - Kaiba Corps. »neuer aufgehender Stern«. Der Mantel flatterte - halb Samurai, halb eiskalte Duellantin, die ihre Seele dem weißen Nachtdrachen gewidmet hatte. Viele sahen darin eine Hommage an Seto Kaibas legendären Blauäugigen, weshalb vereinzelte Stimmen nach Duel Madness schrien.

Ihr Herz flatterte, sie stand neben sich, unfähig, das Adrenalin gebührend zu empfangen, obwohl es ein Teil ihres rationalen Denkens nahm.

Köpfe schnellen nach hinten - hunderttausend, mehr hatte das Stadion nicht aufnehmen können, aber genug, um Rin die Macht von DuelMonsters aufzuzeigen. Dann setzte die Musik ein. Vertraute Töne, die das Blut zum Kochen brachten. Rin blieb für einen Moment wie angewurzelt stehen. »Mad Machine« sang die bekannte Stimme, das Lied aus ihren Jugendzeiten, welches sie am meisten geliebt hatte.

Kaiba…woher weiß er davon?

Das Gespräch im Café kam ihr in den Sinn. Rins Geburtstag, als sie ihrer Lieblingskassiererin von der Serie vorgeschwärmt hatte, während Kaiba seelenruhig an seinem Stammplatz gesessen und seinen Kaffee genossen hatte.

Quatsch. Maki muss es ihm gesteckt haben, nachdem er das Bild in meinem Zimmer gesehen hatte. Als ob Kaiba mir zugehört hätte

Sie lief los. Langsam, unsicher, wie sie das alles aufnehmen sollte. Das Lied war perfekt, der Song einer ihrer liebsten und doch wollte die Stimmung nicht aufkommen. Sie fühlte sich leer und sie wusste, dass es wegen Lumina war.

"Tell ne what do you want, tell me how do you fee"l

Stimmen rissen sie aus ihren Gedanken. Da standen sie nun; bekannte Gesichter, Verbündet im Geiste. Hände klopften ihr auf die Schultern. Die gesamte Crew der Amateurliga schien gekommen zu sein, feuerten die junge Frau an, die es in bahnbrechender Geschwindigkeit geschafft hatte, aus der Bedeutungslosigkeit herauszukommen. Dann waren da auch noch Jonouchi und Yugi - diesmal einige Reihen weiter hinten. Sie winkten, Jonouchi machte einige Handzeichen, die Rin jedoch nicht verstand. Kurz dachte sie an das zurück. An die Motivation und Hilfsbereitschaft seiner Freunde. Die Unterstützung - sie war kompromisslos gewesen.

Das hast du nie gebraucht, Rin. Und du brauchst es auch jetzt nicht

Sie lief weiter, ihr Blick driftete ab, sie schaute zurück nach vorne, aber eigentlich starrte sie nirgendwo hin. Noch nie hatte sie sich so verlassen gefühlt. All diese Menschen waren wegen ihr gekommen, selbst Yamato saß irgendwo zwischen den Rängen und wünschte Rin nur das Beste, doch es war nicht genug. Nein, schlimmer - es bedeutete nichts. Nicht, solange ein Mensch nicht zu ihr stand, der einzige, dessen Rückhalt wirklich gezählt hätte.

Die Schritte zur Bühne waren schwer und ermüdend, die Absätze klapperten hart auf dem Boden, der hoch gebundene Zopf schlug auf ihre Schultern.

Das erste, das sie erblickte, war Yoshihikos Grinsen. Sein Selbstvertrauen war ekelerregend, die Zähne blitzten scharf und gefährlich auf.

Diese arrogante Schmalzfresse

Ein Kaugummi blitzte zwischen seinen Lippen auf, eine unauffällige Geste und er hatte den kleinen weißen Bällen hinuntergeschluckt.

"Bist du bereit, Yamamori?", fragte er und nahm die Hände aus den Hosentaschen. Seine Lässigkeit kaufte sie ihm nicht ab, dass er sie nicht einmal für voll nahm, verstand Rin als Provokation. Sie kam wenige Schritte vor ihm zum Stehen. Ihre Absätze hatte sie ein kleines Stück größer als Yoshi werden lassen. Genug, um ihn einen herablassenden Blick zu schenken.

"Gegen dich, immer", entgegnete sie trocken. Zückte ihr Deck aus der Halterung und mischte wie eine Verrückte.

Okay, Rin. Nur noch dieses Duell und du hast das Ticket in der Tasche. Zeit, diesem aufgeblasenen Grinch zu beweisen, wie DuelMonsters richtig geht.

"Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lange ich darauf gewartet habe", Yoshi reichte Rin seine Karten.

"Ich dachte immer", entgegnete sie, "dass ich kein würdiger Gegner für dich sei." Sie mischte akribisch, ohne ihren Gegner aus den Augen zu lassen, "hast du deine Meinung geändert."

"Ich halte dich auch jetzt noch für einen armen, schwachen Profi…Rin Yamamori. Zeit, dich dorthin zu befördern, wo billige Ramschware wie du hingehören."

"Deine Mutter musste dir wohl öfter den Mund mit Seife aufwasche, was?" Sie überreichten sich die Decks. Yoshi lächelte schief, knallte die Karten zurück in das vorgesehene Fach und schritt voller Überzeugung auf seine Seite des Spielfeldes. Rin tat es ihm gleich. Egal, was ihr Gegner dachte - heute würde sie ihm eine Lektion verpassen, ihm seine Maske herunterreißen.
 

Das Lichtspektakel endete. Für Sekunden wurde es schwarz. Schließlich schien weißes Licht schien mit voller Wucht auf die Bühne der Spieler. Über ihren Köpfen baumelte die Punkteanzeige.

"Drei - zwei", schrie das Publikum im Chor, "eins…Duell!"

Es war nicht ihr erstes Finale, aber wenn man bedachte, dass die Juniorenmeisterschaften in einer umfunktionierten Lagerhalle stattgefunden hatten, das Publikum eine Anhäufung von Familien und Freunden gewesen waren und der Preis aus einem feuchten Händedruck und einer limitierten Karte vom Erfinders von DuelMonsters persönlich bestanden hatte - wobei Letzteres nicht zu verachten gewesen war-, war es doch mehr als vermessen, diese beiden Welten auch nur im Ansatz miteinander zu vergleichen. Zwei Millionen Dollar wurden hier wie Peanuts herumgeworfen, das Finale Ticket beherbergte mehr als einen Batzen Kohle, für welchen die Duellanten sowieso nicht die Zeit fänden, auch nur einen Dollar davon zu verschwenden. Die Show war von Anfang an eine Veranstaltung, bei der geprotzt, und geprahlt, das Geld aus dem Fenster geschmissen wurde, um dabei noch mehr Geld anzuhäufen, und so ganz nebenbei noch eine feierwütige Menschenmasse bei Laune zu halten, die nicht den Hauch einer Ahnung hatte, was es hieß ein Duellant zu sein. Was es bedeutete, um Sieg und Niederlage zu kämpfen. Wie auch, wenn sie nicht einmal begriffen, was vor ihrer eigenen Nase geschah. Hunderttausend Gesichter, die meisten waren Fremde, flüchtige Bekanntschaften, oder zaghaft wachsende Freundschaften, die Rin bald schon wieder vergessen haben würden, wenn der Ausgang zu Yoshis Gunsten ausgehen sollte. Wenn das Duell verloren und sämtlicher Glanz dahin wäre. Niemand scherte sich um den Zweitplatzierten, einen Niemand, der durch Zufall an der Oberfläche hatte kratzen können und die Welt von DuelMonster beschnuppern durfte. Verlierer, die aus dem Nichts auftauchten, wurden schnell vergessen. Wie viele Duellanten hatten bereits ihr Hoch erlebt, einen flüchtigen Erfolg, so bedeutungslos, dass sich auch nur einer an ihre Namen erinnern wollen würde? Rin bildete keine Ausnahme, in der Hinsicht machte sie sich nichts vor, und wieder in der Versenkung zu verschwinden, war bloß ein verschwindender Teil dessen, was ihr wirklich Angst bereitete.

Die Massen verschwammen vor ihrem geistigen Auge, die Gesichter der Einzelnen wurden durch den Sog des Kollektivs fortgerissen, dass das Stadion einem lauten, überfüllten Sammelort glich, in dem jeder dasselbe zu sagen haben schien. Man rief ihren Namen, Unsichtbare, die sich ihre Meinung nach dem Mehrheitsprinzip bildeten. Sobald es schlecht für sie stünde, würden sie sie fallen lassen. Ihr Status des Newcomers würde sie nicht davon abhalten, mit den Füßen auszuholen, wenn der Augenblick gekommen zu sein schien. Und diejenigen Außen, welche auf der Rechten Seite standen, nicht weit von der Bühne entfernt? Was war mit ihnen? DuelMonsters Topelite. Spieler, die Rin in ihrer Jugend bewundert hatte, Spieler, die ihre Maske hatten fallen lassen, Spieler, die sie ohne Rücksicht besiegt hatte und nun von ihnen gehasst wurde. Sie erblickte Mai Kujaku, die hübsche Blondine mit dem zweideutigen Blick (nicht im anzüglichen Sinne), der coolen Lederjacke und dem lässigen Auftreten einer Ikone, die sich nicht um die Meinung anderer scherte. Dominos erste Gewinnerin der Endrunden. Wieso sie nicht mit Katsuya Jonouchi in einer Reihe saß, wusste die junge Frau noch nicht, und wenn sie gegen Yoshihiko Taba verlieren sollte, würde sie wohl nie den Grund dafür erfahren.

Langsam ließ sie den Blick schweifen. Aus dem Augenwinkel erblickte sie Seto Kaiba, der Veranstalter, der Strippenzieher und Verantwortliche des heutigen Abends. Von seiner stoischen Miene hätte sie sich gerne eine Scheibe abgeschnitten, er schien nie um Fassung zu ringen, in seinem eiskalten Blick suchte die junge Frau vergeblich nach den Antworten, welche ihr jetziges Dasein bestimmten. Gerade war ihr Mut nur gespielt, ihre Überzeugung hing an einem seidenen Faden, und von ihrem Selbstvertrauen wollte sie erst gar nicht sprechen. Da half es auch nicht, in die treuen Augen von Mokuba Kaiba zu blicken. Seine Anspannung kaufte sie ihm ab, dass er mit ihr mitfieberte, war rührend und traurig zugleich. Dass der junge Kaiba dabei war, in Rin eine Art zweite Chance, für die Versäumnisse zwischen ihm und seinen großen Bruder zu sehen, war ihr nicht erst heute aufgefallen. Er schien nicht zum ersten Mal Parallelen zwischen ihr und dem Chef der Kaiba Corporation zu suchen, vielleicht glaubte er sogar, durch Rins Handeln Hoffnung für den Älteren zu sehen. Hoffnung auf seine erkaltete Seele und die von Jahren geprägte Verbitterung, die auch Rin nicht kalt ließen. Stumm wandte sie sich ab. Sie wandte sich von allem ab. Noch mehr Kohlen aufs Feuer würde sie nicht ertragen. Zu unsicher fühlte sie sich in einem Augenblick wie diesem, in dem die DuelDisc ihr einziger Halt zu sein schien.

Ich bin-

"...Rin Yamamori wird dieses Duell beginnen!", verkündete der Kommentator auch schon und ließ die Stimme hinter dem Applaus verschwinden.

Also dann…Keine Zeit für Zweifel
 

Rin tat das, was sie am besten konnte.
 

"Ich spiele Klingenritter - im Angriffsmodus!" In voller Rüstung sprang der Krieger aus dem Boden, schwang sein Schwert, das eher einem Säbel glich, und baute sich beschützend vor der jungen Frau auf.

"Wirklich?", entgegnete Yoshi und lächelte träge, "dein erstes Monster und du spielst das?" Er schüttelte den Kopf. "Nicht nur, dass du die Frechheit besitzt, mich mit einem Krieger-Monster angreifen zu wollen. Aber auch noch Seto Kaibas Monster aus Battle- City zu spielen…? Wie lange willst du dich noch in seinem Schatten suhlen?"

"Erstens", erwiderte Rin (sie konnte es selbst nicht fassen, dass sie ihm überhaupt darauf antwortete), "wird diese Karte noch von zweihundert anderen Duellanten gespielt - oder willst du mir vorwerfen, dass ich auch sie kopiere?", sie verdrehte die Augen, "und zweitens", damit wandte sie sich ihren Karten auf der Hand zu, "hat dieses Duell gerade erst begonnen und ich will dich nicht schon zu Beginn mit meinen Strategien überfordern. Wir wollen doch nicht, dass dieses Spiel nach fünf Minuten beendet ist." Ein schiefes Lächeln und Rin legte zwei Karten verdeckt auf das Feld.

"Du bist dran, Yoshi."

"Dann mach' dich auch was gefasst!", er zog eine Karte, "ich beschwöre Merlin."

"Merlin?"

"Richtig, du braunhaariger Papagei. Und weißt du was? Ich spiele ihn ebenfalls im Angriffsmodus!"

"Wenn du mir deine Dummheit beweisen willst - keinen Sorge, du kannst in meinen Erwartungen nicht tiefer sinken."

"Unwissender Neuling. Du hast keine Ahnung, auf was du dich da eingelassen hast", er stieß ein tiefes, dunkles Lachen aus, "das ist die Champions-League, Mädchen. Ich bin seit zehn Jahren im Geschäft und glaube mir, um mich zu besiegen, brauchst du schon mehr als diese Kaiba-Kopie."

"Hochmut kommt vor dem Fall", fauchte sie mit zusammengebissenen Zähnen zurück. Sie verfluchte Yoshi - und sich selbst, weil sie auf seine Sticheleien einging, sich provozieren und sich nur noch weiter in seine Beleidigungen hineinreiten ließ.

Wenn ich diesem Dämlack noch weiter zuhöre, werde ich am Ende sein Geplapper noch glauben

Rin atmete tief ein. Sie war jetzt am Zug, es galt Ruhe zu bewahren und sich auf keine weitere verbale Attacke einzulassen.

Er will doch nur, dass ich ausraste. Mich mies fühle…Nein, Yoshihiko Taba! Ich habe deine Taktik durchschaut. Aber die wird bei mir nicht ziehen

Dafür hatte sie schon weit bedrohlicheren Gegnern gegenüber gestanden. Gegner, die es Wert gewesen waren, ihnen Paroli zu bieten. Aber Yoshi? Der Profispieler aus gutem Hause, einer mehr als schillernden Jugend und einem Ego, dessen Schuhe sich nicht einmal der Chef der Kaiba Corporation anziehen würde, würde Rin nicht brechen - niemals.

"Ich bin dran", rief sie und sammelte sich. Auch wenn ihr Gegner diesen Schritt geplant hatte, musste sie ihn angreifen. Merlin war ein schwaches Monster, 1400Atk nichts, womit Klingenritter nicht klar käme. Ob dieses Monster Rins Intellekt beleidigen oder einfach nur als Lockvogel herhalten sollte, war völlig belanglos. Rin hatte gar keine andere Wahl als das Hexer-Monster anzugreifen. Klingenritter musste aktiv werden, schon allein, weil er einem so mickrigen Monster überlegen war und Rin sicherlich nicht zulassen würde, dass dieser Kerl genug Tribute zusammen bekam, um seinen Buster Blader zu beschwören.

Ich muss einfach nur schneller sein als er

"Dann wollen wir mal!", sie zeigte auf ihr Monster, der Kampf war eröffnet.

"Nicht so eilig, Kleines!", lächelte Yoshi, "zuerst präsentiere ich dir Merlins besondere Fähigkeit! Wenn ich ihn opfere, kann ich einen beliebigen Edlen Ritter von meinem Deck beschwören. Und ich wähle Edler Ritter Bedwyr!" Ein ebenso stolzer Krieger wie Klingenritter erschien auf der Bühne. 1600 Angriffspunkte und Bedwyr lag gleichauf mit ihrer eigenen Bestie.

"Jetzt geht's erst richtig los!", feixte ihr Gegner, "Bedwyr hat auch eine hübsche Fähigkeit. Sobald er beschworen wurde, kann ich eine Zauberkarte auf den Friedhof legen", was er auch augenblicklich tat, "und dann…"

"Dann kannst du die Zauberkarte direkt vom Friedhof aufs Feld legen", beendete Rin seinen Satz. "Ich kenne deine Edlen Ritter."

"Natürlich", säuselte Yoshi und lächelte gelangweilt, "dann weißt du sicherlich auch, welche Karte ich mir ausgesucht habe." Auf Kommando schien ein grelles Licht auf Yoshis Monster herab, der Himmel - wenn es denn einen gegeben hätte, doch es war bloß der Ansatz einer virtuellen Trickserei - schien sich zu öffnen und mit einem leisen Zischen flog ein großes silbernes Schwert vor Bedwyrs Füße. "Edle Waffen Gallatin." Yoshi hätte den Ausrüstungszauber nicht vorstellen brauchen. Das Edle Ritter Deck war eine Goldrare Edition - angewendet von Spielern, die sich nicht die Mühe machten, ihre Decks zusammenzustellen. Stattdessen lieber hunderttausende Yen ausgaben, um mit diesen seltenen, golden umrahmten Karten zu prahlen und ihr Können hinter mächtigen Monstern und noch mächtigeren Zauberkarten zu verstecken. Mehr sah Rin in diesen durchaus ansehnlichen Karten nicht. Natürlich brachte ihre Einstellung keinen Vorteil, Bedwyrs Power stockte sich dank Edle Waffen Gallatin um tausend Punkte auf. 2600Atk waren leichter zu bekommen, als irgendjemand >Duell< schreien könnte. Ein selbstgefälliges Grinsen legte sich auf Yoshis Lippen, der Rins Klingenritter auf Bedwyr zustürmen sah.

"Yoshi", rief Rin, "so einfach mach' ich es dir nicht", sie streckte den linken Arm aus, "ich decke meine Zauberkarte auf - Schrumpfen." Die Angriffsstärke des Edlen Ritters fiel um genau die Hälfte, das mächtige Schwert schrumpfte in Bedwyrs Hand, und noch bevor dieser Rins Monster erreicht hatte, war von der einstigen strahlenden Figur nichts übrig geblieben. Mit Leichtigkeit parierte Klingenritter den Angriff, ein weiterer Schlag ihres eigenen Kriegers traf Bedwyr mitten ins Herz. Eine Explosion und der Edle Ritter war verschwunden - ebenso dreihundert Lebenspunkte von Yoshis Anzeige.

"Und wieder ein Zug, der nur geklaut ist", säuselte ihr Gegenüber, den es nicht zu jucken schien, dass er den Kampf verloren hatte. "Kannst du eigentlich auch selbst denken? Oder sehnst du dich so sehr nach Beachtung?"

"Halt die Klappe und spiel'", knurrte die junge Frau.

"Ganz wie du willst, Kaiba-Mädchen."

Aaaah, dieser

Nichts zu sagen war eine Sache - innerlich von einem Tornado weggefegt zu werden, eine andere. Natürlich hätte sie zu jeder seiner Aussagen einen passenden Konter parat gehabt, aber was nützte es, wenn jeder Versuch, ihm zu widersprechen, bloß wie eine lahme Ausrede klang? Rin musste seine Sprüche wohl oder übel über sich ergehen lassen, ganz gleich, wie weit sie von der Wahrheit entfernt oder verletzend für die junge Frau waren, die gerade mit ihrer eigenen Identität rang.

"Ich ziehe."

Sie konzentrierte sich auf Yoshis Karten. Der Grünhaarige setzte ein weiteres Monster seiner Sammlung aufs Feld - diesmal im Verteidigungsmodus.

Schildkrieger hat 1800Def, wenn ich ihn besiegen will, ohne meinen Weißen vorher aufs Feld zu bringen, muss ich mir etwas einfallen lassen

"Und ich spiele noch diese nette Karte - Dian Keto." Diese Karte war selbstredend - ein Lebensbooster von tausend Punkten machte seine vorherige Niederlage zu einem Witz.

Klar, dass er seine Lebenspunkte aufstocken will. Er wartet solange ab, bis er Buster Blader beschwören kann. Der Kerl glaubt echt, dass ich ihn zwei Monster beschwören lasse

Zu guter Letzt kamen noch zwei verdeckte Karten auf die entsprechende Zone. Yoshi war so tiefgründig wie eine Pfütze. Wenn er wirklich glaubte, mit seinen Methoden Rin eins auswischen zu können, hatte er sich getäuscht. Das war nicht ihr erster Kampf gegen einen Duellanten, dessen Deck mit einem so mächtigen Krieger-Monster ausgestattet war. Kein Profiduellant, aber ein Leidenschaftlicherer allemal.

"Ich bin dran", Rin betrachtete ihre Karte, "ich spiele Doppelbeschwörung."

"Doppelbeschwörung",Yoshi rümpfte die Nase und starrte amüsiert zu Rin herüber, "also willst du noch etwas warten, bis du Kosten Verringern spielst."

"Gehst du neuerdings zu den Hellsehern über?", fragte Rin genervt, dabei vermied sie es, die Äußerste Karte ihrer Hand anzuvisieren.

"Ich habe eben gut aufgepasst", entgegnete er und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

"Solltest du auch mal ausprobieren."

"Für deine Siegervisage ist es eindeutig noch zu früh, Yoshi. Erst einmal spiele ich Aleister und Antiker Drache - beide natürlich im Angriffsmodus."

Yoshis Gesichtsmuskeln begannen zu zucken, als Aleister - der Beschwörer - das Spielfeld betrat. Nur zu gut konnte sich Rin die Gedanken in seinem Kopf vorstellen. Aleister war schwach, so schwach, dass er mit tausend Angriffspunkten kaum in der Lage war, etwas im Kampf auszurichten.

"Und jetzt", lachte ihr Gegenüber, "ein Hexer mit 1000 und ein Drache mit 1400Atk. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist irgendwo zwischen Regional- und Kreisliga hängen geblieben. Du hast vielleicht mehr Monser als ich, aber mit dieser lahmen Party wirst du hier nicht einmal einen Blumentopf gewinnen."

"Das werden wir noch sehen" Rin schwang ihren Pferdeschwanz nach hinten. "Als erstes aktiviere ich Aleisters Effekt. Sobald er auf dem Feld ist, darf ich mir die Zauberkarte Beschwörung von meinem Deck nehmen." Die Karte gefunden, begann sie ihr Deck von Neuem zu mischen.

"Schön und gut", zuckte ihr Gegner mit den Schultern, "aber glaubst du ernsthaft, dein Monster überlebt den nächsten Zug, damit es für deine Fusionsshow herhalten kann?"

"Schau einfach zu. Als nächstes spiele ich Topf der Gier. Sie erlaubt es mir, zwei weitere Karten vom Stapel zu ziehen…so…und jetzt", sie knallte die nächste Zauberkarte aufs Feld, "spiele ich dieses nette kleine Ding." Ein Sturm bauschte sich innerhalb von Sekunden auf. Der Wirbel fegte über das Spielfeld, direkt auf eine der verdeckten Karten ihres Gegners. Mystischer Raum-Taifun erfüllte seinen Zweck, zerstörte eine von Yoshis Fallenkarten und verschwand nach getaner Arbeit als hätte es sie nie gegeben. "Weiter im Text", Rin wollte keine Zeit verlieren. Im Duell gegen Yoshi galt es, das Tempo anzuschrauben. Selbst in einem finalen Spiel wie diesem musste sie auf ihre Instinkte vertrauen. "Ich habe noch einen zweiten netten Zauber. Du wirst ihm bestimmt schon einmal begegnet sein", Rin wedelte mit der entsprechenden Karte.

"Schild und Speer", raunte Yoshi.

"Richtig", und schon war die Karte aktiv, "Schild und Speer tauscht Angriffs- und Verteidigungspunkte aller Monster auf dem Feld. Aber das weißt du sicherlich schon."

Ganz nach Plan rutschte die Verteidigung von Schildkrieger auf achthundert Punkte herunter, während Aleisters Macht auf 1800 angestiegen war. Mehr als genug, um sein lahmes Monster vom Feld zu fegen.

"Also dann", Rin zeigte auf ihren Hexer, der sein Buch zuklappte und den Zauberstab schwenkte, "Aleister, greif' seinen Schildkrieger an!" Mit Leichtigkeit zerstörte Aleister den Krieger. "Und nun zu deinen Lebenspunkten." Fast gleichzeitig griffen Klingenritter und Antiker Drache an. Geschwächt von der Zauberkarte Schild und Speer und dennoch genug, um Yoshi die Macht ihres Decks vorzuführen. 2300 Lebenspunkte rauschten die Anzeigetafel herunter. Die Menge johlte, Yamamori hatte das Duell eindeutig unter Kontrolle - niemand zweifelte ihre Fähigkeiten an. Aber Rin war sich da nicht so sicher.

"Zeit, meine verdeckte Fallenkarte zu spielen", rief Yoshi, "göttlicher Heiler!" Ein grelles Licht legte sich auf den grünhaarigen Duellanten, warme Strahlen ließen ihn in der Kraft der Fallenkarte baden als wäre Yoshi selbst aus der Sonne geboren. "Sie erhöht meine Lebenspunkte um tausend", er streckte die Arme aus, empfing die Macht der Fallenkarte, "und für jede weitere Göttlicher-Heiler-Karte bekomme ich zusätzlich fünfhundert Lebenspunkte dazu. An dieser Stelle sollte ich mich bei dir bedanken, Yamamori. Als du mystischer Raum-Taifun gespielt hast, hast du eine weitere Fallenkarte auf den Friedhof gelegt, und es war keine geringere als göttlicher Heiler."

"Na und", murrte Rin, kaum ihre Gefühle unterdrückend. Es war deprimierend. Yoshi schindete Zeit und dagegen nichts unternehmen zu können, war qualvoller als seine dämlichen Sprüche ertragen zu müssen. Entnervt legte sie eine weitere Karte verdeckt aufs Feld.

"Weil mein Drache dir direkten Schaden zugefügt hat, erhöht sich seine Angriffsstärke um fünfhundert." Mit 1900Atk war Antiker Drache nun das stärkste Monster auf dem Feld. Eine Lachnummer für ein Finale dieser Größenordnung.

So geht das nicht weiter. Yoshi hat immer noch 3900LP…und noch genug Karten, um seine Lebenspunkte weiter aufzustocken. Wenn ich ihn nicht im nächsten Zug dran kriege-

"Ich ziehe", Yoshis Ausruf riss die junge Frau aus ihren Gedanken. Der Grünhaarige zog, sein schmieriges Grinsen ließ ein widerliches Prickeln auf ihrer Haut entstehen.

"Mal sehen, was du zu diesem Goldjungen sagst", er legte ein Monster aufs Feld. Der Schlachtruf eines weiteren Kriegers erfüllte das Stadion. Die Muskeln des Ritters bewegten sich mit den kraftvollen Schwüngen, die er mit dem Schwert vollführte. Day Grepher war ein Monster, das in der richtigen Kombination viel Ärger bereiten konnte. Besonders am Anfang trumpfte Day Grepher durch eine Atk von 1700 auf. In ihrem Fall war es nur ein weiteres beschworenes Monster aus Yoshis goldener Sammlung, ein Krieger, der einen würdigen Meister brauchte, um wahre Größe zu erlangen. "Denkst du", rief Yoshi, den Kopf schief gelegt, dass er Rin voller Spott musterte, "ich weiß nicht, was du mit deinem Hexer planst?" Er zeigte auf sein eigenes Monster, der Ritter ging in die Hocke, das Schwert klirrte zwischen seinen Händen. "Es war ein Fehler, dein Monster im Angriffsmodus zu spielen, Rin." Und auf ging's. Day Grepher rannte los, ein athletischer Kämpfer mit ungeheurer Sprungkraft. Der Hieb seines Schwertes spürte Rin wie einen sanften Luftzug auf sich zukommen. Dabei stürmte Day Grepher nicht auf sie, sondern geradewegs auf ihren Hexer zu.

"Meine Fallenkarte wird deinen Angriff verhindern", Rin offenbarte ihre verdeckte Karte, "Verlagerung", ein dunkler Schleier vernebelte die Sicht von Day Grepher. Der Ritter verlor die Orientierung und rannte auf das für ihn einzig Sichtbare zu.

"Verlagerung leitet deinen Angriff auf ein anderes meiner Monster um." Antiker Drache breitete die Flügel aus, der Schwerthieb konnte ihm nichts anhaben, dass er zum Gegenangriff ausholte und dem Krieger den Boden unter den Füßen entriss.

"Aber…Warum wurde dein Monster nicht zerstört?", Rin hatte nicht gesehen, dass ihr Gegner eine Fallenkarte gespielt hatte. Doch es bestand kein Zweifel. Trotz zweihundert Lebenspunkte, die von Yoshihiko Tabas Konto abgegangen waren, blieb Day Grepher vollkommen unversehrt.

"Kennst du etwa nicht die besondere Fähigkeit meines Schildkriegers?", feixte Yoshi, "sobald ich ihn aus dem Spiel genommen habe, können meine Monster in dieser Runde nicht durch Kampf zerstört werden."

"Wenn du meinst, dass dir das was nützt."

"Du wirst schon sehen", grinste der Grünhaarige noch breiter, "hab' noch ein klein wenig Geduld. Ich lege noch eine Karte verdeckt und beende meinen Zug. Du bist dran, Yamamori."

"Du hast ganz schön Nerven", Rin zückte eine Karte vom Stapel, "du glaubst wirklich, dass du genug Zeit schinden kannst. Aber nun ist Schluss mit diesem Kinderkram! Ich lege eine Karte verdeckt. Dann spiele ich Kosten Verringern. Ganz gleich, was du von dieser Karte hältst, sie tut genau das, was ich von ihr erwarte." Zwei Schwerter rauschten an ihr vorbei und schlugen auf den Boden ein, dass das Parkett knackste, als wäre es tatsächlich getroffen worden. "Und jetzt, nachdem alle meine Monster auf der Hand um zwei Stufen verringert wurden, werde ich dir zeigen, was es bedeutet, ein Geduldsspiel gegen mich spielen zu wollen." Dramatisch blies ihnen der Wind um die Ohren. Virtueller Wind, der es mit den Naturgewalten von dort draußen aufnehmen konnte. Rins Mantel begann wild umher zu flattern, der Zopf peitschte brutal von einer Schulter zur anderen.

"Ich opfere meinen Klingenritter", Rins Stimme klirrte zwischen dem Pfeifen und Getöse, als noch mehr Wind freigesetzt wurde, "und rufe meinen Drachen des Lichts und der Finsternis." Irgendwo schien ein Blitz einzuschlagen, ein grelles Leuchten erhellte die Zuschauerreihen, bevor sie wieder in Dunkelheit getaucht wurden. Dann erschien der Drache. Aus Dunkelheit geboren, vom Licht geküsst. Ein herrlicher Anblick für die junge Frau, die das Gefühl hatte, dass er mit jedem Mal noch schöner wurde. "Und weil dir das scheinbar noch nicht reicht", sie sah von ihrer Kreatur zu Yoshis herüber, "spiele ich Beschwörung und hole Cocytus auf meine Seite." Aleister und Antiker Drache räumten das Feld für eine ebenso gefährliche Bestie, die sich augenblicklich in Verteidigungsposition begab.

Selbst Yoshi kann gegen meine zwei Drachen nichts unternehmen. Cocytus ist gegen sämtliche Effekte immun und sobald er versuchen sollte, meinen Drachen des Lichts und der Finsternis zu zerstören, kann er sich auf eine ziemlich böse Überraschung gefasst machen.

"Außerdem", Rin unterdrückte ein Grinsen, im Gegensatz zu Yoshi wollte sie sich nicht in ihrem Übermut verlieren, "spiele ich törichtes Begräbnis." Die Zauberkarte ließ sie ein Monster von ihrem Deck auf den Friedhof legen.

"War's das endlich?", fragte Yoshi gelangweilt.

"Jetzt fängt doch erst der spaßige Teil an", meinte Rin und zeigte auf ihren Drachen des Lichts und der Finsternis, "ich habe dir gesagt, dass ich deine Verzögerungen satt habe." Der mächtige Drache schlug zu, es bedurfte kaum eines Kraftaktes, um Day Grepher zu zerstören. Rins Bestie hatte 2800Atk und mit voller Wucht schlug seine Power auf Yoshis Krieger ein, der nicht den Hauch einer Chance hatte und weggepustet wurde. Ihr Gegner ließ sich die Differenz von 1100Atk emotionslos über sich ergehen, Yoshi zuckte nicht einmal, als Day Grepher in Millionen kleine Teilchen zerfiel. Also verlor Rin keine Zeit und ließ ihr zweites Monster angreifen. Diesmal hatte sie es auf seine Lebenspunkte direkt abgesehen. Obwohl das Fusionsmonster mit 1700Atk nicht das Stärkste war, brachte er genug Kraft auf, um Yoshi aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Energie ließ ihn mit den Knien leicht nach vorne gehen, seine Coolness bekam erste Risse und Rin gefiel der Anblick eines Yoshihiko Tabas, der um seine Selbstsicherheit bangte.

"Wird langsam eng für dich, Yoshi", Rin deutete nach oben, die Anzeigetafel zeigte einen Punktestand von neunhundert an. Jetzt hatte sie ihn da, wo sie ihn haben wollte.

"Wie…nett", grinste Yoshi, die Balance noch nicht komplett zurückerlangt, dass er kaum ernst zu nehmen war. "Fühle dich geehrt, einem echten Champion so nahe gekommen zu sein. Das wird nämlich das letzte Mal sein, glaub mir." Ohne auf seine Bemerkung einzugehen, beendete sie ihren Zug.

Red' du nur, aber wenn ich dich fertig gemacht habe-

"Ich beschwöre Edler Ritter Gawayn", ein tollkühner Ritter in goldener Rüstung stieg aus dem Boden, Gawayn hob sein Schwert in die Luft und präsentierte sich so wie sich Yoshi selbst einschätzte - maßlos selbstüberschätzend.

"Und ich spiele noch diese Karte - Zauber-Reproduktion."

Rin riss die Augen auf.

"Ah, die Amateurin weiß, was ich vorhabe", amüsiert legte Yoshi zwei Karten auf den Friedhof. Zauberkarten, wie Rin wusste - bloß damit er einen bestimmten Zauber zurück auf die Hand nehmen konnte. Nämlich-

"Edle Waffen Gallatin!" Tausend Punkte gingen auf Gawayns Konto, mit 2900Atk war er nun das stärkste Monster auf dem Feld.

"Ich denke", säuselte ihr Gegner, "es ist an der Zeit diese falsche Fledermaus vom Feld zu fegen." Er zeigte auf den Drachen des Lichts und der Finsternis.

"Das werde ich zu verhindern wissen", entgegnete die junge Frau und aktivierte ihre verdeckte Karte, "Sakuretsu Rüstung zerstört deinen Ritter sobald er eines meiner Monster angreift." Ein dunkles Loch entstand unter Gawayns Füßen.

"Das denkst auch nur du!", stieß Yoshi hervor, "ich habe ebenfalls eine Fallenkarte - Abhören. Sie zerstört Sakuretsu Rüstung und schickt die Karte zurück in dein Deck." Nun war sein Krieger an der Reihe, er rannte, sprang und zerteilte den Drachen als wäre es nichts. Mit einem Kreischen verabschiedete sich ihre Bestie, sowie hundert Lebenspunkte, die Rin kaum berührten.

"Es war ein Fehler, meinen Drachen zu zerstören", sie funkelte ihn an, "denn jetzt zeigt sich die wahre Macht meines Drachen. Sobald meine Bestie besiegt wurde, kann ich ein beliebiges Monster auf dem Friedhof wählen - und es auf der Stelle beschwören."

Ihr gegenüber zogen sich Yoshis Mundwinkel bis ganz nach oben, dass es einer künstlichen Fratze glich. Warum er noch immer so überzeugt war, verstand Rin beim besten Willen nicht.

"Dein weißer Nachtdrache, nehme ich an", seine Stimme klang geradezu heiter. Nicht als würde er jeden Augenblick mit der mächtigen Kreatur aufeinander treffen. Weißer Nachtdrache erschien auf der Bildfläche. Erhaben, majestätisch und absolut bereit, dem Kampf ein Ende zu setzen.

"Im Gegenzug", sprach die junge Frau, die den Kopf in Richtung ihrer Bestie drehte, "werden sämtliche Karten auf meiner Spielfeldseite zerstört. Aber das macht keinen Unterschied, ich brauche nur meinen Drachen, um dich ein für alle Mal zu besiegen."

"Glück für dich", entgegnete Yoshi lächelnd.

"Du scheinst noch nicht den Ernst der Lage kapiert zu haben. Es ist so gut wie vorbei, Yoshi. Ich hoffe für dich, dein Ende wird weniger peinlich als ich es vor meinem geistigen Auge sehe." Kopfschüttelnd begann Rin ihren eigenen Zug vorzubereiten.

Nicht mehr lange…nur noch ein kleines Stückchen.

Sie betrachtete die Karten in ihrer Hand.

Ich darf nur nicht nachlässig werden. Solange ich die Kontrolle über das Spiel habe, kann nichts schief gehen.

"Ich spiele eine Karte verdeckt und beschwöre Reese - im Verteidigungsmodus." Ihre treue Gefährtin nahm direkt neben ihrem weißen Nachtdrachen Platz.

"Ich dachte, du brauchst keine anderen Monster." Man musste kein Empath sein, um zu wissen, dass Yoshi sie bloß verspottete, aber eine Beute, die in die Enge getrieben wurde, nahm Rin längst nicht mehr ernst.

"Pass lieber auf deine Seite des Feldes auf", erwiderte die junge Frau, bemüht, kein ebenso dämliches Gesicht zu machen wie dieser selbstzufriedene Heini dort drüben.

"Weißer Nachtdrache", das Kribbeln in ihren Armen ließ sie für einen Moment den Sieg vor ihrem geistigen Auge sehen. Sie hatte sich den Augenblick spektakulärer, ja emotionaler vorgestellt. Mit Schmetterlingen im Bauch, einer trockenen Lunge, oder wenigstens einem wild pochendem Herzen.

Irgendwas stimmt nicht…nein, vergiss' es. Das ist bloß die Anspannung. Wenn es vorbei ist, dann-

"Los, meine himmlische Bestie. Greif' seinen Edlen Ritter an - Diamanten-Blitzattacke!" Gawayn war vom Feld gepustet und langsam war die Luft dünn für Kaiba Corps. Spitzenduellanten.

"Bist du fertig?", säuselte der Grünhaarige und ließ Rin nun endgültig den Glauben an seiner Zurechnungsfähigkeit verlieren.

"Reicht dir das denn immer noch nicht?", wollte sie von ihm wissen. Doch Yoshi antwortete nicht. Er sah zu ihrem Weißen, der fliegenden Bestie, die seine Flügel über das gesamte Spielfeld ausgebreitet hatte. Seine Diamanten besetzten Schuppen funkelten zwischen all den Scheinwerfern. Rin konnte sich nicht vorstellen, dass er den Drachen bewunderte. Dafür war sein Blick…teuflisch. Rin war sich nicht so sicher, ob sie den Grund dafür erfahren wollte.

"Mein Zug", zwischen zwei Fingern steckte die frisch gezogene Karte. Ein Lachen hallte durch das Stadion - laut, berechnend und durch und durch bösartig. Rins Gedärme zogen sich zusammen. Was war es, was diesen grünhaarigen Clown so zum Lachen brachte? Sie kannte niemanden, der seine Niederlage weniger reflektierte als Yoshihiko Taba.

"Oh, Rin", sagte ihr Gegner, kopfschüttelnd, dass seine zerzauste Mähne in allen Richtungen abstand. "Ich hoffe, du hast deinen Auftritt genossen. Das bisschen Erfolg kann einem ganz schön zu Kopf steigen."

"Du musst es ja wissen."

"Ach, du kleine Amateurin, du. Siehst einfach nicht, dass du dich maßlos überschätzt hast. Dachtest du wirklich, du könntest mich so einfach schlagen? Ein paar billige Tricks, ein paar nette Monster - im Vergleich zu meinem Deck ist dein Kartenhaufen ein Witz."

"Ich kenne nur einen, der hier ein Witz ist", knirschte Rin, die freie Hand zur Faust geballt. Ihr Gegenüber lachte ein weiteres Mal herzlich auf. "Da hast du recht, Mädchen", er riss die Augen auf, "also pass' jetzt genau auf. Ich spiele meine Karte." Er präsentierte die Zauberkarte. Die junge Frau hielt inne.

Gedankenkontrolle?!

Zwei riesige Hände schwebten in der Luft, packten den weißen Nachtdrachen am Kopf, dass dieser wie wild zu kreischen begann.

"Du weißt schon, dass Gedankenkontrolle nicht in der Lage ist, mein Monster zum Kampf zu zwingen."

"Wer sagt, dass ich deinen Weißen angreifen lassen will?" Yoshis Stimme klang verräterisch, sein Grinsen konnte kaum hämischer sein. Er labte sich an dem Anblick ihres Drachen. Wie er sich windete, obwohl er keine Chance gegen einen Zauber wie diesen hatte.

Was will er mit ihm. Er kann nicht angreifen, und eine Tributbeschwörung darf er bei ihm auch nicht vornehmen…

"Oh Rin", seufzte Yoshi, "auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet. Geduld ist eine Tugend, und meine zahlt sich jetzt definitiv aus. Ohne dass du es wusstest, habe ich deine Züge gelenkt. Die ganze Zeit war mir klar, was du spielen würdest und du hast auch noch meinen Köder geschluckt, hast brav Cocytus und deinen Drachen des Lichts und der Finsternis beschworen."

"Das meinst du doch nicht ernst."

"Aber natürlich, du falsche Kaiba-Kopie! Deine zwei nervigsten Monster solltest du gleich zu Beginn spielen, damit ich sie möglichst bald loswerden konnte. Cocytus ist gegen Effekte immun und dein anderer Drache kann Zauberkarten annulieren. Also musste ich warten. Warten, dass du meinen Köder schluckst, Drache des Lichts und der Finsternis aufgibst und zu deinem weißen Glitzerdrachen zurückkehrst. Der mag zwar gegen direkte Zauber geschützt sein, aber-" Er deckte eine weitere Zauberkarte auf, "durch Rückruf wird der Effekt deines Monsters zunichte gemacht. Auch wenn du dadurch eine Karte ziehen darfst, ändert das nichts an deinem unwiderruflichen Ende."

"Das glaube ich nicht", entgegnete Rin, die Augenbrauen zusammenziehend. Sie traute ihren eigenen Worten nicht, aber Bluffs gehörten in DuelMonsters zum guten Ton.

"Du wirst gleich noch an viel mehr glauben, Rin Yamamori", lachte Yoshi so laut, dass auch der Letzte von seiner Arroganz kosten durfte, "hier ist meine zweite Zauberkarte - Fusion!"

"Fusion?!"

"Was ist denn los, Yamamori? Kannst du dir denn nicht denken, was gleich passieren wird? Na dann werde ich dir ein wenig auf die Sprünge helfen." Damit präsentierte er eine weitere Karte.

Buster Klingenkämpfer?! Aber-"

"Und zusammen mit deinem Drachen", fuhr ihr Gegner ungehindert fort, dass Rin für einen Augenblick das Herz stehen blieb.

Unmöglich

Weißer Nachtdrache wurde von der Fusionskarte aufgesogen. Donner erfüllte den Saal, Blitze zuckten am Himmel, dass sämtlicher Lärm im Keim erstickt wurde. Angezogen von der Monsterzone ihres Gegners schlugen die Blitze auf den Boden ein, dass sie eine Spur aus langen, leuchtenden Fäden hinterließen. Aus ebendiesen Blitzen erhob sich Yoshis Kreatur. Ein Monster - aus Licht geschaffen, und doch von Kräften durchzogen, die nichts Gutes bewirkten. Der Krieger - eine Kreatur, verborgen hinter Metall und Gold. Die Rüstung sog das Licht der Naturgewalten ein, dass lediglich die Ränder in einem matten Blau gehalten wurden. Sonst war der Held in schimmernde Materialien gehüllt - zu wertvoll und erhaben, um sie mit einfachem Metall vergleichen zu dürfen.

"Heißen wir unseren Neuankömmling willkommen", Yoshis Stimme strotzte vor Selbstzufriedenheit, "Buster-Klingenkämpfer, der Drachenzerstörer-Schwertkämpfer." Ein langer Name, doch ein Wesen seines Kallibers hatte es verdient, dass sein Name zwei ganze Zeilen für sich beanspruchte.

Rins Atem setzte aus. Der erste Kontakt mit DuelMonsters Spitzenkarte versetzte auch jemanden wie Rin in Panik. Nicht nur, dass der Drachenzerstörer doppelt so groß wie die junge Frau war - sein Schwert konnte fast an Höhe mit der ihres weißen Nachtdrachen mithalten.

"Hat es dir die Sprache verschlagen?", Yoshis Stimme erinnerte die junge Frau daran, ihre Lungen mit Sauerstoff zu versorgen. Leise keuchende Atemzüge drangen aus ihrem Mund.

"Du dachtest wohl, Buster Blader würde deine größte Herausforderung werden - falsch gedacht! Keines deiner Monster ist Drachenzerstörer-Schwertkämpfer gewachsen; für jedes Drachemonster, das sich auf deinem Feld oder auf dem Friedhof befindet, erhält mein Krieger tausend Angriffspunkte. Wie gut, dass du so fleißig gesammelt hast - wie viele waren es doch gleich? Vier? Ha! Das ist dein Ende, Yamamori." 6800 Angriffspunkte - noch nie hatte Rin einem vergleichbaren Monster gegenübergestanden. Der Booster war gewaltig, und mit jedem weiteren Drachen, den Rin in den Kampf schickte, würde Drachenzerstörer-Schwertkämpfer noch mächtiger werden. Es gab kein Entkommen vor einem so gefährlichen Monster wie das ihres Gegners.

"Langsam scheinst du zu begreifen, dass ein Amateur wie du nicht hierher gehört", Yoshis Worte waren wie Giftpfeile, und sie trafen allesamt ins Schwarze, "du bist kein Champion und du wirst auch nie einer sein. Du magst vielleicht für den Augenblick ganz nützlich gewesen sein, aber für einen Profi braucht es schon mehr als einen weißen Drachen, ein hübsches Outfit und eine vorlaute Klappe."

Seine Gegnerin schwieg. Rin hatte nichts zu sagen. Das Fusionsmonster hatte sie aus der Bahn geworfen, das Schleudertrauma saß tief und so konnte sie lediglich zusehen, wie der große Bruder von Buster Blader seine Angriffspose einnahm.

"Oh, und ehe ich es vergesse", meinte der Grünhaarige und deutete nickend auf sein Monster, "mein Buster-Klingenkämpfer, der Drachenzerstörer-Schwertkämpfer hat natürlich noch eine zweite besondere Fähigkeit. Auch wenn er gegen ein Monster in Verteidigungsposition kämpft, wird dir die Differenz als Schaden zugefügt." Die Hände in die Hüften gestemmt lachte Yoshi noch einmal beherzt auf. "Aber bei deinem Gesicht, wusstest du das wohl schon…nun denn", er machte ernst, zeigte auf seinen Krieger und forderte ihn zum Angriff auf. Dieser Buster Klingenkämpfer war geschmeidiger als sein Namensvetter, die Klinge war kaum zu sehen, als sie mit dessen Besitzer losrannte.

"Du hast verloren, Yamamori!" Der Krieger holte aus, bereits jetzt ging eine Energie von dem Monster aus, welche Rins Beine zum zittern brachte.

"Ich decke meine Falle auf", ihr Ausruf ging beinahe unter, Klingenkämpfers Attacke war laut und gnadenlos, "Schadensdiät halbiert den Scha-", ein scharfer Wind brachte Rin aus dem Gleichgewicht. Die Füße in den Boden gestützt, die rechte Hand legte sich schützend vor ihre Augen. Obwohl Reese vor ihrer Herrin hockte, bekam Rin die geballte Macht des Drachenzerstörers zu spüren. Wie die Attacke selbst, rauschten ihre Lebenspunkte von der Anzeigetafel herunter als gäbe es kein Halten mehr. Neunhundert - mehr hatte der Krieger nicht übrig gelassen. Ein Hechtsprung und das Monster war zurück auf seinem Platz - bereit in der nächsten Runde den finalen Schlag auszuführen.

Das kann nicht sein…seit wann hat er diese Karte…so etwas Seltenes wie sie, ist…

Hilflos ging ihr Blick zu den verbliebenen Karten in ihrer Hand. Die Menge begann sich für sie aufzulösen, die Stimme ihres Gegners war wie das Rauschen einer gekappten Radioverbindung. Nur noch sie und die Karten waren existent. Das alles wirkte so unglaublich surreal.

Keines meiner Monster ist stark genug, um Drachenzerstörer-Schwertkämpfer besiegen zu können. Außerdem habe ich noch ein viel größeres Problem am Hals

Flüchtig sah sie zu Reese herüber. Die Eisherrin tat ihre Pflicht, eine unbesiegbare Kreatur für ein so starkes Monster wie den Klingenkämpfer. In diesem Fall schadete Reeses Effekt jedoch ihrer Besitzerin und einen weiteren Angriff von Drachenzerstörer-Schwertkämpfer konnte sie sich nicht erlauben. Alles, was sie vorzuweisen hatte, war ein toxisches Monster auf der Spielfeldseite und eine Fallenkarte in der Hand, die sie eine weitere Runde vor Busters Zorn retten könnte. Resigniert legte sie Angriff annulieren aufs Feld.

Die Welt war wie ausgelöscht, Drachenzerstörer-Schwertkämpfers Angriff glich dem einer Explosion, bei der zwei Welten aufeinander prallten, die eindeutig nicht zusammengehörten.

Erst trat das Licht in Wellen über das Stadion aus, ein Lichtblitz oder zwei, mehr waren nicht nötig gewesen, um hunderttausend Zuschauern die Sicht auf das Geschehene zu nehmen. Auf das Licht folgte der Knall - die Soundeffekte waren verblüffend echt, selbst Kaiba war überrascht, wie heftig die Umsetzung gelungen war, welch Dynamik das Ganze angenommen hatte. Für einen Augenblick war man taub und blind, ein paar Millisekunden, mehr nicht, doch für die meisten reichte es, um sich für den Rest seines Lebens daran zu erinnern. Kleine Sterne flackerten bei denjenigen, die solch extreme Lichteffekte nicht gewohnt waren, ein Epiphänomen, das in der nächsten Holo-Generation dringend behoben werden musste.

"Steht sie noch?", neben dem Älteren der Kaiba Brüder war Mokuba bis ans Gitter herangetreten. Die Sorge in seiner Stimme traf den jungen Firmenchef nicht mehr so wie zu Beginn des Worldcups, als er ihm wie der weinerliche Junge von sechs Jahren vorgekommen war. Dennoch hinterließ Mokubas Unsicherheit ein ungutes Gefühl, weswegen er nicht zum ersten Mal an die Ereignisse der letzten zehn Jahre zurückdenken musste. Dass er diesmal selbst kaum glauben konnte, was er da sah, hatte es tatsächlich nicht einkalkulieren können, die Momentaufnahme, nachdem Yoshihiko Tabas fulminantes Monster zum Vorschein gekommen war und Rin zum Schweigen gebracht hatte, war auch an dem jungen Firmenchef nicht spurlos vorbeigegangen, dass Mokubas Gefühlsausbruch mehr an ihm vorüberzog als dass er sich wirklich mit ihm befassen konnte. Nicht, weil Yamamori mit neunhundert Lebenspunkten am Scheideweg zwischen Sieg und Niederlage stand. DuelMonsters lebte von den knappen Entscheiden, den aussichtslosen Situationen und Rin Yamamori hatte es bisher stets hinbekommen, aus jedem ihrer Spiele einen Überraschungssieg zu zaubern. Diesmal fehlte jegliche Hoffnung. Es war der Blick, die Angst hinter der Fassade aus Kälte und Unnahbarkeit, welche ihn in Alarmbereitschaft versetzte. Die flackernden Seelenspiegel, in denen die Panik eingraviert worden war. Die Unabdingbarkeit einer unlösbaren Lage. Vielleicht sogar der Niederlage selbst. Ja, Buster Klingenkämpfer, Drachenzerstörer-Schwertkämpfer war ein mächtiges Geschöpf. Wer keinen Respekt vor DuelMonsters Elitekrieger hatte, hatte die Regeln des Spiels nicht verstanden. Nicht umsonst lag der Preis dieser seltenen Ghostrare Edition bei weit über einer Million - Dollar, wohlgemerkt.

"Das kann doch nicht sein, Seto", raufte sich der Schwarzhaarige Wuschel durch seine Mähne. Die Überbleibsel seiner Nervosität hatten seine Frisur am meisten zu spüren bekommen. Strähnen hingen ihm ins Gesicht, das von kleinen Schweißperlen bedeckt war. Der Rest seiner Haare stand unnatürlich ab, die Schwerkraft schien nicht existent und so nützte es nichts, als der Jüngere mit Zeige- und Mittelfinger einen improvisierten Kamm schuf und damit in einzelnen Partien herum stocherte. Wäre Kaiba nicht so in das Duell vertieft, Mokubas Marotte hätte ihn sicherlich ebenfalls nervös gemacht.

Weil Seto nicht sofort reagierte, wandte sich Mokuba ihm zu. "Wie ist Yoshi an diese Karte gekommen? Ich kann mit Sicherheit sagen, dass er letzte Woche noch keinen ultra aufgeboosterten Fusions-Buster in seinem Deck hatte."

Hatte er auch nicht.

"Die Karte ist rechtmäßig erworben worden", entgegnete Seto trocken. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schaute grimmig auf das Spielfeld. "Ein Sammler aus den Staaten hat ihm die Karte für einen unverschämten Preis verkauft, aber wie man sieht ist Taba jedes Mittel recht gewesen, um an seine ultimative Vernichtungsmaschine zu kommen."

"Du meinst jede Summe", knurrte Mokuba, "mit übertrieben starken Karten spielen und sein Geld zum Fenster rauswerfen - mehr hat er nicht drauf dieser…dieser-" Mokuba schlug auf die Metallstäbe der Absperrung ein, "das ist nicht fair."

"Doch ist es, Mokuba. Und das weißt du. Solange die Karte nicht auf die Banned-Liste gesetzt ist, kann Yoshihiko meinetwegen auch drei Drachenzerstörer-Schwertkämpfer spielen. DuelMonsters lebt schließlich von dem Ungleichgewicht einzelner Decks." Wenn es so einfach wäre, wenn der Preis eines Decks den Sieg über das Spiel entscheiden würde, wäre er noch immer die ungeschlagene Nummer eins und kein bunthaariger Winzling mit einer abnormalen Affinität zu Zuckerwatte- und Staubwedeln-Monstern. Nein, die Welt war nicht fair, und ein von Pegasus J. Crawford erfundenes Kartenspiel erst recht nicht. Man konnte nur das Beste aus sich herausholen - oder Mittelklasse-Spieler durch ihre Rare-Sammlung zur Besinnungslosigkeit prügeln.

"Es ist völlig egal", entgegnete Kaiba, "wie viele seltene Karten Yoshi noch kaufen wird, wenn Yamamori ihn nicht besiegen kann-"

"Stehst du jetzt etwa auf seiner Seite?", fiel ihm der Jüngere ins Wort. Etwas, das Seto überhaupt nicht von ihm kannte. Mokubas Wangen glühten, ob vor Zorn oder Verzweiflung konnte Seto nicht sagen, aber es zwang den jungen Firmenchef, seinem Bruder ins Gesicht zu sehen. Seine braunen, warmen Augen sahen den Älteren herausfordernd an, dass Seto versucht war, eine Augenbraue zu heben. Lediglich Mokubas Miene hielt den jungen Firmenchef davon ab, herablassende Bemerkungen zu machen. Auch ein wütender Mokuba Kaiba konnte zuweilen anstrengend sein und seinen Ärger wollte er nicht unbedingt provozieren.

"Du kannst mir doch nicht weismachen, dass es dir egal ist, wer gewinnt?" Manchmal hatte der Schwarzhaarige eine Art an sich, die Seto daran zweifeln ließ, dass der kleine Bruder über die traumatischen Ereignisse der letzten acht Jahre hinweg gekommen war. Irgendwas sagte ihm, dass Mokuba nicht allein Rin dort oben stehen sah. Dass er weit mehr in die Duelle hineininterpretierte als Seto lieb war.

Das Spiel gegen Yugi im Colosseum hatte den Jüngeren der Kaiba Brüder weitaus mehr verletzt, als Seto Kaiba sich vorstellen konnte. Seto wusste das, konnte nur nicht sagen, was er dabei empfinden oder gar darauf reagieren sollte. Gut möglich, dass Mokuba Parallelen entdeckte, die der Chef der Kaiba Corporation nicht einmal denken würde. Warum der Jüngere damals so niedergeschlagen und resigniert gewesen war, konnte sich Seto bis heute nicht erklären. Dabei hatte sich der junge Firmenchef nichts von der Schmach anmerken lassen. Er hatte nach vorne geblickt, so wie es seinem Naturell entsprach, und eigentlich sollte Mokuba wissen, wie Seto tickte. Er wusste, dass sein großer Bruder nicht ewig an der Vergangenheit hing und dass eine Niederlage nicht das Ende bedeutete - nicht, solange die Möglichkeit einer Revanche bestand. Die Augen zusammengezogen, sah er den Schwarzhaarigen an. Seto Kaiba war nicht gerade geübt, wenn es darum ging, Gefühle richtig zu deuten oder entsprechend darauf zu reagieren. Er tat, was er in einer Situation wie dieser immer machte - vom eigentlichen Problem ablenken.

"Du tust so, als wäre der Ausgang entscheidend, Mokuba. Aber Tatsache ist, dass ein Duellant der Kaiba Corporation in die Finalen Spiele einziehen wird. Alles andere interessiert mich nicht - dasselbe sollte auch für dich gelten. Das ist immer noch ein Wettkampf, nur die Stärksten überleben und wenn Tabas Fusionsmonster Rins Lebenspunkte auslöscht, ist das Spiel vorbei. So einfach ist das." Eine Lüge. Niemand geringeres als Seto Kaiba selbst wusste, dass Stärke auf viele Arten demonstriert werden konnte, und dass Kaibas langjähriger Tobduellant nicht die ehrenvollste Art gewählt hatte, um Rin seine Überlegenheit zu demonstrieren.

"Das glaube ich dir nicht, Seto", Mokubas Stimme konnte kaum überzeugter klingen, "ich weiß, dass du eigentlich Rin als Gewinner da oben sehen willst. Und soll ich dir sagen, woher ich das weiß?" Den Arm ausgestreckt, zeigte er auf die Bühne, zeigte auf die braunhaarige Duellantin, die weder ein noch aus wusste.

"Mokuba, es reicht!" Jetzt war nicht der passende Zeitpunkt, um Tacheles zu reden. Es war das Finale der Endrunden! Hundertausend verkaufte Sitzplätze, Ausstrahlung in fünfundzwanzig Ländern, fünfhundert Public Viewings, allein in Domino und Umgebung. Das war kein Duell, das war die verdammte High-End-Class! Und ja, zum Teufel, Seto wollte nicht dass dieser grünhaarige Schlumpf den Titel einsackte, und seit dem neuestem Stand wollte er noch viel weniger, dass Yoshihiko Taba die Kaiba Corporation in Kairo vertrat.

Wie ich Taba kenne, glaubt er, das Spiel ist gelaufen. Aber was denkst du, Rin?

"Nein, Seto, ich hab die Schnauze voll. Denkst du, ich lasse mich noch weiter von dir verarschen?"

Kaibas Blick schweifte ab.

Sein Drachenzerstörer-Schwertkämpfer mag kaum zu schlagen sein, aber auch er hat eine Schwachstelle. Sobald Rin die Monster ausgehen, kann Drachenzerstörer-Schwertkämpfer keinen Angriff deklarieren. Die Frage ist, wie sie Reese vom Feld bekommen will

"...denkst du, ich weiß nicht, was Sache ist?"

Rin würde wohl kaum ihre Monster verstecken und abwarten, dass einen von beiden die Karten ausgehen. Nein, das ist nicht dein Stil. Aber-

"...deinen heimlichen Treffen mit ihr? Ihr zwei arbeitet zusammen, schon seit Wochen…"

Im Moment weiß ich nicht, was sie tun wird. Rin ist völlig verstört. Wegen Yoshihikos Monster? Wohl kaum. Das kann nicht der einzige Grund sein

Ihr eigener Blick - hilflos und verzweifelt - brannte sich in seinen Kopf ein. Weil sie am Verlieren war? Sein Gefühl sagte ihm, dass Rin nicht der Niederlage selbst hinterher trauerte. Vielleicht eine Begleiterscheinung ihrer beiden DuelDiscs, dass er neuerdings zu Empathie neigte? Wie auch immer, er wusste, dass Rin nicht der Typ war, der mitten im Spiel das Handtuch warf. Wie die Augen über die einzelnen Karten wanderten, vergeblich nach einer Lösung suchten - die Rin, die er kennengelernt hatte, würde nicht so schnell aufgeben. Ihre Augen waren stets fokussiert und durchdringend gewesen. Die junge Frau hatte immer und immer wieder bewiesen, zu was sie fähig war. Dass sie mehr drauf hatte, als ein Standardrepertoire an Monster- und Zauberkombinationen herunter zu rattern. Sie war definitiv mehr als Yoshihiko ihr einzureden versuchte - oder die ganze Welt glauben mochte. Er wusste es einfach.

Ist es wegen deiner kleinen Freundin?

Egal wie er es drehte und wendete, er konnte nicht verstehen, wie die Worte eines Außenstehenden so eine Wirkung haben konnten. »"Sie ist wie eine Schwester"« War dem so? Hatte er die Gefühle der jungen Frau unterschätzt? Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie Rin für ihre Freundin eingestanden, ihr eigenes Leben riskiert hatte, um das der anderen zu schützen. Es fiel ihm schwer, die Bilder aus der virtuellen Welt abzustellen. Eine demolierte Rin, die nur knapp einer Horde Vergewaltigern entkommen war. Die alles gegeben hatte, um ihrer Freundin zur Seite zu stehen, ja, sich sogar selbst dafür geopfert hätte. Oder hatte sie ein derartiges Vertrauen in die Schwarzhaarige? Seto hatte ähnliche Bilder aus der Vergangenheit. Bilder mit seinem Bruder, wie er ihn vor den Schlägern des Kinderheimes gerettet hatte. Wie Seto selbst eine Schelte nach der anderen erduldet hatte. Unter den Armen ballten sich die Hände zu Fäusten. Er war wütend. Weniger auf Rin als auf ihre kleine Freundin. Sie war der Grund für Rins Rückschlag. Sie war schuld, dass seine Duellantin nicht mehr an sich glaubte. Und sie war schuld, dass er sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert sah.

"...also hör auf zu behaupten, dass dir der Ausgang des Duells egal wäre, wenn du doch eigentlich schon fest damit gerechnet hast, dass Rin das Ticket bekommen wird…Seto…? Hey, hörst du mir eigentlich zu?"

Nur am Rande bekam der junge Firmenchef den verdutzten Ausdruck auf Mokubas Gesicht mit, als er sich wortlos abwandte und aus der Halle marschierte.

"Wo willst du hin…? Seto…? Seto!" Mit weit aufgerissenen Augen starrte ihm Mokuba hinterher. Der weiße Mantel hob und senkte sich, er streifte ein paar seiner Securitymänner, die ihm augenblicklich Platz machten. Sie alle verstanden nicht, was mit dem mächtigen CEO los war, stellten jedoch keine Fragen, als er den VIP-Bereich verließ. Er musste etwas unternehmen. Wenn nicht als Duellant, dann

wenigstens als Verantwortlicher des Abends.
 

Aus den Augenwinkeln bemerkte Kaiba die Zuschauer, welche vor wenigen Minuten die Seite gewechselt hatten. Zu Beginn hatte Yamamoris Name das gesamte Stadion vereinnahmt, jetzt redeten sie über die junge Frau als wäre das Spiel von Anfang an aussichtslos gewesen.

"Keine Chance, dass sich das Blatt für sie wendet", redete irgendein Wicht in Reihe drei.

"Yoshi ist eben ein Champion", entgegnete ein anderer, "seine Krieger sind einfach die stärksten."

Ein Schnauben entfuhr dem jungen Firmenchef. Die Menschen waren alle gleich. Dumm und blind für das wahre Spiel.

"Warum hat sie nur Drachen in ihrem Deck?", sprach ein anderer am Rande der Zuschauerreihen. "Sie sollte doch wissen, dass sein Buster Blader ihrem Weißen haushoch überlegen ist."

Hören sich diese Spatzenhirne eigentlich selbst zu? Natürlich spielt Rin ihre Drachenmonster. Alles andere wäre feige und unehrenhaft. Nein, Rin würde ihr Deck nie aufgeben, und seit der kleinen Auseinandersetzung mit Wong würde sie wohl kaum ihre eigenen Prinzipien verraten.

"Es ist schon so, wie Yoshi sagt: Yamamori hat ihn unterschätzt", sagte eine krächzende Stimme, die Kaiba irgendwo schon einmal gehört hatte.

"Tja, dumm gelaufen, würde ich sagen."

Das Absperrband zur Seite geschoben drängte sich Seto Kaiba durch die hinterste Reihe, direkt in den Sicherheitsbereich. Die Stahlführ war nur mir Augenscan zu öffnen, ein rotes Flackern durchleuchtete die Iris und mit einem tiefen Signalton wurde die Identifizierung bestätigt. Ein Klacken und schon öffnete sich die Tür. Sofort schossen einem die Bildschirme ins Auge. Hundertfünfzig Kameras bewachten das Stadion, sowie alles Außenliegende. Für den restlichen Teil der Insel hatte Kaiba einen weiteren separaten Raum, aber in seinem Fall brauchte er nur diesen. Überwacht wurde das Ganze von etwa vierzig Mitarbeitern. Alles graumeliertes oder blondiertes Personal in perfekt sitzenden, weißen Anzügen. In ihrem linken Ohr das Headset befestigt, saß auf dem anderen das neueste Modell in Sachen In-ear Kopfhörern, das die Kaiba Corporation (nein, die ganze Welt!) zu bieten hatte. Sie redeten nicht, lauschten den Gespräche und starrten wie Roboter auf die Überwachungsvideos.

"Herr Kaiba", der Älteste von ihnen erhob sich und eilte auf seinen Chef zu. Seto wusste, dass er der Verantwortliche hier war, aber an seinen Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.

"Gibt es irgendein Problem?", stammelte der alte Herr und fasste sich durch seinen silbernen Bart. Ein paar Härchen erinnerten an die dunkelbraune Mähne von einst, an den Spitzen kräuselte sich der Bart in einem warmen Schokoton. Als er die Leitung übernommen hatte, war er noch nicht so grau gewesen, da war sich Seto sicher.

"Nein", entgegnete der junge Firmenchef stoisch, dass sein Mitarbeiter entspannt ausatmete. Wenn der Boss persönlich aufkreuzte, war das nie ein gutes Zeichen, schließlich war Seto Kaiba dafür bekannt, Entscheidungen schnell und effizient zu erledigen, und selbstverständlich gehörten Kündigungen auch dazu.

Im Hintergrund sah er die Techniker ihre Arbeit verrichten, niemand schien auf den Firmenchef zu achten, und wenn, dann versteckten es diejenigen hinter einer perfekten Maske aus Ignoranz und Teilnahmslosigkeit.
 

Erst neulich hatte es wieder einmal einen ausführlichen Personencheck gegeben. Nicht, dass Kaiba jemals einen Mitarbeiter ohne gründliche Recherche einstellte, doch seit Dartz Kaibaland unbemerkt betreten und auch wieder verlassen hatte, ohne auch nur irgendein Spur zu hinterlassen, war Seto Kaiba noch vorsichtiger geworden. Paranoia war in seinem Leben zur Selbstverständlichkeit geworden, es gehörte einfach zu seinem Job, dass er diesen Charakterzug gar nicht mehr hinterfragte.
 

"Ich brauche einen der Rechner", sagte Kaiba und schritt auch schon auf einen der Bürostühle zu. Ein junger Bursche zuckte zusammen, als ihn der junge Firmenchef aufforderte, aufzustehen. Das Headset fast vom Ohr gerissen, schaute er zu dem eins neunzig großen Mann hinauf. Trotz des Kopfhörers hatte er seinen Vorgesetzten sehr gut verstanden, die Miene war mehr als eindeutig und der Blick machte selbst den größten Deppen zum Gedankenleser. Er sprang regelrecht vom Stuhl, stammelte eine Entschuldigung und wartete scheinbar auf seine Entlassungspapiere. Als Kaiba jedoch den Platz in Anspruch nahm und einfach drauflos tippte, fühlte sich der junge Mann hilflos und vollkommen überfordert. Ein Couching in Sachen »Chef-verstehen« hätte dem Neuling nicht geschadet.

"Gehen Sie einfach", winkte Kaiba mit der linken Hand, während die rechte eifrig am Tippen war. Den Burschen nicht weiter beachtend, fuhr er wortlos fort. Hier ein paar Zahlen eingegeben, ploppten nacheinander vier Fenster auf. Buchstaben, maximal Schriftgröße sechs, ließen nur vage erkennen, was Seto Kaiba vorhatte. Fest stand, dass er die Kontrolle des vor ihm befindenden Bildschirms übernommen hatte. Die Nahaufnahme von Rin Yamamori, die er beim Betreten ausgiebig, wenn auch kaum ersichtlich, betrachtet hatte, verschwand mit der Übernahme des Rechners. Noch in den letzten Augenblicken hatten seine Augen die drei Karten in ihrer Hand erfasst.

Damit könnte sie die nächsten drei Züge durchkommen

Sicher war er sich nicht, aber er nahm, was er kriegen konnte.

Sobald das Bild verschwunden war, wurde es kurzzeitig durch einen einfachen Startbildschirm ersetzt. Kaiba kannte die Zahlencodes in- und auswendig, er wusste genau, welche Schritte nötig waren, um zu bekommen, was er wollte. In dem Fall wollte er Lösungen. Und wie es sich für einen Seto Kaiba gehörte, wurden diese schnell und rücksichtslosigkeit umgesetzt. Es dauerte nicht lang, da startete das gewünschte Programm. Er war kein großer Fan solcher Aktionen und eigentlich gehörten sie in die Schublade von Narzissten wie Zigfried oder seinem Idiotischen Stiefbruder, aber die Umstände machten es unmöglich, untätig sitzen zu bleiben. Also führte er das Hackingprogramm aus, verschaffte sich Zugriff auf Rins Mobiltelefon und suchte die passende Nummer heraus. Der zweite Teil war noch unkomplizierter, er musste lediglich einige Sicherheitslücken finden und das Ortungsprogramm seine Arbeit erledigen lassen. Nicht umsonst gehörten ihm einige der besten GPS-Tracking Softwares, sowie eine Reihe weiterer Spielereien, die das Leben und die Arbeit erleichterten.

Schnell noch die Daten auf sein Zweittelefon übertragen und schon erhob sich der junge Firmenchef. Das Bild wechselte zurück zu seiner Duellantin, nichts erinnerte mehr an den kuriosen Besuch des jungen Firmenchefs, dass man auch hier keine weiteren Fragen stellte, sondern einfach seinen Job erledigte.
 

"Mokuba", es hatte keine fünf Minuten gedauert, als Seto Kaiba wieder zurück an seinem Platz war.

"Seto, wo zur Hölle warst du?", immer noch perplex starrte ihn der Kleinere an.

"Hier", sagte der junge Firmenchef lediglich und überreichte seinem kleinen Bruder das Smartphone.

"Dein Telefon?"

"Rins kleine Freundin", raunte Seto und verschränkte wieder die Arme vor der Brust, "bring' sie her."

"Wie soll ich denn-", der Jüngere brach mitten im Satz ab, die Lokalisierungsdaten waren eindeutig, "woher hast du…ach, vergiss die Frage", der Jüngere seufzte, dann hellte sich sein Gesicht ein wenig auf.

"Also-",

"Mokuba", zischte Seto, "wir haben jetzt wirklich keine Zeit."

"Schon verstanden", Mokuba salutierte, dann sprintete er davon.

Special Chapter: Mokuba Kaiba

Sein Herz überschlug sich, er rannte und rannte, dass seine Lungen kaum hinterherkamen. Der Hals fühlte sich rau und kratzig an, als er durch den Hinterausgang flüchtete und schnurgerade weiter lief. Er erinnerte sich nicht, wann er jemals so schnell gewesen war. Als Kind war er gerne über den Spielplatz getobt, aber Seto hatte nie Gefallen an derartigen Aktivitäten gefunden, dass es Mokuba irgendwann hatte sein lassen. Seitdem war er nie wirklich sportlich aktiv gewesen. Für Sport fehlte ihm die Zeit, und wenn er ehrlich war, auch das Interesse. Da verbrachte er die wenigen freien Minuten doch lieber damit, seine Kopfhörer voll aufzudrehen und sich Hard Rock und Full Metal reinzuziehen - das sorgte wenigstens für keine Schweißperlen und hielt nervige Fans und Mitarbeiter vom Leib.

Jetzt gerade wünschte Mokuba, er wäre etwas fitter. Seine Beine schmerzten, die Waden fühlten sich weich und wabbelig an, und seine Arme schienen eher gegen als für ihn zu arbeiten. Mit dem Auto wäre es deutlich schneller gegangen, aber einen Wagen durch Kaibaland zu fahren, wäre einfach sinnlos. Das begriff er, noch bevor er das Stadion verlassen hatte.

Die Insel war voll, die letzte Fähre war neunzehn Uhr eingelaufen, danach hatte es ein Einreiseverbot gegeben - wegen »Überschreitung der maximalen Besucherzahl.« Noch nie hatte es einen vergleichbaren Ansturm auf Kaibaland gegeben, die Leute waren wie irre, wie sie zu Tausenden vor den Leinwänden standen, mitfieberten, als wäre es bereits das Finale des Worldcups. Gut, Seto hatte natürlich alles in die Wege geleitet, dass entsprechender Hype vorhanden war. Wann hatte sein großer Bruder schon einmal die Gelegenheit, zwei seiner Duellanten in der letzten Liveshow präsentieren zu können? Newcomer gegen langjährigen Profi - das Land war im >Duellwahnsinn<. Also hatte Seto für die nötige Publicity gesorgt, welche mehr als gut angeschlagen hatte. Die Ticketnachfrage war gewaltig gewesen, selbst die Themenparks waren ausverkauft; Restaurants und Kneipen der Kaiba Corporation konnten sich vor Kundschaft kaum retten und sogar das Café auf der gegenüberliegenden Seite des Firmengebäudes war für den heutigen Abend noch auf den letzten Drücker hergerichtet worden. Gerade verfluchte er den Andrang, die Menschenmassen, durch die er sich kaum durchzwängen konnte. Das einzige, was ihn ermutigte, war das Ziel. Lumina befand sich nur einige hundert Meter hinter dem Stadion. Es gab mehrere Public Viewing- Stationen, einige Verkaufsstände mit Duellanten-Merch und ein überdimensionales Glücksrad. Als er den roten kleinen Punkt auf der Map einordnen konnte, war er erleichtert gewesen. Rins beste Freundin war hier, ganz nahe, an einem der sechs aufgestellten Leinwände des Freizeitparks. Warum sie nicht gleich mit ins Stadion gekommen war, wusste der Schwarzhaarige nicht. Rin hatte ziemlich herum gedruckst, als Mokuba den Grund erfahren wollte. Lumina wäre zu beschäftigt wegen des baldigen Auslandssemesters und so weiter und so fort. Mokuba witterte eine unschöne Wahrheit hinter den Ausreden, hatte aber nicht weiter darin herumstochern wollen. Schon in jungen Jahren war der junge Kaiba darauf trainiert, gewissen Tabuthemen aus dem Weg zu gehen, und wenn Rin nur ein wenig wie sein großer Bruder war, würde sie bei einem Versuch der Konfrontation völlig abblocken. Alles, was Mokuba blieb, war das Vertrauen in ihre Freundschaft zu setzen. Egal, was die beiden Frauen zurzeit beschäftigte, wenn eine von ihnen in der Klemme steckte, würde die andere ihrer Freundin zur Seite stehen.
 

Mokuba nahm das Tempo herunter, seine Atmung ging flach, er war versucht zu husten, aber die Aufregung zwang ihn, sich zusammen zu reißen. Kurz beugte er sich nach vorne, legte die Hände auf die Knie und gönnte sich ein, zwei Atemzüge. Das sollte genügen. Die Jubelrufe und Anfeuerungen der Fans schnürten ihm die Kehle zu.

"Das kannst du knicken. Rin Yamamori wird niemals gegen Drachenzerstörer-Schwertkämpfer ankommen."

"Vielleicht blufft sie nur."

"Ich glaube nicht, dass sie das packt. Ein Anfänger in den Finalen Spielen…?"

"Und wenn sie wieder ein Ass im Ärmel hat?"

"Sowas wie Obelisk?"

"Wie cool wär' das denn?"

"Obelisk ist viel zu wertvoll. Nur Kaiba und Marik besitzen dieses Göttermonster…"

Die Stimmen überschlugen sich in seinem Kopf. Schnell erinnerte er sich, weshalb er hier war.

Er zückte das Smartphone seines Bruders, ein Zweittelefon wohl gemerkt, das er öfter für nicht ganz so saubere Geschäfte verwendete. Laut der Daten war Lumina Phoenix ganz in der Nähe.

Nicht weit von ihm erstreckte sich die Leinwand. Das Spiel war im vollen Gange, das Zittern um Mokubas Favoritin ging in die heiße Endphase.

"Halt noch etwa durch", flüsterte der Jüngere und hielt Ausschau nach einem schwarzhaarigen kleinen Wuschel. Mokuba seufzte. Lumina unter den Massen zu finden, würde eine Menge Zeit in Anspruch nehmen. Zeit, die er nicht hatte! Leichte Panik überkam ihn. Was wenn er Lumina nicht rechtzeitig fand, wenn Rin vorher die Verteidigung ausging oder - noch viel schlimmer - einfach resignierte?

Er schüttelte den Kopf. Ihm blieb nichts weiter als die Hoffnung, und wenn er seinen Grips ein wenig anstrengte, würde ihm schon noch eine Lösung einfallen. Vielleicht hatte das Sicherheitspersonal etwas gesehen? Mehrere schwarz gekleidete Männer waren auf der gesamten Insel stationiert. Ausgebildete Bodyguards und ausgezeichnete Wachleute - Seto begnügte sich nie mit Mittelmaß! Doch die Security waren auf Dartz und dessen Handlanger angesetzt worden. Eine junge, unscheinbare Frau würden die Männer nie beachten. Mokuba seufzte. Irgendetwas musste man doch tun können. Sogar jemand so schüchternes wie Lumina sollte zu finden sein… Moment. Der Schwarzhaarige hielt inne. Was hatte ihm Rin über ihre beste Freundin erzählt? Er sammelte die Fakten zusammen: Zum einen war Lumina schüchtern, sie liebte Hexer-Monster und hasste größere Menschenmassen. Der Jüngere der Kaiba Brüder drehte den Kopf von links nach rechts. Unwahrscheinlich, dass Lumina inmitten des Trubels steckte. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie einen ruhigeren Ort bevorzugte. Auf Kaibaland ein Ding des Unmöglichen, aber wenn Lumina hier war - und laut ihres Smartphones war sie das auch -, dann war es das Sinnvollste, im Außenbereich nachzusehen. Mit neuem Elan quetschte sich der Schwarzhaarige an Dutzenden DuelMonsters-Fans vorbei, denen es gar nicht auffiel, dass Mokuba Kaiba unter ihnen war. Die Luft, die er einatmete, als die Mengen sich langsam auflösten, war wohltuend. Ohne eine Verschnaufpause einzulegen, rannte er weiter. Immer mehr am Rand entlang, wo einzelne am Rauchen oder Kartentauschen waren. Langsam kehrte die Erschöpfung zurück, jetzt taten auch noch die Oberschenkel weh und die flachen Atemzügen waren zu einem tiefen schweren Keuchen geworden. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Den Kragen seines Hemdes hochgezogen, setzte er die Suche fort. Eine Träne rann das linke Auge hinab. Der Wind war beißend und die Scheinwerfer, welche die Insel erleuchteten, brannten ihm in den Augen. Er wischte sich den Tropfen von der Wange und hielt augenblicklich inne.

Was er beim Anblick der schwarzhaarigen Frau empfand, konnte er in dem Moment nicht sagen. Sein Herz pumpte so heftig das Blut in seine Adern, dass er meinte, seinen eigenen Puls zu hören. Ganz gleich wie viele Menschen um ihn herum versammelt waren, wie sie schrien und jubelten, kreischten und einander anlachten - sobald Luminas Haarschopf vor seinem Sichtfeld auftauchte, war seine Umgebung wie leergefegt.

"Lumina!" Allmählich kehrte die Gegenwart zurück. Mokuba schrie gegen die Menschenmassen, und tatsächlich, nach dem zweiten Anlauf, drehte sich die Frau um. Ihr Blick erstarrte, sie erkannte den Kleineren sofort, steckte die Hände in die Jackentasche und wandte sich zum Gehen ab.

"Halt! Warte", Verwundung und Panik packten den jungen Kaiba, er erreichte Lumina, noch bevor diese die Flucht ergreifen konnte, fasste sie am Ärmel und zwang sie zum Stehenbleiben.

"Ich kann jetzt nicht", nuschelte Lumina und drehte das Gesicht von ihrem Gegenüber weg. Sie wirkte zerknirscht und ein wenig angesäuert, aber vor allem entdeckte Mokuba Unsicherheit.

"Bitte", keuchte Mokuba, "ich habe nach dir gesucht."

"Warum?"

"Warum?!", Mokuba konnte nicht anders als entsetzt zu klingen. "Rin braucht dich. Ich bin hier, um dich abzuholen. Wenn sie dich sieht, dann-"

"Nein", kam es wie aus der Pistole geschossen.

"Ich", Mokuba wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte nicht mit Gegenwehr gerechnet. "Das kannst du doch nicht sagen." Mokuba wusste, dass er wie ein kleiner naiver Junge klang, aber gerade verstand er die Welt nicht mehr.

"Es ist besser so", entgegnete Lumina und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

"Besser?" Er wusste, dass er sich wie ein Papagei aufführte. Luminas Worte versetzten ihm einen unbekannten Stich. "Siehst du denn nicht, dass Rin völlig fertig ist? Sie braucht dich, Lumina! Sie braucht deine Unterstützung, sonst wird sie vermutlich verlieren."

Kurz wanderten ihre Seelenspiegel zu der Leinwand hinauf. Dann schüttelte sie mit zusammengekniffenen Augen den Kopf. "Vielleicht ist es besser so. Vielleicht braucht sie genau das - eine Niederlage."

"Wofür?", Mokuba riss die Augen auf, "denkst du, eine Niederlage gegen den da", er zeigte auf Yoshi, diesem breit grinsenden Obermacker, "glaubst du, eine Niederlage gegen ihn wird irgendwas besser machen?" Jetzt war es Mokuba, der mit dem Kopf schüttelte. "Keine Ahnung, was mit euch beiden los ist, aber du kannst mir nicht sagen, dass du willst, dass sie verliert."

Schweigen. Sie meinte es anscheinend ernst und Mokuba gingen die Argumente aus. Sein Herzschlag, der sich nur kurz erholt hatte, schnellte wieder nach oben. Er sah zu Rin, deren letzte Fallenkarte für einen knappen Konter gesorgt hatte. Viel war von ihrer Verteidigung nicht übrig geblieben, selbst ohne Reese, die Rin irgendwie losgeworden sein musste, stand es nicht gut für sie.

"Ich will", sagte auf einmal Lumina und brachte den jungen Kaiba dazu, zu ihr herunter zu sehen, "ich will, dass es aufhört, okay?"

"Das Duell?", fragte Mokuba, sichtlich verwirrt.

"Das alles", ihr Blick wechselte von verzweifelt zu stinksauer. "Ich-", sie ging einen Schritt zurück, brachte Abstand zwischen sich und Mokuba, dass der Jüngere nicht ausschloss, dass sie bei nächster Gelegenheit wegrennen würde. Doch Lumina blieb stehen. "Ich kann das einfach nicht", sie deutete nach oben, auf den Bildschirm, "ich weiß, dass sie ihr Leben riskiert. Dass ihr wehgetan wird…und weißt du, was das Schlimmste ist? Dass Rin genau weiß, was sie tut. Sie begibt sich freiwillig in Gefahr. Und wofür? Für ein Kartenspiel! Du kannst mir doch nicht weismachen, dass es das Wert ist." Die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt, nun wirkte Lumina wie ein ausgedörrter Fluss.

"Du hast Angst", sagte Mokuba schließlich, "denkst du, die habe ich nicht?" Er zeigte auf sich, auch in dem Jüngeren stieg die Wut auf.

"Aber sie ist meine Freundin! Sie…"

"Genau deswegen darfst du dich nicht von ihr abwenden", Mokuba wagte es, einen Schritt nach vorne zu machen. Lumina wich nicht zurück.

"Wenn sie meint, dass es besser für sie wäre, dieses kranke Spiel bis zum Ende durchzuziehen, dann kann ich nicht an ihrer Seite bleiben. Das ist zu viel für mich. Wenn ich Rin verliere…Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, hilflos zusehen zu müssen, wie jemand, den man liebt, sich in Gefahr begibt und man nichts unternehmen kann?"

"Ja", entgegnete Mokuba und ließ die Schultern hängen, "ich kenne dieses Gefühl sehr gut." Lumina verstummte, ihr Blick ging ins Leere. Die Hand an die Brust gedrückt versuchte sich der Schwarzhaarige zu sammeln. Sich gerade jetzt zu öffnen, würde sein großer Bruder wohl nicht begrüßen, aber es war nötig. Für Rin, und ein klein wenig auch für sich selbst. "Genau deswegen darfst du Rin jetzt nicht im Stich lassen. Ich weiß, was du durchmachst. Ich hatte die letzten zehn Jahre Angst. Das hört nicht auf, es wird niemals aufhören. Das ist DuelMonsters, das ist…", er schüttelte seine Mähne, "ich habe gesehen, was das Spiel mit einem macht. Ich habe gesehen, wie es zerstört, in den Wahnsinn treibt…aber es führt die Menschen auch zusammen. Gibt ihnen Hoffnung, lässt sie ihre Träume leben."

Lumina schnaubte. "Das dachte ich auch."

"Es ist wahr!", drängte der Jüngere, "aber wenn du dich dafür entscheidest, Rin aufzugeben, wirst du sie verlieren. Und nicht nur das; sie wird sich selbst verlieren."

Der Wind blies wie ein Wahnsinniger über die Insel, "ich weiß das, weil ich diesen Fehler schon einmal gemachte habe. Ich habe meinen Bruder an dieses Spiel verloren und dann…", er merkte nicht, wie er aufgehört hatte zu atmen, "dann fiel er ins Koma…nur weil ich nicht für ihn da gewesen bin. Weil ich zugelassen habe, dass er sich zurückzieht.

Es ist die Wahrheit, DuelMonsters bringt die Menschen zusammen, aber wer alleine kämpft und dann verliert, wird nie wieder derselbe sein." Die braunen Seelenspiegel flackerten trüb, Mokubas Hände zitterten und er blickte flehend zu seinem Gegenüber. Lumina machte nicht die Anstalten zu antworten.

"Lumina, bitte", flehte der Jüngere. Wenn es etwas gebracht hätte, hätte er auch darum gebettelt, dass sie endlich mit ihm käme. "Wenn Rin gegen Yoshi verliert und du bist nicht da, die ihr zur Seite steht…ich weiß, dass du es willst. Du hast Rin noch nicht aufgegeben."

"Du weißt gar nichts", grummelte Lumina und zog sich wieder ein Stück zurück.

"Ich weiß, dass du hier bist. Du siehst dir das Spiel an. Vielleicht kannst du dir einreden, dass eure Freundschaft vorbei ist, aber dein Herz weiß es besser. Also bitte", er faltete die Hände, er legte alles in seinen Blick hinein.

Lumina biss die Zähne zusammen. "Es-", sie schüttelte den Kopf, "es tut mir leid."

Es war soweit.
 

Sie durfte sich nichts vormachen. Illusionen waren trügerische Hoffnungen, für welche es keinen Platz in der Welt von DuelMonsters gab. Verzweiflung war da schon eher gefragt, ein Gefühl, in das man hineintauchen und vollends verschwinden konnte. Nur, dass Rin keine Verzweiflung verspüren wollte. Egal, wie sehr dieses Empfinden an einem nagte, es zu sich lockte und süße Versprechungen von Erleichterung säuselte, ihr Kopf wollte nicht aufgeben. Dabei war sie weit gekommen - bis in die Endrunden. Ein Neuling, dessen Namen niemand gekannt hatte, der ohne Beachtung durchs Leben geschritten war. Von dem niemand etwas erwartet hatte.

Vier Monate war sie unaufhaltsam nach vorne geprescht, hatte nie das Tempo gedrosselt, nie ihr Limit gezügelt. Ihre Siegerquote war einmalig. In einer Geschwindigkeit, die sonst Ausnahmetalenten wie Yugi Muto oder Ishizu Ishtar vergönnt gewesen war, hatte sich Rin bis in die erste Liga geboxt. Hatte alles erduldet, was einen »echten« Duellanten ausmachte. So viele virtuelle Duelle, so viele neue Herausforderungen - nichts erinnerte an die alten Zeiten, in denen die junge Frau von Minijob zu Minijob getingelt war, eine Absage nach der nächsten erdulden musste und wieder einmal enttäuscht vor ihren Sammelboxen eingeschlafen war. Der Worldcup hatte alles verändert. Eine winzige Chance, ein Zufall, ein flüchtiger Moment im Rad des Schicksals hatte ihr eine Möglichkeit aufgetan. Also hatte Rin gekämpft, hatte mit den Zähnen gefletscht und ihren Gegnern gelehrt, dass sie sie niemals hätten unterschätzen dürfen.

Dass sie es bis ins finale Spiel der Endrunden schaffen würde, hätte sich Rin nicht zu träumen gewagt. Noch vor ein paar Monaten hatte sie alles geben, sich nie unterkriegen lassen wollen, und war stets davon überzeugt gewesen, dass sie nicht viel brauchte, um glücklich zu sein. Dass sie sich geehrt fühlen konnte, überhaupt dabei sein zu dürfen. Eigentlich wäre es keine Schande, die erste Niederlage während des ersten finalen Duells einzustecken. Sie hatte bewiesen, dass sie das Zeug zum Duellanten hatte. Sie hatte die ersten Hürden gemeistert und keiner nähme es der jungen Frau übel, von einem Champion geschlagen worden zu sein. Warum also nicht mit Würde abziehen, Buster Klingenkämpfer, Drachenzerstörer-Schwertkämpfer seine Arbeit walten lassen und nach Hause gehen?

Ein Blick in die Augen ihres Gegners und Rin wusste, dass es keine Würde für den Verlierer gäbe. Yoshi hatte das Spiel unter seiner Kontrolle, verhöhnte die letzten Monate, die sich Rin mühsam aufgebaut hatte und setzte mit seinem Lächeln noch eins oben drauf. Nein, sie wollte nicht so knapp vor dem Finale aus dem Worldcup fliegen, schon allein, weil sie sich geschworen hatte, Yoshi zu besiegen.

Nicht einmal das schaffe ich. Am Ende bin ich nur das Mädchen mit der großen Klappe…

In ihrem Kopf ratterte es unentwegt. Diesen grünhaarigen Heini zu schlagen, hatte sie sich zur Aufgabe gemacht - nur wusste sie nicht, wie sie ihr Schicksal, diese unaufhaltsame Niederlage, noch abwenden sollte. Wie sie überhaupt noch das Ruder herumreisen konnte, wenn ihr Gegner Buster Klingenkämpfer hieß.
 

"Hartnäckig bist du ja, das muss man dir lassen", Yoshis Lachen hatte sich in Rins Nervenzentren eingebrannt. Ihr Kopf drohte zu platzen, die Konzentration war auf Maximum geschaltet, dass alles andere hinten anstehen musste. Allmählich drückten die Füße, das fast bewegungslose Stehen tat sein Übriges, dass Rin kurz vor einem Krampf stand.

Ohne auf die Bemerkung des Grünhaarigen einzugehen, blickte die junge Frau auf ihre Karten. Ein zusammengewürfelter Haufen unbedeutender Zauber und Fallen. In der richtigen Kombination mächtig, doch gegen Buster brauchte sie etwas weitaus Aggressiveres - und Effektiveres.

"Wenn ich raten müsste", redete Yoshi weiter, nachdem er seinen Zug begonnen hatte, "würde ich sagen, dir gehen die Ideen aus. Tja", er zuckte mit den Schultern, "so ist das, wenn man nichts Eigenes zustande bringt. Die Drachennummer ist eben nur was für echte Profis." Er legte zwei Karten verdeckt auf das Feld. "Ich kann es dir nur anbieten: gib' auf. Ich meine, du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass noch irgendein Wunder passiert", Yoshi schüttelte den Kopf, sein Lachen klang wie das eines Kleinkinds, das Schluckauf hatte. "Deine Verteidigung ist am Ende und sobald ich meinen nächsten Zug gemacht habe, wirst du dir wünschen, dass du auf Knien um Gnade gefleht hättest. Haha."

"In deinen Träumen", knurrte Rin und deckte ihre letzte Karte auf. "Ich spiele Auswanderungsprophezeiung! Sie erlaubt es mir, zwei meiner Monster vom Friedhof zurück in mein Deck zu mischen."

"Sinnlos!", Yoshi riss amüsiert die Augen auf, "selbst jetzt ist mein Klingenkämpfer noch unbezwingbar." Zweitausend Punkte schienen tatsächlich keinen Unterschied zu machen. Egal ob 6800 oder 4800 Atk - der Drachenzerstörer-Schwertkämpfer war jedem anderen Monster weitaus überlegen. Ganz zu schweigen davon, dass er das einzige Monster auf dem Feld war.

Die junge Frau reagierte immer noch nicht. Es war ihr gleich, was Yoshi sagte. Jeder weitere Spruch änderte nichts an der verzwickten Lage, an der Wahrheit, die wie Warzen aus seinen bissigen Kommentaren heranwuchsen. Stattdessen ließ sie ihren Gegenüber seine Überlegenheit ausleben. Ohne Konter verging dem Grünhaarigen schnell die Lust am Lachen und so dauerte es nicht lang, da hatte Yoshi genug.

"Dann wollen wir diese Runde mal beenden", entgegnete er und drängte Rin dazu, ihren Zug zu machen.

Was hab ich denn für eine Wahl

Sie legte die Hand auf ihr Deck

Selbst wenn ich in der nächsten Runde keine Monster beschwöre, werde ich dieses Spiel verlieren. Außerdem

Für einen Moment schloss sie die Augen.

Wie lange soll das so weitergehen? Ich kann mich nicht ewig verstecken. Irgendwann spielt er ein weiteres Monster oder…nein, ich will kein Feigling sein, ich will-

"Egal was du auch tun wirst", Yoshis Stimme drängte sich bis in ihr Unterbewusstsein, "im nächsten Zug schnappe ich dich!" Eine seiner verdeckten Karten begann zu blinken. Nicht einmal ihren Zug schien er abwarten zu wollen, als er auch schon die Main-Phase einläutete.

"Betrachte es als Geschenk", er offenbarte die Fallenkarte freilaufende Monster. Praktisch für diejenigen, die ohne Monster in die Verteidigung gingen. Aber im Augenblick gab es nur eine Spielfeldseite, die Buster schutzlos ausgeliefert war - und das war auch gut so.

"Pass' auf", rief er aus und erläuterte für den letzten Unwissenden seinen Plan, "ich beschwöre Edler Ritter-Schildträger. Aber nicht für mich, oh nein!" Rins Monsterzone leuchtete auf. Der Krieger erhob sich vor ihr und rammte mit voller Wucht seinen nutzlosen Schild in den Boden. Achthundert Angriffspunkte - Yoshi hatte wohl einen großzügigen Tag. Seine Laune war kaum zu toppen, er strahlte wie ein Kind an Weihnachten.

"Natürlich kannst du mein Monster nach Belieben opfern", er machte eine wegwerfende Handbewegung, "es ist völlig egal, was du unternimmst. Sobald mein Buster dich angreift, ist es endgültig gelaufen."

Er hat recht. Ich habe kein Monster in meiner Hand und selbst wenn ich eins ziehe, wird es nicht stark genug sein.

Sie krallte die Nägel in die Karten. Es gab ein leises, quietschendes Geräusch. Nägel auf einer Schultafel waren da noch harmlos, doch Rin empfand nichts, als ein Schauder ihre Haut durchbohrte.

Alle meine nützlichen Zauberkarten sind auf dem Friedhof. Ich kann nicht einmal Schildkrieger aufboostern. Selbst wenn ich wollte, kann ich nichts unternehmen. Bin ich…bin ich wirklich so schwach?

"Rin!"

Verdammt. Was soll ich tun? Was kann ich denn überhaupt noch tun?

"Rin!"

Egal, was ich auch mache, Yoshi hat genau die richtige Karte, um meinen Angriff zu verhindern. Der Typ hat es irgendwie geschafft, hinter meine Strategie zu kommen…Es ist wie verhext.

"Rin!!!"

Vielleicht muss ich mich damit abfinden, dass ich ihm nicht gewachsen bin. Vielleicht hat sie recht…vielleicht bin-

"Riiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin!!!!!!!!!!!!!!"

Aber…das-

Der schrille Schrei ließ ihren Kopf herumwirbeln. Wenn ihre Ohren schon nicht glaubten, was sie hörten, begriffen es die Augen noch weniger. Zwischen den Zuschauerrängen, genau dort, von wo Rin gekommen war, sich dem Stadion und der ganzen Welt gezeigt hatte, stand ihre beste Freundin. Die Haare ein einziges Krähennest, dazu die schwarze Jacke mit den unzähligen Nieten, die sie sich um die Hüften gewickelt hatte und selbst im Stehen nicht aufhören wollten, sich wie ein Glockenspiel hin und her zu bewegen - ja, das war ohne Zweifel Lumina. Dass sie um ihr Leben gelaufen sein musste, verrieten nicht nur die dunkelroten Wangen - oder die Atemzüge, die an eine alte Dampflok erinnerten.

"Rin!", kreischte Lumina ein zweites Mal und endlich begriff die junge Frau, dass ihre beste Freundin keine Illusion war. Ebenso wenig wie Mokuba keine Halluzination sein konnte. Der junge Kaiba stand nur unweit hinter Lumina, die Hände in die Hüften gestemmt, versuchte er wieder zu Atem zu kommen. Von wo die beiden gekommen waren, würde die junge Frau wohl nicht erfahren. Dass sie wie irre umhergelaufen sein mussten, sah selbst ein Blinder. Rin hatte nicht die Nerven, darüber nachzudenken, was die beiden ins Stadion geführt hatte, geschweige denn warum sie inmitten der Zuschauerränge, quasi in der Schlusslinie des Geschehens standen. Denn nicht nur Rin hatte die zwei im Visier. Im Stadion war es ungewöhnlich still geworden. Nicht die Art von Stille, die einen an den Tod erinnern soll. Da die Zuschauer einen Heidenlärm veranstalten, indem sie mit Rasseln und anderen improvisierten Instrumenten für Unterhaltung sorgten, blieb die Halle kein einziges Mal ruhig. Doch diejenigen, die einen Zusammenhang zwischen der fremden Schwarzhaarigen und der Duellantin sahen, hatten sich zurückgenommen. Verwunderte Blicke ruhten auf dem ungewöhnlichen Eindringling, und dass Mokuba Kaiba wie ein Beschützer hinter ihr stand, machte die Sache nicht gerade logischer. Natürlich war nicht jeder plötzlich zu der Erkenntnis gelangt, lieber mal den Mund zu halten, doch waren es genug, um Luminas Worte nicht im Sog der Massen ertrinken zu lassen. Auch Lumina schien bemerkt zu haben, dass sie erhört worden war. Sie wurde schlagartig ruhig, die lilanen Seelenspiegel flackerten nervös, als sie zu ihrer Freundin hinauf blickte, die sie mit diesem besonderen Ausdruck auf den Lippen musterte. Rin stand absolut neben sich, die Situation schien so abstrus, schon allein, weil Lumina dort stand - inmitten dieses Duellwahnsinns und so tat, als gäbe es die Menschen um sie herum nicht. Sie wusste nicht viel von den Beweggründen, die Lumina letztendlich hierher geführt hatten. Klar war jedoch, dass sie hier war, vor zigtausenden Zuschauern und jenem Millionenpublikum, das vor den Bildschirmen hockte und Rins Niederlage erwartete. Ihr menschenscheuer Flummi, umringt von Fans und Fanatikern - so stark hatte sich Lumina noch nie in Bedrängnis bringen lassen. Ihr war sehr wohl bewusst, was sich ihre Freundin gerade zumutete.
 

"Denk' ja nicht, dass du mir so einfach davonkommst", keuchte Lumina, sichtlich nach Atem ringend. Acht Jahre aktives Dauerrauchen hatten Lumina nicht gerade zum fittesten Menschen gemacht.

"Ich bin immer noch stinksauer auf dich", ihre Schreie waren wie Wellen, die erst langsam, dann immer schneller auf sie zukamen. Schließlich wurde sie von ihnen überrannt, dass alles um sie herum an Bedeutung verlor.

Es schienen Stunden zu vergehen, in denen sich die beiden Frauen in die Augen blickten. Ihre Blicke hatten schon immer mehr bedeutet, als ein Außenstehender jemals begreifen könnte, doch diesmal schienen Luminas Seelenspiegel eine verschlüsselte Botschaft zu enthalten, die Rin einfach nur noch dechyfrieren musste. Schließlich presste Lumina die Lippen zusammen, ihre Augen ließen Wut und Zorn aufflackern. "Aber", sagte sie und ballte die rechte Hand zur Faust, "aber wenn du gegen diesen arroganten Fatzke verlierst…dann werde ich dir das nie verzeihen! Hast du kapiert!?" Ihre Stimme bebte, ebenso die Nüstern - Lumina war ein einziger brodelnder Vulkan.

Rin riss die Augen auf.

"Wenn jemand diesen grünhaarigen Clown schlagen kann, dann du, Rin! Du hast schon Dutzende Male gegen Buster Blader gekämpft, du hast einen Paladin besiegt und obendrein meine stärksten Hexer-Monster ausgelöscht - du hast das Zeug zu gewinnen. Weil du Rin Yamamori bist - die beste Drachen-Duellantin, die es gibt. Und darauf lasse ich nichts und niemanden kommen. Das sage ich nicht, weil du meine allerbeste Freundin bist und ich dich unendlich lieb habe. Ich sage das, weil ich dich kenne. Ich weiß, wie du wirklich bist und, was noch viel wichtiger ist…ich weiß, wie du dich duellierst." Lumina holte tief Luft. "Also hör' endlich mit dieser Kinderkacke auf! Die Rin, die ich kenne, schmeißt nicht das Handtuch. Sie kämpft bis zum letzten fucking Atemzug. Deswegen…Tu es, Rin! Zeig' den Leuten, wer du wirklich bist", sie formte ihre Augen zu Schlitzen, "zeig' ihnen, wie die wahre Rin sich duelliert!"

"Lumina", hauchte Rin. Die Worte drangen in ihren Körper, sie spürte eine Wärme ihr Innerstes durchfluten und stieß leise die Luft aus.
 

"Ja, Rin", äffte Yoshi sie nach und verschränkte die Arme vor der Brust. Stimmt, ihn gab es ja auch noch. Rin nahm den Grünhaarigen gar nicht richtig wahr.

"Zeig' uns doch mal dein wahres Ich. Diese aufgesetzte Kaiba-Nummer wird allmählich langweilig. Niemand kauft dir diese Show mehr ab." Er lachte auf. "Als ob du die starke, eiskalte Duellantin bist. Die unbezwingbare Drachenbeschwörerin…dass ich nicht lache. Sieh' es endlich ein: Du bist bist nicht Seto Kaiba."

"Nein", entgegnete Rin kühl, "das bin ich nicht", die Augen weit aufgerissen, stierte sie ihren Gegner an. Die Seelenspiegel begannen zu flackern, jenes grelle Licht auszusenden, das sich viel zu lange versteckt hatte

Lumina hat recht. Wenn nicht jetzt-

Die linke Hand fuhr über ihren Zopf, in einer einzigen fließenden Bewegung hatte sie sich ihres Gummis befreit. Langes braunes Haar flatterte um die junge Frau, welche das virtuelle System mit jeder Faser ihres Körpers spürte. Falscher Wind blies ihr um die Ohren, blaues Licht durchströmte sie, als sie keinen Augenblick später den Mantel abstreifte und in den Zuschauerrängen verschwinden sah.

"Ich", fauchte sie, die Stimme so gefährlich wie ihr Blick selbst, "bin viel schlimmer!"



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Kommentare zu dieser Fanfic (25)
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Von:  Perle93
2022-10-15T18:11:24+00:00 15.10.2022 20:11
Ich freue mich immer wenn ein neues Kapitel kommt.
Von:  Perle93
2022-10-04T05:17:27+00:00 04.10.2022 07:17
Wie hast du deinen Hauptcharakter Rin Yamamori erschaffen?
Antwort von:  Lady_of_D
04.10.2022 08:12
In allen meinen erfundenen Charakteren stecken die Persönlichkeiten von Leuten die ich kenne...und ein bisschen auch von mir :D die Entwicklung des Charakters ergab sich in den Kapiteln
Von:  Perle93
2022-10-03T19:36:29+00:00 03.10.2022 21:36
Ich finde deinen Hauptcharakter Rin Yamamori manchmal unsympathisch. Das ist nicht böse gemeint, sei bitte nicht sauer.
Antwort von:  Lady_of_D
04.10.2022 08:10
Alles gut, im Grunde ist das völlig in Ordnung. Ich habe sie nicht mit dem Ziel erschaffen, sie super süß und nett darzustellen.
Von:  Perle93
2022-10-02T16:09:43+00:00 02.10.2022 18:09
Mir gefällt diese Geschichte und ich freue mich immer wenn ein neues Kapitel kommt.
Von:  Perle93
2022-09-18T14:25:02+00:00 18.09.2022 16:25
Wie viele Kapitel wird deine Fanfiction haben wenn sie fertig ist?
Antwort von:  Lady_of_D
18.09.2022 18:16
Das weiß ich noch nicht, aber die 100werde ich wohl schaffen :) das Turnier ist noch längst nicht vorbei
Von:  Perle93
2022-09-18T14:22:19+00:00 18.09.2022 16:22
Wie viele Kapitel wird deine Fanfiction haben wenn sie abgeschlossen ist?
Von:  Perle93
2022-09-03T13:27:55+00:00 03.09.2022 15:27
Woher hast du so viele Ideen für deine Fanfiction?
Antwort von:  Lady_of_D
03.09.2022 18:06
Wie gesagt, sehr viel Phantasie:D
Ich setze mich stark mit den Geschichten auseinander; denke darüber nach, was mir selbst gefallen würde zu lesen. Ich für meinen Teil liebe es, Kaibas eiskalten Charakter in Verbindung mit zwischenmenschlichen Beziehung zu bringen - ist für mich wie eine Herausforderung :D
Von:  Perle93
2022-08-31T17:19:48+00:00 31.08.2022 19:19
Wie kannst du so gut schreiben? Wie machst du das?
Antwort von:  Lady_of_D
31.08.2022 19:41
Gefühlt schreibe ich schon seit der Grundschule. Viel, viel lesen hilft, den Stil, der einem gefällt, erstmal kopieren, der eigene schleicht sich von ganz alleine ein. Wenn du magst, kann ich mal ein paar Tipps zusammenfassen, die ich aus meinem Studium mitgenommen habe.
Antwort von:  Perle93
31.08.2022 19:57
Ja bitte gib mir Tipps.
Antwort von:  Perle93
31.08.2022 22:21
Bitte gib mir Tipps.
Antwort von:  Lady_of_D
01.09.2022 15:25
Hab's als ENS verschickt, wurde etwas länger
Antwort von:  Perle93
02.09.2022 18:55
Vielen Dank.
Von:  Perle93
2022-08-31T16:51:31+00:00 31.08.2022 18:51
Ich mag deinen Schreibstil. Wie kannst du so gut schreiben? Ich will auch so gut schreiben wie du.
Von:  Perle93
2022-08-31T16:39:27+00:00 31.08.2022 18:39
Ich mag deinen Schreibstil. Wie kannst du so gut schreiben? Ich will auch so gut schreiben wie du.


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