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The Monster inside my Veins

von

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Frei von Schuld

Dieses Mal schlief Gin glücklicherweise traumlos. Unerträglich warm war ihm auch nicht mehr. Im Gegenteil. Es fröstelte ihn sogar ein wenig. Zum einen lag es daran, dass er ohne Decke geschlafen hatte und zum anderen, weil er sich die ganze Zeit über in Ryes angenehm kalter Umarmung befunden hatte. Doch dem schien jetzt nicht mehr so zu sein. Keine Arme waren um ihn geschlungen. Keine Hand hielt seine eigene fest.

Ist er etwa…“ Gin öffnete schwerfällig die Augen. Irgendwie fühlte er sich schlaff. Vielleicht hatte er zu lang geschlafen. Ryes Nähe konnte er hinter sich nicht wahrnehmen. Zumindest nicht in diesem Moment. Denn einige Sekunden später schien sich doch jemand hinter ihm hin und her zu wälzen.

„Nein… geh nicht fort…“

Gins Augen wurden groß. Er versuchte sich mit den Armen hochzustemmen.

„Was meinst du?“, murmelte er, während er sich zu Rye umdrehte. Jedoch würde er von ihm keine Antwort erhalten, da dieser noch tief und fest zu schlafen schien. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und lag mit gekrümmter Körperhaltung am anderen Ende des Bettes.

Er redet tatsächlich auch im Schlaf…“ Gin beobachtete, wie Rye die Hände auf dem Bettlaken zu Fäusten ballte und sein Gesicht vor Schmerz verzog. Wovon er wohl träumte? Wen hatte er gemeint? Jedenfalls schien der Traum Rye sehr zuzusetzen, weshalb Gin bereits mit dem Gedanken spielte, ihn einfach aufzuwecken.

Sowohl Decke als auch Kissen schienen im Laufe der Nacht aus dem Bett gefallen zu sein. Das Laken war unter Ryes Körper ganz zerknittert und an einer Stelle sogar zerrissen. Gin ertappte sich dabei, wie er den Blick prüfend über seinen Körper schweifen ließ, um nach möglichen Verletzungen zu suchen. Aber er wurde zum Glück nicht fündig. Schmerzen hatte er immerhin auch nicht.

Skeptisch sah Gin wieder zu Rye, welcher immer unruhiger wurde. Er begann zu zittern und krümmte sich immer weiter zusammen, als krochen ihm Angst und Leid über den Rücken. Gin konnte das nicht länger mit ansehen. Er hob vorsichtig die Hand, um den schlafenden Vampir zu wecken. Kaum hatte er jedoch Ryes Schulter berührt, fuhr dieser vor Schreck auf und wirbelte herum, um Gins Handgelenk zu packen. Keinen Augenblick später schaute der Silberhaarige in ein weit aufgerissenes Paar Augen, in welchem gewaltige Flammen vor Hass und Entsetzen zu lodern schienen. Gin biss die Zähne zusammen und versuchte den Schmerz in seinem Handgelenk zu ignorieren. Nur noch ein kleines bisschen fester und seine Knochen würden womöglich ein knackendes Geräusch von sich geben. Er sah Rye fest in die Augen und wartete, bis dieser vollständig begreifen würde, dass der Traum vorbei war. Allerdings dauerte das länger als erwartet. Nur sehr langsam entspannten sich Ryes Gesichtszüge wieder, bevor er seinen Griff lockerte und anschließend den Arm sinken ließ.

„Schlecht geträumt?“, hakte Gin nach, als er bemerkte, wie sich Rye gedanklich eine Entschuldigung zurechtlegen wollte, schließlich aber doch nur nickend den Blick senkte.

„Worum ging es denn?“, bohrte Gin weiter. Er wollte wissen, wer derjenige gewesen war, der nicht fortgehen sollte. Gab es etwa doch noch jemanden, der Rye nah stand? Vielleicht in seinem früheren Leben?

„Weiß nicht.“, antwortete Rye unsicher. „Ich glaub, ich habe jemanden gesucht. Es war so dunkel…“ Der letzte Satz war nur noch ein leises Geflüster. Überrascht konnte Gin erkennen, wie Rye wütend die Augen verengte, bevor er wenige Sekunden später den Kopf schüttelte.

„Hab ich dich geweckt?“, versuchte er vom Thema abzulenken.

„Nein, nicht wirklich.“ Gin entwich ein Gähnen. Er hielt sich eine Hand vor dem Mund und streckte nebenbei seine steifen Glieder. Er fühlte sich, als hätte er tagelang geschlafen. Im Augenwinkel sah er, wie Rye schmunzelnd das Kinn auf der Handfläche abstützte.

„Du hast übrigens das Bettlaken kaputt gemacht.“, meinte Gin beiläufig, um Ryes Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Verdutzt rückte der Schwarzhaarige ein Stück zur Seite und blickte neben sich herab.

„Oh, tatsächlich…“ Er klang verlegen. Doch dann erstarrte er vor Schreck. Sein Blick huschte analysierend zu Gin, ehe er im besorgten Tonfall fragte: „Tut dir etwas weh?“

Gin konnte die eigentliche Frage, die sich dahinter verbarg, förmlich hören: „Hab ich dich verletzt?“

Er seufzte und versicherte ihm anschließend: „Nein, alles in Ordnung.“

Erleichterung zeichnete sich in Ryes Gesicht ab. Aber er schien sich dennoch Vorwürfe zu machen.

„Ich hätte doch lieber auf der Couch bleiben sollen.“, meinte er, als bereute er seine Entscheidung. Gin hätte gern widersprochen, ließ es jedoch besser sein. Er wollte nicht nochmal zugeben, dass er es mochte, wenn Rye neben ihm schlief. Stattdessen erhob er sich vom Bett, allerdings begleitet von dem knurrenden Geräusch seines Magens. Beschämt blickte er über die Schulter zu Rye, welcher seinen verblüfften Gesichtsausdruck zu einem schelmischen Lächeln umwandelte.

„Glatt vergessen, Menschen bekommen ja auch irgendwann Hunger.“, scherzte er herablassend. Gin verdrehte die Augen. Ein Wunder, dass Rye was Nahrungsmittel betraf nicht auch schon vorgesorgt hatte. Ohne den Schwarzhaarigen eines Blickes zu würdigen ging er um das Bett herum, um den Raum zu verlassen. An der Tür wurde er jedoch aufgehalten.

„Möchtest du vielleicht etwas Bestimmtes essen? Dann besorg‘ ich es für dich.“, hörte er Ryes Stimme hinter sich.

„Du musst dir keine Umstände machen.“, lehnte er ab. Schlimm genug, dass er hier geduscht und geschlafen hatte. Da musste essen nicht auch noch hinzu kommen.

„Mach ich mir schon nicht. Der Uhrzeit nach wäre Mittagessen angemessener, wenn du aber lieber frühstücken willst…“

Den Rest des Satzes blendete Gin aus. Mittagessen? War es etwa wirklich schon so spät? So lange schlief er sonst nie.

„Wie viel Uhr ist es?“, wollte er wissen. Rye schaute ihn verwundert an.

„Eine halbe Stunde nach 12. Heute steht doch sowieso nichts Wichtiges an.“, sagte er dann, woraufhin Gin anfing zu überlegen. Da gab es tatsächlich nur eine wichtige Sache. Aber dafür musste er die Wohnung nicht unbedingt verlassen.

„Also, was möchtest du nun essen?“, fragte Rye erneut. Er würde sich wie immer nicht einfach abwimmeln lassen.

„Mir egal, irgendwas. Überrasch‘ mich.“ Eigentlich gab es nichts an Essen, was er überhaupt nicht ausstehen konnte. Etwas Einfaches würde reichen und er hoffte wirklich, dass Rye es auch dabei belassen würde.

„Na gut.“ Rye trat vor Gin und hauchte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange. „Bin gleich wieder zurück.“

Kaum hatte er das gesagt, war er auch schon verschwunden. Nur das Öffnen und unmittelbare Schließen der Tür verriet, dass er die Wohnung verlassen hatte. Gin fasste sich an die Wange.

Ich sollte mir schnell was anderes anziehen. Er braucht bestimmt wirklich nur ein paar Minuten…“, dachte er und ging anschließend Richtung Badezimmer.

 

Rye zog sich im Gehen seine Jacke an und prüfte anschließend, ob er die Schuhe richtig zugebunden hatte. Er hatte es sehr eilig gehabt die Wohnung zu verlassen. Zum Glück hatte er dabei sein Portmonee nicht vergessen, welches sich in seiner Innentasche befand. Er würde diesen kurzen Ausgang bewusst im menschlichen Tempo verrichten. Das musste er. Denn er brauchte die frische, klare Luft, befreit von Gins unwiderstehlich süßlichem Geruch. Auch wenn er von diesem eigentlich nicht genug bekommen konnte, benötigte er eine kurze Auszeit. Ab einer gewissen Dauer war es einfach zu viel. Wie eine Überdosis Drogen, die er zu sich genommen hatte. Natürlich versuchte er sich stets nichts davon anmerken zu lassen, was ihm gestern Mitten in der Nacht noch nie so schwer gefallen war. Gin hätte alles von ihm anziehen können. Einfach alles, aber nicht diesen Bademantel. Er wäre um ein Haar auf ihn losgegangen. Jeder Muskel seines Körpers hatte sich automatisch angespannt und darauf vorbereitet. Er wusste immer noch nicht, wie er es geschafft hatte Gins reizvollem Anblick zu widerstehen.

Wie konnte er nur so leichtsinnig sein…“ Es ärgerte ihn, dass sich Gin der dauerhaften Gefahr, der er ausgesetzt war, offensichtlich kein bisschen bewusst war. Welcher Mensch würde je auf die Idee kommen ein Monster zu verführen? Höchstens jemand, der es liebte mit seinem Leben zu spielen und sich danach sehnte zu sterben.

Doch davon abgesehen ärgerte sich Rye viel mehr über sich selbst. Er wollte Gin nichts vorenthalten, da ihm schließlich genauso sehr nach ihm verlangte. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Verlangen nach seinem Blut unweigerlich immer dominieren würde. Und solange das so war, würde hautenger Körperkontakt niemals funktionieren. Rye war sich sicher, dass er sich sonst gestern darauf eingelassen hätte, wenn er ein Mensch wäre. Er hätte nicht mal gezögert, es erst gar nicht in Erwägung gezogen. Gin hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen. Wären sie beide Menschen, dann hätten sie es gestern miteinander getan. Dann wäre das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Grund für die Einladung gewesen. Aber so war es nun mal nicht. Darum war er dazu gezwungen gewesen Gin zurückzuweisen. Das müsste er jedes Mal wieder tun. Selbst dann, wenn er in den unwiderstehlichen Genuss kam, dass Gin ihn von selbst küsste und verführte. Rye ballte unbewusst die Hände zu Fäusten. Ohne es zu wollen schlichen sich die Erinnerungen der letzten Nacht vor sein inneres Auge. Gins heißer, Schweiß überzogener Körper, wie er sich immer weiter zu ihm herunter beugte und das zarte Fleisch seiner Finger über seine Brust fuhr…

Aber schon seltsam… Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, dessen Blut so außergewöhnlich gut riecht wie seines… Ob das mit meinen Gefühlen für ihn zusammenhängt? Vielleicht nehme ich den Geruch dadurch anders wahr…“, grübelte Rye. Es gab keinen Geruch auf der Welt, der ihn so erbarmungslos einhüllte wie Gins. Kein anderer war auch nur ansatzweise vergleichbar. Auch wenn er den köstlichen Duft jetzt im Moment nicht roch, hatte er ihn dennoch sehr intensiv im Gedächtnis abgespeichert. Er fühlte sich noch immer von ihm verführt.

Ob sein Blut vielleicht auch viel besser schmecken würde als von anderen…“ Rye hielt den Atem an und blieb stehen. Er ließ den Blick über die befahrene Straße schweifen und musterte ein paar der Geschäfte auf der anderen Seite.

Daran darf ich nie wieder denken…“, wies er sich gedanklich zurecht.

Nie wieder…“ Er versuchte sich an den eigentlichen Grund für seinen Spaziergang zu erinnern. Alles weitere verdrängte er aus seinen Gedanken.

Was er wohl am liebsten isst? Vielleicht sollte ich ein paar Zutaten kaufen, dann könnte ich die Küche endlich mal benutzen… Aber ich kann nicht kochen.“ Während er überlegte, ging er weiter und sah sich nach dem ein oder anderen Imbiss-Laden um. Kochen lernen würde definitiv zu lang dauern und ihm ohnehin nichts nützen. Zudem bezweifelte Rye, dass Gin Kochkünste zu schätzen wusste.

Zwischenzeitlich lief er an einigen Restaurants und einem Sushi-Shop vorbei. Nichts davon weckte wirklich sein Interesse. Davon abgesehen rochen menschliche Lebensmittel im Allgemeinen nicht sonderlich gut, sodass es ihn automatisch abstieß. Letztlich entschied er sich für einen simplen China-Imbiss und bestellte dort gebratene Nudeln mit Huhn und Gemüse. Die Schlange war sowohl vor als auch nach seiner Bestellung noch ziemlich lang, weshalb er davon ausging, dass das Essen schon schmecken würde. Richtig einschätzen konnte er das sowieso nicht.

Innerhalb von 20 Minuten war Rye wieder vor seinem Wohnblock angekommen. Im Treppenhaus fing er an zu rennen, als er sich sicher war, keiner weiteren Person zu begegnen. Im Nachhinein wünschte er sich doch, etwas schneller gewesen zu sein. Obwohl er die kurzen Auszeiten benötigte, fühlte er sich jedes Mal unwohl, wenn er nicht bei Gin war.

 

 

Am späten Nachmittag, kurz nach 17:00 Uhr

 

Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete Rye geräuschlos vom Türrahmen aus, wie Gin auf dem Sofa saß und Fernsehen schaute. Das ging jetzt schon mindestens vier Stunden so. Zwar hatte es Rye gefreut, dass es ihm gelungen war Gin zum Bleiben zu überreden, doch mit jeder verstreichenden Stunde ging seine Laune immer weiter in den Keller. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte, dass Gin den Fernseher beanspruchte – er selbst verwendete ihn sowieso kaum –, viel mehr störte es ihn, dadurch ignoriert zu werden. Dabei sah sich Gin gefühlt immer dasselbe an. Er zappte lediglich zu verschiedenen Nachrichtenkanälen, deren Neuigkeiten sich meist überschnitten. Irgendetwas schien er zu suchen. Oder er wartete auf etwas. Auf ein Ereignis, wovon jeden Moment berichtet werden könnte. Was hatte das zu bedeuten? Warum weihte Gin ihn nicht endlich ein? Rye stöhnte genervt, was der Silberhaarige jedoch nicht hörte. Fast hätte er vergessen, wie sehr er es hasste, ignoriert zu werden. Egal von wem. Und auf so langer Dauer machte es ihn beinahe wahnsinnig. Vor allem, wenn Gin der Flimmerkiste mehr Aufmerksamkeit schenkte als ihm. Das würde sich Rye nicht länger gefallen lassen. Er betrat das Wohnzimmer und stellte sich mit verschränkten Armen direkt vor den Fernseher.

Sofort wurde er von Gin böse angefunkelt. Rye tat es ihm gleich und meinte im beleidigten Tonfall: „Das hab ich mir jetzt lang genug mit angesehen. Was soll das?“

„Du wolltest doch unbedingt, dass ich noch länger hierbleibe. Zu Hause hätte ich auch nichts anderes getan.“, erwiderte Gin schlicht und zuckte mit den Schultern.

„Und wieso?“ Inzwischen war sich Rye nicht mehr sicher, ob der Silberhaarige einfach aus Langeweile fernsah oder doch etwas dahinter steckte. Und falls ja, wollte er das unverzüglich erfahren. Anstatt zu antworten bedeutete Gin ihm jedoch, sich neben ihn zu gesellen. Rye seufzte, zögerte aber nicht und befand sich in weniger als einer Sekunde bei seinem Geliebten auf dem Sofa.

„Ich weiß nicht genau, wann die Nachricht eintrifft, aber der Boss meinte im Laufe des Tages…“, murmelte Gin abwesend und starrte weiterhin zum Bildschirm. Also doch. Irgendetwas würde passieren oder war vielleicht schon passiert. Aber was sollte daran so wichtig sein, dass man die Nachrichten stundenlang verfolgen musste?

„Was für eine Nachricht?“, drängte Rye ihn.

„Wirst du schon noch sehen.“, erwiderte Gin nichtssagend und sah ihn dabei wieder nicht an. Rye beugte sich vor, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Lag da so etwas wie Unsicherheit in seiner Miene? Warum?

„Wie du meinst…“ Rye gab es letzten Endes auf, da der Silberhaarige anscheinend ohnehin nicht vorhatte etwas preiszugeben, ehe er es nicht selbst mit eigenen Augen sehen würde. Zumindest war seine Neugier nun geweckt. Hoffentlich hatte die Nachricht nichts mit ihm zu tun. Gedanklich ließ er seinen letzten Mord Revue passieren und überprüfte, ob er vielleicht etwas übersehen oder vergessen hatte. Ihm fiel nichts ein. Die Sorge war wohl umsonst.

Rye versuchte sich sowohl auf die Nachrichten, als auch auf Gin zu konzentrieren. Solange von diesem keine Reaktion erfolgte, schenkte er auch dem gerade laufenden Bericht keine weitere Beachtung. Nach einer Weile hörte er komplett auf seinen Blick immer wieder zum Bildschirm zu lenken und lehnte sich zurück, um nur noch Gin zu beobachten. Doch von ihm wurde er nach wie vor nicht beachtet. Rye zog einen Schmollmund und streckte eine Hand aus, um seinen Geliebten zu sich auf den Schoß zu ziehen. Dessen Widerstand ignorierte er wie immer dabei, sodass der Silberhaarige gezwungen war liegen zu bleiben.

„Du nervst.“, maulte Gin, während er gereizt zu Rye hochschaute. Dieser belächelte den Gesichtsausdruck nur und fuhr ihm mit den Fingern sanft durch die Haare.

„Und du hast mich stundenlang ignoriert.“

„Hab ich nicht. Ich will bloß den Bericht nicht verpassen. Das ist wichtig.“, beharrte Gin und drehte seinen Kopf wieder zum Fernseher, woraufhin Rye die Augen verengte und fragte: „Wichtiger als ich?“

Er erhoffte sich darauf keine ernsthafte Antwort. Trotzdem schien Gin einen kurzen Moment nachzudenken, bevor er erwiderte: „Naja, es geht in gewisser Weise um dich.“

Rye erstarrte. Nein. Niemals. Das war nicht möglich.

Ich hab doch drauf geachtet, dass ich alle Spuren beseitige!“, schrie er gedanklich. Die Panik, die von ihm Besitz ergriff und ihn ablenkte, nutzte Gin, um wieder aufzustehen.

„W-Wieso? Warum hast du nichts gesagt?“ Ungewollt schlug Rye einen zu hysterischen Tonfall an. Ihm schossen noch zig weitere Fragen durch den Kopf. Wieso wusste der Boss anscheinend über den Bericht?

Er hat doch ausdrücklich gesagt, dass er in den Nachrichten nichts mehr sehen will, was mit mir in Verbindung steht… also wieso…“ Es erschloss sich ihm einfach nicht.

„Was hätte es geändert?“, fragte Gin barsch, fügte dann aber mit ruhigerer Stimme hinzu: „Es gibt keinen Grund zur Sorge.“

Das hätte Rye am liebsten geglaubt. Doch es ging nicht. Er hatte scheinbar einen Fehler begangen. Und jeden Moment würde die halbe Welt davon erfahren. Darunter mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Eclipse.

„Doch, den gibt es! Du hättest-“

„Pscht!“, zischte Gin und schnitt ihm somit das Wort ab. Er sah plötzlich ganz aufmerksam aus. Völlig vertieft in den gerade beginnenden Bericht. Rye schaute verwirrt zum Bildschirm und ließ die Stimme der Nachrichtensprecherin zu sich durchdringen.

„….diese Meldung hat uns gerade erreicht. Wir sind zutiefst erleichtert, Ihnen mitteilen zu können, dass die Straßen Tokios von nun an wieder sicherer sind. Die Bürger können aufatmen – denn das Rätsel um die langwierige Mordserie, welche die Stadt in Angst und Schrecken versetzte, ist endlich gelöst.“

Was zum Teufel wird hier gespielt…“ Rye blieb der Mund offen stehen. Schockiert huschte sein Blick zu Gin, welcher jedoch keine Reaktion zeigte und ihn nicht einmal ansah. Er war mehr oder weniger auf alles gefasst gewesen – aber nicht auf so etwas. Noch mehr Fragen bildeten sich in seinem Kopf und stürzten nahezu auf ihn ein. Die Mordserie. Gelöst? Wie sollte das möglich sein? Hatte die Polizei Hinweise bekommen? Etwa vom Boss? Wie konnte Gin das zulassen?

Rye schlang die Arme um seine Brust und spürte, wie er vor Schock und Entsetzen zitterte. Jetzt war es aus. Die Öffentlichkeit würde von ihm erfahren und Eclipse würde ihn finden. Er musste fliehen.

Doch ohne Gin…“ Rye versuchte sich mühselig weiter auf den Bericht zu konzentrieren. Vielleicht gab es noch Hoffnung.

„Nicht selten wurden die Morde mit Tierangriffen verglichen. Teilweise wusste die Polizei überhaupt nicht, nach was sie eigentlich fahnden sollten. Irreführende Hinweise und etliche furchteinflößende Theorien aus den sozialen Netzwerken erschwerten die Suche erheblich. Doch nun verkündet der leitende Ermittler Hiroyasu Okimoto, dass der verantwortliche Täter sich gestellt habe.“

Jetzt wurde Ryes Schock wieder von Verwirrung vertrieben.

Gestellt?“ Er konnte sich nicht daran erinnern, das getan zu haben. Das musste ein Irrtum sein. Oder war etwa von jemand anderem die Rede?

„Sein Name ist Seiho Yonemura. Ein Mann Mitte 40 aus einfachen Verhältnissen. Ein Mensch wie jedes seiner Opfer, die er auf eine grauenhafte Weise tötete, um sie größtenteils danach zu verzehren. Die Polizei geht davon aus, dass Seiho unter einer psychischen Störung leidet, auf die sein kannibalistisches Verhalten zurückzuführen ist. Ein Motiv habe er bei seiner Vernehmung nicht angegeben, doch er leugnete keine seiner verübten Taten. Es ist demnach unausweichlich, dass ihm die Todesstrafe bevorsteht. Laut Aussage der Polizei soll er so bald wie möglich hingerichtet werden. Weitere Details zu der Mordserie sollen später auf der Homepage der Präfekturpolizei Tokio veröffentlicht werden. Heute um 22:00 Uhr wird in einem Podcast ausgiebig über die Umstände und Hintergründe der Morde diskutiert. Zu Gast sind-“

Ryes Augen wurden groß, als der Bildschirm plötzlich schwarz wurde. Er schaute irritiert zu Gin, welcher die Fernbedienung noch in der Hand hielt.

„Der Rest ist nicht mehr von Bedeutung. Es hat sich erledigt.“, sagte er zufrieden und lehnte sich zurück. Rye warf ihm einen entsetzten Blick zu. Zwar hatte er noch nicht ganz verstanden, was er da gerade in den Nachrichten gehört hatte, doch eins wusste er mit Sicherheit: Nichts hatte sich erledigt. Nicht auf diese Weise.

„Was habt ihr getan?“, wollte er wissen. Irgendwie verärgerte es ihn nun noch mehr, nicht eingeweiht worden zu sein.

„Den Verdacht von dir abgelenkt und dich sozusagen von deiner Schuld befreit. Gern geschehen.“, erwiderte Gin ironisch. Er schien Ryes erboste Stimmung nicht nachvollziehen zu können.

„Aber dieser Mann ist unschuldig!“ Rye war völlig außer sich. Er wollte nicht, dass jemand Unschuldiges für seine Morde den Kopf hinhalten musste. Und wie konnte dieser Mann bei der ganzen Sache noch mitspielen und sich hinrichten lassen? Wie konnte er es einfach in Kauf nehmen, sich von der Gesellschaft als kannibalistischer Serienmörder verachten zu lassen?

Vielleicht haben sie ihn erpresst…“, ging es ihm durch den Sinn. Inzwischen sah Gin ihn verständnislos an.

„Wäre es dir lieber gewesen, wenn Eclipse wegen der Morde auf dich aufmerksam geworden wäre? Auch wenn der Plan nicht alle Fragen und Zweifel abdeckt, gilt der Fall zumindest von nun an als abgeschlossen. Umso glaubwürdiger Yonemuras Aussagen sind, desto besser für dich. So solltest du fürs Erste in Sicherheit sein.“, meinte er monoton, als sei ihm das Leben dieses Mannes völlig egal. Und natürlich war dem auch so. Rye hatte in den letzten Tagen fast vergessen, wie kaltherzig und gleichgültig Gin gegenüber anderen Menschen sein konnte.

„Es hätte doch bestimmt auch eine andere Möglichkeit gegeben! Habt ihr etwas gegen ihn in der Hand oder warum hat er alles einfach so gestanden?“

„Mag vielleicht sein, aber so war es am einfachsten und vor allem am schnellsten umzusetzen. Wir haben in der Organisation schon unsere Methoden, einem Menschen ordentlich den Kopf zu waschen. Und da wir auch in der Polizei jemanden von unseren Leuten haben, ist die Chance noch geringer, dass der Plan auffliegt.“, erwiderte Gin, was Rye noch mehr entsetzte. Eine Gehirnwäsche war wirklich das Letzte. Er schwieg, da er nicht mehr musste, was er dazu sagen sollte. Etwas dagegen unternehmen konnte er ohnehin nicht mehr.

Da vernahm er ein Seufzen vom Silberhaarigen.

„Er muss dir nicht Leid tun.“, sagte er beschwichtigend. „Die Organisation war ihm schon länger auf den Fersen. Er ist wirklich ein Serienmörder, aber bisher wurden die Morde, die er begangen hat weder aufgeklärt, noch mit ihm in Verbindung gebracht. Aus dem Grund war es auch leichter ihn glauben zu lassen, dass er deine Morde begangen hat. Und ob er am Ende nun für seine oder deine Taten verurteilt wird, spielt keine Rolle.“

Darüber musste Rye einen kurzen Moment nachdenken. Machte es wirklich keinen Unterschied? Natürlich war es nicht vollkommen das Gleiche, doch wenn dieser Mann trotz allem ein schlechter Mensch war…

„Das war notwendig, um Eclipses möglichen Verdacht zu zerstreuen. Ich wollte doch nur, dass du… hierbleiben kannst, ohne dir ständig Sorgen machen zu müssen.“, fügte Gin plötzlich unsicher hinzu und senkte den Blick. Sein melancholischer Gesichtsausdruck brachte Rye dazu, sich letztlich geschlagen zu geben. Wenn Gin das alles nur für ihn so geplant hatte, konnte er darüber einfach nicht länger verärgert sein.

„Du meinst, du wolltest, dass ich bei dir bleibe?“, fragte er mit sanfter Stimme, woraufhin sein Geliebter ertappt den Blick hob. Auf seinen Wangen bildete sich eine leichte Röte, die Rye verriet, dass er richtig lag. Er lächelte zufrieden und beugte sich vor, sodass ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter trennten.

„Na gut, dann werde ich dir mal dankbar dafür sein, Liebster.“, flüsterte er und hauchte Gin einen Kuss auf die Lippen. Als dieser den Kuss erwidern wollte, zog er sich jedoch schnell wieder zurück. Er hatte sich immer noch nicht ganz von gestern Nacht erholt und wollte sich nicht schon wieder mitreißen lassen. Gerade war er sich nicht sicher, ob er genug Selbstkontrolle besaß. Auch wenn Gins enttäuschte Miene ihn im nächsten Moment wieder schwach werden ließ. Er rutschte zur Vorsicht noch ein bisschen weiter weg.

„Ich hoffe, dir ist bewusst, was dir in Zukunft nicht mehr passieren darf. Sonst war das alles umsonst.“ Die Emotionen verschwanden aus Gins Gesicht und er schlug einen ernsteren Ton an. Rye nickte schwermütig.

Wenn es doch bloß so einfach wäre…“, dachte er. Als ob er freiwillig ein blutsaugendes Monster war. Als ob er all die Menschen aus Spaß oder Vergnügen tötete. Nein. Er würde immer dazu verdonnert sein.

„Ich kann es versuchen. Aber irgendwie muss ich mich nun mal ernähren… Ich würde mich auch lieber aushungern, wenn es davon nicht schlimmer werden würde…“, meinte er verzweifelt. Im ausgehungerten Zustand könnte ihn niemand zähmen.

„Das weiß ich. Aber vielleicht wäre es doch besser, sich eine Alternative zu überlegen.“, riet Gin ihm. Er klang, als hätte er bereits eine Idee.

„Ich bin ganz Ohr.“ Rye war gespannt, ob es tatsächlich etwas gab, was weniger Menschenleben kostete und dass er selbst noch nicht ausprobiert hatte.

„Wie wäre es, wenn du dich nur auf eine Person beschränkst. Du könntest in kleineren Mengen Blut zu dir nehmen, ohne die Person zu töten.“, schlug Gin vor. Rye legte skeptisch die Stirn in Falten. Theoretisch würde das vielleicht funktionieren, aber…

„Klar, bestimmt gibt es viele Personen, die sich dafür zur Verfügung stellen würden. Willst du gleich eine Stellenanzeige im Internet veröffentlichen?“

Gin rollte mit den Augen. „Ich hab ja nicht gesagt, dass die Person das freiwillig tut.“

„Das wäre schlimmer als Folter.“

„Was du nicht sagst.“

„Vergiss es.“, lehnte Rye in strenger Tonlage ab. So etwas würde er keinen Menschen antun wollen. Da war es selbst angenehmer, sie auf der Stelle zu töten anstatt sie für die Ewigkeit als Blutspender zu benutzen. Das wäre kein lebenswertes Leben mehr.

„Okay. Vielleicht gibt es doch jemanden, der es freiwillig tun würde…“, meinte Gin, während seine Stimme zum Ende hin immer leiser wurde.

„Gibt es nicht.“, stellte Rye klar, sobald er Gins hintergründiges Motiv erahnte. Dieser wich nun angespannt seinem Blick aus.

„Woher willst du das wissen? Ich könnte-“

Nein!“, schrie Rye umgehend dazwischen. Er konnte sich vor Wut und Entsetzen, welche ihn plötzlich überrumpelten, kaum noch halten. „Das kommt nicht in Frage. Wenn du noch einmal daran denkst, es auch nur in Erwägung ziehst…“

Er ließ die Drohung unvollständig, als er Gins schockierten Gesichtsausdruck bemerkte. Seine Hände krallten sich in das Sofa.

Ich schlachte lieber die ganze Stadt ab, als sein Blut…“, fügte er gedanklich hinzu, während er spürte, wie sein Körper bei der Vorstellung von Gin zu trinken vibrierte. Das Monster in seinem Inneren frohlockte und würde diese Vorstellung am liebsten sofort in die Tat umsetzen. Rye hielt den Atem an und versuchte dagegen anzukämpfen.

Wie kann er das nur wollen… wie kann er wollen, dass ich ihm weh tue… Ich würde ihn töten…“, kreisten seine Gedanken wild umher. Er wollte es nicht verstehen.

„Beruhige dich. Das sollte nur ein Angebot sein, da sowieso keiner weiter in Frage käme, der es freiwillig tun würde.“, spielte Gin es herunter, was Ryes Wut noch weiter hochtrieb. Seine Hände verkrampften sich und er verengte die Augen, woraufhin der Silberhaarige ergeben die Hände hob.

„Hab‘s ja verstanden. Entschuldige.“, sagte er monoton. Rye versuchte sich zu beruhigen. Nur wie er das anstellen sollte, wusste er nicht wirklich.

„Wie wäre es stattdessen mit Blutbeutel?“, fragte Gin nach kurzer Zeit ironisch, um die Spannung in der Luft zu lösen. Das klang so absurd, dass Rye es irgendwie schon wieder lustig fand. Seine Wut nahm etwas ab.

„Woher soll ich die bekommen? Ich habe Krankenhäuser schon immer gemieden und selbst wenn nicht, kann ich da nicht einfach etwas entwenden.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass altes, kaltes, abgepacktes Blut besser schmecken würde als Frisches, geschweige denn genauso gut. Aber darum ging es schließlich nicht. Nur würde vielleicht das Risiko bestehen, dass es ihn nicht vollkommen befriedigte und somit sein inneres Monster nicht bändigen würde.

„Wirklich nicht? Du tust dich doch sonst nicht so schwer Dinge von anderen zu entwenden.“, entgegnete Gin leicht schnippisch und verschränkte die Arme, als würde ihn das stören. Rye bekam das Gefühl, dass sein Geliebter ihm versuchte etwas mitzuteilen, ohne es direkt aussprechen zu wollen. Er sah Gin nachdenklich in die Augen. „Meint er etwa-…“

Ryes Blick schoss überrascht in Richtung des Flurs als er glaubte, dort etwas vibrieren zu hören. Gin hingegen schien es nicht zu hören, schaute Rye aber dennoch verwundert an.

Ein Handy?“, kam es dem Schwarzhaarigen in den Sinn. Er sprang sofort auf, um sich zu vergewissern. Und tatsächlich, im Flur hing Gins Mantel noch an der Garderobe, in dessen Tasche sich sein Handy befand. Rye fischte dieses heraus, ohne den Anruf anzunehmen. Die Nummer auf dem Display sagte ihm nichts. Er huschte schnell zurück zu Gin und blieb vor dem Sofa stehen.

„Ein Anruf für dich.“, meinte er und hielt ihm das Handy entgegen. Nachdem der Silberhaarige ein paar Mal entgeistert geblinzelt hatte, nahm er es ihm aus der Hand und bestätigte den Anruf.

„Was gibt es?“, fragte er ohne Umschweife, während er sich von Rye abwandte. Dieser versuchte nun die Stimme am anderen Ende der Leitung einer Person zuzuordnen.

„Hast du die Nachrichten gesehen?“, fragte die Person in autoritärer Tonlage. Diese tiefe, kalte Stimme würde Rye immer erkennen. Sie gehörte zweifellos dem Boss. Zu seinem Erschrecken.

„Natürlich, es scheint alles geklappt zu haben.“, erwiderte Gin kühl. Rye blieb wie angewurzelt stehen und fragte sich, ob der Boss lediglich den Plan noch weiter besprechen wollte und nächste Vorkehrungen getroffen werden mussten. Diesmal wollte er auf jeden Fall auch eingeweiht sein. Doch da fragte der Boss plötzlich etwas, was Rye vor Schreck zusammenfahren ließ: „Ist Rye gerade in deiner Nähe?“

Er wirbelte herum und überlegte, ob es besser wäre, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Da jedoch noch die Möglichkeit bestand, dass Gin ihn in Schutz nahm und log, drehte er sich unsicher zu ihm um. Ihre Blicke trafen sich. Rye schüttelte hastig den Kopf, um Gin wortlos mitzuteilen, dass er die Frage verneinen sollte. Vom Silberhaarigen erfolgte keine Reaktion.

„Ja, ist er.“, sagte er dann.

Verräter…“, dachte Rye pikiert und warf Gin einen bösen Blick zu. Dafür würde er sich später noch rächen.

„Dann gib ihn mir.“ Die Forderung des Bosses ließ Ryes Befürchtung endgültig wahr werden. Für Flucht war es leider bereits zu spät und selbst wenn würde das höchstwahrscheinlich Konsequenzen haben. Doch was sollte so wichtig sein, dass der Boss es nicht einfach Gin mitteilte?

Ehe Rye eine Antwort auf diese Frage finden konnte, hielt Gin ihm schon ungeduldig das Handy hin. Nur widerwillig nahm Rye es an sich, bevor er seinen Missmut herunterschluckte und im freundlichen Ton begann: „Sie wollten mich sprechen?“

„In der Tat. Wie kommt es, dass du bei ihm bist?“, wollte der Boss wissen. Dass er darüber eigentlich nicht erfreut war, erkannte Rye an seiner Stimme - wie ein Vater, der nicht wollte, dass sein Kind zu viel Zeit mit den falschen Leuten verbrachte. Dieser Vergleich brachte Rye zum schmunzeln. Natürlich würde sich der Boss niemals derartige Sorgen um Gin machen. Das Einzige, was er fühlen konnte waren womöglich Hass und Verachtung.

„Es ist umgekehrt.“, erwiderte Rye lasziv, unterließ es jedoch, noch weiter auszuholen und mehr Details zu verraten. Obwohl er sich damit prima an Gin rächen könnte, würde er so ebenfalls ins Fettnäpfchen treten. „Aber das kommt Ihnen doch bestimmt gelegen, da sie meine Nummer nicht haben.“

„Die brauch und will ich auch nicht.“, meinte der Boss abweisend, worüber Rye etwas erleichtert war. Denn brauchen und wollen tat er das genauso wenig.

„Sondern?“, fragte er.

„Muss ich dich daran erinnern, dass du noch eine Rechnung zu begleichen hast? Nun, genau genommen, sind es jetzt sogar zwei.“

Rye runzelte die Stirn. Er hatte es nicht vergessen. Die Zeit, die er dem Boss mit seiner Fragerei gestohlen hatte. Doch das andere? Zählte etwa die vermeintlich aufgeklärte Mordserie auch dazu?

Er tut eben nichts ohne Gegenleistung…“, dachte Rye deprimiert. Da würde bestimmt noch Einiges auf ihn zukommen.

„Natürlich nicht, dann ist Ihnen also was eingefallen.“

„So kann ich das nicht sagen, es ist eher so, dass das Problem zufällig entstanden ist.“, erklärte der Boss, was Rye nicht erwartet hatte. „Welches Problem?“

Gedanklich malte er sich aus, was alles passiert sein könnte. Dabei bemerkte er im Augenwinkel, wie Gin automatisch die Ohren spitzte. Rye war sich nicht sicher, ob dieser das Gespräch überhaupt mithören durfte. Der Boss schien immerhin sehr viele Geheimnisse zu haben, von denen der Silberhaarige noch nichts wissen durfte. Aus welchen Gründen auch immer. Doch Rye wollte ihm nichts vorenthalten, da er sich dabei einfach nicht wohl fühlte.

„Mich hat soeben die Nachricht erreicht, dass einer meiner Geschäftspartner einen NOC in seinem Unternehmen haben soll. Wie es scheint, wird er schon länger von irgendwelchen Schnüfflern aus dem Ausland beobachtet, die ihm dicht an den Fersen hängen und alle Exporte verfolgen.“, berichtete der Boss abfällig. Ein verdeckter Ermittler von einer ausländischen Behörde. Sonst nichts weiter. Rye hatte sich Schlimmeres vorgestellt. Nichts war leichter als einen Menschen zu töten. Doch er konnte schon verstehen, warum das für die Organisation ein so großes Problem darstellte. Solche Möchtegern-Gerechtigkeitskämpfer konnten schnell für Chaos sorgen, wenn sie die falschen Informationen an die Behörde weiterleiteten.

„Verstehe, und weil Sie nicht wollen, dass die Handelsbeziehungen zur Organisation ans Licht kommen, soll ich diesen NOC finden und töten, richtig?“, schlussfolgerte er.

„Fast. Da ich kein Risiko eingehen möchte, werde ich gnädig sein und dich deine zwei Rechnungen in einen Auftrag begleichen lassen. Ich tue das nur ungern, doch meines Geschäftspartners werde ich mich auch entledigen müssen. Du wirst beide beseitigen.“ So, wie die Stimme des Bosses klang, bezweifelte Rye, dass er das wirklich nur ungern tat. Dann eben zwei Menschen. Immer noch keine große Herausforderung. Und dass der Schwarzhaarige damit beide Rechnungen auf einmal begleichen konnte, kam ihm nur gelegen. Jedoch fragte er sich, warum der Boss entschieden hatte, beide umbringen zu lassen. War sein Vertrauen zu seinem Geschäftspartner wirklich so gering, dass er befürchtete von diesem verraten zu werden? Wahrscheinlich schien er das Wort ‚Vertrauen‘ gar nicht zu kennen. Die Brücken, über die er ging, würde er vermutlich allesamt hinter sich abreißen. Aber lieber übervorsichtig als unvorsichtig. Manche Menschen würden alles dafür tun, um ihre eigene Haut zu retten. Selbst wenn sie dadurch selbst zum Verräter wurden.

„Wie Sie wollen, Sir. Wer, wann und wo?“

„Langsam. Bedauerlicherweise weiß ich nicht, wer dieser NOC sein soll. Das musst du selbst herausfinden. Aber ich kann dir sagen, wann du die perfekte Gelegenheit dazu haben wirst. Morgen feiert das Unternehmen ihr 50-Jähriges Firmenjubiläum, wofür sie die Bar ‚Black Widow‘ im Roppongi-Viertel gemietet haben. Mein Geschäftspartner, Tezuka Naganori, wird 19:00 Uhr dort eintreffen. Ich will, dass du es unauffällig tust. Kein Massaker, verstanden?“, sprach der Boss, wobei sich bei den letzten zwei Sätzen ein drohender Unterton in seine Stimme mischte. Rye erschauderte. Das würde die ganze Sache erschweren.

Wie soll ich einen NOC ausfindig machen? Ich hab für so etwas doch kein Gespür…“, beschwerte er sich gedanklich und fuhr sich mit einer Hand durch den Haaransatz. Wieder musterte er Gin aus dem Augenwinkel heraus, welcher ihm nun einen fragenden Blick zuwarf. Da kam Rye plötzlich eine Idee, die er jedoch unausgesprochen ließ. Würde er das tun, bestand die Möglichkeit, dass der Boss etwas dagegen auszusetzen hatte. Was er nicht wusste, konnte er nicht verbieten.

„Ja, Sir. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass beide Personen am Ende des morgigen Tages nicht mehr am Leben sein werden.“, versprach er und hoffte, dass es ihm gelingen würde, diese Aussage wahr werden zu lassen. Für die größte Schwierigkeit hatte er immerhin schon mehr oder weniger eine Lösung parat.

„Das will ich hoffen. Und vergiss nicht, was ich gesagt habe: Kein Massaker.“ Nach diesen Worten ertönte ein monotones, gleichmäßiges Piepen. Der Boss hatte aufgelegt. Rye starrte auf das Display, bis dieses kurz darauf schwarz wurde und er selbst seinen missbilligenden Gesichtsausdruck darin sehen konnte.

Er reichte Gin wortlos das Handy hin. Die warmen Finger des Silberhaarigen strichen ganz leicht über seine eigenen, als er es wieder zurücknahm. Rye bemerkte, dass Gins Augen erwartungsvoll funkelten, ihm jedoch auch einige Fragen im Gesicht standen. Lächelnd fragte er: „Lust, morgen mit mir auf eine Feier zu gehen?“

Gin schob die Augenbrauen zusammen. „Eine Feier?“

„Morgen im Roppongi-Viertel in einer Bar namens Black Widow. Der Boss will, dass ich dort zwei Personen töte.“, sagte Rye. Er hoffte, dass Gin ihn begleiten würde. Doch leider sprach dessen Gesichtsausdruck überhaupt nicht dafür.

„Und was soll ich dann dort?“, fragte er verdutzt.

„Mich unterstützen.“

Daraufhin schnaubte Gin spöttisch. „Das ist dein Auftrag, du wirst mich ohnehin nicht brauchen. Oder sagst du mir dann wieder, dass ich solange warten soll, bis du zurück bist?“

„Du hast recht, es ist mein Auftrag.“, stimmte Rye ihm zu und setzte sich wieder neben ihn auf das Sofa. „Aber wir sind trotz allem immer noch Partner. Ich brauche dich immer.“ Die Wahrheit in dieser Aussage unterstützte er, indem er eine von Gins Händen umschloss. Es erfolgte jedoch keine Antwort, weshalb Rye beschloss, den Silberhaarigen ein wenig zu necken: „Wer bringt mich denn sonst nach Hause, falls ich wieder bewusstlos werde?“

Nur kurz verzog Gin die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln, bevor seine Miene wieder ernst wurde und es so wirkte, als hätte er es nie lustig gefunden.

„Das wird diesmal nicht nötig sein, weil du es erst gar nicht so weit kommen lassen wirst.“ Es klang wie eine Drohung, die Rye aber nicht für voll nahm. Da waren die Drohungen vom Boss mindestens hundert Mal einschüchternder.

„Natürlich nicht, aber ich möchte trotzdem, dass du mich begleitest. Ich werde dir auch nicht mehr sagen, dass du warten sollst, bis ich zurück bin. Zum einen hältst du dich sowieso nicht dran und zum anderen musst du mir diesmal wirklich einen Gefallen tun.“ Rye beobachtete, wie Gin bei der ersten Hälfte des letzten Satzes kurz die Augen verdrehte, bevor er ihn doch interessiert ansah.

„Der wäre?“, hakte er nach. Rye versuchte ihm die Lage so gut wie möglich zu schildern: „Es geht um einen Geschäftspartner der Organisation, welcher einen NOC in seinem Unternehmen hat. Der Boss sagte zwar, dass dieser NOC mit hoher Wahrscheinlichkeit morgen auch auf der Feier sein wird, doch ich habe keine Ahnung wer diese Person ist und wie ich sie finden soll. Je nach dem, wie viel Leute dort sind, kann es dementsprechend lange dauern… und die Chance, dass ich mich irre, ist ziemlich hoch, da ich dafür kein Gespür hab. Du aber schon, nicht wahr?“

Rye funkelte Gin vielsagend an, welcher erwiderte: „Kurz gesagt: Ich soll den NOC für dich aus der Masse herausfiltern, damit du ihn umlegen kannst?“

„Ja. Der Leiter des Unternehmens, Tezuka Naganori, sollte dagegen kein Problem sein.“ Da war sich Rye relativ sicher. Zwar hatte ihm der Boss keine Details über das Aussehen dieses Mannes gegeben – wahrscheinlich mit Absicht – doch immerhin wusste er den Namen. Und wie schwer sollte es schon sein, einen Unternehmensleiter von seinen normalen Angestellten zu unterscheiden? Meistens war solchen Leuten das viele Geld ohnehin zu Kopf gestiegen und sie verhielten sich auch dementsprechend so, als seien sie etwas Besseres.

Gin schwieg eine Weile. Scheinbar dachte er über etwas nach.

„Nimmst du an.“, meinte er dann. Rye schaute ihn fragend an. Offensichtlich war dem Silberhaarigen der Name des Kerls nicht unbekannt, was auch seine nächste Aussage bestätigte.

„Ich kenne diesen Mann. Weißt du, wie groß sein Unternehmen ist und wie viel Machteinfluss er besitzt? Und glaubst du wirklich, dass du dich ihm so einfach nähern kannst, ohne Aufsehen zu erregen? Er wird höchstwahrscheinlich noch andere noble Herrschaften eingeladen haben, von denen er rund um die Uhr umringt sein wird. Du müsstest dich schon sehr geschickt anstellen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.“, erklärte Gin mit spöttischem Unterton. Doch er hatte recht.

Daran hab ich gar nicht gedacht.“, fiel Rye auf. Würde das wirklich so schwer sein?

„Und wenn ich mich auch als eine dieser Herrschaften ausgebe?“, schlug er vor, woraufhin Gin seine Lippen zu einem breiten Lächeln verzog, als würde er jeden Moment anfangen zu lachen.

„Ich gehe mal stark davon aus, dass Naganori seine Gäste kennt. Da ist die Chance höher, dass du unter den Angestellten nicht so sehr auffällst.“, meinte er mit leichter Belustigung in der Stimme. Rye schürzte beleidigt die Lippen. Irgendeine andere Möglichkeit musste es doch geben, um diesem Typen näherzukommen, ohne verdächtig zu wirken. „Und wenn ich kein Gast wäre, sondern…

„Ich könnte kellnern.“, vollendete er seinen Gedanken laut. Das war die Idee. Als Kellner wäre es ihm problemlos möglich dem Kerl nahezukommen, ohne sonderlich viel Aufsehen zu erregen.

Gins Augen weiteten sich überrascht. Aber in seiner Miene sprach sonst nichts gegen diese Idee. Rye konnte ihm ansehen, dass ihm die Vorstellung sogar etwas zu gefallen schien.

„Keine schlechte Idee.“, gab er schließlich zu. Rye schmunzelte. Er kam nicht umhin, sich vorzustellen, wie Gin ebenso an seiner Seite kellnern würde. Aber dieser Wunsch würde ihm wohl verwehrt bleiben.

„Also hilfst du mir?“, fragte er.

„Hmm…“ Gin schob nachdenklich die Lippen vor. „Was bekomme ich dafür?“

„Seit wann stellst du Bedingungen?“, entgegnete Rye in gespielt entsetzter Tonlage. Er hielt es lediglich für einen kleinen Spaß und ging davon aus, dass der Silberhaarige ihn so oder so begleiten würde.

Er lässt mich bei solchen Dingen nicht gerne aus den Augen, sonst wäre er mir letztes Mal nicht nachgekommen, obwohl ich es ihm verboten hatte...“

Gin entwich ein leises Lachen, dann meinte er: „Seit ich dich auf Missionen begleiten muss, die eigentlich nicht für mich bestimmt sind.“

Rye zog einen Schmollmund. Sein Geliebter schien es tatsächlich ernst zu meinen.

„Was willst du denn haben?“, fragte er vorsichtig. Er bemerkte, wie Gin seine Hand fester umschloss, um ihn kurz darauf zu sich heranzuziehen. Rye erstarrte, als sich Gin vorbeugte und ihm verführerisch ins Ohr flüsterte: „Dich.“

Mit einem Schlag übermannte Rye eine Welle von Verlangen, die seine Kehle in Flammen aufgehen ließ. Gins bloße Nähe strahlte auf einmal eine viel intensivere Hitze aus, sodass sich Rye automatisch von ihm angezogen fühlte. Sein Körper spannte sich an. Er wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Am liebsten hätte er gesagt „Du hast mich doch schon“, doch dass Gin es nicht so gemeint hatte, lag klar auf der Hand. Heimlich fragte er sich, woher plötzlich diese Entschlossenheit des Silberhaarigen kam. So offen zu seiner Liebe zu stehen passte gar nicht zu ihm.

Doch bevor sich Rye eine andere Antwort zurechtlegen konnte, wich Gin plötzlich begleitet von einem Seufzen wieder zurück und ließ seine Hand los. Enttäuscht blickte Rye ihn an, obwohl ihm klar wurde, dass er ohnehin nicht darauf hätte eingehen können. So gern er Gin alles gegeben hätte, wonach er verlangte.

„Das war nur ein Witz.“, meinte dieser nun kühl.

„Oh…“ So ganz konnte Rye ihm das nicht glauben, jedoch sorgte Gins emotionsloser Gesichtsausdruck dafür, dass sich auch seine letzten Zweifel in Luft auflösten.

„Ich kann versuchen, den NOC für dich ausfindig zu machen. Aber versprechen werde ich dir das nicht.“, sagte Gin tonlos. Ein Lächeln umzuckte Ryes Lippen. Ob Gin letzten Endes Erfolg haben würde, war ihm nicht so wichtig. Die Hauptsache war, dass er morgen bei ihm sein würde.

„Wenn du es versuchst, reicht mir das schon.“ Er legte seine Hand auf Gins Wange, in welche sich daraufhin ein warmes Rot schlich. „Danke.“

Gin schmiegte seinen Kopf etwas stärker in die Berührung und schwieg, während sich Rye in diesem schönen, beruhigenden Anblick verlor. Nur im Hinterkopf fragte er sich, wie der morgige Abend wohl enden würde. Hoffentlich würde alles gut gehen.



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