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Spiel ohne Limit

von

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[13:56] von: Yamamori Rin, Mitarbeiter ID: 569

In Ordnung
 

Der junge Firmenchef steckte sein Smartphone zurück in die Hosentasche und wandte sich dem vor ihm liegenden Pult zu.
 

Er hatte für heute sämtliche Termine verschoben, dass er früher als sonst die geheimen Anlagen der Kaiba Corporation aufsuchen konnte. Auf seinem Planer hatten eh nur Pressemitteilungen und diverse Mitarbeitergespräche angestanden, die Kaiba getrost an einem anderen Tag erledigen konnte, dass ihm die Entscheidung nicht schwer gefallen war. Wenn er ehrlich zu sich war, konnte er die Tage sowieso kaum noch an etwas anderes denken, dass er sich neulich selbst dabei erwischt hatte, wie er den Gesprächen seiner Geschäftspartner nur mäßig folgen konnte. Es war lediglich Kaibas von Natur aus abweisender Art zu verdanken, dass dieser Fauxpas kaum weiter aufgefallen war.
 

"Irgendetwas Neues?", fragte Seto Kaiba seine KI, nachdem er sämtliche Schritte zur geistigen Entkopplung in die Wege geleitet hatte. Seit dem Viererduell ging er noch sorgsamer mit den Gerätschaften um, geradezu penibel checkte er sämtliche Systeme auf deren Funktionstüchtigkeit, und selbst die Dateien waren von Kaiba persönlich nach Sicherheitslücken durchsucht worden.

"Negativ", entgegnete seine KI,"das Programm konnte nach mehrmaligem Durchlaufen keinen Virus finden."

Das konnte nur bedeuten, dass sein System sauber war. Wenn das best entwickelte Virenprogramm nicht fündig wurde, konnte er sich sicher sein, dass Zigfrieds irrsinniger Plan wirklich gescheitert war. Dank seines Backups, das rund um die Uhr am Laufen war und der fortschrittlichsten Software, mit dem sich eine Firma rühmen konnte, würden nicht einmal Fanatiker wie Zigfried von Schroeder seinem System etwas anhaben können. Nur eines ließ ihn nicht los: der versteckte Raum inmitten seines Programms. Das Haus, das sich seit Rins erster Session bei ihm eingeschleust hatte. Wenn er keinen hundertprozentigen Zugriff darauf hatte, konnte er nicht ausschließen, dass seinem Virenprogramm ebenfalls der Zutritt verwehrt geblieben war. Um sich also absolut sicher zu sein, musste er zu jenem Haus zurückkehren. Wenn er an die letzten Male dachte, waren seine Versuche, sich durch die verschlüsselten Dateien durchzuarbeiten, fast vollständig gescheitert. Noch heute bereitete ihm diese Erkenntnis schlechte Laune; solange ihm Rins virtuelles Unterbewusstsein nicht erlaubte, sich uneingeschränkt im Haus bewegen zu dürfen, würde er sich wohl oder übel noch in Geduld üben müssen. Nicht gerade seine Stärke, aber wenn die Notwendigkeit es verlangte, würde er ausharren. Zumindest solange, bis sein System das Geheimnis dahinter entschlüsselte oder Kaiba sich selbst mit hilfe von DuelMonsters-Karten einen Weg bahnen würde. Zwischen dem Ärger, dem ihm diese Anomalie bereitete, musste er doch darüber schmunzeln, wie Rins Unterbewusstsein ihre Daten schützte. Ihm selbst wäre wohl eine ähnliche Idee gekommen, wenn er seine eigenen heiklen Informationen hätte verschlüsseln müssen. Der junge Firmenchef zog die Stirn kraus. Das eine Mal, in dem sie in Kaibas Erinnerungen vorgedrungen war, hatte er nicht vergessen. Egal, wieviel sie gesehen hatte - jede winzige Kleinigkeit war bereits zu viel und bedeutete einen Kratzer an seiner unantastbaren Festung der eisernen Stärke. Was auch immer die Gründe für die Verzerrungen seines virtuellen Raumes gewesen waren - es durfte kein weiteres Mal passieren. Wenn sich solche Fehler in der Endfassung seiner virtuellen Technologie wiederfinden würden, wäre das katastrophal - ganz zu schweigen von all den verdrängten Erinnerungen, die niemanden etwas anzugehen hatten und zu weitaus größeren Schwierigkeiten führen könnten, gelangten sie in die falschen Hände.
 

Den Helm aufgesetzt startete er das System. Er wollte keine weitere Zeit mit sinnlosen Überlegungen verschwenden, wenn er ohnehin zu keinem schlüssigen Punkt käme. Er ließ die Gedanken hinter sich und konzentrierte sich einzig auf den Countdown.
 

Sobald Kaiba wieder vor jener Hütte stand, überkam ihn dieses Gefühl des langsam voranschreitenden Kontrollverlustes. Dies hatte seit Jahren keiner mehr geschafft. Die Arme vor der Brust verschränkt, ließ er die DuelDisc an seinem linken Handgelenk erscheinen. Kaibas finsterer Blick richtete sich nach oben. Diesmal aus Vorsicht, denn aus dem Wissen, dass er seit seinem letzten Besuch nicht einen Schritt weiter gekommen war. Um sich daran zu stören, bliebe noch genug Zeit.

"Irgendwelche Anomalien?" Der junge Firmenchef sah zu dem Fenster, hinter welchem der braune Schopf Rin Yamamoris auftauchte. Wie die letzten Male schien die junge Frau wie angewurzelt auf dem Sofa zu sitzen, dass die Vermutung nahe lag, dass es sich um den selbsternannten Administrator handelte, der diesen Dungeon als sein Territorium abgesteckt hatte. Seine eiskalten Blicke liefen ins Leere.

"Soweit meine Informationen stimmen", antwortete seine KI, dass er sich ganz auf das Wesentliche konzentrierte, "scheinen keine Veränderungen innerhalb des Raumes stattgefunden zu haben."

"Ziemlich vage für eine KI, aber ich verstehe deine Bedenken", Kaiba sah auf die Tür. Dieselben Zeichen waren in das Holz geritzt, er musste also nur noch die richtige Karte ziehen und der Zutritt wäre ihm sicher. Kaiba hielt inne, bevor er langsam ein paar Schritte ging und schließlich direkt vor der Tür stehen blieb. Vorsichtig legte sich seine Hand um die Klinke. Er wusste zu hundert Prozent, dass es vorher keine gegeben hatte. Also wieso jetzt? Der junge Firmenchef kniff die Augen zusammen. Gerade noch hatte Mika ihm bestätigt, dass der Raum sauber geblieben war. Gleich zu Beginn auf einen möglichen Fehler zu stoßen, gefiel dem jungen Firmenchef überhaupt nicht. Wenn überhaupt hatte Kaiba damit gerechnet, erst im Haus fündig zu werden. Die Ausgangslage versetzte ihn in Alarmbereitschaft.

Vielleicht eine Falle. Habe ich etwa einen entscheidenden Punkt übersehen…? Nein, denk' nach. Wenn das Virus Rins virtuellen Raum eingenommen hätte, würden die Spuren anders aussehen.

"Mika", sprach Seto Kaiba und drehte sich um, als würde jeden Augenblick seine KI in Form einer menschlichen Gestalt hinter ihm erscheinen, "hat sich der Schlüssel für das Knacken der versteckten Codes geändert?"

"Negativ."

"Was ist mit nicht autorisierten Zugriffen?"

"In diesem Raum sind Sie, Seto Kaiba, der einzige mit nicht autorisiertem Zugriff."

Nicht die Antwort, die er hören wollte, aber er ging nicht weiter darauf ein. Schließlich war es seiner KI ausschließlich gestattet, korrekt auf seine Fragen zu antworten. Auf Kaibas Gefühle nahm sie keine Rücksicht. Obwohl er an jedem anderen Tag froh darüber war, wenn er nicht ständig mit Samthandschuhen behandelt wurde, hätte er diesmal auf ihre Direktheit verzichten können. Eigentlich erledigten diese Parts seine Untergebenen. Mit voller Inbrunst, dass es fast schon abartig war. Nicht selten übertrieben es die Angestellten, aus Angst, ihren Job verlieren zu können, dass sie jeden seiner Vorschläge in den Himmel lobten statt ihre eigenen Köpfe anzustrengen. Das ging sogar so weit, dass Kaiba den ein oder anderen deswegen schon gefeuert hatte, weil er dessen Geschleime nicht mehr ertragen konnte. Schließlich sollten seine Angestellten in der Lage sein, selbst zu denken. Wo bliebe denn sonst die Notwendigkeit, überhaupt jemanden für sich arbeiten zu lassen? Kaiba konnte nicht noch das Denken für hunderte von unselbständigen Volltrotteln übernehmen.
 

Mit einem Schnauben drückte er schließlich die Klinke herunter. Er hatte keine Wahl. Wenn er Antworten haben wollte, musste er das Risiko eingehen. Außerdem fürchtete sich der junge Firmenchef nicht vor einem Virus, das von einem dahergelaufenen Schnösel mit schlechtem Modegeschmack und noch schlechterer Frisur entwickelt worden war. Dass jemand seine Technologie zu sabotieren oder gar einzunehmen versuchte, war ja bereits ein alter Hut und würde ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten, sollte seine Technik weiterhin die Nummer eins bleiben (wovon der junge Firmenchef einfach ausging).
 

Ohne zu zögern riss er die Tür auf. Einen kurzen Blick in den Flur erhascht, dabei flüchtig die Details im Kopf durchgegangen, trat er schließlich ein. Noch immer traute er der Hütte nicht. Aber das hatte er schon bei seinem ersten Besuch nicht getan, dass er nicht wusste, wie er sein Misstrauen einordnen sollte.

Nichts deutet auf eine Veränderung hin. Die angewandte Grafik scheint noch mit 4K Raytracing zu arbeiten, das System läuft mit 240 FPS weiter...

Sobald er die eine Richtung einschlug, begegnete ihm die überragende Gestalt des schwarzen Magiers, dass ihm die Tatsache sogar ein müdes Lächeln entlockte.

Ich werde schon noch herausfinden, wie ich dich besiegen muss. Mir machst du nichts vor. Jemand wie Rin würde wohl kaum einen schwarzen Magier verschonen… selbst wenn dieses Monster für ihre Freunde steht

Er wandte sich der gegenüberliegenden Tür zu und steuerte den Wohnbereich an. Ein Knacksen ließ ihn innehalten. Es kam eindeutig aus dem oberen Stockwerk, dass er auf halbem Wege kehrt machte und stattdessen gleich auf die Treppe zulief. Die Vermutung lag nahe, das Rins optischer Double hier irgendwo herum streunte. Seit ihrer letzten Begegnung versuchte der junge Firmenchef näheres über sie in Erfahrung zu bringen, doch wie bei dem Rest des Dungeons reichten die Informationen nicht aus, um die gesamte Komplexität dahinter erfassen zu können.
 

Die Treppenstufen knackten - Schritt für Schritt - als drohten sie jeden Augenblick durchzubrechen. Auf der höchsten Stufe stehend blickte er in den menschenleeren Flur.

Wo hast du dich versteckt.

Seine Augen wanderten zu den Türen. Eine der Vorderen ließ ihn schief lächeln. Nur einen Spalt breit geöffnet war sie der einzige Eingang, der nicht verschlossen war. Kaiba brauchte erst gar nicht die anderen Türen zu probieren, um sich absolut sicher zu sein. Stattdessen steuerte er die zweite Tür von links an. Anders als die restlichen Türen war das darüber liegende Zeichen für >nein< von einer arabischen eins ersetzt worden. Zu deren Linken war ein Kreis eingeritzt, rechts daneben ein Dreieck. Der junge Firmenchef fasste zusammen:

Wenn die Antwort immer mit DuelMonsters in Verbindung steht, müssen die Zeichen für eine Karte stehen. Bisher hatte jede Karte eine Bedeutung.

Unter seinen Augen entstanden tiefe Schatten.

Verdammt! Die Tür, die sich beim letzten Mal öffnen ließ...

Er versuchte sie unter den zahllosen anderen Türen zu entdecken, nur konnte er sich einfach nicht erinnern, welche es gewesen war. Alle Türen sahen identisch aus. Wie konnte er nur einen derart fahrlässigen Fehler begehen?

Ich habe keine Karte vorgezeigt…und trotzdem…

"Wer von uns beiden spielt hier die Spielchen", Kaibas Stimme war ein leises Knurren als er zunächst nur durch die schmale Öffnung blickte. Der Raum - oder was auch immer sich dort verbarg - war so dunkel wie Kaibas selbst entwickelter Zwischenraum, der die Entkopplung zwischen Körper und Geist steuerte. Aber er war nicht mehr in seinem Bereich. Egal, wie sehr ihn die Tatsache Kopfschmerzen bereitete, er musste sich vorerst damit abfinden. In diesem Teil des virtuellen Raumes galten andere Regeln - weniger logisch und rational, wie Kaiba es gewohnt war.

Was würdest du tun?

Er hielt inne. Es gefiel ihm nicht, so viel über die junge Frau nachzudenken, noch dazu mit solch einer Selbstverständlichkeit.

Die Lippen gekräuselt riss er einfach die Tür auf und schritt hindurch. Zunächst lief er eine Weile ins Leere. Das erste, das ihm in den Sinn kam, war eine Flasche Wasser zwischen den Lippen. Kaiba wusste erst nicht warum, als er seine trockene Kehle spürte. Das Gefühl war so stark, dass er kaum richtig schlucken konnte. Er fasste sich an den Hals. Sein Mund öffnete sich. Ein Stöhnen drang aus ihm. Der junge Firmenchef blieb stehen, schnappte nach Luft und beugte den Oberkörper nach vorne. So stark war er schon lange nicht mehr aus der Puste gewesen. Das letzte Mal in der Oberschule. Den Grund ließ er in einer abgestaubten Kiste im tiefsten Fach seines Unterbewusstseins. Jetzt über Vergangenes nachzudenken, führte zu sich.
 

Es dauert etwas, bis ihm bewusst wurde, dass er sich längst nicht mehr in der Dunkelheit befand. Unter seinen Füßen sammelte sich Kies, der aus einer löchrigen Tonne heraus rieselte. Kaiba richtete sich auf. Er war in einer Seitenstraße. Irgendwo in Domino City. Das erkannte er an dem rotbraunen Hochhaus, das in südlicher Richtung zwischen weiteren Blockhäusern hervorlugte.

Was hatte er hier zu suchen? Nur widerwillig setzten sich seine Beine in Bewegung. Nicht Kaiba war es, der nicht weitergehen wollte. Dieses fremde Gefühl in ihm, das sich dem mächtigen CEO erneut aufzudrängen versuchte, ließ ihn mühsam vorwärts kommen. Nicht, weil er hier stehen bleiben sollte. Es war etwas anderes. Unsicherheit. Kein Empfinden, das für gewöhnlich in dem jungen Firmenchef innewohnte.

Wen haben wir denn hier?" Kaiba kannte die männliche Stimme nicht, aber sie kam aus einer anderen Seitengasse, nicht weit von ihm. Endlich setzen sich seine Beine in Bewegung. Durch die Seitenstraße in Richtung einer weit abgelegenen Gasse. Obwohl es mitten am Tage schien, drangen zu ihr kaum Sonnenstrahlen durch. Um die kleine Gruppe, die am anderen Ende der Gasse versammelt war, zu bemerken, brauchte es kein Licht. Langsam näherte er sich der Gruppe. Da er der einzig Echte in diesem virtuellen Raum war, brauchte er sich auch nicht zurückhalten. Niemand würde ihn sehen können, niemand sich an seiner Präsenz stören. Er war Zuschauer eines verworrenen Traumes - anders ließ sich das Gefühl nicht beschreiben.

Auf halber Strecke hielt er inne. Wegen des schwarzen Wuschels, der von den Männern in die Enge getrieben worden war.

"Mokuba?!" Er konnte nicht anders. Sein Verstand setzte aus, sobald das Bild seines kleinen Bruder vor seinem geistigen Auge erschien. Ohne nachzudenken rannte er los; auf die Gruppe zu.

"Was hat das zu bedeuten-" Der junge Firmenchef blinzelte. Sein Geist hatte ihm einen Streich gespielt. Das war nicht Mokuba. Der schwarzhaarige Schopf gehörte einer jungen Frau. Oder wohl eher einem Mädchen, wie Kaiba auf den zweiten Blick feststellen musste. Je länger er in die lilanen Augen sah, umso sicherer war er sich, dass sie Rins Mitbewohnerin war. Deutlich jünger und kleiner, wobei Zweites auch nur eine optische Täuschung sein könnte. Die Kerle, die sie eingekesselt hatten, waren allesamt groß und muskulös. Sechs ausgewachsene Männer, die das Mädchen belagerten. Es war klar, dass sie sich nicht freiwillig zu einem Plausch getroffen hatten. Das Mädchen hatte sich so klein gemacht, dass ihr zitternder Körper wie ein zusammengekauertes Knäuel an die Wand gedrückt wurde.

Na, Schnecke, von wo kommst du denn her?"

"Seht euch mal die Haut an." Jemand fasste nach ihrem Gesicht. Die Schwarzhaarige ließ es über sich ergehen. Sie schien wie erstarrt. In Kaiba verkrampfte sich alles. Ihm war das Mädchen egal, aber sein Innerstes sagte ihm etwas anderes. Angst und Zorn vermischten sich. Er kannte dieses Gefühl, wusste, was es hieß, jemanden, der einem etwas bedeutete, beschützen zu wollen. So wie sie sich zusammenrotteten - genau wie die großen Jungs damals, die Mokuba drangsaliert hatten; ganz zu Anfang als sie in das Waisenhaus gekommen waren. Seine Augen wurden zu gefährlichen Schlitzen. Daran erinnert zu werden, war das letzte, was er wollte. Aber er konnte es nicht verhindern. Die schwarzhaarige Gestalt vor ihm ließ ihn immer wieder an seinen kleinen Bruder denken.

Das muss an diesem Gefühl liegen…Rin, was geht gerade in deinem Kopf vor!?

Er fasste sich an die Schläfe.

"Magst du uns nicht ein bisschen mehr von deiner Haut zeigen?" Einer von ihnen begann an den Knöpfen ihrer Bluse zu spielen, dass die bebenden Lippen der Kleinen sich krampfhaft zusammenpressten.

"Nicht so schüchtern," säuselte ein anderer, dass die Kerle zu lachen begannen.

"Komm' schon, zeig' uns deinen hübschen Körper"

"Das reicht" murmelte jemand in Seto Kaibas Ohr.

Diese Stimme

Der junge Firmenchef drehte seinen Kopf als bereits eine Schultasche an ihm vorbeiflog und einen der Kerle an der Schläfe erwischte.

"Hey! Lasst sie in Ruhe!", brüllte die jüngere Version Rin Yamamoris. Er hörte ihr Zittern heraus, die Augen flackerten aufgebracht. Mit zur Faust geballten Händen stand sie mehrere Meter von der Gruppe entfernt. Die Kerle drehten sich um, nahmen das Mädchen nicht ernst. Warum auch? Zwar lag Rins Körpergröße über den weiblichen Durchschnitt, doch nichtsdestotrotz war sie bloß eine Schülerin von fünfzehn oder sechzehn Jahren. In den Augen der Männer war abzulesen, dass sie Rin nur als weiteres gefundenes Fressen sahen.

"Deine Freundin?", fragte einer von ihnen und setzte ein breites Lächeln auf.

"Lasst sie gehen", sie atmete flach. Vielleicht war sie eine Weile ziellos umhergeirrt, hatte nach ihrer Freundin Ausschau gehalten und war schließlich los gerannt, als ihr klar wurde, dass etwas passiert sein musste. Ob sich ihre Kehle auch so trocken anfühlte?

"Willst du uns etwa drohen?" Die Männer drehten sich von der Wand weg, dass die zierliche Gestalt aus dem Fokus der Menge genommen wurde.

Das war sicher ihr Plan.

Rin hatte die Aufmerksamkeit der gesamten Gruppe.

"Wenn ihr euch mit jemanden anlegen wollt", etwas erwachte in ihr, der Blick veränderte sich, "dann mit mir". Das Funkeln ihrer Augen war jenes, das Gegner in die Knie zwingen konnte. Stünde sie nicht in ihrer braven Schuluniform, ohne DuelDisc vor den Männern, die sich über ihr loses Mundwerk zu amüsieren schienen, hätte sie sicherlich Respekt eingeflößt.

Was hast du vor, Yamamori?

Langsam griff ihre rechte Hand nach einem langen, schmalen Gegenstand. Sobald die einzelnen Finger es umklammerten, war der Metallstab deutlich zu erkennen. Jetzt sah Kaiba die restlichen Stäbe, die sich zu hunderten am Wegesrand gestapelt hatten. Seine Augen traf die Erkenntnis wie einen Blitzschlag.

Sie wird doch nicht...

Das Mädel will also ernst machen?, der erste nahm sich einen Stab. "Sollst du haben!"

Daraufhin brachte sich Rin in Position. Die Waffe nach vorne ausgestreckt, beide Füße parallel zum Gegner, dass der Linke ein Stück weit hinter ihm lag, hatte sich Rin in die Grundstellung begeben.

Und wie sie ernst macht

Ihr Blick sagte alles. Sie war zum Kampf bereit - körperlich wie mental. Nur die Idioten vor ihr begriffen nichts.

"Wer nicht hören will-" Der Kerl stürmte einfach drauf los - den Stab wie ein Neandertaler die Keule schwingend. Kurz bevor er das Mädchen erreichte, bewegte Rin den Stab, dass er auf Augenhöhe war. Ein schneller, präziser Schlag traf die linke Schulter. Rin sprang zurück und befand sich wieder in ihrer Ausgangsposition, während ihr Gegner in Richtung Wand taumelte, dabei zu brüllen begann, dass die Mauern unnatürlich zu scheppern begannen.

"So ein Miststück", er klappte nach links weg, hielt sich die Schulter und unterdrückte jeden weiteren Schmerzensschrei. Das Lachen der anderen verstummte. Die Nächsten griffen nach den Waffen und näherten sich Rin, die ihre Gegner ins Visier nahm. Ein Gleitschritt, dabei Stab und Körper leicht nach rechts gedreht, schlug sie erneut zu. Ihre Bewegungen waren schnell, dass der Stab mit ihren Händen verschmolz. Die Schläge hart und kontrolliert, wie es nur einem geübten Geist vergönnt war. Einen erwischte es am Handgelenk, der andere kam mit einem Schlag an der Schulter davon. Der junge Firmenchef war sich sicher: wenn Rin wirklich ernst machen wollte, hätte sie ihre Köpfe getroffen, statt nur knapp daran vorbei zu zielen. Es war offensichtlich, dass sie sich beherrschte - ganz dem Kodex des Kampfsports verschrieben.

Großer Fehler, Yamamori. Mit Barmherzigkeit kommst du nicht weit.

Der erste schaffte es, Rins Schlägen auszuweichen. Ein Weiterer parierte den Stab, während sein Kamerad sich hinter sie gepirscht hatte und mit voller Wucht auf ihren Rücken einschlug. Rins Kopf ging in den Nacken, sichtlich rang sie nach Atem. Dass sie nach solch einem Treffer noch auf den Beinen stand, konnte nur bedeuten, dass es sich bei dem Material der Stangen nicht um Eisen handeln konnte. Vielleicht hartes Plaste. Umso erstaunlicher, dass Rin mit einer Spielzeugwaffe solche Schläge austeilen konnte.

Derselbe Kerl packte Rin am Kragen, dass sein Vordermann leichtes Spiel hatte und das Mädchen entwaffnete. Die Spitze des Stabes rammte er in ihren Magen. Rin krümmte sich, biss die Zähne zusammen um nicht aufzuschreien. Zwei dicke Tränen kullerten die Wangen entlang. Wie weich und kindlich das Gesicht auf einmal wirkte. Für den jungen Firmenchef eigenartig, sie so zu erleben. Andererseits konnte er den Blick nicht von ihr abwenden. Trotz all der Schmerzen versuchte sie ihre Würde zu bewahren, dass Kaiba leichte Bewunderung für sie empfand. Selbst die meisten Kerle, die er kannte, wären heulend zu Boden gegangen. Die junge Frau war also schon damals nicht kleinzukriegen gewesen. Nun, da sie es war, die von den Kerlen, die noch stehen konnten, umzingelt wurde, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Niederlage hinzunehmen.

"Das hast du davon, wenn du dich so aufspielen musst." Der Hintere zog an ihren Haaren.

Kaiba merkte nicht, wie er die Hände zur Faust ballte.

Rin biss sich auf die Unterlippe. Nicht mehr lange und die Männer würden sie brechen, das sah er ihrem Blick an.

"Du wirst jetzt brav den Platz deiner Freundin einnehmen," grinste sie ein anderer von vorne an, "die hat nämlich schön die Fliege gemacht. Solltest beim nächsten Mal zweimal überlegen, ob du für sie den Kopf hinhalten willst." Er schob den Stab unter ihrem Rock. Rin starrte zu ihrem Gegenüber. Das Feuer in ihren Augen war noch nicht ganz erloschen. In Seelenruhe machte sich der Kerl daran, ihren Rock weiter anzuheben, als sich Schritte näherten. Kaiba blickte in die Richtung, aus der sie kamen. Zwei Polizisten, sowie das schwarzhaarige Mädchen kamen herbeigeeilt. Abrupt ließen die Kerle von Rin. Diejenigen, die noch laufen konnten, flohen. Weit würden sie wohl nicht kommen. Einer der Polizisten nahm sofort die Verfolgung auf, der andere rief Verstärkung und knöpfte sich die Restlichen vor. Die Szene verschwamm vor Kaibas Augen. Es rauschte in seinen Ohren. Punkte tanzten vor seinem Gesicht. Straßenlärm von allen Seiten machten jedes weitere Wort zu einem kreischenden Durcheinander.

"Warum?, hörte er Rins Freundin durch all das Chaos hindurch. Allmählich konnte er wieder klar sehen. Die beiden Mädchen saßen am Straßenrand, in der Seitenstraße, in die Kaiba zu Beginn geführt worden war. Rin hatte Mühe zu lächeln. Leicht gekrümmt stupste Rin die Schwarzhaarige von der Seite an. Daraufhin drückte diese die Hände vors Gesicht und begann lauthals zu schluchzen. Wie ihr Gesicht gänzlich unter dem schwarzen Schopf verschwand, von dem sich Strähne für Strähne nach vorne geschoben hatte, sah Kaiba wieder seinen kleinen Bruder vor sich. Wie er sich wimmernd an den Älteren geklammert hatte, nachdem die bösen Jungs reißaus genommen hatten. Anfangs war auch Seto gegen eine Bande von überlegenen Mistkerlen angetreten, die ihn ordentlich vermöbelt hatten. Nie waren ihnen Erwachsenen zur Hilfe gekommen, der junge Firmenchef hatte sich immer nur auf sich selbst verlassen müssen.

Warum zeigst du mir das alles?

Er sah zu den Mädchen hinab. Seine Augen durchbohrten Rin, die der Schwarzhaarigen über die Schultern strich.

"Warum hast du das getan?", schluchzte die Kleine und schüttelte den Kopf,

"das war viel zu gefährlich, die Kerle hätten dich…" Sie brach ab, wollte wohl die Tatsache verdrängen, dass sie nur knapp einem ernsten Trauma entkommen waren.

"Lumina", murmelte Rin. Ihre Stimme klang gedrückt, sie atmete schwer. "Du bist meine beste Freundin. Ich lass' dich nicht im Stich. Egal, was passiert."

Ihre Sitznachbarin sah auf. Ihr Tränen verschmiertes Gesicht drehte sie zu Rin. Die Gesichter lösten sich auf, die Umgebung folgte, bis er schließlich vor der offenen Tür stand.

Der junge Firmenchef schnaubte. Wenn Kaiba etwas nicht ausstehen konnte, dann eine Predigt über Freundschaft ertragen zu müssen. Kaum vorstellbar, dass Rin ihm etwas über die Macht der Freundschaft - wie er diesen Spruch hasste! - beibringen wollte. Sie machte doch sonst kein Spektakel um ihre Freunde; den bekannte Kindergarten-Cheerleader-Club hatte sie ihm glücklicherweise erspart.

"Mika", rief er. Keine Antwort. Kaiba hatte nicht bedacht, dass seinem System innerhalb der Hütte keinen Zugang gewährt wurde - einschließlich seiner KI, die er sonst immer um sich hatte.

Er stampfte die Treppenstufen herunter. Es war genug für heute. Der Tripp durch Rins Vergangenheit hatte ihn zu viel Kraft gekostet, dass er seinen Geist nicht weiter strapazieren wollte. Aus dem Haus geschritten rief er erneut nach seiner KI, dessen Präsenz erst außerhalb der vier Wände wieder spürbar wurde.

"Ist Rin Yamamoris DuelDisc zurzeit in das System der Kaiba Corporation eingeloggt?"

"Negativ. Der letzte Login fand sieben Uhr dreiundvierzig statt."

"Ich hätte schwören können, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Login und diesen Bildern gibt", sprach er zu sich selbst und ging in Gedanken die letzten Ereignisse durch.

Hinter jeder verschlossenen Tür werden sich Teile ihrer Vergangenheit befinden. Aus irgendeinem Grund erhalte ich eingeschränkten Zugriff auf die Daten. Ob das von Rin selbst beeinflusst wird? Eigentlich unmöglich, wenn sie nicht wenigstens mit dem System der Kaiba Corporation verbunden ist. Dafür müsste schon ihr Gehirn in den virtuellen Raum kopiert werden-

"Ich brauche sämtliche Verläufe, in denen Yamamori in das System eingeloggt war. Wir müssen schleunigst einen Zusammenhang zwischen ihren Aktivitäten und denen des virtuellen Raumes finden. Es kann nicht sein, dass das System macht, was es will."

"Verstanden", antwortete seine KI, "ein Verlaufsprotokoll wird erstellt. Möchten Sie, dass ich es Ihnen über Ihren Hauptrechner schicke?"

"Ja. Und kümmere dich um das Problem mit den Verschlüsselungen."

"Das Programm zur Entschlüsselung arbeitet bereits daran."

"Gut", sagte er, obwohl er alles andere davon überzeugt war



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