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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Helena

Am anderen Morgen erwachte sie mit einem Kribbeln in der Unterlippe. Sie fluchte leise, am Abend zuvor nicht mehr daran gedacht zu haben, sich die Heilsalbe prophylaktisch aufgetan zu haben. Ja, sie hatte es einfach vergessen – so euphorisch, wie sie sich gefühlt hatte. Denn zum ersten Mal seit langem spürte sie da wieder etwas in sich – ja, und was hatte es ihr eingebracht? Einen Herpes, der nun schnell der Behandlung bedurfte. Momente später stand sie im Bad, starrte sich im Spiegel an, fuhr sich mit den Fingern über die Unterlippe. Als Mädchen hatte sie sich zum ersten Mal angesteckt beim allzu sorglosen Küssen, damals noch Knutschen genannt, und nun? Tja, nun eben wieder. Gleichwohl gewarnt, hatte sie ihrem Bauch nachgegeben und nicht von Jakob, der Virenschleuder, lassen können. Sie gestattete sich ein Schmunzeln, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach war. Und nun? Was nun? Sie wollte darüber nicht nachdenken. Denn so, als wären die sich leise ankündigenden Bläschen noch nicht genug, spürte sie ein nicht unerhebliches Spannen in den Brüsten. Je älter sie wurde, desto penetranter kündigte sich die Periode an. Und wenn sie dazu noch an diese impertinenten Hitzewallungen dachte, die nur darauf zu lauern schienen, sie in allen möglichen und unmöglichen Situationen zu überfallen, dann galt ihr der Tag gleichsam als wunderbar. Dass sie zwischendurch, während sie sich duschte, immer wieder an Jakob denken musste, machte es nicht besser. Gar nicht. Überhaupt nicht. Denn gerade unter der Dusche … Ach nee! Und dann kam’s noch dicker: was, wenn auch er an sie dachte, während er … Verständlich, dass sie sich an dieser Stelle unterbrach, denn sonst wäre zu all dem, was sie an diesem Morgen schon als lästig empfand, noch die Schamröte hinzugekommen und dann vielleicht eine Hitzewallung – und darauf hatte sie keine Lust. Absolut nicht. Obwohl ihre Gedanken bereits gestern Abend immer wieder in diese Richtung geeilt waren und sie sich Jakob, auch später beim gemeinsamen Essen, nackt oder zumindest mit freiem Oberkörper vorgestellt hatte. Dass sie ihn bereits in einem seiner sonderbaren Schlüpfersäcke gesehen hatte und wusste, dass er zu recht guter Unterarmbehaarung, allerdings auch zu einem winzigen Hühnerbrustansatz und einem kleinen Bauch neigte, machte es nicht besser … Gleichwohl dieser Schlüpfersack … wenn sie sich auf den nur recht stark und lang konzentrierte, würden die Phantasien doch irgendwann Adé sagen müssen. So dachte sie. Das Ende vom Lied aber war, dass sie diesen Sack einfach ausblendete und Jakob stattdessen in einen normalen Männerslip steckte. Ob weiß, ob schwarz … na ja, vielleicht wohl doch eher weiß. Schwarz war allzu verwegen – und Jakob war nicht der Typ Mann, dem schwarz stand, jedenfalls nicht untenrum, fand sie. Außerdem würde er wohl eher nicht die zu knappe Variante wählen – also doch den Schlüpfersack … Unwillkürlich musste sie schmunzeln und spürte sogleich wieder das Kribbeln in ihrer Unterlippe. So ein …! Aber was brachte es ihr, sich zu ärgern? Sie trug ja die Schuld daran. Hätte sie ihn nicht geküsst … bla bla bla … Sie würde es nachher Petra schreiben, damit die etwas zu lachen hätte. Zuerst aber tat sie sich reichlich Salbe auf die Lippe, betrachtete sich dann wieder im Spiegel und schüttelte den Kopf über sich selbst, nicht ohne doch wieder schmunzeln zu müssen. Und als sei das noch nicht genug, klingelte plötzlich das Telefon. Sie reagierte prompt, eilte in ihr Schlafzimmer, nahm den Hörer ab.
 

„Laux.“
 

- Guten Morgen, Helena …
 

Ihr stockte der Atem. Ihr Herz begann zu rasen.
 

- Guten Morgen, Jakob. Schön, dass du anrufst, stieß sie hervor.
 

Sie setzte sich auf ihr Bett, sah an sich herab. Himmel, sie war ja nackt! Nicht, dass sie das sonst gestört hätte bei Telefonaten – hier aber … Oh, wunderliche Natur, oh wunderliche Triebe. Sie hielt den Atem an, biss sich auf die Unterlippe, lauschte, doch am anderen Ende der Leitung blieb es still.
 

- Jakob?, hörte sie sich schließlich fragen.
 

- Helena …, kam’s von ihm und wieder baute sich etwas in ihr auf, das sie dazu drängte, ihm zu sagen, dass sie diesen Namen nicht mochte. Doch sie hielt sich zurück, biss sich nur wieder auf die Unterlippe und zog sich ihr Kopfkissen heran, um ihre Scham zu bedecken. Er könnte ja – obwohl er es gar nicht konnte. Aber, wer weiß, vielleicht konnte er es ja doch irgendwie fertigbringen, durch das Telefonkabel hindurch zu ihr zu linsen. Aber was sähe er dann? Doch nicht, dass sie hier säße und sich wie ein Mädchen gebärdete. Vielmehr sähe er ihr direkt … ja, direkt ins Ohr hinein und würde vielleicht vom darin befindlichen Schmalz überrollt werden … Auch kein sehr angenehmer Gedanken. Und helfen tat er ebenso wenig. Verdammt, sie spürte Jakob einfach so, als wäre er hier, stünde im Raum neben ihr. Und allein der Gedanke … Himmel, wie alt war sie? Und was, wenn auch er … Ach, das wollte sie sich nicht ausdenken. Und überdies: er war sicher schon an der Arbeit.
 

- Ich sitze gerade auf meinem Bett, fuhr er prompt fort, ich bin gerade aufgewacht und da dachte ich mir … Nein, anders, ich habe von dir geträumt … und nun musste ich dich einfach anrufen, ehe ich unter die Dusche gehe …
 

- Oh, ja? Ähm …, machte sie, ich war gerade duschen und nun will ich mich anziehen …
 

Sie unterbrach sich, verzog den Mund und klopfte sich ein-zweimal mit der Faust gegen den Schädel. Was trieb sie denn hier? Warum sagte sie ihm das?
 

- Oh, machte auch er, dann will ich nicht stören, aber …
 

- Ach, du störst nicht, erwiderte sie.
 

- So. Na ja …
 

War es ihm auch peinlich? Es schien so. Sollte ihr das Erleichterung bringen? Ja? Das Gegenteil war der Fall. Denn schon packte sie wieder eine dieser Hitzeattacke und dazu spannten noch immer ihre Brüste. Und wenn sie daran dachte, dass er da auf seinem Bett saß, wohlmöglich nur leicht bekleidet … Schon wollt sie ihn fragen, was er denn trage. Ja, welche Farbe sein Pyjama hätte, denn sie konnte ihn sich gut in einem Pyjama vorstellen. Er war der Typ Mann, der keinen lumpigen Schlafanzug trug.
 

- Ich wollte … also zuerst wollte ich dir einen Guten Morgen wünschen, kam’s wieder von ihm. Und dann wollte ich dir sagen, dass ich den gestrigen Abend sehr schön fand und ihn gern so schnell wie möglich wiederholen würde und dann …
 

Er unterbrach sich, schwieg.
 

- Jakob?, fragte sie und presste sich ihr Kopfkissen noch viel stärker gegen den Leib.
 

- Ja, bitte hab einen Augenblick Geduld, mich friert, ich muss mir meinen Morgenmantel anziehen.
 

- Wie?
 

- Ja, ich bin …
 

Lene kniff die Augen ganz fest zusammen. Ahnte, was er sagen wollte. Und tatsächlich:
 

- Ich pflege nackt zu schlafen, kam’s prompt von ihm. Und dann: Das macht das Träumen authentischer.
 

- Jakob, entfuhr es ihr.
 

- Na, was? Ich bin schließlich auch nur ein Mann.
 

Ihr blieb die Sprache weg.
 

- Bin ich zu weit gegangen?, hörte sie ihn unvermittelt fragen.
 

- Nein … nein, nein …, schnappte sie.
 

- Hätte ich es nicht sagen sollen? War ich zu schnell?
 

- Nein, nein, beeilte sie sich zu erwidern.
 

- Aber, dass ich von dir geträumt habe, ist wahr. Doch es war kein Traum, wie ihn Männer bisweilen haben …
 

Sie verdrehte die Augen und spürte, dass sie rot wurde – und das noch mehr, da sie sich bewusstmachen musste, dass er sie ja gar nicht sehen konnte. Und wenn doch, dann sah er ihr ja bloß ins Ohr … Nein, darüber konnte sie noch immer nicht lachen. Stattdessen stellte sie sich nun vor, dass …
 

- Jakob, ich habe auch von dir geträumt, hörte sie sich da sagen und schlug die Hand vor den Mund, woraufhin ihre Unterlippe wieder zu kribbeln begann.
 

- Und?, fragte Jakob.
 

- Was, und?, schnappte sie.
 

- Müssen wir uns schämen?
 

Sie rieb sich die Augen. Himmel, was erzählte sie hier nur für einen Mist? Nie und nimmer hatte sie von ihm …
 

- Nein, nein, wir sind nur Hand in Hand über eine Wiese …
 

- Über den Sommerdeich?
 

- Ja. Hand in Hand …
 

- Schön …
 

- Und dann haben wir uns in die Augen gesehen … Und du? Was hast du geträumt.
 

- In meinem Traum saßen wir zusammen in der „Zauberflöte“ und plötzlich …
 

Er unterbrach sich.
 

- Was ist plötzlich geschehen?, fragte sie und reckte sich etwas über das Kissen, so als könnte sie ihn dadurch besser verstehen.
 

- Nun, plötzlich, begann er, befanden wir uns beide auf der Bühne. Ich spielte Violine und du bist um mich herumgetanzt. Wir hatten beide Barock-Kleider an. Und du hast wunderschön in deinem Kleid ausgesehen.
 

Lene blieb der Mund offenstehen.
 

- Und dann, fuhr er fort, tanzten wir plötzlich gemeinsam. Aber ich weiß nicht mehr, ob es noch immer die „Zauberflöte“ war oder nicht eher „Figaros Hochzeit“. Jedenfalls hielten wir uns bei den Händen und tanzten. Und weißt du, es ging ganz leicht. Wir sprangen umher. Du, ich. Wir rannten über die Bühne, sprangen, rannten. Und dann eilte ich hinter dir her, aber ich bekam dich kaum zu greifen, denn du hast andauernd Haken geschlagen. Und wenn ich dich doch hatte, hast du dich nur umgedreht, gelacht und bist weiter, so als wolltest du mich nicht an dich heranlassen … Das machte mich irgendwie traurig. Und da habe ich irgendwann von dir abgelassen, habe mich mitten auf die Bühne gesetzt und habe die „Herrmannsschlacht“ von Kleist zu lesen begonnen.
 

Er unterbrach sich und sie hörte, wie er Luft holte.
 

- Und dann?, entfuhr es ihr.
 

- Dann bist du zu mir gekommen, hast dich neben mich gesetzt, mir übers Haar gestrichen und mich geküsst.
 

- Auf den …?
 

- Ja, auf den, und dann hast du mich gefragt, warum ich die „Herrmannsschlacht“ lesen würde und dann bin ich erwacht …
 

- Das hast du geträumt?, konnte sie nur erwidern.
 

- Ja, und weißt du, es war so schön, wie wir miteinander tanzten, du, ich, wie wir umherrannten. Da habe ich gespürt … Helena …
 

Wieder durchzuckte es sie, doch auch diesmal konnte sie sich dazu bringen, ruhig zu bleiben. Aber so, als erahnte er ihre Gedanken, fragte er: Ich darf dich doch nun ‚Helena‘ nennen?
 

- Na ja …, setzte sie an.
 

- Oder … ich möchte nichts falsch machen. Aber nachdem du mich gestern geküsst hast, als ich dich so nannte, dachte ich nun … Und wenn ich das so sagen darf: Du bist für mich Helena, nicht Lene. Bitte lass mich dich auch weiterhin so nennen.
 

- Na ja …
 

- Oder sag mir, was dich an diesem Namen stört. Ich denke, das sollte ich wissen, fuhr er fort.
 

- Gut, aber nicht jetzt. Die Zeit …
 

- Ja, ich weiß, die drängt. Ich hätte auch schon längst auf dem Weg sein sollen. Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du es, nun ja, auch hast …
 

Schon wollte Lene fragen, was er meinte, als ihr ihre Unterlippe die Antwort gab und sie ein kleines: Hmmm herausbrachte.
 

- Oh, das ist mir sehr peinlich. Wirklich.
 

- Macht nichts. Und um der Peinlichkeit, sich wie zwei Teenager beieinander angesteckt zu haben, ein wenig zu entkommen, sagte sie: Es gibt ja gute Medikamente dagegen. Ich denke am Freitag sind wir wieder salonfähig.
 

Er reagierte nicht sofort, gab dann ein kleines Schnauben von sich und sagte: Ich freue mich. Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich auf unseren gemeinsamen Opernbesuch freue.
 

- Ich freue mich auch, Jakob.
 

- Helena …



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