Epilog
„Ich will nicht sagen, dass ich’s gesagt hab…”, begann Boris vielsagend.
„Aber du hast es gesagt”, sagte Kai und nickte nachdenklich.
„Haltet beide die Klappe”, sagte Yuriy, ohne den Blick von der Hündin auf der anderen Seite des Gitters zu nehmen.
Alaska hatte nicht das gehabt, was er sich vorgestellt hatte - er hatte bei keinem der Hunde das Bauchgefühl verspürt, das ihn eine sichere Wahl hätte treffen lassen und so waren sie unverrichteter Dinge wieder heimgefahren. Er hatte sich zwei Tage lang gegönnt, in denen er mit schlechter Laune in der Buchhaltungsabstellkammer des Verlags, für den er arbeitete, gehockt war und alle mit stechenden Blicken verscheucht hatte, die etwas von ihm wollten. Dann hatte er sich von Boris breitschlagen lassen, doch noch eines oder zwei von Moskaus Tierheimen abzuklappern. Die gute Nachricht war, dass es funktioniert hatte.
Die schlechte war, dass Boris ihn das vermutlich nie wieder vergessen lassen würde.
Für den Moment war Yuriy das allerdings vollkommen egal, denn die Hündin, die ihn mit hellen blauen Augen wachsam beobachtete und sich nicht aus ihrer Ecke rührte, während die meisten anderen Hunde bereits schwanzwedelnd an ihren Gittern standen und um Aufmerksamkeit bettelten, war perfekt.
„Samojede-Malamute-Mischling”, sagte die Tierheimtante, deren Name er sich nicht gemerkt hatte, hilfreich hinter ihm, woraufhin sein Herz noch einmal einen Hüpfer machte. „Sie ist jetzt so um ein Jahr alt. Ist recht schlecht behandelt und von einer Nachbarin gerettet worden, deswegen ist sie ein bisschen schwierig. Man merkt, sie will ja, aber sie kann nicht so recht aus ihrer Haut.”
„Er wird den Hund mitnehmen”, hörte Yuriy Kai an Boris gewandt murmeln.
Er ignorierte sie beide. „Beißt sie?”
„Das nicht”, erwiderte die Tierheimtante, „aber sie hat einen empfindlichen Magen und reagiert schreckhaft auf laute Geräusche. Wir hatten eine Familie da, die sich für sie interessiert hätte, aber da haben sie die Kinder so überfordert, dass sie sich groß gemacht und minutenlang geheult hat. Wie Sie sehen, ist sie ziemlich groß, wenn auch momentan mehr Fell als Fleisch, wenn die sich mal aufbäumt ist es schon recht beeindruckend. So ein kleines Kind ist da nicht mehr als ein Kegel, den man relativ schnell umrennen kann.”
„Hmmm”, sagte Yuriy.
Bei dem Laut stellte die Hündin die schwarz umrandeten Ohren auf. Sie hatte eine schöne Färbung: ein helles, feines Gesicht mit einem schwarzen Nasenstrich und schwarzen Bögen über den Augen, die langsam in das hellere, lange Fell ihres Körpers - nicht komplett weiß, sondern eher ein sehr helles Beige mit gelegentlich rötlichem Schimmer- überging. Ihre Kehle und der Großteil der Pfoten waren weiß, dazwischen fanden sich auf Bauch und Schwanz immer wieder schwarze Stellen. Da war ein intelligenter Ausdruck in ihren Augen; sie registrierte genau, dass Yuriy sie ansah und ließ ihn nicht aus dem Blick. Nach einem Moment begann sie allerdings zögerlich mit dem Schwanz gegen den Boden zu klopfen, ohne sich aus der leicht geduckten Haltung zu rühren.
„Machen Sie mal die Tür auf”, sagte Yuriy.
„Sind Sie sicher? Ich meine…” Die Tierheimtante verstummte, als er den Kopf drehte und ihr einen Blick zuwarf, der sie still fragte, ob er gestottert hatte. Boris und Kai sahen sich amüsiert an, als sie sich beeilte, den Käfig zu öffnen, um dann beiseite zu treten, damit Yuriy davor in die Hocke gehen konnte. Er verharrte so, vollkommen ruhig und auf die Hündin fokussiert, der er schließlich eine Hand entgegen streckte. Sie streckte ihren Kopf aus und schnupperte eine ganze Weile, während der Schwanz über den Boden fegte. Dann kroch sie vorwärts, immer noch abwartend, bis sie schließlich auf die Beine kam und nahe genug kam, um mit der schwarzen Schnauze gegen seine Fingerspitzen zu streifen. Sie war tatsächlich groß, aber das war bei der Mischung auch keine große Überraschung. Yuriy betrachtete aufmerksam ihr Verhalten und stellte still fest, dass sie Arbeit und Fingerspitzengefühl erfordern würde. Dann wiederum hatte er jahrelang erfolgreich ein Team geleitet, das einiges an Höhen und Tiefen erlebt hatte. In der Hinsicht schreckte ihn nicht mehr viel und der Hund war eindeutig nicht gebrochen - nur ein wenig verloren.
„Hat sie einen Namen?”, fragte er.
Die Tierheimtante gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Die Nachbarin, die sie gerettet hat, hat sie Adhara genannt. Ich glaube, das schreibt man mit einem stummen H.”
Yuriy hielt inne. Er glaubte nicht an Vorbestimmung und schon gar nicht an irgendeinen Gott, aber manchmal war er doch kurz davor, daran zu zweifeln. „Wie das Doppelsternsystem?”
„Okay”, sagte Boris an Kai gewandt, „das Spiel wurde entschieden. Und ich will nicht sagen, dass ich gleich gesagt hab, dass er in Moskau schauen soll, aber…”
Yuriy rollte so hart mit den Augen, dass Adhara stärker mit dem Schwanz gegen den Boden klopfte. Dann stand er auf, langsam genug, dass sie sich nicht schreckte, und drehte sich zu der Tierheimtante um. „Ich nehme sie mit.”
Boris hatte schon Recht. Er hätte wissen müssen, dass er in Moskau finden würde, was er gesucht hatte. Die Stadt hatte ihm alles beschert, was ihn in seinem Leben wirklich verletzt hatte. Aber sie hatte ihm auch alles geschenkt, was er liebte.
„Na”, fragte Kai und seine Augen waren sehr warm dabei, „bist du jetzt endlich glücklich?”
„Sehr”, sagte Yuriy und meinte es auch so.