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The Monster inside my Veins

von

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Ein Anfang

Als Rye und Gin die Bar ‚Black Widow‘ hinter sich zurückließen, dämmerte es schon. Es war fast 22:00 Uhr, doch die Straßen schienen noch voller als vorhin zu sein. Gin ging wortlos im Schnellschritt voran, weshalb Rye darauf achten musste, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er ahnte, dass der Silberhaarige wohl gerade ein bisschen verärgert war und ihn deswegen ignorierte.

Rye fühlte sich dabei so unwohl, dass er sich nicht mal mehr traute, Gin anzusprechen. Er wollte nicht abgewiesen werden. Doch er wollte ebenso wenig, dass der Abend mit solch einer negativen Stimmung endete. Die Mission an sich hatte er zwar mit Gins Hilfe erfolgreich beendet, doch das Resultat war trotzdem ein Reinfall. Irgendwas musste er dagegen unternehmen.

Vielleicht sollte ich mich erst mal entschuldigen… aber dann beschwöre ich das Thema bloß erneut herauf…“, überlegte Rye und senkte betrübt den Blick. „Wohin will er? Etwa nach Hause? Will er überhaupt, dass ich ihn bis dahin begleite…?“

Seine aufkommenden Zweifel brachten ihn fast dazu, einfach stehenzubleiben. Aber er konnte nicht. Gin war wie ein Magnet, der ihn unweigerlich hinter sich her zog. Zwei Gegensätze, die einander anzogen, jedoch nie aufeinandertreffen würden. Sich nie berühren dürften. Zu gern hätte Rye wenigstens Gins Hand gehalten. Obwohl seine innersten Bedürfnisse bereits nach mehr verlangten.

„Eine Frage.“

Rye hob überrascht den Blick, als sich Gin zu ihm umdrehte. Dessen Miene war ausdruckslos und deutete auf nichts hin, worauf sich die Frage beziehen könnte.

„Ja?“ Rye ließ sich nicht anmerken, dass bereits wieder erste Befürchtungen in ihm aufkamen, die Frage könnte etwas mit dem Spion oder seiner Vergangenheit zu tun haben. Gin formte seine Lippen zu einer geraden Linie und wandte sich wieder von ihm ab, als würde er Scham empfinden. Nur für was?

Rye erhöhte sein Schritttempo, bis er direkt neben Gin lief, um einen kurzen Blick in sein Gesicht erhaschen zu können. Eine leichte Röte hatte sich auf seinen Wangen gebildet, welche sämtliche von Ryes Befürchtungen umgehend über Bord warf. Jetzt war er eher neugierig auf den Inhalt der Frage, die Gin erst nach weiteren verstreichenden Sekunden stellte: „Wie hast du Naganori eigentlich dazu gebracht, dir zu folgen?“

Damit hatte Rye nicht gerechnet. Kurz klappte ihm der Mund auf, bevor er seine Hand davor hielt und ein leises Lachen unterdrücken musste. Es wunderte ihn, dass Gin ausgerechnet das wissen wollte. Mit Sicherheit gab es einen bestimmten Grund dafür, welcher den Schwarzhaarigen brennend interessierte.

„Was denkst du denn?“, antwortete er mit einer Gegenfrage, um seinen Partner aus der Reserve zu locken. Und es schien zu funktionieren, da sich die Röte in Gins Gesicht sofort verstärkte.

„Nichts… Ich kann es mir nicht erklären, deswegen frag ich doch.“, meinte er allerdings in Widerspruch zu dieser verführerischen Röte.

„Das ist jetzt aber gelogen.“

„Ist es nicht.“

„Bitte verrate mir, was du denkst.“, drängte Rye. Er würde nicht locker lassen, bis Gin es ihm endlich gesagt hatte. Doch dieser beharrte weiterhin: „Ich hab doch gesagt nichts!“

Beide blieben unter einer Fußgängerbrücke stehen. Rye musterte den Silberhaarigen eindringlich, bevor er dessen gereizte Miene mit einem selbstgefälligen Lächeln erwiderte und anschließend erklärte: „Wenn das wirklich so wäre, würdest du nicht fragen. Du sagst zwar, dass du es dir nicht erklären kannst. Aber wer sich Dinge nicht erklären kann, stellt auch automatisch Vermutungen an. Also?“

Gespannt wartete Rye auf eine Antwort, die aber nicht erfolgte. Gin sah ihn bloß schweigend an, schien sich aber ertappt zu fühlen.

„Komm schon. Bitte.“, drängte Rye weiter. Wenn nötig musste er sich irgendwas anderes einfallen lassen, um Gin die Antwort zu entlocken. Doch dieser war nun scheinbar doch bereit, es ihm zu verraten.

„Okay, wenn du unbedingt drauf bestehst.“, meinte er genervt und verdrehte dabei die Augen. „Hast du ihn verführt?“

Kaum hatte Gin die Frage ausgesprochen, entwich Rye ein Lachen. Er hielt sich erneut die Hand vor dem Mund, was aber nicht viel nützte. Er glaubte, nebenbei erkennen zu können, wie die Röte in Gins Gesicht noch intensiver wurde. Doch sonst entsprach dessen Ausdruck den einer unbewegten Maske.

„Also nicht.“, erwiderte er tonlos. Rye überkam das Bedürfnis, den Silberhaarigen ein wenig zu necken, weshalb er in provozierender Tonlage fragte: „Wer weiß, was wenn doch?“

Obwohl das bloß ein Scherz sein sollte, interessierte ihn die Antwort darauf schon etwas. Vorausgesetzt, Gin würde ehrlich antworten und zu seinen Gefühlen stehen. Aber das tat er natürlich nicht.

„Das… wäre widerlich.“, sagte er nur.

„Genau. Und deswegen kränkt es mich sehr, dass du das von mir dachtest.“ Rye schlug einen gespielt beleidigten Tonfall an und verschränkte die Arme.

„Es sah eben so aus…“, erklärte Gin, während er den Kopf zur Seite drehte. Der Schwarzhaarige musste schmunzeln.

„Du hast mich echt pausenlos beobachtet, oder?“

„Nicht ganz.“, gab Gin zu. Selbstverständlich hatte er sich mehr auf den NOC konzentriert. Jedoch kam Rye nicht umhin, sich zu fragen, wie es wohl gewesen wäre, wenn er ihn ohne einen Vorwand mitgenommen hätte. Er hätte zu gern Gins Reaktion gesehen oder würde gern erfahren, was dieser in dem Moment gefühlt hatte.

Wenn er es für eine Verführung gehalten hat, kann es sein, dass er dann vielleicht sogar eifersüchtig gewesen ist?“, dachte Rye mit wachsender Hoffnung. Auf einmal wollte er unbedingt wissen, ob er damit richtig lag. Doch da Gin solche Gefühle wie Eifersucht nie direkt zugeben würde, musste er ihn dazu bringen, es zumindest indirekt zuzugeben.

„Du brauchst dir da wirklich keine Gedanken zu machen. Seit ich dich kenne, will ich niemand anderen mehr. Von daher würde ich so etwas nie in Erwägung ziehen.“, machte er deshalb einen Anfang und hoffte, dass Gin darauf eingehen würde. Für den Hauch einer Sekunde glitt so etwas wie Schock über dessen Gesicht. Gleichzeitig konnte Rye hören, wie das Herz des Silberhaarigen einen Sprung machte und kurz darauf schneller schlug.

„Ach so…“, meinte er leise.

Innerlich lächelte Rye triumphierend. Genau die Art von Reaktion hatte er bezwecken wollen. Doch vollständig zufrieden war er noch nicht. Die passenden Worte fehlten.

Rye ging langsam auf Gin zu, woraufhin er von ihm misstrauisch beäugt wurde. Dies ignorierte der Schwarzhaarige jedoch und kam seinem Geliebten so nah, bis er dessen Körperwärme wahrnehmen konnte. Schließlich umfasste er Gins Hand und fragte mit verführerischer Stimme: „Beruhigt dich das?“

Er verschränkte ihre Finger ineinander und genoss das Gefühl der Wärme, die von Gins Körper zu ihm durchdrang. Am liebsten hätte er sich noch enger an ihn geschmiegt. Doch zuerst wollte er eine Antwort. Ein Wort würde ihm schon genügen, was er aber nicht bekam. Dafür schenkte Gin ihm einen verlegenen Gesichtsausdruck, welchem Rye nicht lange widerstehen konnte. Er trat automatisch einen Schritt nach vorn und drückte Gin gegen die Wand, sodass diesem vor Schreck das Blut durch die Adern schoss.

„Sag schon.“, verlangte Rye in sanfter Tonlage. Es war, als würde die Welt für einen Moment komplett still stehen. Er konnte nichts anderes mehr sehen als die klare Tiefe in Gins Augen und die verlockende Röte auf dessen Wangen. Nichts anderes mehr hören als Gins schnellen Herzschlag. Und nichts anderes mehr spüren als die Hitze, die von Gins Körper ausging und ihn vollständig einhüllte. Rye musste sich bemühen, seine Sinne beisammen zu halten. Sein Wunsch, einmal die Worte ‚Ich liebe dich‘ von Gin zu hören, war gerade so unbeschreiblich groß, dass er ausnahmslos alles dafür tun würde. Doch für Worte schien sein Geliebter im Augenblick nicht in der Lage zu sein. Er konnte nur nicken, worüber Rye lächeln musste.

So süß…“, dachte er, während er fasziniert mit seiner freien Hand über Gins gerötete Wange strich. Das allgegenwärtige Brennen in seiner Kehle verstärkte sich zusammen mit seinem Verlangen, welches er bei Gins anziehendem Anblick empfand. Diesmal versuchte er erst gar nicht, dagegen anzukämpfen, sondern ließ sich von seinen Gefühlen überwältigen. Er wäre ohnehin zu schwach gewesen, um diesem Mann widerstehen zu können. Dafür begehrte er ihn einfach zu sehr.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, überwand Rye die letzte Distanz zwischen ihren Gesichtern, indem er seine Lippen auf die von Gin legte. Er versuchte, es langsam anzugehen und nicht zu viel von ihnen zu kosten, denn er wollte nicht sofort wieder die Beherrschung verlieren und den Kuss frühzeitig beenden müssen. Für ihn gab es nichts Schöneres als Gins weiche, warme Lippen auf seinen eigenen zu spüren. Am liebsten würde er sie ohne zu zögern komplett erobern. Er würde Gin gern so leidenschaftlich küssen, dass es ihm den Verstand raubte. Doch das war unmöglich. Eher würde er Gin etwas anderes rauben und ihn dann verlieren. Solange Rye dies im Hinterkopf behielt, konnte er sich einigermaßen konzentrieren. Jedoch bemerkte er nach kurzer Zeit etwas, was ihn aus den Dunst der Leidenschaft riss: Gin erwiderte den Kuss nicht. Seine Körperhaltung war ganz angespannt.

Verdutzt löste sich Rye von ihm und realisierte erst dann, dass Gin die ganze Zeit versucht hatte, ihn von sich wegzudrücken.

„Was ist los?“, fragte er mit deutlich hörbarer Enttäuschung in der Stimme. Doch Gin antwortete ihm nicht. Stattdessen schoss sein Blick unmittelbar nach dem Kuss zur Seite in die Menschenmenge. Die Augen weit aufgerissen vor Schock und Entsetzen, analysierte er jeden Einzelnen der Fußgänger.

„Gin…?“ Allmählich begann sich Rye Sorgen zu machen. War irgendwas passiert, was ihm anscheinend entgangen war?

Der Silberhaarige reagierte erst nach mehreren Sekunden. Er verengte die Augen, bevor er den Blick zurück zu Rye lenkte, welcher ihn fragend ansah.

„Bitte mach so etwas nicht in der Öffentlichkeit.“, bat Gin tonlos, was Rye völlig aus der Bahn warf. Das war alles? Deswegen die abweisende Reaktion gerade eben?

„Hast du irgendwas Seltsames gesehen?“, hakte er vorsichtshalber nach. Gin zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, dann schüttelte er den Kopf.

„Glaub nicht. Es lag wohl einfach daran, dass ich solche Dinge nicht gern in der Öffentlichkeit tue und mich daher beobachtet gefühlt hab.“, spielte Gin es herunter, wobei er zum Ende des Satzes etwas gereizt klang. Rye versuchte die Erklärung so hinzunehmen, da sie an sich schon nachvollziehbar war. Auch wenn er das Gefühl nicht loswurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Oder er verwechselte es mit dem melancholischen Gefühl, von Gin abgewiesen worden zu sein. Als ob ein kurzer Kuss in der Öffentlichkeit so verheerend war. Warum sich jemand dadurch hätte gestört fühlen sollen, entzog sich Ryes Verständnis. Damit würde sein Geliebter ihm nicht so einfach davonkommen.

„Na schön, dann machen wir eben was anderes.“, schlug er vor. Gin, welcher bereits wieder ein paar Schritte vorangegangen war, drehte sich nun verwirrt zu ihm um.

„Wie jetzt?“

„Der Abend hat doch gerade erst angefangen. Roppongi gilt nicht umsonst als eines der beliebtesten Vergnügungsviertel in Tokio. Gibt es nichts, was du gern unternehmen würdest?“ Rye fielen, während er sprach, schon einige Orte ein, an denen man sich abends die Zeit vertreiben konnte. Da war es gar nicht so einfach, sich zu entscheiden. Vor wenigen Monaten war er selbst oft hierher gekommen und hatte den ein oder anderen Club besucht. An diese Nächte erinnerte er sich allerdings kaum. Er wusste nur noch, dass er am nächsten Morgen in den meisten Fällen neben einer Leiche aufgewacht war.

„Eigentlich nicht.“, antwortete Gin, womit er Rye aus seinen Gedanken riss. Das war wohl zu erwarten gewesen. Der Silberhaarige machte eher den Eindruck, als würde er nichts lieber wollen als schnellstmöglich nach Hause zu gehen.

„Mach einen Vorschlag oder wir gehen dorthin, wo ich will.“, forderte Rye. So langsam nahm eine Idee in seinem Kopf Gestalt an, die ihm so sehr gefiel, dass er fast wollte, dass Gin wirklich keinen Vorschlag machte.

„Werde ich das bereuen?“, fragte dieser skeptisch. Jedoch schien er nebenher über das Angebot nachzudenken, was Rye ermutigte.

„Vielleicht. Willst du es herausfinden?“ Er warf Gin einen herausfordernden Blick zu. Scheinbar war es ihm tatsächlich gelungen, dessen Interesse zu wecken, da neben der Skepsis in seinem Gesicht auch eine Spur von Neugier zu erkennen war.

„Hmm… Es ist aber nicht der Mori Tower, oder?“ Gins Stimme klang nun wieder ernster. Rye erkannte die eigentliche Befürchtung hinter dieser Frage, weshalb er anfing zu lachen. Nochmal würde er Gin mit Sicherheit nicht auf irgendeinen Turm schleppen. Zumindest die Lektion hatte er gelernt.

„Nein.“, versicherte er seinem Geliebten. Dieser schwieg dann für einen Moment, um erneut nachzudenken. Rye versuchte sich in der Zeit keine all zu großen Hoffnungen zu machen. Denn Gin war für solche Dinge eigentlich nicht zu haben und wegen ihrem Date auf dem Tokyo Tower würde es Rye nicht wundern, wenn der Silberhaarige vorsichtiger geworden war, was Verabredungen und gemeinsame Aktivitäten betraf.

„Dann meinetwegen.“, lautete allerdings dessen Antwort.

Rye blinzelte ungläubig.

Er will wirklich…“ Ein strahlendes Lächeln bildete sich wie von selbst auf seinen Lippen, welches offenbar sofort wieder Gins Misstrauen weckte.

„Ich glaub, ich werde es doch bereuen.“, kommentierte er es. Rye verzog den Mund und musste ein Lachen unterdrücken. Obwohl Gin womöglich recht haben könnte. Er könnte es bereuen. Mehr als das. Der Schwarzhaarige wusste, dass das, was er geplant hatte, eigentlich keine gute Idee war. Es war vielleicht sogar lebensgefährlich. Aber das hing ganz von ihm ab. Keinesfalls von Gin. Er wäre ihm nur schutzlos ausgeliefert.

„Ach was. Vertrau mir.“, sagte Rye mit gekünstelter Unbeschwertheit. Ein schlechter Scherz, denn er vertraute sich nicht einmal selbst. Sein Vorhaben würde er lediglich aus reiner Selbstsucht in die Tat umsetzen. Mal wieder, weil er nicht genug bekommen konnte, der Kuss ihm nicht ausgereicht hatte. Er hasste sich dafür. Nie konnte er sein Verlangen zügeln. Immer war er zu schwach. Jedes Mal wieder wurde er von dem Monster in seinem Inneren verspottet.

Heute nicht.“, schwor er sich, während er auf Gin zuging und dessen Hand einfing. Es wird alles gut gehen. Ich werde die Kontrolle nicht verlieren. Für ihn…“

Auch das stimmte nicht. Er tat es mehr für sich selbst. Vorgestern hatte er Gin noch zurückgewiesen und gesagt, er wolle nichts überstürzen. Zwar würde er das auch nicht, jedoch kam er sich dennoch erbärmlich vor. Warum konnte nicht einfach alles normal sein? Leicht, unbeschwert, ohne Probleme und ohne Angst vor Verlust. Er würde alles dafür tun, um kein Monster mehr sein zu müssen. Alles, nur um Gin in voller Leidenschaft lieben zu können. Sowohl geistig als auch körperlich. Er wollte ihn berühren, ohne sich ständig zurückhalten zu müssen. Doch er würde nie wieder ein Mensch sein. Also musste er sich diesen Wunsch auf anderem Wege erfüllen. Auch wenn es so gut wie unmöglich schien, wollte er es wenigstens versuchen und es langsam angehen. Heute war ein Anfang. Er würde Gin nicht versehentlich umbringen, ihn nicht einmal verletzen. Gin war anders als all die anderen Menschen, mit denen Rye zuvor die Nächte verbracht hatte. Allein schon, weil er ihn liebte.

 

Während beide weitergingen, bemerkte Gin mit aufkeimender Unsicherheit, wie sich Ryes Miene zu verdüstern schien. Tief in seinen Augen lag wiederum feste Entschlossenheit. Diese Mischung wirkte zusammen mit Ryes veränderter, angespannter Körperhaltung leicht furchteinflößend. Gin verstand nicht, was der Grund für dieses so plötzlich ausgewechselte Verhalten sein könnte. Aber danach fragen wollte er nicht. Vielleicht hatte es auch etwas mit dem Ort zu tun, zu dem sie gleich gehen würden. Wenn dem so war, deutete das jedoch auf nichts Gutes hin.

Was hab ich anderes erwartet…“ Eigentlich hieß es, dass man in den meisten Fällen aus seinen Fehlern lernt. Aber bei Rye funktionierte das nicht. Gin würde sich vermutlich immer wieder auf ihn einlassen. Egal, wie sehr er es am Ende bereute. Denn er wollte ihn nicht unglücklich sehen, auch wenn Rye es gerade anscheinend trotzdem war.

Gin stieß ein Seufzen aus, was sein Partner allerdings nicht hörte. Um diesen aus seinen Gedanken zu holen, fragte er: „Gibst du mir wenigstens einen Tipp?“

Sofort lenkte Rye den Blick zu ihm. Sein Gesichtsausdruck war wieder normal, wirkte jedoch für einen kurzen Moment überrascht.

„Nun ja…“ Rye lächelte geheimnisvoll. „Ich dachte, weil du es in der Öffentlichkeit nicht willst, gehen wir dorthin, wo wir allein sind.“

Gin schluckte. Ein Schauer überkam ihn. Nicht etwa aus Angst, sondern wegen der unmittelbar eintretenden Nervosität. Hatte es Rye so sehr gestört, dass er den Kuss beenden musste? Warum gingen sie dann nicht einfach nach Hause? Was hatte er vor?

„Ich versteh nicht…“, murmelte Gin, hoffte aber auf keine Erklärung. Vorgestern Nacht hatte Rye noch gesagt, dass er es langsam angehen will. Woher kam jetzt also auf einmal dieser Wandel und wozu machte er sich die Umstände?

„Schon okay, das wirst du gleich.“, sagte Rye im beschwichtigenden Ton, was Gins Herz aber nur noch schneller schlagen ließ. Bisher hatte er kaum auf die Umgebung geachtet, doch nun begann er sich unauffällig nach Orten umzusehen, die Rye als Ziel ausgewählt haben könnte. Lange darauf konzentrieren konnte er sich nicht, da sein Blick schon nach kurzer Zeit wieder zu Rye wanderte und dessen Gestalt analysierte. Die Vorstellung, dass diese Lippen, dieser atemberaubende Körper, gleich womöglich vollkommen ihm gehören würden, ließ Gin beinahe die Fassung verlieren. Er dachte unweigerlich an seinen Traum, welcher ihn daran erinnerte, wie sehr er tief im Inneren nach Rye verlangte. Dieses Verlangen ließ ihn eine Nervosität fast gänzlich vergessen. Zumindest für einen kurzen Augenblick. Denn als Rye urplötzlich stehenblieb und seine Hand losließ, folgte Gin seinem Blick und erblickte daraufhin ein riesiges, luxuriöses Hotel. Ein Love Hotel. Ihm lief es eiskalt den Rücken herunter.

„Nein.“, entwich es ihm entgeistert und er trat automatisch ein paar Schritte zurück, bis Rye einen Arm um seine Hüfte schlang. „Du spinnst doch!“

„Ich hab dir die Wahl gelassen.“, entgegnete Rye lediglich und zuckte mit den Schultern. Gin presste die Lippen zusammen. Zwar stimmte das schon, doch wie hätte er zu dem Zeitpunkt ahnen sollen, dass Rye in ein verdammtes Love Hotel gehen wollte? Da würde ihn definitiv niemand rein bekommen.

„Hab dich nicht so, ich zahl auch alles.“, versuchte Rye den Silberhaarigen umzustimmen und schob ihn weiter bis zur Eingangstür, wobei Gin anfing mit den Füßen abzubremsen. Am liebsten würde er sie am Boden festnageln. Glücklicherweise waren sie noch immer in der Öffentlichkeit, sodass Rye ihn nicht einfach gewaltsam hinein befördern konnte.

„Darum geht‘s doch gar nicht!“, zischte Gin.

„Was dann?“ Endlich blieb Rye stehen und nahm seinen Arm von Gins Hüfte weg. Dafür musterte er ihn mit großen Augen, als wüsste er nicht, wo das Problem lag.

Gin versuchte, Ryes Blick auszuweichen, während er sich eine Antwort überlegte. Er wollte ihm nicht ins Gesicht sagen, dass er es nicht tun wollte. Das wäre nicht die Wahrheit. Aber der Ort…

„Ich verstehe schon.“

Verdutzt sah Gin Rye wieder an, welcher sein Gesicht auf einmal zu einer niedergeschlagenen Miene verzogen hatte.

„Das vorhin war nur eine Ausrede, oder? Es ist okay, wenn du es wirklich nicht willst. Ich kann es dir nicht verübeln… Tut mir leid, es war dumm von mir zu glauben, wir beide könnten…“, fuhr er mit leiser, trauriger Stimme fort und ließ den letzten Satz unbeendet. Gin spürte, wie sich nach und nach ein unwohles Gefühl in ihm ausbreitete.

„Das… stimmt doch gar nicht.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Von wegen Ausrede. Natürlich wollte er ihn. Mehr als alles andere.

„Nicht? Dann willst du also doch?“, fragte Rye hoffnungsvoll. Gin schwieg eine Weile. Es fiel ihm noch immer nicht leicht, es so einfach zuzugeben.

„Ja schon, aber-“ Noch bevor er den Satz beenden konnte, griff Rye bereits nach seinem Handgelenk. Die niedergeschlagene Stimmung seines Partners war plötzlich wie weggeblasen.

„Dann sollte es keinen Grund geben, noch länger draußen zu warten.“, säuselte Rye und zog Gin hinter sich her, welcher ihn nur fassungslos anstarrte.

Das war eben bloß geschauspielert…“, realisierte er. Jedoch zu spät. Sie hatten das Hotel längst betreten.

Mistkerl, noch einmal fall‘ ich darauf nicht rein.“, schwor er sich und betrachtete Rye dabei missmutig. Dieser ließ im nächsten Moment seine Hand los, bevor er sich zu ihm umdrehte und sagte: „Warte kurz hier.“

Gin antwortete nichts darauf und verschränkte die Arme, als sich Rye zur Rezeption begab, hinter welcher sich eine junge Frau befand. Ihre Augen wurden groß und größer vor Neugierde, umso näher Rye ihr kam. Gin schüttelte unmerklich den Kopf und ließ stattdessen den Blick etwas wandern. Vor der Rezeption war es zum Glück leer. Er konnte nur aus dem Hinterbereich der Lobby ein paar gedämpfte Stimmen wahrnehmen. Somit war die Chance schon mal geringer, einem bekannten Gesicht zu begegnen. Aber ihm war die ganze Situation dennoch unangenehm. Er achtete bewusst nicht darauf, was Rye und die Hotelangestellte miteinander besprachen. Das Einzige, was er zwischenzeitlich bemerkte, war, dass die Frau einmal skeptisch ihren Blick in seine Richtung schweifen ließ. Da fiel Gin ein, dass es heutzutage tatsächlich noch wenige Love Hotels gab, in denen keine männlichen Pärchen übernachten durften. Oder es gab auch noch die Möglichkeit, dass kein Zimmer mehr frei war. Eins davon musste es wohl sein, da Rye gerade so wirkte, als würde er die Frau von irgendetwas überzeugen wollen.

Gin richtete seinen Blick zur Eingangstür. Theoretisch könnte er einfach raus rennen. Doch Rye würde ihn wahrscheinlich in null Komma nichts einholen. Zudem würde das bloß feige aussehen. Er wollte eigentlich nicht davonlaufen. Nicht vor dem, was gleich kommen würde. Zwar war es ihm noch immer ein Rätsel, warum es Rye auf einmal nichts mehr auszumachen schien, dass sie miteinander schliefen, doch er würde ihn nicht aufhalten und es genießen.

Da tippte ihm plötzlich jemand auf die Schulter. Gin wandte den Blick und erblickte Rye mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht, während er einen Schlüsselbund hochhielt. Gin versuchte sich ebenso ein Lächeln aufzuzwingen, was ihm aber nicht ganz gelang.

„Hast du sie bestochen?“, fragte er scherzhaft.

„So ähnlich.“, erwiderte Rye. Währenddessen gingen beide durch einen blau gemusterten Türvorhang, hinter welchem sich das Treppenhaus befand.

„Und wie viel kostet es?“, bohrte Gin weiter. Der Größe und der Einrichtung nach zu urteilen konnten sich wohl nur die wenigsten eine Übernachtung leisten. Doch Rye machte nicht den Eindruck, als würde ihm das etwas ausmachen.

„10400 Yen, für eine Person. Ich zahle morgen früh.“, meinte er. Das war tatsächlich teurer als erwartet. Gin wusste nicht, was er davon halten sollte, dass Rye seinetwegen so viel Geld ausgab. Obendrein für etwas, was man auch in den eigenen vier Wänden tun konnte.

Die Beiden mussten nicht sonderlich viel Treppen steigen, da ihr Zimmer gleich im zweiten Stock lag. Es hatte die Zimmernummer 204, wie Gin feststellte, als sie davor stehenblieben und Rye die Tür aufschloss. Was von außen eher schlicht wirkte, war von drinnen umso überwältigender. Hinter den Wänden schien es einen elektrischen Mechanismus zu geben, da von ihnen ein bläuliches Licht ausging, das den Raum schwach erhellte. Der Teppich hingegen war tiefschwarz und die Decke glich nahezu einem Sternenhimmel. In der Mitte des Raumes befand sich ein rundes Bett, gegenüber von diesem ein breiter Flachbildfernseher und daneben ein langes, schwarzes Sofa aus Leder. In dem Glastisch davor spiegelte sich die Decke, sodass Gin ihn fast übersehen hätte. Er blieb mitten im Raum stehen und blickte zu Rye, welcher gerade die Tür hinter sich verschlossen hatte und nun auf ihn zukam.

„Gefällt es dir?“, wollte er wissen. Er klang unsicher. Scheinbar war es ihm wichtig, dass auch wirklich alles zu Gins Zufriedenheit war.

„Ein bisschen extravagant… aber es ist trotzdem schön. Für die eine Nacht sollte es gehen.“, antwortete dieser, woraufhin Rye schmunzelnd an ihm vorbeiging und die Tür zum Badezimmer öffnete.

„Sieh dir das an.“, sagte er dann. Gin warf einen Blick in das Bad und das Erste, was er sah, war ein Whirlpool mit weißer LED-Umrandungsbeleuchtung. Ringsherum verteilt waren dutzende Rosen und auf einer Ablage standen zwei Gläser und eine Weinflasche. Gin durchbebte ein Schauer, als er sich unbewusst vorstellte, wie es wäre, zusammen mit Rye in diesem Whirlpool zu baden. Das Gefühl von Ryes kalten Berührungen in Kontrast zu der Wärme des Wassers. Es gab kaum etwas Vergleichbares, wonach sich sein Körper in diesem Moment mehr sehnte.

Seinen Empfindungen nachgehend zögerte Gin nicht lange und trat an Rye heran. Er legte seine Hände auf dessen Brust, um kurz darauf einen Kuss zu beginnen. Dass Rye darauf noch nicht ganz vorbereitet war, bemerkte er an der bestürzten Reaktion, die sofort erfolgte. Zwar stieß der Schwarzhaarige ihn nicht von sich weg, doch dessen Hände wanderten zu seinen Oberarmen und verkrampften sich in den Stoff seines Sakkos. Ryes Körper spannte sich an und er ging so weit zurück, bis er an den Türrahmen stieß. Aber das alles brachte Gin nicht dazu, sich von den weichen, schneekalten Lippen zu lösen, welche er gerade nur zu gern erobern wollte. Dazu brauchte er jedoch auch die Zustimmung von Rye, die er erst nach einer Weile zögernd erhielt. Kaum hatten sich die Lippen seines Geliebten leicht geöffnet, schob Gin seine Zunge durch diese hindurch und begann daraufhin Ryes feucht-kalte Mundhöhle zu erkunden. Während er dabei nach dessen Zunge suchte und sie umschmeichelte, sobald er fündig wurde, nahm er am Rande die zittrigen Atemzüge von Rye unter seinen Händen wahr. Dennoch ging dieser immer mehr auf den Kuss ein und mit der Zeit gelang es ihm sogar Gins Zunge in dessen eigene Mundhöhle zurückzudrängen. Der Silberhaarige versuchte erst gar nicht dagegen anzukommen und beschloss die Kontrolle an Rye abzugeben. Sich von ihm erobern zu lassen fühlte sich ohnehin weitaus berauschender an. Gin stöhnte in den Kuss hinein und seine Finger fingen wie von selbst an Ryes Anzugweste aufzuknöpfen. Doch da rissen ihn ein grausiges Geräusch und Ryes darauffolgende, schlagartig veränderte Haltung aus seiner Trance. Noch ehe Gin das Geräusch zuordnen konnte, blickte er bereits in ein vor Entsetzen geweitetes, grünes Augenpaar. Rye schob ihn vorsichtig von sich weg und ließ seine Hände langsam sinken, wobei Gin erst da bemerkte, dass ein Ärmel seines Sakkos gerissen war.

„Entschuldige… das… wollt ich nicht…“, murmelte Rye beschämt.

„Ist nicht so schlimm, dann kauf ich mir halt demnächst einen neuen Anzug.“, wollte Gin es herunterspielen, was bei seinem Partner jedoch nichts zu bewirken schien.

„Nein, das werde ich machen.“, beharrte er, und Gin konnte deutlich an seiner Stimme hören, wie sehr er sich für dieses eigentlich unbedeutende Missgeschick verfluchte. Aus diesem Grund hatte Gin auch nicht vor weiter darüber zu diskutieren. Zudem bereitete Ryes Gesichtsausdruck ihm etwas Sorgen. Da war zum einen diese Wut, die zweifellos ihm selbst galt und zum anderen Erleichterung, dass es nur der Stoff des Sakkos gewesen war. Für Rye war es anscheinend viel mehr als nur ein unbedeutendes Missgeschick. Doch Gin würde sich davon den Abend ganz bestimmt nicht ruinieren lassen. Ohne Worte zog er sich das Sakko aus und warf es achtlos in die Ecke, womit er nun wieder Ryes vollständige Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Lächelnd sah Gin ihm tief in die Augen, während er mit betont langsamen Bewegungen die Krawatte von seinem Hals löste. Rye verfolgte diese Bewegungen genaustens mit den Augen und Gin erkannte das Verlangen, welches sich allmählich in ihnen widerspiegelte. Trotzdem blieb sein Geliebter reglos wie eine Statue. Er schien sogar den Atem angehalten zu haben. Unsicher stoppte Gin sein Vorhaben sich seines Hemdes ebenso zu entledigen und wartete auf irgendeine Reaktion von Rye, die aber erst nach etlichen Sekunden Stille erfolgte.

„Wenn du willst, lasse ich dir den Vortritt.“ Ryes Blick wanderte zum Whirlpool, woraufhin Gin den Schwarzhaarigen verwirrt anschaute. Das war ein Scherz, oder?

„Ich wollte eigentlich, dass du mir Gesellschaft leistest.“, sagte Gin, wobei er von seiner festen, entschlossenen Tonlage selbst ein wenig überrascht war. Rye zog die Mundwinkel zu einem traurigen Lächeln leicht nach oben, welches verriet, dass er das ebenso gewollt hatte. Eigentlich.

„Lieber nicht.“, lehnte er wie erwartet ab. Gin unterdrückte ein Seufzen und verkniff sich seinen Kommentar. Stattdessen nahm er sich ein paar Sekunden Zeit, um sich kurz in Rye hineinzuversetzen. Ab und zu musste er das wohl tun, um sich daran zu erinnern, dass er Verständnis für dessen Übervorsichtigkeit haben sollte. Schließlich tat Rye das aus Liebe, weil er ihn nicht verletzen wollte. Dennoch konnte Gin noch immer nicht verstehen, weshalb sie dann die Nacht hier verbrachten. Gerade, als er Rye genau das fragen wollte, kam dieser ihm aber zuvor.

„Lass dir Zeit. Ich werde draußen auf dich warten und mich derweil ein wenig… beruhigen.“, sagte er mit sanfter, unsicherer Stimme, welche trotz allem noch einen Funken Hoffnung in Gin erweckte.

„In Ordnung.“, stimmte er deshalb zu und sah Rye hinterher, wie dieser wortlos das Bad verließ und die Tür hinter sich schloss.

Das kann ja was werden…“, dachte Gin frustriert. Er hatte das Gefühl, dass dieser Abend noch um einiges komplizierter werden würde. Ob Rye ihn vielleicht wirklich am Ende versehentlich umbringen würde? Diese Frage stand wohl in den Sternen. Aber die Antwort darauf brauchte Gin nicht. Denn er vertraute Rye. Auch wenn das womöglich nicht die richtige Entscheidung war. Er erinnerte sich daran, wie Vater ihm ständig eingetrichtert hatte, er solle sich niemals verlieben. Liebe macht blind. Man vergisst klar zu denken, begeht Fehler und letzten Endes ist alles, was bleibt nur Schmerz und Kummer. Solche Dinge hatte Vater immer wieder gesagt.

Schätze, das hab ich jetzt davon, weil ich nicht auf ihn gehört hab.“ Gin lächelte ironisch. Er hatte nie geliebt, nie jemanden gewollt, geschweige denn sich überhaupt für jemanden wirklich interessiert. Bis zu dem Tag, an dem er Rye begegnet war. Und dieser war ausgerechnet ein Vampir. Ein Wesen, welches eigentlich nicht in dieser Welt existieren durfte.

Gin fuhr fort sich zu entkleiden und stieg anschließend in den Whirlpool. Er schaltete per Knopfdruck auf der Fernbedienung die Düsen an, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das Wasser war so angenehm warm, dass er am liebsten für einen Moment alles vergessen und über nichts mehr nachdenken wollte. Doch das war nicht möglich, da sich Rye wie immer in seine Gedanken schlich. Seit Monaten dachte Gin schon an nichts anderes mehr und selbst jetzt war es noch nicht genug. Ihn quälten einfach zu viele Sorgen und Fragen. Abgesehen von der bevorstehenden Nacht war da auch noch die Sache von vorhin mit dem ausländischen Spion, welcher scheinbar irgendeine Verbindung zu Ryes Vergangenheit gehabt hatte. Wovon dieser aber nichts wissen wollte.

Wer auch immer dieser Mann war, er hat Rye für tot gehalten… und jemandem mitgeteilt, dass er lebt…“ Gin bezweifelte, dass es sich lediglich um einen alten Freund oder Bekannten gehandelt haben könnte. Doch er war sich nicht sicher, ob es gut wäre, den Alternativen weiter auf den Grund zu gehen. Insbesondere wegen des Satzes, den Rye noch zu ihm gesagt hatte. Dass er dessen früheres Ich abgrundtief gehasst hätte. Aus welchem Grund? Welche Sorte von Mensch würde er abgrundtief hassen? Er konnte sich nicht vorstellen Rye in irgendeiner Weise als Mensch zu hassen. Wenn Rye ein Mensch wäre, wäre alles viel leichter.

Aber mal angenommen, Eclipse gäbe es gar nicht und Rye wäre wirklich noch ein Mensch… wären wir uns dann überhaupt begegnet? Falls ja, würde ich zu gern wissen, wie das abgelaufen wäre…“ Am meisten interessierte es Gin jedoch, ob er sich dann auch wieder in Rye verliebt hätte. Oder umgekehrt.

Es macht keinen Sinn noch weiter darüber nachzudenken… diese Welt gibt es nicht.“ Der Silberhaarige stieß ein Seufzen aus. Wahrscheinlich wäre Rye vom Charakter her ganz anders gewesen. Sogar sein Name wäre ein anderer. Sein echter Name, welchen Gin hoffentlich irgendwann mal herausfinden würde. Dafür müsste er möglicherweise nur weitere Nachforschungen über diesen Spion anstellen lassen. Doch wenn Rye davon Wind bekommen würde…

Eigentlich keine gute Idee… aber ich sollte vielleicht nochmal mit ihm darüber reden…“ Obwohl er sich schon denken konnte, wie das Gespräch womöglich ausgehen würde. Rye würde keinesfalls zulassen, dass er mehr über ihn herausfand.

Irgendwann muss er sich aber erinnern. Er kann seiner Vergangenheit nicht ewig den Rücken zukehren…“ Auch wenn das in mancher Hinsicht vielleicht die leichtere Variante wäre, jedoch nicht die Lösung aller Probleme.

 

 

Was mache ich bloß…“, dachte Rye, während er auf dem Bett saß und seine Hände neben sich in die Bettdecke krallte. „Ich… kann das nicht… ich tu ihm nur weh… ich hab immer allen weh getan… jeden getötet…“

Verzweifelt versuchte er den letzten Rest seiner Entschlossenheit zusammenzukratzen, von welcher er bis vor dem Kuss noch unendlich viel gehabt hatte. Wenn er bei solchen Liebkosungen schon unbewusst nachsichtig wurde, wie sollte er dann noch weiter gehen?

Rye senkte den Blick und starrte auf seine Hände. Hart, kalt und unmenschlich. Die Hände eines Monsters. Sie hatten schon zu viel zerstört und Leid angerichtet. Damit durfte er Gin nicht berühren.

Aber er will es… und ich… will es auch…“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Wäre er doch bloß nicht so selbstsüchtig. Das war wohl etwas, was er niemals ändern konnte. Nicht bei Gin. Die Strafe dafür ereilte Rye immer wieder aufs Neue. Auch jetzt spürte er den trockenen Schmerz in seiner Kehle. Diesen lästigen, rauen, kratzigen Durst. Gins Duft beherrschte ihn vollkommen. Wie ein Zwang, dem sich Rye niemals widersetzen konnte. Er hatte beschlossen heute nur Luft zu holen, wenn es zum Sprechen notwendig war. Vielleicht würde es so wenigstens ein bisschen leichter sein. Jedoch genügten allein schon Gins Anblick oder hemmungslose Vorstellungen und Fantasien mit dem Silberhaarigen, um ihn beinahe die Kontrolle verlieren zu lassen. Gleich würde es so weit sein. Sobald Gin aus dem Badezimmer trat. Rye konnte bereits hören, wie die Düsen verstummten und das Wasser anschließend im Whirlpool laut plätscherte, weil sein Geliebter diesen verließ. Nur noch ein paar Minuten.

Oder Sekunden, wenn er seine Kleidung… nicht mehr anzieht.“ Rye schluckte. Jede Faser seines Körpers spannte sich an. Er hatte Gin noch nie vollkommen entkleidet gesehen und war sich bis jetzt nicht richtig bewusst gewesen, dass sich das heute noch ändern würde. Gleich würde er zum ersten Mal die Gelegenheit bekommen Gins Körper zu bewundern. Das Brennen in seiner Kehle verstärkte sich. Rye versuchte es zu ignorieren. Er musste sich zusammenreißen. Sonst könnte das womöglich die letzte Nacht sein, die er gemeinsam mit Gin verbrachte.

Dieser öffnete im nächsten Moment die Badezimmertür. Ryes Hände krallten sich automatisch wieder in die Decke. Als wäre er so in der Lage sich zurückzuhalten, wenn der atemberaubende Anblick ihn in der nächsten Sekunde überwältigen würde. Die Zeitspanne kam Rye jedoch bedeutend länger vor, in der sein Geliebter endlich hinter der Tür vortrat und schweigend stehenblieb.

Rye spürte augenblicklich, wie eine Welle der Lust ihn übermannte. Diesen eleganten, muskulösen Körper würde er am liebsten sofort für sich beanspruchen. Nur ein Handtuch, welches sich Gin um die Hüften geworfen hatte, verdeckte noch seine intimste Stelle. Es fiel Rye schwer seinen Blick wieder von dieser Stelle zu lösen und stattdessen in Gins Gesicht zu schauen, welches vielerlei Gefühle wie Unsicherheit, Scham, aber auch Verlangen widerspiegelte. Er schien sehr nervös zu sein. Wie ein Mädchen, das gleich ihr erstes Mal haben würde. Rye hielt diesen Gedanken für absurd, weil Gin mit Sicherheit schon öfters Sex gehabt hatte.

Ob er da auch immer so nervös gewesen ist? Bestimmt nicht…“, überlegte Rye für einen kurzen Moment, bevor er allmählich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Alles in seinem Kopf war nur noch auf Eines fixiert: Gin. Ihn dort an der Tür so stehen zu sehen, noch dazu fast nackt, brachte Rye dazu, nicht länger tatenlos herumsitzen zu wollen. Er erhob sich vom Bett und ging mit langsamen Schritten auf seinen Geliebten zu.

„Du liebst es, mich zu überwältigen, oder?“, fragte er diesen ironisch und achtete bei jedem Schritt darauf nicht die Beherrschung zu verlieren. Es war ein seltsames, anziehendes Gefühl, welches sich verstärkte, umso näher er Gin kam. Eigentlich fühlte sich Rye schon seit ihrer ersten Begegnung zu dem Silberhaarigen hingezogen, doch diesmal war es anders. Dieses Gefühl war weitaus mächtiger und löste eine besitzergreifende Gier in ihm aus. Er wollte Gins entblößten Körper berühren. Er wollte mit seinen Fingern an dessen warmer, weicher Haut entlang fahren. Unbewusst war er bereits dabei, diese Wünsche in Taten umzusetzen und seine Hände wanderten automatisch zu Gins Taille, um ihn an sich zu ziehen… Doch Rye hielt inne, als Gin ihm plötzlich antwortete.

„Ich dachte nur, es wäre unsinnig, die Klamotten wieder anzuziehen, wenn du…“ Seine Stimme klang verlegen, weshalb sich ein leichtes Lächeln auf Ryes Lippen schlich.

„… wenn ich sie dir eh wieder ausziehe?“, vervollständigte er den Satz, woraufhin ein Nicken von Gin erfolgte. Sein Herz schlug schnell und das Blut raste ihm förmlich durch die Adern. Wieder musste sich Rye dran erinnern nicht zu tief einzuatmen. Wie lange er sich wohl noch daran halten könnte? Er wollte es nicht herausfinden. Denn allein sein Seh- und Hörsinn nagten an seiner Selbstkontrolle, welche ohnehin fast zusammenzubrechen drohte.

„Du spielst mit deinem Leben…“, kam es ihm wie von selbst über die Lippen. Eine Warnung von dem letzten Rest seines rational denkenden Teils, der Gin zuschrie, dass er lieber davonrennen sollte. Natürlich würde Rye dies weder aussprechen, noch würde Gin auf ihn hören, falls er es doch täte.

„Du bringst mich dazu.“, erwiderte der Silberhaarige im verführerischen Ton, wobei er die Arme um Ryes Hals schlang und ihm so nah kam, dass sich ihre Lippen beinahe berührten. Rye bemühte sich, die Hände gesenkt zu lassen und reglos zu verharren. Er konnte nicht verhindern, dass die Begierde, die in Gins Augen lag, ihn in einen Bann zog. Zu nah. Viel zu nah. Die Wärme, die von Gins Körper ausging, überfiel ihn. Sein Geliebter schien dieses Gefühl der Anziehung auch zu verspüren. Nur hatte es bei ihm wenigstens eine Grenze. Denn es war menschlich.

Rye war kurz davor in Gedanken zu versinken. Doch dann bemerkte er, wie Gin ungefragt einen Kuss begann. Sobald dessen Lippen auf seine eigenen trafen, durchbebte ihn ein Schauer der Lust, welcher ihn aus seiner starren, reglosen Haltung befreite. Rye schlang die Arme ebenso um Gins Körper und vergrub seine Hände in den silbernen Strähnen. Jedoch erkannte er nach wenigen Sekunden, dass Gin den Kuss nur als Ablenkung benutze, um ihn nebenher von seiner Kleidung entledigen zu können.

Sofort löste sich Rye von seinem Geliebten und wich drei Schritte zurück. Dabei fiel ihm auf, dass seine Anzugweste ihm über die Schultern geschoben worden war und die Fliege nur noch lose um seinen Hals hing. Innerlich seufzend ließ er die Weste von seinen Armen gleiten und mitsamt der Fliege zu Boden fallen. Das Hemd würde er sich aber noch nicht ausziehen, da er nicht wusste, was genau der direkte Kontakt zu Gins Haut in ihm auslösen könnte und ob er in der Lage wäre sich zu kontrollieren.

Als er Gin allerdings wieder direkt ansah, musste er feststellen, dass sein urplötzliches Beenden des Kusses diesen scheinbar verunsichert hatte und er ihn nun mit einem argwöhnischen Blick musterte. Rye lächelte entschuldigend und streckte dem Silberhaarigen seine Hand entgegen.

„Komm her.“, bat er mit sanfter Stimme, woraufhin sich Gin zögernd von der Stelle rührte und Ryes Hand nahm. Dieser führte ihn zum Bett und legte dort angekommen seine Hände auf Gins Schultern, um ihn vorsichtig auf die Matratze zu drücken. Doch als sich Rye über ihn beugte, hatte sich Gins Gesichtsausdruck noch immer nicht verändert. Um auch die letzten Zweifel seines Geliebten zu vertreiben, beschloss er, erneut einen Kuss zu beginnen. Aber kurz bevor er Gins Lippen erreicht hatte, wurde er von zwei Händen zurückgeschoben.

„Warte.“, meinte Gin, während er sich wieder aufrichtete. „Eine Frage noch.“

Rye legte verwundert den Kopf schräg. „Ja?“

Gins Augen verengten sich. Er starrte nachdenklich zur Seite und begann anschließend: „Vorgestern sagtest du noch, du willst es langsam angehen… warum hast du es dir jetzt anders überlegt? Ich merk doch, wie du dich eh nur quälst…“

Der melancholische Unterton im letzten Satz weckte in Rye ein unbehagliches Gefühl. Zwar lag Gin damit richtig, dass dieser Abend Rye einiges an Selbstkontrolle abverlangen würde, doch er sollte sich deswegen keinesfalls schlecht fühlen.

„Ich will es ja langsam angehen… gerade damit ich mich nicht mehr quälen muss. Ich glaube, dass es mir mit der Zeit leichter fallen wird, wenn ich mich dran gewöhne.“, erklärte Rye, obwohl er sich damit selbst nicht so ganz sicher war. Er konnte nur hoffen, dass es stimmte. Jedoch kannte er Gin nun schon fast zwei Monate und er hatte sich noch nicht einmal richtig an dessen unwiderstehlichen Geruch gewöhnt, geschweige denn an der körperlichen Nähe zu ihm. Vielleicht war es doch unmöglich. Rye konnte Gin an seinem skeptischen Blick ansehen, dass er sich darüber auch nicht sicher zu sein schien.

„Es tut mir leid. Ich weiß, dass das sehr selbstsüchtig und rücksichtslos von mir ist und ich dein Leben aufs Spiel setze… aber ich würde dich gern richtig lieben können, nicht nur mit Worten und romantischen Gesten… Ich will mehr… von dir…“ Während Rye sprach, wurde ihm klar, dass dieser Grund sein Vorhaben nicht rechtfertigte. Egal, wie sehr er Gin liebte, er durfte niemals dessen Leben riskieren. Und schon gar nicht, um seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Das war falsch. So falsch, dass er es verdient hätte, von Gin dafür gehasst zu werden.

„Hör auf dich ständig für Dinge zu entschuldigen, für die du überhaupt nichts kannst.“, wies dieser ihn jedoch im strengen Tonfall zurecht, sodass Rye ihn überrascht ansah. Natürlich konnte er was dafür. Es war seine Schuld, dass er sich nicht im Griff hatte. Er war das Monster.

„Aber-“

„Du wolltest es probieren!“, fiel Gin ihm aufgebracht ins Wort. Für Rye klang es wie ein Vorwurf. Er spürte augenblicklich, wie ihn ein Stich durchfuhr und sich der darauffolgende Schmerz in seinem erstarrten, leblosen Herz ausbreitete. Seine Lippen bebten stumm. Er traute sich nicht, etwas zu sagen. Gin schwieg ebenso für ein paar Sekunden und senkte den Blick. Als er schließlich nach einem Seufzen fortfuhr, war seine Stimme viel leiser: „Und ich hab mich von dir überzeugen lassen.“

Ryes Hand krallte sich automatisch in seine Brust. Als könnte er so sein Herz zusammenhalten, wenn es gleich in tausend Scherben brechen würde. Doch das geschah nicht. Der innere Schmerz verflog, sobald Gin den Blick wieder hob und er ein Lächeln hervorzauberte. Ein schönes, warmes Lächeln, welches sich Rye schon so oft von ihm gewünscht hatte.

„Wir wussten beide, dass es nicht einfach wird. Aber du hast gesagt, dass wir einen Weg finden werden. Gemeinsam. Du musst dir also nicht ständig Vorwürfe machen und dich für alles entschuldigen. Ich würde mein Leben nicht aufs Spiel setzen, wenn ich dir nicht vertrauen würde.“, sprach Gin in einer sanften, fast fremden Tonlage, die Rye bisher viel zu selten von ihm gehört hatte. Dennoch stellten die Worte den Schwarzhaarigen nicht zufrieden, weil er sie nicht verdient hatte. Vertrauen. Genau da lag das Problem.

Wie kann er mir vertrauen, wenn ich mir nicht einmal selbst vertraue…?“

Diese unausgesprochene Frage beantwortete Gin, indem er auf einmal Ryes Gesicht in beide Hände nahm, dessen Augen sich unmittelbar darauf weiteten.

„Du wirst mich nicht umbringen, weil du mich liebst. Verstanden?“, stellte Gin mit veränderter, fester Stimme klar, während er Ryes Gesicht näher zu sich heran zog. Dieser wusste längst nicht mehr, wie ihm geschah. Er konnte seinen Geliebten nur verträumt anstarren und die Wärme genießen, welche sein Gesicht fast vollständig umhüllte und seine Sorgen in den Hintergrund schob. Zumindest für diesen Moment.

„Ja…“, hauchte Rye, bevor er eine von Gins Händen zu seinem Mund führte und sie küsste. „Ich liebe dich…“

Womöglich liebte er Gin viel zu sehr. Und das würde er solange, bis er diese Welt vielleicht irgendwann mal verließ. Doch war seine Liebe zu ihm auch stark genug, um das Monster in seinem Inneren zu besiegen?

Während Rye nach einer Antwort auf diese Frage suchte, richtete er sein Augenpaar wieder zu Gins Gesicht, dessen Wangen inzwischen eine leichte Röte zierte. Er warf ihm ein kurzes Lächeln zu und nahm dann die warmen Hände von seinem Gesicht weg.

„Aber du darfst mir trotzdem nicht blind vertrauen. Auch jetzt nicht. Ich habe zwar gesagt, dass ich es langsam angehen will, was aber nicht bedeutet, dass nicht doch etwas schief gehen kann.“, warnte Rye und sah Gin dabei eindringlich in die Augen. Er würde die Warnung hoffentlich ernst nehmen. Alles andere wäre ein Fehler.

Gin nickte einmal, wenn auch verspätet. Er schwieg eine Weile und schien über irgendwas nachzudenken.

„An was denkst du?“, wollte Rye wissen, da ihm die Stille zu lang andauerte und es ihn wirklich interessierte.

„Ich habe mich nur gefragt, ob ich es dir vielleicht irgendwie leichter machen kann.“, verriet Gin, womit er sich wahrscheinlich eher auf den heutigen Abend bezog. Rye warf ihm einen überraschten Blick zu, setzte dann aber ein Lächeln auf, um ihm zu zeigen, dass er den guten Willen zu schätzen wusste. Gin konnte es ihm tatsächlich ein wenig leichter machen. Ob das am Ende jedoch auch funktionieren würde, war eine andere Sache. Das Hauptproblem konnte ohnehin nicht beseitigt werden: Alles an Gin wirkte anziehend auf ihn. Sein Aussehen, sein Geruch, seine Stimme. Rye fühlte sich dabei erst recht wie ein Raubtier, welches seiner Beute nicht widerstehen konnte. Er musste dieses Gefühl unbedingt loswerden.

„Ja, das kannst du.“ Fast hätte er vergessen Gin eine Antwort zu geben.

„Und wie?“

Rye fing an zu überlegen. Sich die Lage bildlich vorzustellen. Wie sie gemeinsam Sex haben würden. Hierbei war die entscheidende Frage, wie weit sie überhaupt gehen könnten, oder besser gesagt: Wo war die Grenze? Und wo sollte er sie ziehen, damit Gin nichts geschah? Zudem wusste Rye nicht, in welcher Position er sich wohler fühlen würde und welche für Gin weniger gefährlich wäre.

Wenn ich ihn einfach machen lasse, bin ich auf nichts vorbereitet und könnte falsch reagieren…“ Auf diese Weise war es schon mal nicht möglich. Denn früher oder später würde er sich Gins Berührungen und seinen Gefühlen für ihn einfach nur hingeben und somit aufhören klar zu denken. Doch es war wichtig, dass er sich die ganze Zeit über konzentrierte. Alles, was seine Konzentration stören könnte, war eine Gefahr. Also blieb nur, dass er die Oberhand behielt.

„Folge einfach meinen Anweisungen und tu nichts aus dem Impuls heraus.“, sagte er, woraufhin Gin den Kopf verwirrt zur Seite legte. Aber er wirkte zum Glück nicht so, als hätte er etwas dagegen. Bestimmt fragte er sich nur, was genau das für Anweisungen sein könnten.

„In Ordnung.“, erwiderte er. In seiner Stimme schwang nichts von dieser Verwirrtheit mit, sondern eher Verständnis und ein Hauch Nervosität. Rye betrachtete die Antwort als eine Art Erlaubnis, beginnen zu dürfen, Gins Körper zu erkunden. Er versuchte sämtliche Vorbehalte auszublenden und nur an seine Liebe zu Gin zu denken. Er wollte nicht länger zögern und sich endlich holen, wonach er sich schon so lange sehnte. Gin gehörte ihm. Nur er durfte ihn berühren.

Rye beugte sich vor und strich vorsichtig mit einer Hand über Gins warme Brust. An der Stelle seines Herzens, wo die Wärme am stärksten pulsierte, verharrte der Schwarzhaarige einen Moment. Er würde nie zulassen, dass dieses Herz jemals aufhören würde zu schlagen. Besonders nicht seinetwegen.

Ryes Hände fuhren weiter über Gins Haut, bis sie schließlich die Wangen des Silberhaarigen umfassten und ihn zu einem Kuss heranzogen. Diesmal hielt sich Rye nicht zurück und eroberte Gins Lippen auf eine leidenschaftliche Weise, die seinen Geliebten verlangend stöhnen ließ. Als Rye jedoch registrierte, wie dieser langsam die Hände hob, mit dem Vorhaben ihn enger an sich zu drücken, löste er sich wieder.

„Beweg dich nicht.“, flüsterte er an Gins Lippen, während er sie mit dem Daumen nachzeichnete. Er spürte, wie das Blut in ihnen prickelte, als verlangten sie nach mehr Zuneigung.

„Gar nicht…?“, wollte sich Gin leise versichern, die Augen dabei verführerisch glitzernd, sodass sie Rye unmittelbar in einen Bann zogen, von welchem er sich am liebsten nie wieder befreien wollte.

„Nur, wenn ich es sage.“, gab er zurück. Er wollte sich keinesfalls aus dem Konzept bringen lassen. Alles musste heute von ihm ausgehen und in eine Richtung gelenkt werden, in der Gins Leben nicht in Gefahr war.

Ohne länger zu zögern, fing Rye erneut Gins Lippen ein und drang anschließend mit seiner Zunge in die feucht-heiße Mundhöhle ein, um sie bis ins kleinste Detail auszukundschaften. Feuer und Eis schienen miteinander zu verschmelzen, als ihre Zungen aufeinandertrafen und sich umschmeichelten. Rye spürte, wie sein ganzer Körper anfing zu beben und sich automatisch stärker an Gin presste. Doch egal, wie sehr er den Kuss intensivierte, es genügte ihm einfach nicht. Er wollte mehr von Gin spüren. Mehr von dieser unbeschreiblich schönen Wärme. Innerlich stand er bereits in Flammen. Sie waren so hoch, dass es schmerzte. Aber das kümmerte ihn nicht weiter. Noch konnte er den brennenden Schmerz ertragen und ihn mit seiner Liebe zu Gin lindern. Wenn er nur daran dachte, brauchte er sich keine ernsten Sorgen zu machen.

Im nächsten Moment war Gin es, welcher den Kuss beenden musste, da ihm scheinbar die Luft knapp geworden war. Zurück blieb ein hauchdünner Speichelfaden, der ihre Zungen noch solange miteinander verband, bis Rye den Abstand zwischen ihnen vorsichtshalber etwas vergrößerte. Auch er benötigte eine kurze Pause, um sich wieder zu sammeln.

Währenddessen lauschte er Gins schwerem Atem und beobachtete mit wachsendem Verlangen, wie sich die Brust des Silberhaarigen dabei hastig hob und senkte. Rye konnte sich kaum noch zurückhalten, Gin auf das Bett zu drücken und dessen steif hervorstehende Nippel zu liebkosen. Aber das durfte er nicht. Das Risiko war zu groß. Seine Beherrschung würde dafür nicht ausreichen. Rye lenkte seinen Blick schnell zu Gins Gesicht, um auf andere Gedanken zu kommen. Jedoch erschauderte er, sobald er sein Antlitz in den funkelnden Augen seines Geliebten sehen konnte. Dieses blasse Gesicht und der versessene, hungrige Ausdruck darin sorgten dafür, dass er sich beinahe vor sich selbst fürchtete. So wollte er nicht sein. Er wollte Gin nicht wie ein gefundenes Fressen betrachten.

Ganz ruhig…“, ermahnte Rye sich selbst in Gedanken und schloss die Augen, um sich wieder zu beruhigen. „Ich muss nicht so sein… Ich kann mich zusammenreißen…“

Mit langsamen Handbewegungen fing er nebenbei an, sich das Hemd aufzuknöpfen. Obwohl er seinen Körper nicht zum ersten Mal einem Menschen präsentierte, beschlich ihn dennoch ein unwohles Gefühl. Er selbst fand sich in Wahrheit einfach nur abstoßend und es war ihm ein Rätsel, warum irgendein Mensch auf dieser Welt sich so sehr zu ihm hingezogen fühlen konnte. Er wusste sehr wohl, wie er auf Menschen wirkte, doch wahrhaben wollte er das nicht. Zu oft hatte er schon von anderen Komplimente über sein Aussehen bekommen, die oftmals billig waren und einander ähnelten. Besonders die Worte „Du bist hübsch“ konnte er inzwischen nicht mehr hören. Fast alle Menschen, die dies zu ihm gesagt hatten, verfolgten in Wirklichkeit ganz andere Absichten, welche sie im Nachhinein natürlich bitter bereut hatten. Aber da waren sie nicht die Einzigen. Auch Rye hatte es immer wieder bereut, sich auf die Angebote dieser Menschen eingelassen zu haben. Für ihn war es lediglich ein Zeitvertreib gewesen, um die Leere in seinem Inneren irgendwie zu füllen. Es hatte nie funktioniert, teils sogar das Gegenteil bewirkt und sein Hass auf sich selbst war mit jedem Leben, das er nahm, nur weiter ins Unermessliche gewachsen.

Aber das alles war nicht mehr von Bedeutung.

Rye schlug die Augen auf und ließ sein Hemd von den Schultern gleiten. Ein Lächeln erschien wie von allein auf seinen Lippen, als er seinem Geliebten in die Augen blickte. Nur Gin bedeutete ihm etwas. Er bedeutete ihm einfach alles. Gin war der einzige Mensch, bei welchem er sich sicher sein konnte, dass er keine hintergründigen Motive und Absichten verfolgte. Die Gefühle, die sich gerade in seiner erwartungsvollen Miene widerspiegelten, waren ohne Zweifel absolut ehrlich.

Als sich Rye sicher war, wieder einigermaßen klar denken zu können, kam er Gin langsam wieder näher. Dabei entging ihm nicht, wie sich die Pupillen des Silberhaarigen erweiterten, da er scheinbar seinen Körper bewunderte. Wie benommen hob Gin eine Hand, welche Rye jedoch sofort einfing, um seinen Geliebten zu einer Umarmung heranzuziehen. Er schmiegte sich fest an ihn, sodass sich die Hitze von Gins Haut in seine eigene brannte.

Rye bemerkte, wie Gin den Atem anhielt und sein Herz dafür umso schneller schlug. Dennoch hatte der Schwarzhaarige nicht vor sich so schnell von ihm zu lösen. Diese überwältigende Hitze war einfach zu angenehm und ließ ihn die unerträgliche Kälte in seinem Inneren vergessen. Er verlor sich ganz in dem Pulsieren, welches von Gins angespanntem Körper ausging. Das Blut raste ihm durch die Adern. Rye musste aufpassen, sich nicht zu sehr darauf zu konzentrieren.

Während die Sekunden verstrichen, erwiderte Gin die Umarmung nur zögernd und legte seine Hände leicht auf Ryes Rücken. Er wirkte etwas unsicher, weshalb Rye ihm eine Erklärung geben wollte.

„Dein Körper ist so warm… Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sich das für mich anfühlt…“, murmelte er verträumt. Nicht einmal er konnte dieses Gefühl beschreiben. Es war, als würde er in Gins Armen dahinschmelzen. Er fühlte sich wunschlos glücklich und wollte in diesem Moment nichts anderes mehr.

„Naja, da es sich für mich wie das Gegenteil anfühlt, schon ungefähr.“, antwortete Gin im ironisch leisen Tonfall, woraufhin Rye dachte, dass es doch besser wäre sich zurückzuziehen. Er hatte gar nicht daran gedacht, wie sich Gin jetzt womöglich fühlen musste, wenn eine eisige Kälte seinen Körper fast vollständig einhüllte.

„Also ist es dir unangenehm.“, sagte Rye trocken. Und das war noch untertrieben. Bestimmt fühlte es sich weitaus schlimmer an. Er wollte das Gin nicht länger antun und beschloss sich von ihm zu lösen. Doch kaum hatte er das getan, schnellte sein Geliebter vor, um ihn wieder fest an sich zu drücken. Rye schnappte überrascht nach Luft, als ihn völlig unerwartet erneut eine Hitzewelle überrollte, die seine Sinne fast betäubte. Hinzu kam, dass ihm Gins süßlicher Duft augenblicklich in die Nase stieg und ein Feuer in seiner Kehle entflammte.

„Nein, so meinte ich das nicht… Mir macht die Kälte nichts aus, wirklich nicht.“, gestand Gin. Seine Hände verkrampften sich in Ryes schwarze Strähnen, woran dieser erkannte, dass die Antwort ehrlich gemeint war. Aber trotz der Erleichterung, die Rye daraufhin verspürte, konnte er nichts mehr dazu sagen. Er musste sich zur Besinnung rufen und versuchen gegen seine Gier nach Blut anzukämpfen. Gins Duft durfte ihn nicht vollkommen beherrschen. Rye schluckte.

„Was hab ich dir gerade eben gesagt? Nichts aus dem Impuls heraus…“, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. Er presste den Kiefer fest zusammen. Zum Glück schien Gin sofort zu verstehen, da er wieder auf Abstand ging, was allerdings bei weitem nicht ausreichte. Doch Rye war so wenigstens nicht mehr der Hitze von Gins Körper ausgesetzt und es war etwas leichter der Versuchung zu widerstehen.

„Tut mir leid. Aber das wollte ich nicht einfach so im Raum stehen lassen.“, erklärte Gin. Er betrachtete Rye mit einer gewissen Wachsamkeit in den Augen, schien dabei jedoch auch Scham zu empfinden.

„Und du sagst das auch wirklich nicht nur, damit ich mich besser fühle?“, hakte der Schwarzhaarige nach, um sich Gewissheit zu verschaffen. Aber auch, weil er sich mit Worten ablenken wollte. Zumindest noch für eine kleine Weile, bis er sich wieder beruhigt hatte. Gin zog empört die Augenbrauen nach oben.

„Natürlich nicht!“, beharrte er, bevor er kurz stockte und im leiseren Tonfall fortfuhr: „Es ist angenehm für mich, sehr sogar… Bitte mach weiter…“

Die letzten drei Worte klangen nahezu flehend, was Rye noch mehr um den Verstand brachte. Er wusste, dass es zu gefährlich wäre, jetzt weiterzumachen, doch es fiel ihm unendlich schwer zu widerstehen und Gins Bitte nicht nachzugehen. All seine Sinne waren nur noch auf Gin fixiert und er fühlte sich magisch zu ihm hingezogen. Aber diese vermeintliche Magie war nichts weiter als ein Trugbild, das in Wahrheit sein Verlangen nach Gins Blut verschleierte.

„Wie du willst.“, hörte er seine Stimme sagen. Kurz darauf legten sich seine Hände wie von selbst um Gins Taille und er kam seinen Geliebten wieder so nah, dass ihre Lippen fast aufeinander trafen. Gins warmer Atem strich heiß über seine kühlen Lippen und in der nächsten Sekunde fand sich Rye längst in einem innigen Kuss mit seinem Geliebten wieder, ohne sich daran erinnern zu können, den Entschluss dazu gefasst zu haben. Seine Hände wanderten nebenbei tiefer und zogen Gin das Handtuch beinahe gewaltsam von den Hüften. Der Silberhaarige zuckte kurz zusammen, bevor er seine Finger in Ryes Schultern vergrub und sich weiter von dessen Zunge in seiner Mundhöhle erobern ließ.

Als Rye die festen Pobacken seines Geliebten umfasste, strömte ein Kribbeln durch seine Hände, welches sein Verlangen noch mehr verstärkte. Er zog Gin automatisch auf seinen Schoß und drückte seine Nase in dessen Halsbeuge. Er nahm einen tiefen Atemzug und spürte augenblicklich, wie der süße Duft von Gins Blut ihn verführte und seine Sinne benebelte, als befände er sich im Rausch.

Doch jetzt hatte er scheinbar Gins Misstrauen geweckt, da dessen Körper sich plötzlich anspannte.

„Rye du…“, setzte er an, doch der Rest des Satzes ging in einem lustvollen Stöhnen unter, als Rye begann die warme Haut von Gins Hals zu küssen. Der letzte Funken seines Verstandes sorgte zumindest noch dafür, dass er seinen Kiefer fest geschlossen hielt und so seine Zunge, welche bereits mit voller Kraft gegen seine Zähne drückte, nicht nach außen gelangen konnte. Rye wollte auf keinen Fall zulassen, dass das Monster in ihm gewann. Es durfte Gins Blut niemals bekommen. Auch wenn dieses für ihn eine viel größere Anziehungskraft besaß als das jedes anderen Menschen. Er war sich sicher, dass es nirgendwo auf der Welt solch ein Blut gab, welches ihn mehr befriedigen würde. Aber den Grund dafür würde Rye wohl niemals herausfinden.

Im folgenden Moment nutzte er die Gelegenheit, um Gin von sich wegzustoßen. Das war genug. Seine Grenze war fast überschritten. Noch mehr und er würde die Beherrschung komplett verlieren und ihm das Blut aussaugen. Bis zum allerletzten Tropfen. Rye versuchte nicht daran zu denken. Es sich nicht vorzustellen, wie Gin vielleicht schmeckte… Sein ganzer Körper fing an zu vibrieren. Alles in ihm brannte. Er krümmte sich zusammen, hielt den Atem an und starrte nach unten. Da raschelte auf einmal die Bettdecke und die Matratze sank weiter nach unten.

„Was hast du?“, fragte Gin unsicher, während der Schwarzhaarige vernahm, wie er besorgt die Hand nach ihm ausstreckte, um…

„Bleib weg!“, schrie Rye und wich sofort bis zum Ende des Zimmers zurück. Von der Wand aus beobachtete er, wie sich Gins Augen kurz vor Schock weiteten, bevor sich seine Miene verhärtete und er seine Hand sinken ließ. Erst jetzt realisierte Rye, wie falsch und abweisend er reagiert hatte, sodass er Gin womöglich verletzt hatte. Er bereute es zutiefst.

„Tut mir leid… ich hab‘s ruiniert…“, meinte er in verzweifelter Tonlage und ballte die Hände hinter seinem Rücken zu Fäusten. Obwohl das Ende dieses gemeinsamen Abends vorhersehbar gewesen war, verfluchte er sich dennoch für seine Unfähigkeit, nicht ein einziges Mal die Kontrolle bewahren zu können. Sich mit Gin dieses Zimmer zu nehmen war zweifellos ein Fehler gewesen. Er hätte ihn niemals dazu überreden sollen. Es wäre das Beste gewesen, wenn er ihn einfach nach Hause hätte gehen lassen.

„Und schon wieder entschuldigst du dich.“, erwiderte Gin seufzend und verdrehte dabei die Augen. Rye presste die Lippen zusammen und wandte den Blick ab.

„Ja aber, es ist nur… ich… ich versteh es einfach nicht…“, stammelte er.

„Was verstehst du nicht?“, wollte Gin wissen. Rye schwieg. Er wusste nicht, ob es angebracht wäre, seinem Geliebten davon zu erzählen. Dann würde dieser ihn vielleicht wirklich hassen und für ein krankes, selbstsüchtiges Monster halten. Ryes Angst davor war so groß, dass sie ihn beinahe verschlang. Jedoch sah er im Augenwinkel die Ungeduld in Gins Blick, weshalb er sich doch zu einer Antwort zwang: „Dein Blut…“

Schließlich verstummte er wieder. Wie sollte er das erklären, ohne es so klingen zu lassen, als würde er nur danach trachten?

„Was ist damit?“, drängte Gin. Warum bestand er unbedingt auf eine Erklärung? Rye kniff kurz die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“, gab er zu, bevor er Gin zögernd wieder anschaute, welcher gerade zu überlegen schien.

„Du willst mein Blut trinken?“, fragte er nach einer Weile verwirrt mit gehobener Augenbraue, woraufhin Rye schmunzeln musste. So direkt klang es schon komisch. Allerdings wäre es ihm trotzdem unangenehm die Frage einfach zu bejahen. Auch wenn es stimmte, wollte er es eigentlich nicht zugeben. Doch ihm blieb keine andere Wahl.

„Offensichtlich… aber das meine ich nicht.“, sagte er. Zumindest nicht ganz. Denn das eine hing schon mit dem anderen zusammen.

„Sondern?“

„Es ist viel mehr der Grund, warum ich es will. Der Geruch deines Blutes ist so anders als der von allen anderen Menschen, denen ich vor der begegnet bin. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich das Blut von jemand anderem je so sehr angezogen hat wie deins… Es macht mich verrückt…“ Es auszusprechen kostete Rye sehr viel Überwindungskraft. Nie hätte er gedacht, dass er Gin jemals ins Gesicht sagen würde, wie sein Blut auf ihn wirkte. Zwar wäre es gegen seine Natur, wenn er nicht nach Gins Blut verlangen würde, doch dass sich dieses von allen anderen unterschied, schien den Silberhaarigen aufs Neue zu überraschen. Seine Augen weiteten sich.

„Inwiefern…?“ Er verstand es wohl ebenso wenig. Rye suchte nach einem passenden Vergleich, was ihm wegen der wachsenden Nervosität nicht sonderlich leicht fiel. Er dachte daran, wie er sich fühlte, immer, wenn er Gins Duft einatmete. Wie er sich dabei verhielt und dass er sich niemals von ihm fernhalten könnte, egal, wie sehr er es versuchen würde. Als wäre er süchtig nach ihm.

„Wie gesagt, ich kann es nicht erklären. Das ist so, als hätte ich bereits eine große Anzahl an Drogen probiert… aber diese wären allesamt nicht zu vergleichen mit deinem Blut. Und dabei habe ich es noch nicht einmal probiert. Es ist nur der Geruch, der schon ausreicht, um mir Sinne und Verstand zu rauben.“, erzählte Rye, während er hoffte, dass es Gin nicht zu sehr abschrecken würde. Doch dieser reagierte anders als erwartet und lächelte in sich hinein, ohne Rye dabei anzusehen.

„Vielleicht riechst du das ganze Nikotin und den Alkohol.“, scherzte der Silberhaarige daraufhin, was auch Rye ein leises Lachen entlockte. Zugleich erstaunte es ihn auch ein wenig, dass Gin seine Erklärung nicht ganz so ernst genommen hatte.

„Nein. Glaub mir, ich habe viele Menschen vor dir getroffen, die weitaus mehr Zigaretten geraucht und Alkohol getrunken haben. Außerdem riecht beides anders.“, erwiderte Rye. Zugegebenermaßen fand er, dass Zigaretten und Alkohol ziemlich widerlich rochen. Zwar verminderte das nicht seinen Blutdurst und auch das Blut selbst schmeckte dadurch nicht schlechter, aber separat war beides ungenießbar. Und obwohl Gin sowohl Alkohol als auch viele Zigaretten konsumierte, wurde sein eigenes Aroma dadurch nicht überdeckt.

„Wenn es das nicht ist, wie rieche ich dann für dich?“, fragte Gin in neugieriger Tonlage, nachdem er Rye eine Weile nachdenklich betrachtet hatte. Der Schwarzhaarige konnte darauf nicht sofort antworten.

Wie das Schönste, was es auf dieser Welt gibt…“, war das erste, was ihm spontan einfiel. Aussprechen tat er das natürlich nicht. Stattdessen suchte er nach passenderen Worten.

„Schwer zu beschreiben… Es ist nicht der typische, metallische Geruch wie bei anderen Menschen… Du riechst viel süßlicher, ähnlich wie Vanille… und das so intensiv, dass es aus der Masse heraussticht.“ Rye war sich sicher, dass er Gins Duft unter Millionen von Menschen herausfiltern könnte, auch wenn er mehrere Meilen entfernt wäre. Jedoch war das eigentlich nicht wirklich von Vorteil.

Sein Glück, dass es nicht noch mehr von meiner Sorte gibt. Wer weiß, ob andere Vampire seinen Geruch genauso intensiv wahrnehmen würden wie ich… Aber ich glaube, es liegt ohnehin nur an mir…“ Zumindest hoffte er, dass er der Einzige von seiner Sorte war. Denn falls dem nicht so war und er tatsächlich eines Tages auf einen anderen Vampir von Eclipse treffen würde, wüsste er nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Es würde ihm wahrscheinlich nur die Wahl zwischen Kampf oder Flucht bleiben.

„Vanille? Das hab ich jetzt nicht erwartet.“ Gin legte die Stirn in Falten. Aber seine Stimme klang so, als würde es ihn belustigen.

„Eigentlich habe ich sogar noch untertrieben. Ich wüsste zu gern, ob das bloß an meiner Wahrnehmung liegt, weil meine Gefühle für dich so stark sind… oder ob es einen anderen Grund dafür gibt.“, entgegnete Rye. Doch selbst wenn es mit seinen Gefühlen zusammenhing, würde das nicht seine Fragen beantworten. Warum sollte die Wahrnehmung eines Blutgeruchs etwas mit persönlichen Gefühlen zu tun haben?

„Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir.“

Ryes Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er diesen Satz von Gin hörte, welcher gerade nachdenklich den Blick senkte und die Augenbrauen zusammenzog. Er schien das wirklich ernst zu meinen.

„N-Nein!“, entwich es Rye, vielleicht ein wenig zu hysterisch, doch er wollte auf keinen Fall, dass Gin seinetwegen so etwas dachte. „Mit dir ist alles in Ordnung. Wenn hier etwas mit wem nicht stimmt, dann ja wohl mit mir.“

Irgendwie fühlte sich Rye jetzt schuldig. Er hoffte inständig, dass Gin ihm das glauben würde. Gern hätte er sich wieder neben seinen Geliebten gesetzt, dessen Schulter gestreichelt und ihm ein paar liebevolle Worte ins Ohr geflüstert. Doch so sehr Rye das auch wollte, hielt er es dennoch für besser, weiterhin an der Wand zu verharren.

„Sei nicht immer so abwertend zu dir selbst… Nur wegen eines Geruchs, ändern kann man daran wohl sowieso nichts.“, erwiderte Gin zu Ryes Überraschung, während er die Hände hinter sich auf die Matratze stützte und seinen Kopf leicht nach hinten lehnte. „Und hast du jetzt eigentlich vor, bis morgen früh da stehenzubleiben?“, fügte er sarkastisch hinzu.

Am liebsten hätte Rye das auch wirklich getan, wenn es nicht so eine unerträgliche Folter für ihn wäre. Gin nur die ganze Nacht über anzusehen, würde er nicht lange durchhalten. Schon jetzt war er längst dabei, sich unbewusst wieder in dessen atemberaubender Erscheinung zu verlieren und seinen Körper zu bewundern. Besonders die wohlgeformten Muskeln seiner Brust und seine Männlichkeit…

Rye tat einen zittrigen Atemzug.

„Ich bezweifle, dass ich das schaffe.“, gestand er mit rauer Stimme. Innerlich ermahnte er sich jedoch, sich nicht erneut hinreißen zu lassen. Diesmal würde es definitiv fatal enden. Seine Beherrschung war so gut wie aufgebraucht und der Durst wurde auch immer schlimmer. Er fühlte sich, als stünde er auf einem brennenden Scheiterhaufen. Dieses schmerzende, kratzige Gefühl im Hals ließ ihn beinahe wahnsinnig werden und es fiel ihm zunehmend schwerer, sich nichts davon anmerken zu lassen.

„Dann komm her.“, sagte Gin in einer Tonlage, die sich für Rye vermutlich verführerischer anhörte, als sie es in Wirklichkeit war. Jede Faser seines Körpers gehorchte fast automatisch. Doch er zwang sich erfolgreich dazu sich nicht von der Stelle zu rühren. Begleitet von einem Kopfschütteln erwiderte er: „Kann nicht… Entschuldige…“

Allmählich fiel ihm sogar das Sprechen schwer. Das Bild vor seinen Augen begann zu flackern und er glaubte zwischen dem Wärmebild Gins enttäuschten Gesichtsausdruck erkennen zu können. Aber dann sah er plötzlich nur noch rot. Rye kniff sofort die Augen zu und krallte seine Hand in den Hals.

Bitte nicht… nicht jetzt…“, flehte er gedanklich, während er versuchte, gegen das Monster in seinem Inneren anzukämpfen, welches gleich unweigerlich Besitz von ihm ergreifen würde. Doch er war zu schwach. Wie immer. Als er die Augen wieder aufschlug, war das Wärmebild noch da. Nur für den Hauch einer Sekunde war es ihm möglich zu sehen, wie sich Entsetzen auf Gins Miene abzeichnete. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, wie sehr sich Rye quälte. Oder er fürchtete sich vor dem verräterischen, glühenden Rot in dessen Augen, welches seine Iris inzwischen verfärbt haben sollte.

„Du solltest wohl lieber gehen…“ Auch wenn Rye Gins Stimme nicht mehr klar hören konnte, schien sie viel ruhiger zu klingen, lediglich wie ein Ratschlag.

„Tut mir wirklich leid… Ich brauch nicht lange, versprochen.“, zwang sich Rye über die Lippen. Es konnte ihm gar nicht leid genug tun. Er wollte diesen ruinierten Abend irgendwie wieder gut machen. Aber wie?

„Ist schon okay, du musst nicht wiederkommen.“, antwortete Gin. Warum? Sagte er das etwa aus Reue oder wollte er einfach nicht, dass Rye wieder zurückkam, weil er angewidert war? Oder sogar Angst um sein Leben hatte?

Nein. Das entsprach nicht Gins Wesen.

„Ich will aber.“ Irgendwie fühlte sich Rye auch etwas dazu gezwungen zurückzukommen. Wenn er das nicht täte, würde er sich noch eine sehr lange Zeit dafür schlecht fühlen. Schließlich war das alles seine eigene Schuld. Er hatte Gin zu diesen Abend gezwungen und ihn gegen seinen Willen hierher geschleppt. Da wollte er ihn keinesfalls auch noch allein hier zurücklassen. Zudem bezweifelte Rye, dass es ihm gelingen würde, sich für den Rest der Nacht von Gin fernzuhalten. Inzwischen war er dessen Nähe schon so sehr gewöhnt, dass er es kaum noch ein paar Minuten ohne ihn aushielt.

„Bis später.“, fügte er hinzu und entfernte sich von der Wand, um über das Fenster nach draußen zu gelangen. Als er dieses jedoch erreicht hatte, hörte er Gin hinter sich rufen: „Warte!“

Vorsichtig drehte sich Rye zu ihm um, wobei ihm plötzlich irgendetwas zugeworfen wurde. In seinen Händen fühlte es sich wie der Stoff seines Hemdes an.

„Zieh dir wenigstens was an, wenn du rausgehst.“, tadelte Gin, bevor sich Rye das Kleidungsstück schnell überwarf. Er versuchte seinem Geliebten ein Lächeln zuzuwerfen, was in seiner jetzigen Gestalt womöglich einfach nur furchterregend aussah.

Ohne ein weiteres Wort riss der Schwarzhaarige in weniger als einer halben Sekunde das Fenster auf und verschwand noch im selben Augenblick durch dieses nach draußen. Die frische Luft, die ihn sogleich umfing, war nahezu eine Befreiung. Aber sie linderte nicht den brennenden Schmerz in seiner Kehle. Rye befürchtete schon fast, dass er mit einem Menschen seinen Durst heute nicht stillen könnte. Er brauchte mehr Blut. So viel, dass es ihm fürs Erste nicht mehr in den Sinn kommen würde, auch nur einen einzigen Tropfen von Gins Blut kosten zu wollen. Aber die Zahl der Opfer, die dieses Verlangen ausgleichen sollten, durfte trotzdem nicht so hoch sein. Es war schon eine Herausforderung eine Leiche zu entsorgen, bei mehreren wäre Rye höchstwahrscheinlich überfordert. Das Risiko, das jemand die blutleeren, toten Körper seiner Opfer fand, durfte er auf keinen Fall eingehen. Zudem würde es weniger Zeit in Anspruch nehmen und er wäre schneller wieder bei Gin. Rye sehnte sich bereits so sehr danach, wieder neben ihn schlafen zu können. Dicht an seinem angenehm warmen Körper. Für dieses unbeschreiblich schöne Gefühl nahm Rye sogar die Alpträume in Kauf, welche ihn wie immer heimsuchen würden, sobald er eingeschlafen war.



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