MISS ME?
Temari öffnet erst das eine Auge, dann schmerzerfüllt das andere. Sie atmet Staub ein, alten, geradezu antiken Staub. Ihre Hände tasten umher, sie fühlt Papier, kalte Fliesen, Ordner, Buchdeckel. Buchdeckel?!
„Temari …“
Ihr Hirn pocht, stöhnend fährt sie sich über ihre Stirn. Ihre Sicht ist verschwommen, sie kann jemanden vor sich knien sehen. Derjenige sieht vertraut aus …
„Temari. Komm zu dir!“
Was ist geschehen? Sie hatte trainiert, nachdem sie Shikadai zu einer Mission hat aufbrechen sehen. Diese Erinnerungslücke … Warum kann sie sich nicht erinnern?
„Ich helf dir.“
Der Vertraute zieht sie vorsichtig in die Hocke, befühlt ihre Stirn, sieht ihr tief in die Augen. Temari erkennt ihn. „Kankuro?“
„Endlich.“
„Wo … sind wir …?“
Temaris Sicht wird klarer. Sie blickt sich schnell um, muss ihre Umgebung analysieren. Sie und ihr Bruder befinden sich in der Mitte eines vielleicht 20 Quadratmeter großen Raumes. Der Boden ist mit weißen, wenn auch nicht ganz sauberen Fliesen ausgekleidet. Manche haben Risse, andere sind kaputt und splittern. Links und rechts von ihnen befinden sich deckenhohe Regale aus einfachem Metall und dahinter jeweils noch ein Regal. In diesen Regalen reihen sich verstaubte Bücher, Ordner und Akten aneinander. Teilweise stehen sie gefährlich schief und das eine oder andere Exemplar ist bereits zu Boden gefallen.
Um Temari und Kankuro herum liegen Bücher mit schiefen Einbänden und teilweise kaum leserlichen Titeln. Manche Bücher sind sehr bunt, haben schöne Cover mit geschnörkelter Schrift, andere wiederum sind völlig blank, einfach braun oder schwarz mit einem simplen Aufdruck. Aus den Akten quellen bunte Bilder, viele davon sehen aus wie ausgedruckte Zeichnungen und zeigen Personen, Tiere oder Gruppenbilder; die wenigsten kann Temari zuordnen, viele Personen sagen ihr überhaupt nichts.
Lose Seiten liegen ebenfalls um die zwei verstreut, voller Flecken, teilweise eingerissen und mit verkleckster Schrift. An der Decke hängen Lampen, die an Sturmlampen erinnern. Klein, rund, versehen mit einem Eisengitter, im Innern flackert ein Licht, das Temari so noch nie gesehen hat. Obwohl sie so dämmerig wirken, spenden sie sehr helles Licht. Eine Motte flattert um eine dieser Lampen herum.
Die Wände des Raumes sind mintgrün gestrichen und fleckig, so als hätte schon der eine oder andere Kaffee dagegen gespuckt. Die Wände sind vollgekritzelt worden, wobei Temari bis jetzt noch keinen Stift hat ausmachen können.
An den Wänden stehen erhellende Sätze wie: „Tag 14. Keine Hilfe in Sicht.“
„So viele Rechtscreibfehler …“ Ironischerweise mit Rechtschreibfehler.
„Wie viele Bücher muss ich noch lesen?“
„Heil dem Parmesan!“
„Wann gibt es wieder Milch für den Kaffee?“
Lauter so Zeugs.
Nachdem Temari das in gewohnter Schnelligkeit zur Kenntnis genommen hat, greift sie nach ihren Waffen – und hat keine. Ihre Hand tastet ins Leere, sie schnappt nach Luft und sieht Kankuro erschrocken an.
„Ich habe auch keine Waffen mehr und keine Ahnung, wie wir hierher gekommen sind.“
Ein Bücherberg bewegt sich. Stimmt, den hat Temari nur am Rande wahrgenommen. Er befindet sich ebenfalls in der Mitte des Raumes, nur einen Meter von Kankuro und ihr entfernt. Jetzt erkennt Temari, dass zwei Füße seitlich herausragen; jemand liegt dort begraben unter einer Menge Papier. Ein animalisches Knurren, das Temari schon oft gehört hat, dringt an ihr Ohr.
Gaara wühlt sich aus diesem Berg und sieht sehr unglücklich aus, aber es kommt noch schlimmer.
Seine Kürbisflasche ist weg. Sein Sand ist weg.
Temari starrt ihre Geschwister entsetzt an. „Was ist hier nur los?! Wo sind wir?!“
Kankuro sieht sich vielsagend um, eine Hand am Kinn. Er sieht sehr klug dabei aus. Nach einer Weile nickt er. „Wir sind in einer Art Rumpelkammer.“
Ein Buch klatscht vor seine Füße, klappt dabei auf und präsentiert einen Zettel. Kankuro hebt ihn mit gerunzelter Stirn auf und liest laut vor: „Das ist ein Büchermagazin. Das sieht man doch. Du Dummkopf.“
„Wo ist mein Sand?!“
Kankuro dämmert es langsam. „Dummkopf?!“
„Wieso hat dieser Raum keine Tür?“, fragt Temari und betrachtet ebenfalls Kankuros Fundstück.
„Wo-ist-meine-Kürbisflasche!“
„Wie geht das?! Wie kann jemand Zettel zu dem, was ich sage, hier auftauchen lassen?!“, will Kankuro aufgebracht wissen. „Was für ein Jutsu ist das?!“
Temari greift sich an den schmerzenden Kopf. „Ich hab wirklich keine Ahnung … Kann sich einer von euch daran erinnern, was passiert ist?“
Sie entdeckt einen weiteren, kleinen Zettel, der in der Mitte des Raumes aufgetaucht ist, zwischen all den aufgeschlagenen Büchern, Akten und losen Blättern. Er sieht herausgerissen aus, die Ecken sind ausgefranst. Es sieht so aus, als hätte jemand eine Kanne Kaffee darüber verschüttet. Temari hebt ihn vorsichtig auf und dreht ihn um.
„MISS ME?“
Sie findet den Zettel nicht lustig. „Was soll das jetzt?!“
„Ich weiß nicht“, murmelt Kankuro, schmeißt seinen Zettel weg und geht in dem kleinen und beschaulichen Raum umher.
Es ist so staubig hier, was klar macht, dass hier schon sehr lange keiner mehr gewesen ist.
Temari fällt ein sehr dünner Groschenroman auf dem Boden ins Auge und liest laut den Titel vor: „Gaara und Tanja.“
Gaara wühlt sich gerade durch den Bücherberg, auf der verzweifelten Suche nach einem Sandkorn, als er verdutzt aufblickt. „Was?“
„Gaara und Tanja.“
„Wie, Gaara und Tanja?!“, hakt Kankuro verwirrt nach.
Temari hebt das dünne Buch hoch und dreht es so, dass die zwei den Titel lesen können.
Kankuro grapscht seiner Schwester den Staubfänger weg. „Gib das mal her!“
„Ich will auch!“
„Jungs, was …! Wir haben echt andere Probleme!“, protestiert Temari lautstark, aber die beiden sitzen schon auf dem unbequemen Boden und haben die erste Seite aufgeschlagen.