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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Ein Tag und eine Idee

Es war nun einmal so. Und dagegen konnte sie nichts tun. Sie ging über die Fenne, querte dann eine Brücke und befand sich alsbald wieder an ihrer Ferienwohnung. Dass sie Jakob einfach so hatte steheen lassen, kam ihr in diesem Moment vollkommen gerechtfertigt vor. Schließlich hatte er sie auf seine ganz spezielle Art zu verletzen versucht. Und da sie ihn in diesem Moment nicht mehr hatte ersehen können, hatte sie eben das Weite gesucht. Aber darüber wollte sie nun nicht nachdenken. Und wenn sie eines gelernt hatte während ihrer Therapie, dann, dass man Dinge, die einem nicht guttaten, aus den Gedanken verbannen konnte, um Freiraum zu schaffen, für das, was einen wirklich anging. Und das war die Frage, was sie an diesem Tag unternehmen könnte. Einfach auf der Hallig verweilen und sich von Wind und Sonne packen lassen – so, wie an all den vorangegangenen Tagen auch? Ja? Sie entschied sich dagegen, denn ein Blick in den Buddelbreef verriet ihr, dass es in nicht einmal einer Stunde eine Wattwanderung geben sollte – hinüber nach Norderoog, zur Vogelhallig. Das war doch was. Oder? Ein Abenteuer.
 

Wenig später fand sie sich am Treffpunkt ein – trug Rucksack und Gummistiefel bei sich. Doch man riet ihr, barfuß zu gehen, wollte sie nicht im Watt stecken bleiben. Gleichzeitig aber wurde auch vor der Amerikanischen Schwertmuschel gewarnt. Die lauere überall und eh man es sich versähe, hätte man sich die Fußsohle aufgeschlitzt. Die meisten, so auch sie, entschieden sich also dafür, die Socken anzubehalten.
 

Und dann ging es los, dieser 2km entfernten Hallig entgegen, auf der früher allein der Vogelwart gelebt hatte. Und der, so wurde unterwegs erzählt, hätte jeden, der sich seiner Hallig näherte, mit Spaten und später auch mit Flinte bedroht. Er hatte es nicht wollen, dass ihn jemand in seiner Ruhe störte und sein Eiland betrat. Unwillkürlich musste Lene lächeln, gleichwohl es gar nichts zu Lächeln gab. Man stelle sich nur diesen wildgewordenen Vogelwart vor, wie er den Eindringling schon aus einem Kilometer Entfernung erblickte, um ihn dann nahe genug herankommen zu lassen und ihn zu bedrohen … Ach, was sie sich für Gedanken machte. Heute wurde die Vogelhallig wieder von einem Wart bewohnt, der allerdings im Sommer von freiwilligen Helfern unterstützt wurde. Zusammen achteten sie darauf, dass die kleine Vogel-Hallig auch kommenden Unwettern trotzen könnte. Dass Lene dieser Arbeit nicht abgeneigt war, erklärte sich wohl. Sie interessierte sich für Vögel und auch für deren Auskommen. Nicht umsonst hatte sie an ihren Vogelkundlichen Begleiter und den Feldstecher gedacht. Und wie erwartet, hatte sie während der Wanderung immer wieder Gelegenheit, das Watt zu abzusuchen, sofern sie nicht gerade damit beschäftigt war, ihre Füße aus dem Schlickwatt zu ziehen oder sich Gedanken darüber machen musste, wie sie über diesen und jenen Priel kam. Dennoch war sie nicht außer Atem und eher im ersten Drittel der Wandertruppe anzufinden. Sie sah sich immer wieder um, ließ die feine, klare Meeresluft in ihre Lungen dringen und lächelte, wenn sie die Nase gen Himmel hob und die Strahlen der Sonne im Gesicht spürte. Nach all dem, was sie mit Jakob erlebt hatte, war diese Wanderung das Ideale, um sich anderen Gedanken hingeben zu können. Ja, wieder durchströmte sie das Gefühl, frei zu sein. Und wenn sie sich bewusstmachte, dass sie noch ganze anderthalb Wochen hier verweilen durfte, ehe sie der Alltag in ihrer Berliner Grundschule wieder einnähme, dann wollte sie die auch nutzen, ohne sich irgendwelchen Gedanken hingeben zu müssen. Ja, so dachte sie und freute sich daran, dass sie sich freuen konnte. Denn wie lange hatte es gedauert, ehe sie das wieder gekonnt hatte. Damals, als es ihr nicht gut gegangen war und sie begreifen musste, dass sie drauf und dran war, das eigene Leben aus den Händen zu geben, da hatte sie sich wie erloschen gefühlt, falsch, nicht richtig da. Damals, als sie an diesem Winterabend in ihrer kleinen Wohnung gesessen und in die Flamme der Kerze gestarrt und sich eine Feige Sau! gescholten hatte. Damals, als es ihr jeden Morgen schwerer gefallen war, das Bett zu verlassen, um sich schließlich gar nicht mehr aufraffen zu können, damals … Ja, das war eine Zeit gewesen, die sie an ihre eigenen Grenzen geführt hatte. Eine Zeit, der sie so nie wieder ins Antlitz blicken wollte. Sie war so unsäglich müde gewesen – und ein Tag war wie der andere vergangen. Grau, trüb, kalt, nass. Selbst ihre Kleider fühlten sich stets klamm an. Und dazu dieses Gefühl, in nichts mehr einen Sinn sehen zu können. Alles war gleich – gleich öde, langweilig – nein, noch nicht einmal langweilig. Es war alles egal. Sie fühlte sich wie blind. Sie funktionierte nur noch. Tag ein, Tag aus. In der Schule arbeitete sie den Lernstoff ab, Kapitel für Kapitel, stellte Fragen, nahm die Schüler heran, bewertete, gab Noten und verließ am Ende der Stunde den Klassenraum, um sich auf dem WC die Tränen zu verbeißen. Ja, in dieser Zeit hatte sie immer wieder heulen müssen. Es war selbst an etwas bessren Tagen über sie gekommen, dass sie – manchmal sogar mitten in den Stunden – einfach hätte losheulen können. Sei es, dass ein Schüler etwas sagte, sei es, dass sich draußen ein Blatt vom Baum löste und zu Boden schwebte. Ja, selbst, wenn sie sah, dass eine schwerbepackte Frau von einem herannahenden PKW mit Wasser vollgespritzt wurde, konnte es geschehen, dass sie einfach stehenbleiben und weinen musste. Scheiße war das gewesen. Das Leben war an ihr wie ein Film vorbeigezogen. Ja, irgendwann hatte sie es verpasst gehabt, auf diesen Lebenszug aufzuspringen und sich mit ihm an einen anderen, fröhlicheren, besseren, lebenswerteren und vor allem fühlenden Ort bringen zu lassen. Dass sie sich damals selbst auch im Weg gestanden hatte – keine Frage. Das hatte sie nicht erst mit ihrem Therapeuten in den unzähligen Sitzungen erörtern müssen. Das wusste sie auch selbst. Vielmehr hatte sie es gefühlt. Ja – und wenn’s das einzige gewesen war, was ihr klargewesen ist. Es schmerzte, schmerzte so sehr, dass sie an einen Punkt gekommen war, an dem sie alles hatte hinschmeißen wollen. Der Abend dann allein mit sich in der Küche vor der Kerze – mit ihrem Therapeuten hatte sie später gerade dies als Symbol für ihre Heilung herausgearbeitet. Gerade das, dieser absolute Nullpunkt, sollte ihr helfen, wieder zu sich zu finden. Anfangs zweifelte sie, doch da ihr Therapeut darauf beharrte, zündete sie sich in der Folgezeit jeden Abend diese Kerze an und sah in die Flamme. Und ganz egal, welche Gedanken ihr dabei kamen, sie versuchte sie alle ins Licht zu schicken. Zugegebenermaßen hatte es eine Zeit lang gedauert, bis sie tatsächlich etwas gespürt hatte – so etwas wie … wie Erleichterung? Petra, schon damals ihre Freundin, hatte ihr überdies geraten, es mit Meditationen zu versuchen. Und sie war ihrem Rat gefolgt, nur, um dann doch festzustellen, dass das, im Gegensatz zu dieser Kerze, nichts für sie war. Aber vielleicht würde sich das ja noch ändern?
 

Norderoog lag vor ihr. Deutlich erkannte sie die zwei Häuser, in denen sich der Vogelwart von April bis Oktober einzurichten hatte. Jedes Jahr wurde ein neuer Wart aus einer Reihe von Bewerbern gewählt. Kurz bevor sie zur Hallig gefahren war, hatte sie gelesen, dass der Wart natürlich gewisse Eigenschaften und Fertigkeiten mitbringen musste. Und die Suche nach Einsamkeit und innerer Einkehr standen dabei ganz gewiss nicht zur Diskussion, vielmehr das offene Engagement für die Natur, vor allem die Vögel, die ja ab Mai dort brüteten, weswegen es in diesem und den kommenden Monaten auch keinem Besucher gestattet war, Norderoog zu betreten. Es war ein einsames Leben dort drüben – und es hatte wohl auch etwas von einem Eremiten-Dasein, vollkommen auf sich gestellt, den Unbilden der Natur ausgesetzt. Aber, sie wollte es nicht verzärteln, gar romantisieren, dieses Leben. Sie wollte im Grunde gar nichts, sondern einfach nur laufen und sich ihrer selbst bewusstwerden, sich spüren, auch wenn es sie ab und an schmerzte, wie jetzt gerade, da sie in eine Amerikanische Schwertmuschel getreten war und sie nur der Strumpf an ihrem Fuß vor einer offenen Wunde bewahrte.
 

Norderoog war klein, übersichtlich, da der gemeine Besucher ja sowieso nicht überallhin dufte – schon gar nicht in die Teile, die dem Vogelschutz vorbehalten waren. Das eine Haus barg ein Museum, das andere die Wohnung des Vogelwarts. Und die Toilette befand sich etwas abseits. Gekocht wurde auf einem Gasbrenner, frisches Wasser sowie Lebensmittel musste sich der Wart von der Hooge beschaffen und elektrisches Licht … Tja, wozu gab es Kerzen und Taschenlampen? Und in diesem Moment kam ihr eine Idee und sie wandte sich an den Vogelwart, einen jungen Mann von etwa 25 Jahren, der sein Freiwilliges Soziales Jahr hier absolvierte.
 

„Wie sieht es eigentlich mit den Gruppen aus, die hierherkommen?“, fragte sie.
 

„Das sind alles Leute zwischen 18 und 25, einige sind auch älter“, erwiderte er. „Und sie kommen aus aller Welt.“ Er lächelte freundlich und sie sagte: „Ich frage deswegen, weil ich selbst Biologielehrerin an einer Grundschule bin. Wie sähe es aus, könnte ich auch mit meiner Klasse herkommen?“
 

Er stutzte, dann sagte er: „Kommt darauf an, für wie lange und ob die Kinder entsprechend vorbereit werden.“
 

Nun lächelte auch sie, nickte. „Das sollte wohl kein Problem sein und mehr als eine Woche wäre es nicht.“
 

„Na ja“, entgegnete er schulterzuckend. „Zwar ist eine Woche nicht viel, aber ich kann mir vorstellen, dass die Kinder nicht wissen, worauf sie sich einlassen.“
 

„Eben darum geht es doch, oder?“. konterte sie. „Ich habe so viele Kinder in der Klasse, die nicht mehr ohne ihr Smartphone können …“
 

„Ja, aber ist dann diese Vogelhallig das Richtige für die Kinder?“, gab der Wart zu bedenken. „Dennoch, die Idee hat was.“
 

„Ja, finde ich eben auch. Und ich würde die Klasse auch gut vorbereiten.“
 

„Na ja … ich habe das nicht zu entscheiden. Da müssten Sie sich ans Wattenmeerhaus wenden und nochmals nachfragen. Vielleicht wäre es doch besser, wenn sie mit der Klasse eher auf der Hooge selbst absteigen würden.“
 

Lene nickte und freute sich, denn eine Idee war geboren, auch wenn sie noch nicht ausgegoren war. Aber sie war doch gespannt darauf, die Idee mit den Kindern besprechen zu können. Und sie wusste, dass es so einige in der Klasse gab, allen voran die kleine Ronja, aber auch Hannah und Christoph, die solch eine Klassenfahrt ganz bestimmt nicht doof oder ugly finden würden. Und just in dem Moment wusste sie auch, dass sie sich bei aller Suche nach Ruhe und innerer Einkehr doch auch darauf freute, ihre Gören aus der 6. Klasse wiederzusehen. Und sie freute sich auch darauf, mit ihnen dieses neue Jahr zu bestreiten. Aber vorerst hatte sie noch Urlaub und den wollte sie genießen. Genießen.
 

Am frühen Abend dann ging sie noch schnell zum Halligkaufmann. Nicht, dass sie etwas Bestimmtes gebraucht hätte. Nein, sie wollte einfach nur durch die Regalreihen schlumpern und mal sehen. Sollte sie sich einen Wein kaufen? Einen Weißen? Ja? Zur Feier des Tages? Schließlich hatte sie es geschafft, dem Wattenmeer nach mehr als vier Stunden, wenn nicht sauber, so doch körperlich fast unversehrt zu entkommen – abgesehen von der kleinen Schnittwunde an der Hand, die sie sich beim Griff ins Schilf zugezogen hatte.
 

Daheim stellte sie sich erst einmal unter die Dusche, ließ das Wasser auch diesmal länger laufen, seifte sich ordentlich ein und hörte sich wiederum einige Seufzer ausstoßen. Der Tag war, abgesehen von den morgendlichen Stunden … doch wunderschön gewesen, fand sie. Denn, wenn sie es tatsächlich hinbekäme und die Eltern aller Schüler mitspielten, dann würden sie die Abschlussfahrt ihrer 6. Klasse hierher machen. Wieder lächelte sie, drehte das Wasser zu, entstieg der Dusche und griff nach einem Handtuch. Und während sie sich abtrocknete, betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah sich lächeln, sich zuzwinkern. Im Moment fühlte sich das Leben gut an. Doch wie es immer so kam verlief der Abend ganz anders als geplant, denn als sie aus dem Bad kam, meinte sie ihren Ohren nicht zu trauen – und sie lauschte noch einmal, ehe es sie siedend heiß überkam: von draußen klangen Violinlaute herein und unwillkürlich war all das, was sie an diesem Tag so erfolgreich hatte verdrängen können, wieder da … Es bedurfte nur weniger Schritte zum Fenster, um es zu öffnen und hinauszuspähen. Und tatsächlich – da stand Jakob, auf dem Hof, und spielte Bach, Händel … Sie wusste es im Moment nicht zu sagen. Und so, als genüge das noch nicht, sah sie, dass sich Percy neben ihn gesetzt hatte und ihm offensichtlich lauschte. Was sollte sie tun? Das Fenster wieder schließen und sich einreden, dass nichts sei? Oder …
 

Es war gerade Percy, der ihr die Entscheidung abnahm, denn just in dem Moment, da er sie bemerkte, gab er ein leises Maunzen von sich und erhob sich von seinem Platz. Das Geigenspiel brach ab und nun waren es zwei Augenpaare, die sie anstarrten. Was blieb ihr da anderes, als teils resigniert, teils amüsiert, teils aber auch müde mit den Schultern zu zucken, um von dem einen der beiden ein ebensolches Zucken als Antwort zu erhalten, während der andere bereits die Beine in die Hand genommen hatte und zu ihrer Tür gelaufen war.
 

„Ich dachte mir, dass es schade wäre, wenn …“, setzte Jakob an, als er wenig später an der Schwelle ihrer Tür stand, während es sich Percy bereits auf einem der Sessel bequem gemacht hatte. Sie sah Jakob in die Augen, ehe sie sich bewusstwurde, dass sie ja nichts, als ihr Handtuch trug. Aber um diesem doch an Peinlichkeit grenzenden Gefühl keinen Raum zu geben, erwiderte sie rasch: „Ich denke auch, dass es schade wäre. Aber ich würde es doch gerne etwas langsamer angehen. Sagen wir morgen wieder?“
 

Er nickte und wollte sich schon umwenden, als er innehielt, sie betrachtete und dann an der Wange berührte. „Morgen“, murmelte er und kam ihr näher, „ich spiele, du tanzt.“



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