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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Höllisch

Die kommenden zwei Tage nutzte sie dazu, tiefer in die Hallig einzudringen, denn noch immer hatte sie das Gefühl, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Zwar gab ihr der Vogelkundliche Begleiter die Möglichkeit, die von ihr entdeckten Vögel zu benennen, doch wollte sie mehr, einfach mehr, wollte über die Fennen laufen – und das mit nackten Füßen, um das Gras zu spüren, wollte auch in wenigstens einen, auf der Hallig so zahlreichen Priele steigen – was sie dann jedoch nicht tat, weil es ihr nicht recht geheuer war. Sie wollte weitere Orte finden, an denen sie verweilen konnte, ohne, dass ihr Menschen begegneten. Bisweilen fand sie sich dann neuerlich bäuchlings im Gras liegend wieder und mit jedem Atemzug wurde ihr bewusster, dass sie frei war, ja, dass sie bereit war loszulassen, was sie bisher gehalten hatte – es trieb sie hinaus, immer wieder hinaus. Manchmal lief sie einfach nur über den Sommerdeich, breitete dabei die Arme aus, sah dann auf die Nordsee und hinauf in den blauen Himmel und schlug sich die Hände vor den Mund. Tränen traten ihr in die Augen. So etwas hätte sie schon damals vor 5 Jahren gebraucht. So etwas … aber damals war ihr der Gedanke an diese Hallig nicht gekommen. Damals war sie nur vor sich selbst geflohen, unfähig, sich selber einmal ins Gesicht zu sehen. Doch jetzt war es anders. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie rannte, zuckte jedoch zurück, als sie einen lauten Schrei vernahm, ehe sie verstand, dass er sich ihrer Kehle entrungen hatte und noch einem weiteren Platz machte. Ja, plötzlich schrie sie so laut und so ungeniert, dass sie ein großes, herzhaftes Lachen hinterherschickte – und das so lang, bis sie krächzte und husten musste. Es fühlte sich gut an, so gut, dass sie weiterrannte und brüllte und schrie und lachte. Alles hinauslassen, was sie vormals in sich behalten hatte. Diese ganzen Erinnerungen, die Probleme im Job. Sie rannt, sie schrie, sie breitete ihre Arme aus, fuchtelte mit ihnen wild herum – und das, obwohl sie wusste, wie sie auf einen unbeteiligten Beobachter wirken mochte. Sie tat es dennoch – oder gerade deswegen. Solange, bis sie nicht mehr konnte und stehenbleiben musste, um nach Luft zu schnappen. Sie war nicht gut trainiert, war schon lang nicht mehr gelaufen – Sport? Na ja. Das, was sie konnte, war ein Relikt vieler Jahre harten Trainings in ihrer Jugend. Sie war geschwommen, gerne, oft und später eben auch im Leistungskader, bis sie mit dem Stress nicht mehr klargekommen war. Sport. Sie sollte ihn wieder treiben. Das sagte sie sich, als sie sich auf ihre Knie stützte und ihren Herzschlag wie einen Trommelwirbel in den Ohren hörte. Aber obwohl ihr der Lauf den Atem geraubt hatte, wollten ihre Beine weiter und schon spürte sie auch, wie sich in ihr ein neuerlicher Schrei aufbaute, der hinausdrängte. Und ohne zu überlegen, entließ sie ihn in die Freiheit. Das ging so lang, bis sie ein Urlauber ganz unvermittelt fragte, ob es ihr gut ginge und ob man ihr helfen könne. Und sie, in diesem Moment ganz schlagfertig, erwiderte heiser: „Ja, alles okay. Ist nur eine Stimmprobe. Ich trainiere, ich übe mich im Schreien. Ich brauche das für meinen Job. Ich bin Schauspielerin.“ Und im Grunde stimmte das auch – irgendwie.
 

Der Urlauber schien’s zufrieden, jedenfalls ging der nickend und schulterzuckend davon, drehte sich jedoch noch einige Male nach ihr um. Aber sie kümmerte sich nicht weiter um ihn, winkte ihm nur. Peinlich war’s ihr nicht. Warum auch? Sie hatte begriffen, dass sie sich hier so zeigen konnte, wie sie gerade sein wollte. Das hatte ein wenig von Pippi Langstrumpf, fand sie. Dieses starke Mädchen hatte es ihr in ihrer Kindheit angetan. So zu sein wie sie. Warum nicht auch als Erwachsene ein wenig von ihr in sich tragen? Warum nicht ab und an die Grenzen übersteigen. Und hatte ihr das nicht auch ihr Therapeut geraten, sich ab und zu etwas Außergewöhnliches zu gönnen. Sie grinste. Früher hatte sie nicht gewusst, was er meinte, jetzt aber war ihr klar, dass sie ihre Fesseln nur selbst zerreißen konnte. Wen störte es also, wenn sie ihren so lang angestauten Emotionen freien Lauf ließ? Sie jedenfalls nicht. Und das war die Hauptsache.
 

Am Abend dann spürte sie ein leichtes Kratzen im Hals, glaubte auch, leicht heiser zu sein, doch das kümmerte sie wenig. Sie kochte sich unter vielen Räuspern ein schönes Essen, nebst einem warmen Tee mit Honig, nahm beides am Wohnzimmertisch ein, während Percy im anderen Sessel lag und zu schlafen vorgab. Aber schlief er tatsächlich? Sein Schwanz ging ab und zu. Sie schmunzelte, murmelte unter neuerlichem Räuspern: „Ach, Kerlchen, du Kerlchen …“, erhob sich, räumte ab, um sich dann wieder die Kerze anzuzünden und das restliche Licht zu löschen. Wieder sah sie, nun mit Percy auf dem Schoss, in die leicht flackernde Flamme und versuchte, Ruhe zu finden, sich zu entspannen. Und es gelang. Alle negativen Gedanken waren fort und sie spürte eine Leichtigkeit in sich aufsteigen, die sie zuvor nicht gekannt hatte.
 

Der nächste Tag ließ sich ebenso gut an wie der vorangegangene, nur hieß es im Wetterbericht, dass für den späten Nachmittag oder frühen Abend mit Regenschauern zu rechnen sei. Gut, das störte sie wenig, da es noch früh am Morgen war und die Sonne vom azurblauen Himmel schien. Alles war einträglich, ruhig. Sie beschloss, heute die Hallig zu umrunden. 11 Kilometer, das war in vier Stunden zu schaffen. Und im Anschluss daran wollte sie eines der Cafés auf ihrer Heimatwarft ausprobieren. So der Plan, dem sie auch folgte. Auf dem Sommerdeich entlang, mit den nackten Füßen im weichen Wollgras, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, in den sie, da gut gefrühstückt, nur eine Halbliter-Flasche Wasser getan hatte. Sie war frei wieder Wind, den sie, auch zu dieser frühen Stunde bereits aus Nord-Nordwestlicher Richtung spürte, mehr noch als an den anderen Tagen. Und sie wusste, ahnte, dass etwas aufziehen würde. Doch noch blieb Zeit, sich an der frischen Luft zu ergehen. Und der Wind in ihrem Rücken trieb sie vorerst zu schnellen Schritten an. Sie lächelte, breitete wieder die Arme aus und ließ ihren Blick kreisen. Sie war jetzt fast eine Woche hier auf der Hallig und fühlte sich schon jetzt erholt, auch wenn sie noch immer Müdigkeit in sich spürte. Aber die, so sagte sie sich, hatte sie wohl dem Umstand zu verdanken, dass sie von morgens bis abends draußen war. Frische Luft, das wusste jeder, machte müde, sehr müde. Und obwohl sie manche Nacht unter freiem Sternhimmel verbrachte, konnte sie recht gut schlafen. Ja, sie hatte sich richtig entschieden, auf diese Hallig zu kommen, denn diese Abgeschiedenheit brauchte sie. Das Alleinsein mit sich und der Natur. Und so lief sie weiter und weiter, kam alsbald an der nächsten Warft vorbei, machte kurz halt, um das WC-Häuschen aufzusuchen und etwas zu trinken, ehe sie weiterging, sich umsah und daran erfreute, dass sie weit und breit keinen anderen Menschen sah. Wo gab’s das sonst noch?
 

So verging die Zeit – und da sie immer mal wieder stehenblieb, um sich an der sie umgebenden Weite zu erfreuen, hatte sie die letzte der Warften auf der Hallig gerade gequert, als sie von einer heftigen Böe gepackt wurde. Doch das machte ihr nicht viel aus, war es doch bereits die ganze Zeit schon recht windig gewesen. So lief sie einfach weiter, weil sie meinte, dass der Regenschauer noch etwas auf sich warten lassen würde. Jedenfalls verriet ihr der Himmel nichts Gegenteiliges. Überdies war es noch sonnig. Allerdings rechnete sie nicht mit der Geschwindigkeit der herannahenden Wolken und plötzlich brach es über sie herein. Einfach so. Unangekündigt. Jedenfalls für sie. Es war keine 15 Uhr, da sie von einem heftigen Regenschauer getroffen, nicht wusste, wohin. Sie allein auf dem Sommerdeich. Und über ihr türmten sich plötzlich tiefhängende, dunkle Wolken auf, die ihre Brut nur allzu gern ablassen wollten. Hinzukam, dass sich der Wind in einen Sturm zu verwandeln schien. Da war’s ihr fast unheimlich. Augenblicklich war sie klitschnass bis auf die Knochen und zitterte leicht, da die Temperaturen von sommerlicher Wärme um mindestens 10 Grad gefallen waren – und das innerhalb weniger Minuten. Und was blieb ihr? Sie musste weiter. Versuchen, die heimische Warft zu erreichen, da aber hörte sie hinter sich ein verräterisches Grummeln, wandte sich um. Regen peitschte ihr augenblicklich ins Gesicht und verunmöglichte ihr beinahe die Sicht auf das, was sich am Himmel abspielte. Sie erahnte mehr, als dass sie sie sah: schwefelgelbe Wolken – und dann spürte sie ein Zucken in sich. Ganz klar, die Luft war elektrisch aufgeladen und kündete vom nahenden Gewitter. Einen Moment lang starrte sie dieser Übermacht ins Antlitz, ehe sie sprichwörtlich die Beine in die Hand nahm und rannte, rannte, rannte, bis sie, kaum noch Kraft habend, ganz in der Ferne etwas ausmachte, das sie als Strandkorb zu identifizieren meinte. Schon grummelte es wieder hinter ihr – und sie, getrieben von der Angst, alsbald vom Blitz getroffen zu werden, jagte diesem rettenden Unterstand entgegen. Sie ahnte, dass ihr nur noch wenige Minuten blieben, bis sich das Gewitter über ihr erging, da meinte sie schon ein wetterleuchtendes Zucken quer über der Gischt speienden Nordsee zu erspähen, als sie den Strandkorb erreichte. Gott sei Dank, so dachte sie, steht er dem Regen abgewandt. Gott sei Dank. Schon war sie um ihn herum und wollte sich gerade in seinem Schutz fallen lassen, als ihr ein Schreckensruf entfuhr. Der Strandkorb war keineswegs leer, so, wie sie erwartet hatte. Drin saß dieser Kerl, der, wohl durch ihr Erscheinen ebenso aufgeschreckt, zu ihr hinaufsah, allerdings machte er keinerlei Anstalten zu rutschen, sodass sie ihn, vollkommen verzweifelt, anblaffte: „Nun bitte!“ Dazu fuchtelte sie ihm vorm Gesicht herum, um ihm zu verdeutlichen, was sie wollte. Er, noch immer zu ihr aufsehend, reagierte, allerdings widerwillig, wie ihr schien. Dass sie ebenso wenig neben ihm sitzen wollte, versteht sich, doch die Not war zu groß. Und so, als wollte sie das Wetter in ihrem Tun bestätigen, krachte es plötzlich so laut, dass sie sogar ein wenig in die Knie ging. „Nun machen Sie schon“, fauchte sie und zwängte sich, ungeachtet dessen, dass er seinen Rucksack auf der Sitzbank zu stehen hatte, ins sichere Versteck neben ihn.



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