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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Prost Mahlzeit!

Kaum hatte sie sich wieder umgedreht und in die Speisekarte vertieft, überlegend, was sie denn nun tatsächlich nehmen sollte – ob sich zum Zwetschgenkuchen nun ein Milchkaffee anbieten würde oder nicht doch eher eine Tote Tante, denn sie verspürte Lust auf Schokoladiges mit einem Schuss Alkohol. Schließlich war sie ja zum Genießen hergekommen. Zum Ausspannen und Sich-Gehenlassen, zum … Also kaum dieser Gedanken innewerdend, nahm sie eine Bewegung neben sich wahr. Sie sah auf – und ihm, dem falschen Geiger, genau in die Augen. Er stand da, blickte ernst auf sie herab – das Buch noch immer – oder wieder? – unterm Arm. Er wirkte so, als warte er auf etwas. Jedenfalls war es diesmal sie, die den Blick niederschlagen wollte, als sein Zeigefinger plötzlich hochfuhr und sie, leicht erschrocken, dem Öffnen seines Mundes beiwohnte. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder verschreckt aufspringen sollte. Denn so bedrängt zu werden – noch dazu von einem Fremden, der, das war ihr in diesem Moment glasklar, ein wenig speziell zu sein schien –, das war unangehem. Wie er sie betrachtete, nein, das gefiel ihr ganz und gar nicht. Dennoch erinnerte er sie etwas an Lehrer Lämpel aus Buschs Max und Moritz und sie ließ alle negativen Gedanken fahren. Stattdessen fragte sie sich nur: Was kommt denn jetzt?
 

Nun, zuerst kam gar nichts. Er stand nur weiterhin vor ihr, zu Stein erstarrt schien’s, mit aufzeigendem Finger und leicht geöffnetem Mund. Gerade so, als wollte er sogleich mit einer Rede ansetzen à la Liebe Kinder habt gut acht, wenn’s draußen grollt und kracht, denn das hat schon den Stärksten um den Verstand gebracht …
 

So dachte sie und presste die Lippen fest zusammen, um sich nicht weiter in diesem Gedanken zu ergehen. Denn dass das böse enden konnte, davon konnten ihre Kolleginnen ein Lied singen. Ja, sie neigte zu Lachanfällen, gar -krämpfen, wenn es sie einmal gepackt hatte. Abgesehen davon wusste sie ja tatsächlich nicht, was dieser Mensch von ihr wollte – und wessen Geistes Kind er war. Gut, wäre ihr Gleiches in ihrer Heimatstadt geschehen, wohlmöglich in der vollbesetzen S-Bahn, hätte sie schon längst das Weite gesucht. Hier aber schien alles so friedlich und entspannt zu sein, dass sie sich zusammennahm und einfach abwartete, was ihr dieser Lehrer Lämpel denn nun so wichtiges mitzuteilen hatte. Und so, als hätte sie der Schabernack gepackt, hörte sie sich augenblicklich sagen: „Es empfiehlt sich …“, nur um ihn dann erwartungsvoll anzusehen. Und tatsächlich löste er sich aus seiner Starre, verengte die Augen leicht zu Schlitzen und tippte sie mit dem Zeigefinger ganz rasch an die Wange, hob ihn dann wieder und sagte dozierend ruhig: „Es empfiehlt sich etwas Salbe gegen den Sonnenbrand.“
 

Sie starrte ihn an – fassungslos. Das Aua! und Was bilden Sie sich ein, mich anzufassen? blieb ihr auf den Lippen kleben, denn schon war er an ihr vorbei, ließ sich wieder im Strandkorb nieder, legte das Buch neben sich, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte, so als wäre nichts geschehen: „Es empfiehlt sich darüber hinaus, alsbald einen Hautarzt aufzusuchen, denn ein etwaiges Melanom wird sich allein durch Creme nicht aufhalten lassen.“
 

„Na danke auch“, schnappte sie und spürte, wie ihr der Mund offenstehen blieb und sie ihn wie ein Tölpel anzustarren begann. Er schlug indes den Blick wieder nieder, griff nach seinem Buch, öffnete es, begann neuerlich zu lesen. Und sie zog vor, es dabei zu belassen und fortan zu schweigen. Doch sah sie sich zugleich nicht nur nach der Serviererin um, sondern auch nach einem freiwerdenden Platz irgendwo unter den Sonnenschirmen und zur Not auch in der Sonne. Doch wie das Lied immer so spielte, gab’s den nicht, sodass sie sich vor die Wahl gestellt sah, entweder zu bleiben und diesem komischen Menschen weiter Gesellschaft zu leisten oder so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Die Entscheidung darüber wurde ihr indes vom Erscheinen der Serviererin abgenommen. Doch gerade, als sie ihren Bestellwunsch äußern wollte, stellte diese einen Teller mit einem großen Stück Zwetschgenkuchen nebst Sahne und einen Milchkaffee vor ihre Nase.
 

„Äh“, machte sie nur und starrte zuerst die Serviererin, dann das große Stück Kuchen an.
 

„Das hatten Sie doch … bestellt?“, ließ sich die Serviererin vernehmen.
 

„Äh.“
 

„Es empfiehlt sich …“, schaltete sich da der falsche Geiger ein, „… sogleich mit dem Essen zu beginnen, da sonst die Sahne zerläuft. Bei diesen Temperaturen um mindestens 50 % schneller als bei milderen. Es empfiehlt sich also …“
 

„Ja, ja … Jakob, trink du mal endlich dein Bier aus, sonst fliegen Fliegen rein“, warf die Serviererin ein.
 

Hierauf erwiderte er nichts, klappte allerdings das Buch zu und griff, den Kopf gesenkt, tatsächlich nach seinem Glas Bier. Sie indes nutzte die Gelegenheit, der Serviererin einen Blick zuzuwerfen. Diese verstand wohl, denn sie zuckte leicht resignierend mit den Schultern, nickte in seine Richtung und sagte etwas leiser: „Jakob.“ Dazu nickte sie noch einmal, als wäre dadurch alles erklärt, um sich dann wieder an den Genannten zu wenden: „Nicht wahr Jakob, alles ist gut.“
 

Dieser sah auf, verzog den Mund und fletschte plötzlich die Zähne. Sollte das ein Grinsen, gar ein Lächeln darstellen? Ihr wurde bei diesem Anblick ein wenig Bange, wirkte ihr Gegenüber doch wie einer, der, gelinde gesagt, erschreckende Gedanken hegte. Hinzukam noch, dass er sie unverwandt – nun mit weit aufgerissenen Augen – anstarrte und sein Gesicht dadurch wie eine Maske wirkte. Gut nur, dass die Serviererin noch immer neben ihr stand, sonst hätte sie in diesem Moment tatsächlich das Weite gesucht. Und als er dann auch noch mit just dieser Miene sich wiederholend sagte: „Es empfiehlt sich, recht rasch zu essen“ und dazu abwechselnd auf das vor ihr stehende Stückchen Kuchen und sie stierte, wollte sie nicht wissen, was in seinem Kopf los war, was da gerade geschah. Von Geilheit mochte sie nicht sprechen. Aber auch total verrückt und durchgedreht wären zu erschreckend für sie gewesen. Eines jedoch stand für sie fest: begegnen wollte sie diesem Typen nicht noch einmal. Und so, als könnte sie die Serviererin nur durch die Macht ihrer Blicke bannen, hob sie den Kopf. Die verstand tatsächlich. Leicht nickend sagte sie zu ihr: „Sie sehen so aus, als würden Sie frieren. Möchten Sie sich nicht dort drüben hinsetzen?“
 

Der Chance gewahr werdend, schnappte sie augenblicklich nach Luft, erhob sich und wollte ihren Teller nebst Milchkaffee nehmen, doch die Serviererin schüttelte nur mit dem Kopf. „Das mache ich. Sie setzen sich dort hinten hin …“
 

Sie deutete hinter sich auf ein Sonnenplätzchen an der Mauer, das just in diesem Moment freigeworden war. Und schneller, als sie denken konnte, hatte sie dort Platz genommen, gefolgt von der Serviererin, die ihr Kuchen und Milchkaffee vor die Nase stellte und ein geflüstertes: „Bitte verzeihen Sie, aber er ist im Grunde harmlos“ nachschob.
 

Ungeachtet der Tatsache, dass er sie noch immer beobachten konnte – und das auch tat, wie sie unschwer feststellte – mühte sie sich zu fragen, was mit ihm los sei. Und er, dort quer über den Gang in seinem Strandkorb sitzend, starrte herüber, nun wieder ernst, dafür aber irgendwie seltsam wirkend. So … Verdammt, sie konnte es nicht in Worte fassen. Die Serviererin flüsterte indes: „Sie müssen keine Angst haben.“
 

Verwundert löste sie den Blick von ihm, dem falschen Geiger, dieser schwarz-becordeten Gestalt, die sich, so meinte sie, mit dem Schatten in der Ecke zu verweben begann. Und doch wusste sie seinen Blick noch immer auf sich gerichtet. Bohrend, beißend … einfach unangenehm.
 

„Er ist Mathematiker und Physiker.“
 

Das Was? blieb ihr im Hals stecken. Hätte nur gefehlt, dass die Serviererin gesagt hätte: „Er ist nur Mathematiker und Physiker“ – und keine Chimäre, die gerade wieder die Zähne fletschte, um ihr zu zeigen, dass … Nein, das war zu gräulich. Der Appetit war ihr gänzlich vergangen.



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