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The Monster inside my Veins

von

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Ein ungebetener Gast

Erschöpft lehnte sich Gin gegen die Tür, die er soeben geschlossen hatte. Noch nie war ihm der Weg zu seiner Wohnung so anstrengend vorgekommen wie heute. Allein für die Strecke vom Hafen bis zurück zu seinem Porsche hatte er mindestens eine halbe Stunde benötigt. Und von dort aus bis hierher nochmal 20 Minuten. Dennoch war die Zeit nicht ausreichend gewesen, um sich von Ryes sonderbarem Auftritt erholen zu können. Sogar jetzt noch kreisten Gins Gedanken in seinem Kopf wild umher und ließen sich einfach nicht ordnen. Am meisten dachte er über die Antwort auf Ryes Frage nach, die er ihm noch schuldete. Aber es wollte Gin einfach nicht gelingen, die richtigen Worte zu finden und langsam graute es ihm vor dem morgigen Tag. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn er Rye wieder keine Antwort geben konnte.

„Ich versteh ihn einfach nicht… Warum will er das unbedingt wissen? Zumal die Frage total unpassend war!“, murrte der Silberhaarige gedanklich und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Innerlich stellte er sich bereits auf eine schlaflose Nacht ein, die er womöglich mit Grübeleien verbringen würde. Dabei benötigte er den Schlaf jetzt dringend.

„Allerdings muss ich zugeben, dass ich entgegen meinen Befürchtungen noch relativ unversehrt davongekommen bin...“, gestand er sich ein. Immerhin hätte der Abend viel schlimmer für ihn ausgehen können.

„Wenn man bedenkt, zu was er imstande ist, war er trotz seiner Wutausbrüche noch gnädig.“ Ein ironisches Lächeln huschte über Gins Gesicht. Er war froh mit dem Gefühl richtig gelegen zu haben, dass Rye ihn nicht umbringen würde. Schließlich hatte die Chance den ganzen Abend über bestanden. Ein falsches Wort hätte genügen können, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

„Letztlich hab ich nicht mal die gebraucht...“, dachte er ein wenig erleichtert, während er die Hand in seine Manteltasche gleiten ließ. Doch plötzlich breitete sich Erschrecken auf seinem Gesicht aus, als er ins Leere fasste. Die Spritze mit dem Curare war weg. Panisch überprüfte er seine anderen Taschen. Fehlanzeige.

„Hab ich sie verloren?… Nein, unmöglich… Aber wie…“ Zuerst fand er keine plausible Erklärung. Doch als er weitere Möglichkeiten durchging, wie die Spritze hätte noch verschwinden können, traf es ihn. Natürlich hatte er sie nicht verloren. Denn sie wurde höchstwahrscheinlich gestohlen. Von niemand anderem als Rye.

„Dieser hinterhältige Mistkerl!“, fluchte Gin und ließ seine Faust gegen die Wand krachen. Er brauchte sich erst gar nicht die Frage stellen, wieso er es nicht bemerkt hatte. So schnell wie sich Rye von einem Punkt zum anderen bewegt hatte, gab es für diesen oft genug die Gelegenheit. Besonders in dem Moment, als der Schwarzhaarige über ihm gewesen war, wäre es ein Kinderspiel gewesen. Trotzdem blieb eine Frage für Gin offen: „Wie hat er nur mitbekommen, dass ich sie dabei hatte?“

Seufzend schüttelte er den Kopf und zog sich seinen Mantel aus.

„Was soll‘s, ich kann es eh nicht mehr ändern.“, versuchte er das Ärgernis herabzuspielen und hängte den Mantel nebenbei an den Kleiderhaken. Er konnte sich nur an das letzte Fünkchen Hoffnung klammern, dass ihm die Spritze vielleicht wirklich irgendwie verloren gegangen war. Und falls Rye sie doch gestohlen hatte, hoffte er, dass dieser ihn nicht darauf ansprechen würde. Sollte der Kerl sie doch behalten und glücklich damit werden.

„Für den Fall, dass er mich doch drauf anspricht, muss ich wohl versuchen ihn zu überzeugen, dass das Zeug nicht für ihn bestimmt war...“, während ihm dieser Gedanke kam, merkte er gleichzeitig, wie albern dieser war. Natürlich würde er Rye nicht davon überzeugen können. Unmöglich.

Mit schweren Schritten betrat der Silberhaarige das Badezimmer und zog sich den Pullover über den Kopf, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Wenn ihm der Schlaf schon nicht vergönnt sein sollte, wollte er sich wenigstens noch ein paar Minuten unter einer warmen Dusche entspannen.

Als er jedoch seinen Gürtel öffnen wollte, verharrte er in der Bewegung. Irritiert musterte er sein Handgelenk und drehte dieses langsam. Genau an den Stellen, wo sich Ryes Finger in seine Haut gedrückt hatten, waren lila-bläuliche Blutergüsse erschienen. Gin fuhr langsam mit zwei Finger über die ungewollten Fingerabdrücke, welche zum Glück kaum schmerzten.

„Er kann seine Kraft wirklich nicht kontrollieren…“, ging es ihm durch den Kopf. Womöglich hing das auch mit Ryes verstärkten Emotionen zusammen, die er genauso wenig im Griff hatte. Damit leben zu müssen war bestimmt furchtbar.

Gin kniff kurz die Augen zusammen und fuhr fort, sich zu entkleiden. Sein Mitleid hatte dieser Kerl wirklich nicht verdient. Zudem fühlte sich das seltsam und ungewohnt an, denn ihm hatte noch nie jemand Leid getan. Rye musste Gin erst mal beweisen, dass er es wert war, sein Mitleid zu erhalten.
 

Eine halbe Stunde später
 

Nachdem Gin fertig mit Duschen war, eilte er zum Schlafzimmer, um sich T-Shirt und Jogginghose überzuziehen. Für gewöhnlich trug er die Sachen immer zum Schlafen. Auch wenn er genau genommen heute nicht schlafen würde. Deshalb hatte er sich unter der Dusche auch besonders viel Zeit gelassen. Sonst brauchte er höchstens 15 Minuten.

Gin eilte zurück zum Badezimmer, um ein Handtuch für seine feuchten Haare zu holen. Dieses warf er sich über die Schulter, bevor er mit langsamen Schritten ins Wohnzimmer ging. Dort knipste er die Stehlampe neben der Tür an und schnappte sich anschließend Zigarettenschachtel und Feuerzeug vom Tisch, um auf dem Balkon eine Zigarette rauchen zu gehen.

Die frische Luft fühlte sich zwar angenehm warm an, doch sie erinnerte Gin wieder einmal daran, dass der Sommer nicht mehr weit war. Er konnte diese Jahreszeit nicht ausstehen. Zumindest würden seine Haare jetzt schneller trocknen.

„Okay, konzentrier‘ dich...“, befahl sich Gin gedanklich, nahm einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und versuchte dabei seine Gedanken zu ordnen. Immerhin gab es momentan Wichtigeres, als über das Wetter und die Jahreszeiten nachzudenken. Obwohl er das eigentlich lieber tun würde anstatt tief in seinem Inneren nach einer Antwort für Rye zu suchen. Darin war er miserabel. Er war einfach kein Mensch von vielerlei Gefühlen. Entweder Personen gingen ihm gegen den Strich oder sie waren einigermaßen erträglich, so dass er vernünftig mit ihnen arbeiten konnte. Weitere Optionen hatte es für ihn nie gegeben. Was wollte Rye also von ihm hören?

„Hasst du mich? Magst du mich?“, drängten sich dessen Fragen von vorhin in Gins Gedanken. Erstmal müsste er sich für eins davon entscheiden: Hasste oder mochte er Rye?

„Weder noch…“, verzweifelt schlug sich Gin die Hand gegen die Stirn. Das könnte noch komplizierter werden als anfangs angenommen.

Gin spuckte die Zigarette angewidert über das Balkongeländer in die Tiefe. Hin und wieder gab es Tage, da schmeckte ihm keine einzige Zigarette. Außerdem konnte das Nikotin ihm in dem Fall auch nicht helfen.

„Das bringt doch alles nichts…“ Seufzend verließ er den Balkon und ging wieder ins Wohnzimmer. Er kam sich wirklich lächerlich vor. Wäre da nicht die Tatsache, dass Rye ein unbesiegbarer Vampir war, hätte Gin keinerlei Gedanken an dessen blöde Frage verschwendet. Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich auf das Sofa plumpsen.

„Und wenn ich ihm nicht antworte, wird er auch keine meiner Fragen mehr beantworten…“ Schließlich gab es da noch so viele Fragen, die er seinem Partner gern stellen würde. Doch alles hatte eben seinen Preis. Ob dieser gerechtfertigt war, spielte meistens ohnehin keine Rolle. Vielleicht war es unfair, dass Rye von ihm eine Frage beantwortet haben wollte, die seine persönlichen Gefühle betraf, wenn er dagegen lediglich ein paar Informationen von dem ehemaligen Eclipse-Mitglied erfahren wollte. Ließen sich Gefühle und Informationen gleichsetzen?

„Wohl kaum…“, dachte Gin gereizt. Ohne den Blick zu heben, griff er nebenbei abwesend nach der Wolldecke neben sich, um sich diese über den Schoß zu ziehen. Doch da stutzte er, als die Decke offenbar unter einem schweren Gewicht eingeklemmt war und festhing.

Verwirrt drehte Gin den Kopf, nur um sich kurz darauf fast zu Tode zu erschrecken.

„Was zum-?!“, entwich es ihm mit erstickter Stimme. Er sprang instinktiv vom Sofa, wobei er durch diese hastige Bewegung über seine eigenen Füße stolperte und sich den Ellbogen an der Tischkante stieß, als er zu Boden fiel. Doch der anschließend eintretende Schmerz lenkte ihn nicht von dem Schock ab, den er soeben wegen einem gewissen, ungebetenen Gast bekommen hatte.

„Hast du dir weh getan?“, wurde Gin von einer sanften, von Sorge erfüllten Stimme gefragt, deren Besitzer ihm eine weiß schimmernde Hand entgegen streckte.

Gin traute seinen Augen nicht. Vor ihm stand Rye. In seinem Wohnzimmer. Im fünften Stock. Als hätte er sich unbemerkt hierher teleportiert. Das musste ein Alptraum sein.

„Vielleicht bin ich aus Versehen eingeschlafen…“, vermutete Gin und starrte seinen schwarzhaarigen Partner weiterhin mit geweiteten Augen an. Trotz des abgeschwächten Lichts leuchteten die Konturen von Ryes Antlitz so stark, dass seine Gestalt beinahe einem Engel ähnelte. Doch hinter dieser schönen Fassade verbarg sich in Wirklichkeit das Gesicht eines Teufels, der gerade bestimmt böse Absichten verfolgte.

„Willst du nicht langsam mal aufstehen?“ Rye legte verwundert den Kopf schräg und beugte sich weiter zu Gin herunter. Dieser schlug die Hand vor sich jedoch achtlos weg.

„Wie kommst du hier rein?!“, verlangte er zu wissen, obwohl ihm gerade noch hundert andere Fragen durch den Kopf schossen.

Doch Rye lächelte nur und hielt ihm erneut die Hand hin. Gin ignorierte die Geste und richtete sich ohne Ryes Hilfe wieder auf. Dabei behielt er den Schwarzhaarigen genau im Auge, welcher gelassen antwortete: „Durch die Balkontür, die du netterweise ja immer offen lässt.“

Gin erstarrte. Mittlerweile hatte er sich von dem Gedanken verabschiedet, dass dies nur ein dummer Traum war. Rye war in allem unberechenbar. Auf die Schnelle in den fünften Stock zu steigen gehörte wohl zu einer seiner leichtesten Übungen.

„Das ist aber nur, weil-“

„Ich weiß, dass du jeden Abend mehrmals auf dem Balkon eine rauchst.“, fiel ihm der Schwarzhaarige ins Wort, woraufhin ein unangenehmer Schauer über seinen Rücken kroch. Die Frage Woher? schluckte Gin wieder herunter, als er sich daran erinnerte, wie Rye indirekt zugegeben hatte, dass er ihm immer folgte. Darunter zählte auch der Weg zu seiner Wohnung.

„Und dass ich jeden Abend eine rauche und die Tür immer offen lasse, kann er nur wissen, wenn er bereits… schon öfters hier war…“, wurde ihm begleitet von einem weiteren mulmigen Schauer bewusst. Das Gefühl, welches dabei in ihm aufkam, konnte er nicht benennen. Es war eine seltsame Mischung aus Wut und Scham.

„Wenn du die Tür nicht schließt, interpretiere ich das als Einladung. Aber meinetwegen kannst du sie gern-“

„Hast du nichts Besseres zu tun?!“ Diesmal war es an Gin, Rye in einem aufbrausenden Tonfall zu unterbrechen. Er wollte gar nicht wissen, wann und wie oft sich dieser Kerl schon heimlich hier eingeschlichen hatte. Und noch weniger wollte er den Grund dafür erfahren.

„Naja, um ehrlich zu sein, nein.“, erwiderte Rye mit einer Unschuldsmiene.

„Dir zuzusehen empfinde ich als sehr beruhigend… und da ich nachts ohnehin nicht schlafe, gibt es nichts, was ich sonst tun könnte…“, erklärte er im Nachhinein, während er den Blick peinlich berührt senkte.

Gin zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Dieser Grund klang harmloser als er bis eben noch befürchtet hatte. Auch wenn ihn die Vorstellung, wie Rye ihn beim Schlafen beobachtete, irgendwie in Verlegenheit brachte. Am besten wäre es, das Thema umgehend zu wechseln.

„Und warum schläfst du nicht?“, fragte er vorsichtig. Die Antwort interessierte ihn tatsächlich. Konnten Vampire etwa nicht unter Schlafmangel leiden?

„Als ich irgendwann bemerkt habe, dass es nicht zwingend notwendig ist, hab ich es einfach sein gelassen. Ich konnte die Alpträume nicht ertragen.“ Ryes Antwort bestätigte seine Vermutung. Nur der letzte Satz kam unerwartet. Zudem hatte Rye ihn leiser ausgesprochen als den vorherigen. Gern hätte Gin gefragt, um was für Alpträume es sich handelte. Doch der bedrückte Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen verriet ihm, dass er nicht darüber reden wollte.

„Aber mal davon abgesehen… Du weißt hoffentlich, dass ich heute aus einem anderen Grund hier bin.“, lenkte Rye in ernster Tonlage auf ein anderes Thema um. Der traurige Schatten verschwand dabei aus seinem Gesicht.

„Ach wirklich?“, spielte Gin absichtlich den Unwissenden. Er konnte erahnen, was gleich kommen würde. Und darauf war er noch nicht vorbereitet.

„Ich will eine Antwort auf meine Frage.“, sprach Rye die schlimme Vorahnung im nächsten Moment aus. Doch so leicht würde Gin ihm das nicht durchgehen lassen.

„Du hast gesagt, ich hab bis Morgen Zeit.“, wandte er ein, was allerdings belanglos für Rye zu sein schien.

„Genau genommen ist es schon morgen.“, entgegnete er mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen und deutete mit dem Finger zur digitalen Wanduhr. 00:42 Uhr zeigten die grünlich leuchtenden Ziffern. So gesehen war es wirklich schon der nächste Tag. Der Punkt ging unglücklicherweise an Rye. Aber Gin hatte dennoch nicht vor, sich geschlagen zu geben. Bevor er nicht vernünftig ausgeschlafen hatte, war für ihn der morgige Tag definitiv noch nicht eingekehrt.

„Und ich bin eben sehr ungeduldig…“, gestand Rye angespannt, wovon sich Gin nicht beeinflussen ließ.

„Aha.“, gab er tonlos von sich und presste anschließend die Lippen zusammen, um seinem Partner zu verdeutlichen, dass er ganz sicher keine Antwort erhalten würde. Gin stellte sich innerlich darauf ein, gleich von Rye auf irgendeine Weise zum Antworten gezwungen zu werden. Er nahm deshalb eine wachsame Haltung ein.

Doch zu Gins Überraschen setzte sich der Schwarzhaarige nur auf das Sofa, bevor ihm ein Seufzen entwich.

„Du bist echt schwierig.“, beschwerte er sich, wobei er ein wenig überfordert klang. Aufgeben wollte er scheinbar trotzdem noch nicht, da er kurz darauf noch eine Frage hinterher warf: „Wo liegt denn das Problem?“

„Ich weiß einfach nicht, wie ich über dich denken soll.“, gab Gin etwas beschämt, aber ehrlich zu. Doch er hatte nicht mit Ryes folgender, zögerlich ausgesprochener Antwort gerechnet: „Dann erlaube mir, dir zu helfen.“

Der Silberhaarige bemerkte, wie ihn augenblicklich Unsicherheit beschlich. Er runzelte misstrauisch die Stirn. Ihm fiel auf Anhieb keine Möglichkeit ein, wie Rye ihm da helfen sollte. Das ergab keinen Sinn.

„Wie?“, presste er mühsam zwischen den Lippen hervor. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich wissen wollte.

Rye schwieg für einen Moment. Er vergrub seine Fingerspitzen in seine Oberschenkel, während er sich auf die Unterlippe biss.

Gin bemerkte dieses angespannte Verhalten sofort, welches sein Misstrauen verstärkte. Rye wirkte, als würde er sich innerlich auf etwas vorbereiten, wodurch der Silberhaarige anfing zu glauben, dass ihm Schlimmes bevorstand.

„Was soll das werden…?“

Schließlich entspannte sich Ryes Haltung wieder und er sprach mit ruhiger Stimme: „Komm her und setz dich.“

Sein Blick war weich. So freundlich, wie Gin ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Zumindest kam es ihm seit dem letzten Mal wie eine Ewigkeit vor. Doch der Blick genügte nicht, um sein Misstrauen zu vertreiben. Er schüttelte langsam den Kopf und rührte sich nicht.

„Ich tu dir schon nichts.“, versprach Rye, was Gin ihm nicht abkaufte. Irgendwelche Hintergedanken musste er haben, wenn dafür solch eine geringe Distanz zwischen ihnen notwendig war. Normal reden könnten sie auch, wenn Gin auf der Stelle stehenbleiben würde.

„Darum geht‘s nicht.“, meinte er, nachdem er den Kloß in seinem Hals herunter geschluckt hatte. Doch Rye ignorierte die Ablehnung.

„Bitte.“, versuchte er es weiter. Gin seufzte. Wenn auch widerwillig, gesellte er sich zu dem Schwarhaarigen auf die Couch. Rye hätte ohnehin nicht locker gelassen. Und bevor dessen Laune wieder einmal umschlagen würde, war dies für Gin die angenehmere Option.

Rye lächelte zufrieden und seine grünen Augen schienen vor Freude zu leuchten. Offenbar war er sehr glücklich darüber, dass seine kleine Bitte erfüllt wurde.

„Also, wie willst du mir helfen?“, wollte Gin erneut wissen. Er versuchte sich von seiner aufkommenden Nervosität nichts anmerken zu lassen und überspielte diese mit einer strengen Tonlage. Sein Gegenüber antwortete ihm nicht sofort, sondern hob vorsichtig eine Hand. Zuerst wollte Gin zurückweichen, doch die Geste erfolgte so langsam, dass er sämtliche Warnsignale über Bord warf.

Ryes kalte Hand glitt unter seinen Pony, bevor sie herabwanderte und seine Augen verdeckte.

Sobald sich Gins Sicht schwarz färbte, kehrte die Unsicherheit umgehend zurück. Rye nicht sehen zu können, beunruhigte ihn mit jeder verstreichenden Sekunde mehr.

„Tu mir den Gefallen und halt für einen Moment still…“, vernahm er leise dessen zittrige Stimme. Gin überlegte, ob er sich daran halten sollte oder ob es klüger wäre, Ryes Hand wegzuschlagen und einfach aufzustehen. Es gelang ihm nicht eine Entscheidung zu treffen. Ebenso wenig konnte er sich auf das Unvorhersehbare einstellen. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass er gleich einen stechenden Schmerz verspüren würde und dann alles vorbei war. Doch das schien völlig absurd.

„Ich hab das schon länger nicht mehr gemacht und will dir nicht weh tun.“ Urplötzlich klang Ryes Stimme viel näher als zuvor. Als wäre sein Gesicht nur wenige Zentimeter entfernt. Gin durchlief ein Schauer. Sein Körper war wie gelähmt. Er hielt den Atem an, wodurch er wahrnehmen konnte, wie der von Rye über seine Lippen strich. Aber bei den ungleichmäßigen, kühlen Luftzügen blieb es auch. Das, was Gin beklommen erwartete, geschah nicht. Stattdessen wurde die Spannung zwischen ihren Gesichtern nahezu greifbar. Bis endlich etwas kaltes, weiches seine Lippen für den Hauch einer Sekunde berührte, bevor es auf einmal verschwand. Wieder erfolgte ein zittriger Atemzug von Ryes Seite.

Gin blieb währenddessen still und versuchte sein starkes Herzklopfen auszublenden. Nach einem kurzen Moment spürte er die zaghafte Berührung erneut an seinen Lippen. Zwar diesmal intensiver, doch scheinbar noch immer nicht verweilend. Dafür hatte Gin keine Geduld übrig. Trotz der Warnung von Rye beugte er sich vor und fing unwillkürlich dessen Lippen ein. Das überraschte Keuchen, welches dem Schwarzhaarigen dabei entwich, ignorierte er.

Von dem aufkommenden Kribbeln in seinem Bauch angetrieben, presste Gin seine Lippen stärker gegen Ryes, welche sich so glatt und kalt wie Eis anfühlten. Doch sie waren zudem ganz starr, wie der Rest von Ryes Körper, stellte Gin verunsichert fest. Er fragte sich, ob seine kleine, hastige Bewegung den Moment nun zerstört hatte. Vielleicht hatte seine Reaktion Rye aus dem Konzept gebracht. Oder etwas anderes entsprach nicht dessen Erwartungen.

Doch als Gin mit dem Gedanken spielte, sich zurückzuziehen, verschwand die Hand über seinen Augen, strich seine Schläfe entlang und kalte Finger vergruben sich in seinen Haaren. Endlich erwachte Rye aus seiner Erstarrung und ging auf seinen Kuss ein. Deutlich entschlossener, aber immer noch beherrscht, begann er an Gins Lippen zu saugen. Begierig intensivierte der Silberhaarige den Kuss und schlang seine Arme vorsichtig um Ryes Hals. Er beachtete nicht weiter, wie sich sein Verstand zunehmend vernebelte und zog den Kopf seines Partners näher zu sich heran. Zu seiner Verwunderung gelang es ihm schnell die Kontrolle zu gewinnen, so dass Rye immer weiter mit dem Oberkörper auf das Sofa sank.

Kurz musste sich Gin von Rye lösen, um Luft zu holen, was eher wie ein ersticktes Stöhnen klang. Kaum einen Augenblick später trafen ihre Lippen erneut aufeinander, wobei Gin spürte, wie ihm das Blut prickelnd durch die Adern schoss. Er hatte schon mehrere Frauen geküsst, doch diese Küsse waren allesamt unbedeutend und nichts im Vergleich zu diesem hier. Es fühlte sich anders, außergewöhnlich, so atemberaubend schön an. Jedoch konnte er sich nicht erklären, woher diese Empfindungen auf einmal kamen. Es war ihm ein Rätsel, warum er immer mehr von Rye wollte und woher dieses Verlangen kam. Instinktiv schmiegte er sich enger an den Mann unter sich und fuhr mit seiner Zunge über dessen Lippen.

Allerdings wurde ihm der Einlass nicht gewehrt. Gin spürte, wie sich Ryes Körper anspannte und die Hand in seinen Haaren sich verkrampfte, bevor er ruckartig zurückgestoßen wurde.

Gin öffnete benommen die Augen und fand sich plötzlich allein auf dem Sofa wieder. Mit hastigem Atem schaute er sich um und entdeckte Rye am anderen Ende des Raumes mit dem Rücken an die Wand gepresst. Das Gesicht abgewandt, konnte Gin doch den bestürzten Ausdruck darauf klar erkennen. Der Schwarzhaarige wirkte völlig ausgelaugt und benötigte offenbar einen Moment, um sich wieder zu sammeln.

Allmählich begann sich der Nebel um Gins Verstand wieder aufzulösen. Er realisierte nur langsam, was eben passiert war. Doch die Erkenntnis erschütterte ihn. Sofort suchte er verzweifelt nach einer Erklärung für sein Verhalten. Nur um daraufhin beschämt festzustellen, dass es keine gab. Er wusste nicht, weshalb er sich auf den Kuss eingelassen hatte. Er konnte nicht einmal sagen, ob diese Entscheidung ein Fehler gewesen war oder nicht. Zumindest empfand er keine Reue. Eher ein Gefühl von Enttäuschung, welches jetzt nach und nach abklang. Dafür kamen Gefühle wie Verwirrung, Scham und vor allem Nervosität in ihm auf, als er bemerkte, wie sich Rye aus seiner Starre löste und den Blick auf ihn richtete.

„Ich…“ Ryes Stimme versagte. Er senkte den Blick wieder, da er scheinbar nicht den Mut dazu hatte, Gin anzusehen.

„Es tut mir leid.“, stieß er mühsam hervor, wobei Gin erkannte, dass Rye die Situation ebenso peinlich zu sein schien. Vielleicht sogar noch viel mehr.

Schweigen breitete sich aus. Die Luft vibrierte vor Spannung und Unbehagen. Gin traute sich nicht, etwas auf diese Entschuldigung zu erwidern.

„Was genau tut ihm leid? Dass er mich geküsst hat? Aber ich hab es doch… zugelassen…“ Seine Hände krallten sich in die Decke unter ihm.

„Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe. Verzeih, dass ich einfach so aufgekreuzt bin.“, schlug Rye plötzlich mit förmlicher Stimme vor. Unmittelbar darauf durchbebte Gin ein Schauer und ohne darüber nachzudenken, hielt er seinen Partner auf: „Warte!“

Erleichterung überkam ihn, da er noch rechtzeitig reagiert hatte und Rye nach wie vor an derselben Stelle stand. Dieser musterte ihn nun mit einer verwunderten Miene, aber auch mit vor Erwartung funkelnden Augen.

Provisorisch suchte Gin nach den richtigen Worten, um sich zu erklären. Da fiel ihm der Grund ein, weshalb der Kuss eigentlich überhaupt erst erfolgt war.

„Genügt dir meine Reaktion vorläufig als Antwort?“, fragte er im leisen Tonfall, während sich seine Hände fester in die Decke krallten.

Ein grüblerischer Ausdruck trat in Ryes Gesicht, bevor er ein Lächeln hervorzauberte.

„Vorläufig.“, betonte er anschließend.

Ein Schmunzeln schlich sich auf Gins Lippen. Doch um Rye weiterhin davon abzuhalten, zu gehen, sprach er schnell: „Dann musst du jetzt deinen Teil der Abmachung erfüllen.“

„Wir hatten eine Abmachung?“, fragte Rye mit vorgetäuschter Verwunderung in der Stimme und zog eine Augenbraue nach oben.

„Ja. Du wolltest meine Fragen beantworten.“, erinnerte Gin seinen Partner leicht schnippisch. Dieser verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte.

„Kann das nicht bis morgen warten?“, schlug er vor. Offensichtlich war es ihm zu unangenehm noch länger hierzubleiben. Doch wenn er jetzt verschwand, würde es nichts ändern. Die Tatsache, dass sie sich geküsst hatten, würde morgen immer noch bestehen. Und es wäre morgen immer noch genauso peinlich für beide Seiten. Also warum nicht jetzt die Sache abschließen und sich mit anderen Gesprächen ablenken?

„Nein, kann es nicht.“, beharrte Gin. Ryes darauffolgendes Lächeln wirkte gequält. Doch er schien den Silberhaarigen weiterhin umstimmen zu wollen: „Kannst du dir vorstellen, wie viel Anstrengung mich das kosten wird?“ Seine Stimme bebte.

Gin konnte sich das sehr wohl vorstellen. Allein Ryes erschöpfte Haltung bewies, dass ihm der Kuss einiges an Mühe gekostet hatte, die Kontrolle zu bewahren.

„Das hast du dir selbst zuzuschreiben.“, warf Gin ihm trotzdem tonlos vor. Er empfand kein Mitleid. An seinem Zustand war Rye selbst Schuld. Er hatte schließlich mit hoher Wahrscheinlichkeit vorher gewusst, worauf er sich einließ.

Für einen Moment stellte sich Gin gedanklich die Frage, wie er wohl auf Rye wirken musste. Wie ein Mensch auf ein Vampir wirken musste. Könnte es sein, dass es Rye, wenn auch nur ungewollt, nach seinem Blut verlangte? Das war etwas, was Gin den Schwarzhaarigen vorerst lieber nicht fragen wollte.

Dieser starrte ihn mittlerweile schweigend an. Seine Miene war ausdruckslos. Dennoch war sich Gin sicher, dass Rye innerlich hoffte, dass er es sich anders überlegte und ihm gestatten würde, zu gehen. Was eigentlich totaler Blödsinn war. Gin könnte ihn nicht aufhalten, wenn er sich wirklich dazu entschied, zu verschwinden.

„Also scheint sein Wille zu gehen nicht stark genug zu sein.“, schlussfolgerte Gin, bevor er Rye nach langem Schweigen ansprach: „Setz dich wieder.“

Es hatte sich unbeabsichtigt wie ein Befehl angehört, was Rye ein wenig zu amüsieren schien. Er verzog den Mund zu der Andeutung eines Lachens. Danach setzte er zögernd einen Schritt nach vorn, doch befand sich in der nächsten Sekunde schon neben Gin auf dem Sofa.

Erstaunt musterte der Silberhaarige seinen Partner, der nun mit starrer Haltung und straffen Schultern neben ihm saß. Jedoch war der Abstand diesmal größer zwischen ihnen. Gin glaubte, wenn er Rye nur leicht antippte, würde dieser umgehend wieder zu der gegenüberliegenden Wand flüchten. Gerade wirkte er wie ein scheues Hundewelpen. Seine Augen waren genauso groß und funkelten unschuldig.

„Bist du dir wirklich sicher? Es ist mitten in der Nacht… und du brauchst deinen Schlaf. Anders als ich.“ Rye hatte wohl immer noch nicht aufgegeben.

„Damit du mir wieder dabei zusehen kannst? Nein danke, ich verzichte.“, erfolgte sogleich Gins bissige Antwort. Da blieb er lieber die ganze Nacht wach.

„Na gut, wenn du unbedingt drauf bestehst…“ Endlich gab sich Rye geschlagen. Doch als Gin zu seiner ersten Frage ansetzte, hob er plötzlich die Hand, um noch etwas hinzuzufügen.

„Bevor du anfängst, hab ich dir aber noch etwas zu sagen.“, verkündete er mit fester Stimme, woraufhin Gin überrascht die Augenbrauen nach oben zog. Er bedeutete Rye mit einem Nicken, dass er fortfahren sollte.

Der Schwarzhaarige senkte den Blick und begann: „Ich möchte mich aufrichtig für mein Benehmen gestern… entschuldigen. Du sollst wissen, dass ich das zu tiefst bereue. Ich hab mich wie ein Idiot verhalten… Nein, noch um Einiges schlimmer…“ Letztlich versagte seine Stimme. Er stieß ein Seufzen aus und setzte erneut an: „Oft setze ich meine Gedanken zu schnell in die Tat um, ohne vorher darüber nachzudenken, ob es das Richtige ist… hinzu kommt, dass ich nicht mal mehr klar denken kann, wenn ich wütend bin. Dann hab ich mich nicht länger unter Kontrolle. Und gestern, da ist mir irgendwie alles hochgekommen, was ich die letzten Wochen versucht habe wegzustecken.“

„Erzähl mir was Neues.“, dachte Gin nach diesem unerwarteten Geständnis scherzhaft. Doch das, was er eigentlich schon lange wusste, wirkte jetzt ausgesprochen mit Ryes melancholischer Stimme ganz anders auf ihn. Es faszinierte ihn immer wieder aufs Neue, wenn Rye etwas offen von sich preisgab. Und das absolut ehrlich, ohne irgendwelche erdachten Lügen.

„Aber du hast dennoch alles ernst gemeint, was du gesagt hast.“, meinte Gin, woran er nicht zweifelte. Rye nickte verlegen.

„Nun, ganz im Unrecht warst du ja nicht. Vielleicht bin ich wirklich ein bisschen undankbar und gefühlskalt.“, gab Gin zu und lehnte sich zurück. Jetzt lenkte Rye seinen Blick wieder zu ihm.

„Ein bisschen?“, spottete er, woraufhin beide etwas lachen mussten. Jedoch verging dem Silberhaarigen das Lachen als erstem, als ihm bewusst wurde, dass er sich eigentlich auch entschuldigen müsste. Schließlich war Rye seinetwegen so ausgerastet, weil er ihn so geringschätzig behandelt hatte. Und alles, was Rye ihm vorgeworfen hatte, entsprach letztlich der Wahrheit. Er war ein gefühlskalter, undankbarer, narzisstischer Mensch, welcher die Bemühungen anderer nie zu schätzen wusste. Darunter auch die Vergeblichen von Rye.

Bei dieser Erkenntnis beschlich Gin ein Gefühl von Schuld und Reue. Er schluckte und drehte den Kopf zur Seite.

„Was ist los?“ Rye bemerkte die veränderte Stimmung von Gin sofort.

„Nichts.“, erwiderte dieser tonlos und ließ den Blick weiterhin abgewendet. Doch da umfasste Rye plötzlich sein Kinn und drehte seinen Kopf zu sich herum, um ihm in die Augen schauen zu können.

„Wieso hab ich das Gefühl, dass das du lügst?“

Gin hätte Ryes Frage beinahe nicht gehört. In dem Moment, als sich ihre Blicke begegnet waren, hatte sich Gins Verstand in nichts aufgelöst. Er sah nur das sorgenvolle Glitzern in Ryes smaragdgrünen Augen, welche von dichten, schwarzen Wimpern umrahmt wurden. Die unteren waren besonders betont. Unbemerkt wanderte Gins Blick zu Ryes leicht geöffneten, vollen Lippen. Ein Kribbeln erfüllte seinen Bauch, was ihn bemerken ließ, wie sehr er diese Lippen noch einmal auf seinen eigenen spüren wollte.

„Verdammt, reiß dich zusammen!“ Als sich Gin seiner unsinnigen Fantasien bewusst wurde, meldete sich umgehend sein Verstand zurück. Er begriff nicht, was plötzlich mit ihm los war. Sonst hatte er kaum auf Ryes Aussehen geachtet und jetzt überrumpelten ihn bei dessen Anblick irgendwelche Gefühle, von denen er glaubte, sie längst in sich ausgerottet zu haben. Das durfte nicht so sein.

Gin verzog gereizt das Gesicht und entriss sich dem leichten Griff unter seinem Kinn. Doch er ahnte nicht, was diese Reaktion bei seinem Gegenüber auslösen würde, welcher ihn nun mit einer gekränkt wirkenden Miene anschaute.

„Tut mir leid. Es ist nur…“, murmelte Gin und brach dann ab, da er nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte.

„Ist schon gut. Ich weiß, dass du nichts dafür kannst.“, erwiderte Rye beschwichtigend.

Gin runzelte verwirrt die Stirn. „Was?“

„Das liegt an der Erziehung, hatte Vermouth jedenfalls zu ihren Lebzeiten mal erwähnt.“, erklärte Rye und setzte anschließend ein hämisches Grinsen auf. Er schien sich immer noch daran zu ergötzen, Vermouth umgebracht zu haben.

Gin vermisste die Frau auch nicht wirklich. Und selbst wenn er sie vermisst hätte, dann spätestens jetzt nicht mehr. Immerhin konnte sie nun nicht mehr hinter seinem Rücken über ihn tratschen.

„Diese hinterfotzige Hexe…“, fluchte er leise, was Rye ein Kichern entlockte.

Beim Thema Vermouth entdeckte Gin jedoch die perfekte Gelegenheit, um zu seinen Fragen überzuleiten: „Du hast mir übrigens immer noch nicht verraten, warum du sie getötet hast. Also, ich höre.“

Rye verdrehte die Augen und stöhnte genervt. Eine Antwort gab er allerdings nicht.

„Wenn du mir schon ihre Leiche präsentieren musstest, hab ich wenigstens ein Recht darauf, dein Motiv zu erfahren.“, drängte Gin ihn.

„Ich konnte sie eben nicht ausstehen.“, meinte Rye schulterzuckend. Doch es wirkte wie eine Ausrede.

„Konnte ich auch nicht. Aber deswegen bring ich sie nicht gleich um.“ Gin sah seinem Partner forschend in die Augen, welche sich nun vor Zorn verengten.

„Von wegen du konntest sie nicht ausstehen. Warum hast du dann mit ihr geschlafen?“, schleuderte Rye ihm vorwurfsvoll entgegen.

Gin blieb für einen Moment der Atem weg. Er erinnerte sich nur ungern an diese Nacht zurück und verdrängte sie meistens. Es war lediglich ein dummes Versehen gewesen - redete er sich zumindest ein, um mit diesem Fehler einigermaßen zurechtzukommen.

„Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun?“, stellte er eine Gegenfrage und machte dabei einen pikierten Gesichtsausdruck. Daraufhin entwich Rye ein entsetztes Keuchen.

„Du steigst also mit Menschen, die du nicht ausstehen kannst in die Kiste. Sehr interessant, also ich würde da nicht mal ansatzweise in Stimmung kommen.“ Sein Tonfall klang beleidigt. Gin spürte förmlich, wie er rot anlief. Ob vor Scham oder Wut wusste er nicht. Vielleicht vor beidem.

„Das-… Also… das waren andere Zeiten!“, redete er sich verdattert raus. „Damals hatten wir noch ein… ausgewogeneres Verhältnis zueinander.“

Er merkte, wie dämlich sich das anhörte. Auch Rye schien nicht sonderlich überzeugt zu sein und musterte ihn mit hochgezogener Augenbraue.

Doch plötzlich fiel Gin auf, dass der Schwarzhaarige es erfolgreich geschafft hatte, der ursprünglichen Frage auszuweichen.

„So leicht kommst du mir nicht davon.“, schwor sich Gin gedanklich, bevor er spaßeshalber fragte: „Und warum wolltest du das jetzt unbedingt wissen? Warst du etwa eifersüchtig?“

Er rechnete mit irgendeinem sarkastischen Kommentar von Rye. Doch dieser reagierte ganz anders: Seine grünen Augen weiteten sich, während sich seine Haltung schlagartig anspannte und er die Hände in den Stoff seiner Hose krallte. Als würde er sich ertappt fühlen.

„Das kann unmöglich sein… warum sollte er…“, ging es Gin ungläubig durch den Kopf. Doch da fügte sich alles zusammen: Die schadenfrohe Art und Weise, wie Rye ihm Vermouths Leiche präsentiert hatte. Der Kuss. Ryes jetzige Reaktion auf seine Frage.

„Eifersüchtig.“, stieß Rye mit erstickter Stimme hervor. Er schien es selbst nicht zu glauben. „Wenn du es so nennen willst…“, fügte er leise hinzu und wandte den Blick dabei ab. Gin tat es ihm gleich. Dann herrschte Stille, in welcher der Silberhaarige versuchte der Tatsache ins Auge zu blicken: Rye hatte Vermouth getötet, weil er mal eine Nacht mit ihr verbracht hatte. Er würde wahrscheinlich viel Zeit brauchen, um das verarbeiten zu können.

Nach einer Weile fragte Gin vorsichtig: „Und warum wolltest du mir unbedingt bei der Suche nach ihr helfen? Du wusstest doch die ganze Zeit, dass es sinnlos ist. Oder wolltest du den Verdacht von dir ablenken?“

„Nein.“, entgegnete Rye kopfschüttelnd. „Ich wollte einfach nur… Zeit mit dir verbringen. Das ist alles.“, gestand er anschließend mit deutlich hörbarer Beschämung in der Stimme.

Gin schluckte und biss die Zähne zusammen. Diese Befragung entwickelte sich allmählich in eine Richtung, die ihm mehr als unangenehm wurde. Und die er zudem niemals erwartet hätte. Mit seiner Theorie, dass Rye irgendwelche geheimen, perfiden Ziele verfolgte, hatte er offensichtlich total daneben gelegen. In Wahrheit war es seinem Partner die ganze Zeit über nur um ihn gegangen. Das war eine erschreckende und zugleich erregende Erkenntnis.

Gin beschloss das Thema Vermouth lieber erst mal auf sich beruhen zu lassen. Stattdessen hoffte er, dass er Rye trotz seines Gedächtnisverlustes noch ein paar Informationen über Eclipse entlocken konnte.

„Kannst du dich vielleicht noch an irgendwas aus deiner Zeit in Eclipse erinnern? Weißt du, welches Ziel sie verfolgen?“ Falls das, was in diesem Buch stand, stimmte, dann könnte das wohl oder übel das Ende der Menschheit bedeuten. Schließlich war Rye der eindeutige Beweis dafür, dass es dieser Organisation bereits gelungen war, die einstige Vampirrasse wieder auferstehen zu lassen. Es war vielleicht nur noch eine Frage der Zeit, bis sie weitere Vampire auf die Menschen loslassen würden. Könnte sich die Geschichte wiederholen und alle Menschen würden wieder von den Vampiren unterdrückt werden? Allein bei der Vorstellung lief es Gin kalt den Rücken herunter.

„Sieh mich an.“, begann Rye plötzlich streng, woraufhin Gin seinen Blick automatisch auf ihn lenkte. Die Miene seines Partners war eindringlich, während er sprach: „Ich wurde zu dem einzigen Zweck geschaffen, Menschen zu töten. Sie dienen mir lediglich als Nahrung. Selbst, wenn ich das nicht wollen würde – und so ist es – habe ich keine andere Wahl, weil mein Organismus jegliche anderen Nahrungsmittel abstößt. Meine Versuche menschlichem Blut zu widerstehen waren vergeblich. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da übernimmt der Durst die Kontrolle über Sinne und Verstand. Mit anderen Worten: Ich greife unkontrolliert Menschen an. Es ist wie ein Teufelskreislauf, aus dem es kein Entkommen gibt. Was glaubst du also, verfolgt Eclipse für ein Ziel? Weltherrschaft klingt vielleicht etwas übertrieben, aber so abwegig ist das gar nicht. Stell dir vor, was passieren könnte, wenn es noch mehr von meiner Sorte gäbe.“

Gin wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Vorstellen wollte er sich das auf keinen Fall. Rye allein war schon gefährlich. Wenn es noch mehr Vampire gäbe, würde es womöglich nur wenige Tage dauern, bis einzelne Städte von ihnen beherrscht und die Menschen dort allesamt abgeschlachtet werden würden. Es gäbe unendlich viele Blutbäder. Eigentlich interessierte sich Gin sonst nicht für das Leben anderer Menschen. Blutbäder waren ihm immerhin nicht neu. Hin und wieder war er selbst für eines verantwortlich gewesen. Was das betraf unterschied sich Eclipse vielleicht nicht sonderlich von seiner Organisation. Letzten Endes strebte ein Großteil der Menschheit nach Macht und sehr viele davon würden alles aufs Spiel setzen, um an diese Macht zu kommen. Doch bei Eclipse war es anders. Sie waren keine Menschen, die anderen Menschen etwas zuleide tun wollten. Sie waren Monster.

„Hab ich dich jetzt etwa erschreckt?“ Ryes scherzhaft klingende Stimme riss Gin aus seinen Horrorvisionen. Kaum zu glauben, dass eines dieser Monster gerade seelenruhig neben ihm saß: Rye, welcher manchmal so weich und herrlich lächeln konnte wie ein Engel.

„Nein. Das Meiste wusste ich schon. Außerdem wäre es nicht das erste Mal in der Geschichte, dass Vampire über Menschen herrschen.“, meinte Gin ruhig.

„Echt? Hast du das auch aus dem Buch?“, wollte Rye wissen. Sein Interesse an diesem Buch war eindeutig.

Gin nickte schweigend.

„Darf ich das vielleicht auch mal lesen?“ Die Frage von Rye hatte der Silberhaarige vorausgesehen.

„Als ob du dich davon abhalten lassen würdest, wenn ich es dir verbiete.“, erwiderte Gin ironisch, woraufhin ein schelmisches Lächeln Ryes Lippen umspielte. Ein Wunder, dass er das Buch noch nicht geklaut hatte. Wie die Spritze mit Curare.

„Ich betrachte das mal als ein Ja.“, kam es selbstgefällig von Rye. Einen Augenblick später befand sich das Buch schon in seinen Händen, welches zuvor noch auf dem Tisch gelegen hatte. Gin rollte mit den Augen.

„Im Übrigen, um auf den ersten Teil deiner Frage einzugehen: Ich kann mich nicht an das Geringste aus meiner Zeit in Eclipse erinnern. Höchstens an meine Flucht, die sozusagen ja immer noch andauert.“, redete Rye nebenbei, während er in dem Buch herumblätterte.

„Und wie bist du geflohen?“ Gin stellte sich so eine Flucht so gut wie unmöglich vor. Aber als Vampir hatten die Chancen für Rye wahrscheinlich höher gestanden, zu entkommen.

Dieser hatte die richtige Seite inzwischen aufgeschlagen, bevor er den Blick wieder hob und Gin direkt ansah. Sein darauffolgendes Lächeln wirkte traurig.

„Ich kann mich nur noch an Bruchstücke erinnern. Es ging alles sehr schnell und ich war noch viel zu durcheinander, um vollständig zu realisieren, was um mich herum geschah. Es war eine riesige Einrichtung mit unendlich vielen Gängen und Fluren. Ich ließ hauptsächlich Trümmer und Leichen hinter mir zurück. Nichts konnte sich mir in den Weg stellen. Irgendwann glaubte ich, den Ausgang gefunden zu haben. Ich weiß noch, wie sich meine Hoffnung zur bitteren Enttäuschung umwandelte, als ich draußen weit und breit bloß das Meer erblickte. Ich hatte das Gefühl, die Sonne würde mir ins Gesicht lachen.“ Rye verzog vor Spott das Gesicht, doch seine Stimme schien weit weg zu sein. Kurz glaubte Gin, dass Ryes Augen durch ihn hindurch in weite Ferne blickten. In ihnen funkelte das Meer in hellen, bläulichen Farben und wurde von der Sonne beschienen.

„Ich entschied mich für den Freitod und sprang ins Meer. Doch leider starb ich nicht. Die Wellen trieben mich bis an die japanische Küste, wo mich eine Gruppe von Fischern bewusstlos auffand. Mein Durst war unermesslich. Ich hab sie alle getötet. Als ich mir darüber im Klaren wurde, was ich getan hatte, empfand ich eine unbeschreibliche Abscheu vor mir selbst. Während ich durch einige Städte zog, hasste ich mich für meine Taten irgendwann so sehr, dass ich einfach nur sterben wollte… Aber das war mir nicht vergönnt. Ich hab alles probiert, was mir in den Sinn gekommen ist. Nichts funktionierte. Schließlich bin ich in meiner Verzweiflung vor ein paar Wochen hier in Tokio gelandet, wo Vermouth mich dann nach kurzer Zeit gefunden hat.“ Rye verstummte und schloss die Augen. Gin merkte ihm an, dass es ihm weh tat darüber zu sprechen und er sich deshalb so kurz wie möglich fasste. Jedoch war der Silberhaarige von den Selbstmordversuchen am Meisten geschockt. Zwar erinnerte er sich daran, wie Rye ihm mal gesagt hatte, dass er sich selbst nicht sonderlich leiden konnte – doch dass er sich so sehr hasste, dass er schon mehrmals versucht hatte sich umzubringen, hätte Gin nicht mal im Traum gedacht.

„Den Rest kennst du ja. Die blutigen Details erspar‘ ich dir.“, fügte Rye plötzlich heiter hinzu, während er die Augen wieder öffnete und anschließend leicht lächelte. Als würde er seinen tiefen Schmerz hinter einer Fassade verstecken wollen. Doch Gin beachtete diese Fassade nicht weiter. Instinktiv griff er nach Ryes kalten Händen und drückte sie fest.

Eine Weile starrte er unsicher in das erstaunte Gesicht des Schwarzhaarigen, bevor er über seinen Schatten sprang und mit einem scharfen Unterton in der Stimme sagte: „Versuch nie wieder dich umzubringen, klar?“

Rye brauchte ein paar Sekunden, um die Worte zu erfassen. Doch dann kehrte das Lächeln in seinem Gesicht zurück. Nur mit dem Unterschied, dass es diesmal echt war. Seine Augen blitzten vor freudiger Erregung.

„Keine Sorge.“, meinte er dann beschwichtigend. „Das habe ich erst mal nicht vor.“ Er strich Gin sanft über die Finger, welcher überrascht den Blick abwandte und seine Hände schnell wegzog. Zum Glück schien Rye das nichts auszumachen, da er kurz darauf leise zu lachen begann.

„Du solltest jetzt wirklich lieber schlafen. Es ist sehr spät.“, riet er dem Silberhaarigen anschließend.

Aber dieser schüttelte mit dem Kopf. „Wie gesagt: Ich lass mich nicht von dir beim Schlafen beobachten.“, meinte er dann ein wenig eingeschnappt.

„Ich verspreche, dass ich dich nicht beobachten werde.“, erwiderte Rye mit fester Stimme, bevor er kurz das Buch auf seinem Schoß anhob und hinzufügte: „Ich hab ja stattdessen was zu lesen.“

„Das dauert aber nicht die ganze Nacht.“, beharrte Gin und runzelte misstrauisch die Stirn.

„Du könntest mich wegschicken.“, bot Rye ihm daraufhin an.

„Würdest du dich denn wegschicken lassen?“

Rye schmunzelte und unterdrückte ein weiteres Lachen.

„Vermutlich nicht.“, gestand er belustigt, woraufhin Gin ein Seufzen entwich. Kurz nach dem Kuss wäre Rye wirklich beinahe gegangen. Sogar von allein, ohne dass Gin ihn hätte wegschicken müssen. Doch jetzt schien sein Partner keinen Grund mehr zu haben. Die Beschämung und Angespanntheit, die bei ihm durch den Kuss ausgelöst worden waren, schienen mittlerweile verflogen zu sein. Möglicherweise hatte das intensive Gespräch auch dazu beigetragen.

„Na schön.“ Gin erhob sich ruckartig von der Couch. „Dann bleib eben hier. Aber wehe du brichst dein Versprechen. Sonst werde ich so tun, als hätte das heutige Gespräch nicht stattgefunden und werde dir wieder aus dem Weg gehen.“ Er sah Rye eindringlich in die Augen, schnappte sich anschließend provokativ seine Decke von der Couch und schlug gezielt den Weg zu seinem Schlafzimmer ein. Er hatte schon lange nicht mehr in seinem Bett geschlafen, weshalb er sich fast ein bisschen darauf freute. Wäre da bloß nicht der gewisse ungebetene Gast in seiner Wohnung.

„Schlaf gut.“, rief Rye ihm hinterher, als er das Wohnzimmer bereits verlassen hatte. Gin ging nicht weiter darauf ein. Er hoffte nur, dass seine Drohung Rye ausreichend motivieren würde, sich an sein Versprechen zu halten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Centranthusalba
2021-12-01T14:04:56+00:00 01.12.2021 15:04
Klopfklopf…. Wann gehts denn weiter? … ganz lieb guck🥺🥺🥺
Antwort von:  ginakai
02.12.2021 18:26
Spätestens Sonntag oder Montag lade ich wieder ein Kapitel hoch. Tut mir leid, aber ich komme zurzeit gar nicht zum Schreiben und hab mit Arbeit und Berufsschule ziemlich viel zu tun 😅
Von:  Centranthusalba
2021-11-22T20:35:43+00:00 22.11.2021 21:35
Also normalerweise, wenn Kapitel mit solchen Hoffnungen, dass etwas nicht eintritt, enden, kann man ja ganz sicher davon ausgehen, dass es doch passiert. 😅 In so fern bin ich mal sehr gespannt auf den weiteren Verlauf der Nacht.
Andererseits schien mir Rye jetzt ja ganz handzahm. Vielleicht wirklich etwas eingeschüchtert.

Generell finde ich es etwas „untypisch“, dass es erst zum Kuss kommt und sie dann doch relativ normal miteinander reden (ja ok, normal?). Daran musste ich die ganze Zeit denken. Aber gut, lass ich mich mal drauf ein. Lief halt so.

Die Situation, wie Rye erscheint war übrigens genial beschrieben. Hab fast laut gelacht.😂😂😂
Antwort von:  ginakai
23.11.2021 18:36
Ja, hast schon recht 😂 theoretisch hätten sie erst reden können, aber irgendwie wollte ich nicht, dass Rye nach dem Kuss dann wirklich abhaut und die beiden sich dann tagelang aus dem Weg gehen 😂 so habe ich gleich darauf für Ablenkung gesorgt.


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