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Das Lied des Regens

von

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Kapitel 1 – Kay

Norel war eine wunderschöne Stadt, umgeben von saftigen Wiesen und ausschweifenden Wäldern. Sie war ein wahres Idyll und wurde gern von Reisenden zum Rasten genutzt. Die reiche Land- und Forstwirtschaft sowie die Nähe zu sicheren Straßen und wichtigen Verkehrsstrecken zu Wasser waren der Grund gewesen, weswegen Kay sich hier als Tischler niedergelassen hatte.

Von dem Idyll war jedoch nichts mehr zu erkennen.

Die Frühlingsregen hatten mit leichtem Nieseln begonnen, aber verkamen innerhalb weniger Tage zu einem tristen Dauerregen. Dieser hielt sich nun bereits seit zwei Wochen und schien kein Ende nehmen zu wollen.

Die Straßen und Wege waren, wenn man Glück hatte, nur knöcheltiefer Matsch; in den niedriger gelegenen Teilen der Stadt stand das Wasser bereits Hüfthoch. Wie lange sie die Katastrophe noch durchhalten konnten, war fraglich und dennoch gab es einige Bewohner, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen. Zu so einem war Kay gerade unterwegs. Er straffte seine Schultern, trotzte so dem Regen, dem bis zu den Oberschenkeln reichenden Wasser und der Besorgnis, die wie ein Klumpen Blei in seinem Magen saß. Er hatte Luca dabei, einen der Straßenjungen, der ihm dabei half, ein paar Vorräte zu tragen und seit ein paar Tagen bei ihm wohnte. Ursprünglich wollten sie auch etwas Feuerholz mitnehmen, doch das wäre nach dem mehrere Meilen langen Marsch kaum noch als solches zu gebrauchen, weswegen sie sich damit nicht abmühten.

Je näher sie dem Fachwerkhaus kamen, das der alte Bran sein Heim nannte, umso tiefer wurde das Wasser, der sonst träge dahin fließenden Schnurr. Die Fluten drückten sich durch die engen Gassen und fingen an, an einigen Stellen Stromschnellen zu entwickeln. Sehr oft würden sie diese Route nicht mehr nehmen können, sollte das Wetter tatsächlich so bleiben. Vielleicht wäre heute die letzte Möglichkeit, den sturen Alten davon zu überzeugen, dass er sein Haus verlassen musste.

Kay warf einen Blick nach hinten zu Luca. Der Junge klammerte sich an einen Kartoffelsack und schleppte sich mit einer entschlossenen Mine durchs Wasser.

Der Sack war der letzte, den Kay noch von seinem eigenen Wintervorrat übrig hatte. Auch da wusste er nicht, wie lange er noch helfen konnte. Schon jetzt beschränkte er sich auf das Mindeste, während er dafür sorgte, dass Luca eine anständige Portion aß. Der Junge brauchte es immerhin dringender als er.

Ein dumpfes Knacken und Knarzen zog Kays Aufmerksamkeit zu den Gebäuden, an denen sie vorbei mussten. Die Häuser litten unter dem Wasser. Der Druck, den die Strömung auf die alten Bauwerke ausübte, wurde mit jedem Regentag stärker.

Kay wartete einen Moment, um Luca Zeit zum Aufschließen zu geben. Sie sollten näher zusammen bleiben.

Brans Haus, das dessen Wohnung und Werkstatt beherbergte, war bereits zu sehen. Doch der gefährlichste Teil des Weges lag ebenso noch vor ihnen. Sie mussten mit der Strömung ein Stück die Straße runter, ohne dabei den Halt zu verlieren oder die Abzweigung zu verpassen. Sollten sie weggespült werden, musste Kay darauf hoffen, dass sie flussabwärts, wo der Fluss die Felder überspülte, sich ans Ufer retten konnten.

Unschlüssig blieb er stehen und starrte auf die braunen Wassermassen. Sie Strömung war eindeutig noch stärker als beim letzten Mal. Kay drehte sich zu Luca. Es war zu gefährlich für den Jungen, weiter zu gehen. Kay wusste nicht einmal, ob Luca schwimmen konnte.

„Du wartest am besten hier. Ich bringe die Sachen hier zu Bran und komme dann zurück, um die Kartoffeln auch noch zu holen“, erklärte er in einem ruhigen Ton. Doch Luca sah das ganz anders. Trotzig schüttelte er den Kopf und drückte den Kartoffelsack fester an sich.

„Es ist zu gefährlich!“, versuchte Kay es noch einmal, doch Luca wehrte das ganze mit einem 'Pff' ab und war bereits drauf und dran, einfach an Kay vorbei zu gehen.

„Bleib hinter mir!“, riet Kay Luca. „Wenn du ausrutscht – vergiss die Kartoffeln und halt dich einfach irgendwo fest.“ Luca nickte stumm. Kay drehte sich herum, um weiter zu gehen, und nahm sich fest vor Luca beim nächtsten Mal gar nicht erst mitzunehmen.

Er kannte den Weg und somit die Rillen, die schräg in die Straße eingelassen waren und das Regenwasser in die Mitte der Straße führen sollten. Jetzt waren sie nutzlos und schreckten nicht davor zurück, einen neuen Sinn in ihrem Dasein zu finden, indem sie als kleine Stolperfallen auf unachtsame Irre, wie Kay und Luca, warteten.

Wieder knarzte es in der Nähe. Das darauffolgende laute Krachen fuhr Kay direkt in die Glieder.

„Gib acht!“, rief er Luca zu, als eine mehrere Handbreit hohe Welle, gespickt mit gebrochenen Holzbalken und zusammengenagelten Brettern, die Straße herunter preschte. Kay wappnete sich, presste sein ganzes Gewicht zu Boden und streckte seine Hand nach Luca aus.

„Nimm meine-“

Die Welle erwischte sie. Kay verlor den Boden unter den Füßen und wurde mit Lucas Schrei in seinen Ohren untergetaucht, aber kämpfte sich zurück an die Oberfläche. Er griff blind nach Luca, bevor er in den Wassermassen verschwinden konnte. Doch er erwischte nur noch mehr Wasser. Der Junge wurde binnen eines Augenblicks von ihm fort und unter eine eingerissene Holzwand gespült.

„Luca!“

Er musste ihn da raus bekommen!

Panisch schwamm er Luca nach, als ihn ein Balken erwischte und tiefer ins Wasser drückte. Kay spürte jede einzelne der Rillen, als die Wucht des Wassers ihn über den Boden schob. Die Hausecke, an der sie hätten abbiegen müssen, presste ihm die Luft aus den Lungen. Der Drang zu atmen wuchs mit jedem verweigerten Atemzug, als er endlich wieder seinen Kopf aus dem Wasser bekam. Die Strömung schwächte ab, je tiefer das Wasser wurde; und damit schaffte Kay es, den Hindernissen und gefährlichen Treibgut einfacher auszuweichen.

Immer wieder tauchte er unter, um Luca zu suchen, denn an der Oberfläche, konnte er ihn nicht finden. Mehr wie nach dem Jungen zu tasten, konnte er zuerst jedoch nicht, da die Sicht durch den mitgerissenen Lehm und Schlamm zu schlecht war. Je öfter er jedoch unter Wasser war, umso mehr meinte er sich an die Verhältnisse zu gewöhnen und Schemen erkennen zu können. Kay stellte sich vor, wie Luca irgendwo eingeklemmt war und sich nicht mehr befreien konnte. Es spornte ihn an, auch in engeren Ecken und so lange unter Wasser zu suchen, wie es nur möglich war.

Seine Lunge brannte bereits, als er einen Stofffetzen fand, der in einem Türrahmen klemmte. Er konnte nur von Lucas Flickenjacke stammen. Kay schwamm näher, sah mit hämmernden Herzen im trüben Wasser an den Brettern und den Balken, die den Eingang versperrten, vorbei. Dort im Haus! Er sah Luca, der bewusstlos in den Fluten trieb, die dieses Haus unlängst eingenommen hatten.

Kay zögerte nicht, packte den Balken und stemmte seine Füße gegen das Gemäuer. Während er an dem Holz zog und zerrte verlor Kay vollkommen das Gefühl dafür, wie lange er bereits hier unten war. Waren es schon mehrere Minuten? Er sollte zurück, Luft holen. Aber er wollte Luca dort herausholen und darauf konzentrierte er sich so sehr, dass alles andere in den Hintergrund rutschte. Mit einem Ruck löste sich der Balken und die Bretter sanken zu Boden. Im Raum dahinter, der mal eine Küche gewesen war, schwebte Luca bewusstlos im Wasser. Kay griff nach ihm und zog ihn an sich. Über ihnen war ein Labyrinth aus Balken und Schwaden aus Stroh, das mal in den Wänden gesteckt hatte.

Kays Brust zog sich schmerzhaft zusammen, doch widerstand er abermals dem Drang nach Luft zu schnappen. Hastig stieß er sich vom Grund ab und manövrierte durch die Türe, durch die er gekommen war und an allem vorbei, das ihnen auf dem Weg zur Oberfläche in die Quere kam.

Keuchend durchbrach er die Wasseroberfläche. Kay rettete sie mit letzter Kraft auf ein Dach, das aus den Fluten reichte.

„Luca … hörst du mich?“ Er tätschelte dem Jungen die Wange und hoffte, dass er aufwachen würde. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Was tat man, wenn jemand so lange unter Wasser gewesen war?

Ein Husten gefolgt von einem zittrigen Atemzug holten ihn aus seinen Gedanken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Luca in den Himmel, bis ihm der Regen zu fest in die Augen tropfte. Blinzelnd setzte er sich auf und hustete erneut. Auf seinem Gesicht zeichnete sich die verschiedensten Emotionen ab, von Panik über Schock, bis hin zu Erleichterung, war alles dabei und Kay wusste nichts anderes zu tun, als dem Jungen durch seine patschnassen Haare zu wuscheln. Die Geste wurde jäh unterbrochen, als Luca sich plötzlich zu ihm drehte und ihn fest umarmte.

Kay erstarrte, doch legte er nach dem ersten Schock schnell auch seine Arme um die schmalen Schultern des Jungen. Luca war bislang immer auf Abstand bedacht. Sagte kaum etwas und scheute beinahe jede Berührung. So wie jetzt hatte er den Jungen noch nie erlebt.

„Ich bin auch froh, das ich dich da unten gefunden habe.“ Er drückte Luca kurz. „Wollen wir nach Hause gehen?“

Luca nickte und warf schließlich einen Blick auf ihre Umgebung.

Das würde ein langer und anstrengender Weg zurück werden.

Kapitel 2 – Calista

Calista riss ihren gebannten Blick von den zwei Gestalten los, die mit Mühe einen Weg durch das Wasser zum Ufer suchten. Unfassbar! Da hatte sie die beiden vorhin erst gefunden und beinahe wären sie den Fluten zum Opfer gefallen! Sie wollte sich nicht ausmalen, wie ihre Chancen auf eine Rückkehr dann gestanden hätten.

Hastig, um nicht aufzufallen, trat sie einen Schritt zurück, presste ihren Rücken gegen die raue Rinde der alten Eiche, die am Waldrand der Anhöhe stand, und zwang sich einen tiefen Atemzug zu nehmen. Auch wenn sie dank des elenden Regens bis auf die letzte Stoffschicht durchnässt war, so half ihr das Prasseln der Tropfen, die trotz des dichten Blätterdaches zu ihr fanden, ihre Gedanken zu ordnen.

Endlich hatte sie zwei vielversprechende Kandidaten – lebend – ausmachen können. Wenn ihr selbst das nicht gelungen wäre, so hätte sie das Glück mit Knochen zermürbender Sicherheit gänzlich verlassen: Erst die magische Entladung am Übergang, der sie für einige Stunden außer Gefecht gesetzt hatte, gefolgt von der Erkenntnis, dass der Weltenschleier an diesem Fleckchen Erde wortwörtlich in Fetzen gerissen und ihr der Rückweg aus eigener Kraft in die Anderwelt nun versperrt war. Doch am schlimmsten war es, dass sich ihre Schwester nun daran laben konnte, wie recht sie damit hatte, keinen Zeh auf diese Seite des Schleiers zu setzen.

Dort lauert nichts als Ärger und Stumpfsinn, Calista! Höre auf, deine Zeit dort zu vergeuden!, echoten Almedas Worte in ihrem Kopf. Nach den letzten zwei Tagen musste Calista sich bitter eingestehen, dass ihre Schwester vielleicht nicht ganz Unrecht hatte. Einerseits würde Calista alles darum geben, sich diese Tirade nicht anhören zu müssen, andererseits würde sie ebenso alles dafür tun, zu ihrer Schwester und die Anderwelt zurückzugelangen.

Das hatte sie nun von ihren Ausflügen hier her. Aber diese mondäne Welt besaß ihre eigenen Reize und war für sie einfach zu verlockend. Die Anderwelt war so … reich und schwer. Alle Sinne wurden becirct, doch genau da lag das Problem. Wenn immer nur das Köstlichste die Zunge berührte, so wurde man es leid. Zumindest galt das für sie. Ihre Schwester und die meisten anderen Anderweltler und Fae sahen das anders. Die Menschenwelt war mit der nur schwachen Magie ein wahrlich frischer Wind, den sie sich inzwischen gern von Zeit zu Zeit um die Nase wehen ließ. Zudem konnte man mit den Menschen den ein oder anderen Schabernack treiben, was ihr in der Anderwelt nie gelingen würde. Doch jeder Spaß barg Langeweile, wenn er zu oft geführt wurde und für den Moment hatte sie genug von dieser Welt und besonders von diesem Regen, der sich in diese Wälder verbissen hatte.

Doch um es zurück zu schaffen, musste sie selbst einen Übergang erschaffen. Andernfalls wäre sie für Wochen unterwegs, um die halbe Welt zu umkreisen und zu einem anderen Schleierpfad zu gelangen. Sie musste einen Riss selbst erschaffen. Zwar war der Übergang zerstört, doch war der Schleier zwischen den Welten an dieser Stelle dünner. Jedoch forderten derlei Risse mehr Energie, als sie selbst aufbringen konnte. Die Lösung genau dieses Problems befand sich einige dutzend Meter hinter ihrem Rücken und machte sich daran, ans Land zurückzukommen.

Menschen. Wenn ihnen nur bewusst wäre, wie viel magische Quellkraft noch in ihnen schlummerte, sie hätten wohl unlängst auch die Anderwelt überrannt. Es war vermutlich ein Segen, dass das magische Potential für die meisten Menschen verschüttet blieb, aber von Anderweltern mit etwas Geschick angezapft werden konnte – genau das, was Calista nun brauchte: Zusätzliche Quellkraft, um sich selbst einen kleinen Riss im Schleier zu erschaffen. Je mehr Energie, desto besser, allerdings wollte sie sich nicht mit einer Meute Menschen auseinandersetzen müssen. Daher kam es ihr mehr als gelegen, dass sie dank ihres achten Sinnes diese beiden hatte ausfindig machen können. Ihre Quellkraft war mehr als genug, konnte jedoch auch zur Gefahr werden, wenn sie, wie der Zufall es wollte, selbst damit hantieren würden. Calista musste also für alle Eventualitäten vorbereitet sein. Sie schluckte und horchte zur Sicherheit ein letztes Mal in sich selbst hinein, wo sie seit jeher ihren Quell spüren konnte, den jede Fea oder jedes Feenwesen besaß. Wie von allein kribbelte ihre Magie in ihren Fingerspitzen und würde Funken schlagen, wenn sie nicht eine Meisterin ihres Faches wäre. Unweigerlich schüttelte sie ihren Kopf. Sie war sich sicher gewesen, dass sich ihre Magie gestern noch anders angefühlt hatte. Doch das Missempfinden schien verflogen zu sein. Ihrer Erfahrung nach konnte das nur bedeuten, dass die magische Entladung ihr tatsächlich direkt in die Glieder gefahren sein musste und ihre Meridiane aufgewühlt hatte. Die Zeit brachte jedoch nicht nur Rat, sondern zum Glück auch Heilung. Mit der jetzigen Gewissheit, ihre Magie wie gewohnt in der Hinterhand zu haben, würde sie die beiden Menschen schon in Schach halten können, sollten sie zu experimentierfreudig werden.

Aber was nun? Sollte sie sie bereits hier ansprechen?

Sie wagte einen Blick um den Baumstamm herum. Alle beide schleppten sich soeben an das Ufer. Was auch immer sie vorhin bei sich getragen hatten, war nun verschwunden. Dennoch begaben sie sich auf dem Land wieder stromaufwärts. Calista runzelte die Stirn und strich sich eine helle, kinnlange Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr der Regen immer wieder vor die Augen spülte.

Nun, was blieb ihr anderes übrig, als ihnen zu folgen? Calista nutzte den Waldrand weiterhin als Deckung, während die beiden flussaufwärts gingen und zehn Minuten später nahe der Hauptstraße, die vom Wald zur Stadt führte, stehen blieben.

Irritiert neigte sie den Kopf, als der Größere wieder ins Wasser ging und seinen Begleiter am Stadtrand zurückließ. Es vergingen einige Minuten, bis sie Stimmen hörte. Doch auch wenn ihre Sinne denen der Menschen überlegen war, so war sie zu weit entfernt, als dass sie etwas verstehen könnte, und das wilde Rauschen des aus seinem Bett getretenen Flusses tat den Rest.

Nach einigen Momenten, in denen der Kleinere stur wie ein Stein am Ufer ausharrte, kam der andere zurück. Beide folgten nun der befestigten Straße und ließen die halb versunkene Menschenstädte hinter sich.

Calista presste ihre Lippen aufeinander. Es war noch keinem gut bekommen, jemand auf der Straße und bei so einem unheiligen Wetter mit einem Anliegen zu überfallen. So wollte sie es auch nicht darauf ankommen lassen. Zumal es der Höflichkeit der Seelie und ihrer Familie gebot, auch der Etikette dieser Welt zu folgen. Damit war Calistas Entscheidung gefällt: Sie würde den beiden nachgehen und konnte nur hoffen, dass sie sich tatsächlich auch in ihr Refugium zurückzogen und nicht eine Wanderschaft im Regen begannen.

Für einige Sekunden heftete ihr Blick an den beiden Gestalten, besonders an der des Größeren, bis sie zwischen Dickicht und Baumstämmen verschwanden. Erst dann gab Calista ihr Versteck auf und säuselte den vier Winden dieser Welt zu, bis sie an ihrer Hose, dem Hemd und dem ärmellosen Mantel zupften.

Mit einem hoffnungsvollen Lächeln auf den Lippen trat sie zwischen die Lüfte und wurde für jedweder Sinne unsichtbar.

 

Kapitel 3 – Kay

Das einzig Gute, an ihrem unfreiwilligen Bad und seinem kleinen Umweg zu Bran, war die Tatsache, dass sie nun den Regen vollkommen ignorieren konnten. Der Stoff ihrer Kleidung war gar nicht in der Lage, noch mehr Wasser aufzunehmen.

Der Galgenhumor half, bei klarem Verstand zu bleiben, da der Weg zurück zu seiner Hütte anstrengend war. Kay hatte nach Lucas Rettung Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ein Blick zu dem Jungen verriet ihm, dass es ihm nicht anders erging. Kay wollte sich gar nicht vorstellen, was in Lucas Kopf nach dem Erlebten vorgehen musste. Seine Körpersprache zeigte, dass er sich noch stärker in sich verzogen hatte, als üblich. Es blieb zu hoffen, dass eine warme Mahlzeit Luca auf bessere Gedanken bringen würde. Auf eine andere Art könnte Kay ihm im Moment nicht helfen.

Sie sehnten sich beide nach dem warmen Haus, was ganz sicher der Erschöpfung noch mehr in die Hände spielte. Was wäre jetzt schöner, als am Feuer zu sitzen, hoffentlich schnell trocken zu werden und eine warme Suppe oder Tee zu sich zu nehmen?

Stattdessen schüttelte er Wassertropfen von sich, die ihm von den Haaren in die Augen tropften. In diesem Moment hatte Kay das Gefühl, dass es nicht mehr lange dauern könnte, bis ihm Schwimmhäute zwischen den Fingern wuchsen. Vielleicht würde das sogar helfen, sollten sie noch einmal in eine Situation wie vorhin kommen, was er nicht hoffte. Am besten sorgte er dafür, das Luca nicht mehr in die Stadt mitkam.

Die Lage war schlimm. Ein sehr viel größerer Teil von Norel stand unter Wasser und so wie es aussah, staute es sich höher, als es bisher angenommen hatte.

Sollte es so weiter regnen, könnten sie versuchen, das schlechte Wetter zu vermarkten. 'Die Stadt, die unter Wasser liegt' wäre ein guter Titel. Reisende könnten dann in Booten über die versunkenen Häuser hinweg fahren und sich das Leben hier von oben angucken.

Kay schloss die Augen und versuchte, die Gedankengänge gegen strahlendem Sonnenschein auszutauschen … oder gegen irgendetwas anderes, damit er nicht mehr das Bild im Kopf hatte, wie Luca leblos im Wasser trieb.

Kay sah zu Luca, der bisher nicht einmal aufgesehen hatte.

„Alles okay?“, fragte Kay. Er bekam einen kurzen Seitenblick und ein Nicken als Antwort.

 

Schweigend und im strömenden Regen legten sie eine Meile nach der anderen zurück. Eine gute Stunde dauerte der Marsch, als nach einer Baumreihe endlich sein Haus in Sicht kam, in dem er nun seit einem Jahr lebte, wenn er nicht gerade auf Verkaufsreisen war. Es war nicht groß und auch nur spärlich eingerichtet, da er dort alleine lebte und nicht oft Besucher hatte. Darum hatte er keinen Sinn darin gesehen, eine größere Bleibe sein Eigen zu nennen. Aber da es ihm wichtig war, nach seinen langen Reisen in ein trockenes Heim zurück zu kehren, waren seine Dachschindeln und die hölzerne Fassade in bester Ordnung. Kay verstand schließlich sein Handwerk: Kein Regentropfen würde ins Innere finden. Ein Umstand, der ihm wohl zu seinem Besucher verholfen hatte. Nur wenige Tage nachdem der Regen zugenommen hatte, weckte ihn eines sehr frühen Morgens ein stetiges Klopfen. Luca hatte vor der Tür gestanden, nass und voller Matsch, und fragte, durch den Regen kaum hörbar, ob er hier bleiben könne.

Wie hätte Kay bei dem Anblick des dürren und vor Kälte zitternden Jungen nein sagen sollen?

Ein erleichtertes Seufzen entkam Kay, als sein Heim in greifbare Nähe geriet. Die solide Eichentür war inzwischen so mit Feuchtigkeit vollgesogen, dass sie beinahe schwarz wirkte und schwer über den Boden schliff, als Kay sie öffnete. Beide huschten sie ins Trockene und sperrten den Regen aus.

„Du schaust nach dem Feuer, ich suche etwas, womit wir uns abtrocknen können.“

Luca nickte und kniete sich dann auf seinen Lieblingsplatz, nahe des Kamins. Er hinterließ auf dem Weg dahin kleine Pfützen in Form seiner Füße. Sie mussten dringend aus den nassen Sachen raus.

Vor einer Woche hatten sie bereits einige dünne Seile an der Decke aufgespannt, um ihre nasse Kleidung trocknen zu können. Kay hoffte, dass die derzeit dort hängenden Hemden und Hosen bereits wieder tragbar waren, damit sie nicht länger als nötig mit dem vor Nässe an der Haut klebenden Stoff leben mussten.

Kay holte eine alte Decke, die so gelöchert war, dass er sie eigentlich schon lange hatte wegwerfen wollen. Jetzt erhielt sie, zumindest für kurze Zeit, ein neues Leben und würde hoffentlich reichen, bis seine mickrige Anzahl an Trockentüchern wieder ihrem Namen gerecht wurden.

Nachdem er sich die Haare abgetrocknet hatte, gab er die Decke an Luca weiter, der Holzscheite aufgelegt hatte und sich bereits wärmte.

„Seh zu, dass du was Trockenes an den Körper bekommst“, sagte Kay. Er selbst war bereits dabei, sein Hemd auszuziehen. Es landete erst einmal über seinem einzigen Stuhl, wo es tropfen konnte, so viel es wollte.

Um an die hängende Wäsche zu kommen, kletterte Kay auf seine Holztruhe. Die trockene Kleidung legte er erst einmal auf den Tisch, damit sie nicht wieder nass wurde und Luca an sie heran kam. Es waren Kleinigkeiten wie diese, die ihr Zusammenleben gerade am Anfang erschwert hatte. Dinge, die er aus Gewohnheit tat, stellten eine Hürde für Luca dar, der einfach zu klein war, um an höherliegende oder hängende Dinge zu kommen, oder dass der Junge keine Ahnung hatte, wie man einen Fisch ausnahm oder einen Eintopf zubereitete.

Wie genau Luca bis jetzt gelebt hatte, wusste Kay nicht. Vor dem Regen hatte er die in der Umgebung lebenden Straßenkinder immer mal wieder für kleine Aufgaben angeheuert. Auf diese Weise hatte er Luca kennengelernt. Den stummen Jungen, der sich immer hinter ein paar der größeren versteckte. Die Scheu hatte Luca nach einer gewissen Zeit überwunden. Bis Kay die ersten leisen Worte gehört hatte, hatte gedauert und war noch gar nicht so lange her. Er war so überrascht darüber gewesen, dass er selbst erst einmal sprachlos war und eine Extrarunde über den Marktplatz brauchte, um sich daran zu erinnern, was für einen Auftrag er für die Kinder hatte.

Noch immer fragte er sich, was Luca wohl erlebt haben musste, um so vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Bislang hatte er nicht die richtigen Worte gefunden, um danach zu fragen und mit dem Regen war ein ganz neues Problem in ihr Leben getreten.

Es fühlte sich gut an, die Nässe hinter sich zu lassen. Dazu kam der Geruch der Suppe, die sie in der Kochnische aufwärmten, und schon sah der Tag nach dem Schrecken nicht mehr so düster aus.

Das, was im Dorf passiert war, sprach keiner von ihnen an, wobei Kays Gedanken immer wieder zu den Momenten unter Wasser zurückkehrten. Er hielt an seinem Entschluss fest, Luca nicht mehr nach Norel mitzunehmen. Es war inzwischen zu gefährlich – auch für ihn. Er würde Bran und den anderen verbliebenen Leuten ein letztes Mal ins Gewissen reden, dass sie endlich ihre Häuser verlassen sollten, bevor die Gebäude auseinander brachen und ihnen in den Fluten niemand mehr helfen könnte.

Er dachte an das Wasser. Das Gefühl nicht atmen zu können … nicht zu müssen …

Ein Schauer zog über seinen Rücken.

Kapitel 4 – Calista

Ihre bis auf die letzte Faser nasse Kleidung sollte es eigentlich unmöglich machen, aber dennoch spürte Calista kalten Schweiß über ihren Rücken laufen. Ihr Blick haftete wie ein ausgeworfener Anker samt Rettungsleine an den beiden Gestalten, die inzwischen einige dutzend Schritt vor ihr immer öfter hinter Biegungen und Baumreihen verschwanden. Nur mit Mühe konnte sie mit ihnen Schritt halten – sie einzuholen …

Calista schwante Übles, aber sie weigerte sich, den Gedanken zu weit zu verfolgen, der unweigerlich zu ihrem Quell führte, der vor zwei Stunden noch so verlässlich wie ein Fels in der Brandung auf sie gewirkt hatte.

Doch nun? Ihre magische Kraft knarrte in ihren Gliedern wie eine überspannte Birke, an der ein Sturm riss und die jeden Moment entzwei brechen würde.

Aber anstatt die Unsichtbarkeit, in die sie sich gehüllt hatte, aufzugeben, hielt sie an ihr nur umso verbissener fest. Dabei ging es noch nicht einmal mehr darum, nicht gesehen zu werden, sondern darum, ihre magischen Fähigkeiten wieder in Ordnung zu bringen. Wenn nötig auch mit blanker Willenskraft, die hier im Nirgendwo der Menschenwelt auf eine harte Probe gestellt wurde.

Sie biss die Zähne aufeinander und verbot sich ein Stöhnen, das ihr in der Kehle saß. Wieder ein Schritt. Und noch einer.

Es konnte doch nicht mehr weit sein, oder?

Die Menschen folgten weiter dem befestigten Weg, der sie bislang durch die dunklen Wälder geführt hatte, und verschwanden soeben hinter einer Biegung. Calistas Blick sackte zu Boden, der mit rostbraunen Nadelblättern bespickt war. Kleine Bläschen blubberten bei jedem Schritt unter ihren Sohlen hervor. Selbst der Grund unter ihren Füßen sah aus, als hätte er den Regen unlängst satt.

Mit diesem Gedanken und ihren zu Fäusten geballten Händen verlor sie sich für einige Momente in ihrem innerlichen Mantra, einen Fuß vor den anderen zu setzten, bis auch sie die Biegung erreichte und ihre beiden noch unwissenden Helfer sowie in einiger Entfernung vor ihnen ein Haus in Sicht kamen.

Zitternd blieb sie stehen und harrte aus.

Pure Erleichterung rauschte durch Calistas Körper, als die beiden Gestalten zielstrebig auf das Haus zugingen. Als die Türe ins Schloss gedrückt wurde, nachdem die beiden im Inneren verschwunden waren, stolperte sie zum nächstbesten Dickicht. Sie stürzte im schlammigen Waldboden auf ihre Knie und Hände und japste vor Anstrengung nach Luft.

Die Unsichtbarkeit fiel von ihr ab, als würde jemand eine wärmende Decke von ihrem Körper reißen. Der Regen, der auf ihren Kopf und Rücken prasselte vermischte sich mit dem kalten Schweiß, der ihr im Nacken saß.

Calista fühlte sich ausgelaugt. Nicht als hätte sie sich für ein oder zwei Stunden ihrer Magie bedient, sondern seit Tagen. Von wegen sie hatte ihre Magie wie gewohnt in der Hinterhand! Sie mochte sich ungenutzt wie immer anfühlen, doch der unsichtbare Marsch hatte unnatürlich viel Kraft und in den letzten Minuten jeden Funken Konzentration gekostet, den sie hatte aufbringen können.

Müde lehnte sie sich zurück saß nun auf ihren Fersen. Sie hatte sich vollkommen verschätzt! War die magische Entladung doch schlimmer gewesen als gedacht? Nein, das konnte nicht sein. Jede von der Entladung betroffene Magie müsste wieder in ihrer alte Bahn gefunden haben.

Calista schluckte heftig. 

War es vielleicht keine Entladung gewesen? Was, wenn ihr Quell beeinflusst war … Ihr Herz begann mit dem Prasseln des Regens zu rasen.

Sie musste zurück zur Anderwelt, dringender als zuvor! Sie musste zu einem Heiler und …

Caliste kniff die Augen zusammen und zwang die aufkeimende Furcht mit ruhigen Atemzügen zurück. Sie durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Die Furcht hielt sie so vielleicht in Schach, die Wut über sich selbst jedoch nicht. Sie hätte sich mehr beeilen sollen! Und warum hatte sie gestern nicht schon ihre Magie auf eine ordentliche Probe gestellt? Sie hätte viel früher …

Ein zorniges Fauchen entkam ihr, bevor sie sich fing. Sie konnte nichts mehr daran ändern. Dafür musste sie nun mehr Finesse und Zügigkeit an den Tag legen.

Sie musste die beiden Menschen also … Bei den Göttern.

Wenn sie so blind für ihren Zustand in die Begegnung mit den beiden gegangen wäre … nicht auszudenken, wohin ihre unzuverlässige Magie geführt hätte! Ihr Charme würde sie vermutlich ebenso anstrengen und zweifelsohne hätte sie darauf zurückgegriffen. Schließlich brauchte sie die Hilfe der beiden, wenn nicht freiwillig, dann eben auch mit magischem Nachdruck. Und dann? Keine zwei Stunden und von der magischen Geneigtheit, ihr zu helfen, würde nichts übrig bleiben. Grimmig blickte sie auf ihre dreckigen Hände, die der Regen binnen weniger Augenblicke sauber wusch.

„Verflucht!”, zischte sie. Mit dieser Aussicht musste sie die beiden auf einem anderen Weg überzeugen. Doch wie? Hilfsbereit war zumindest einer von ihnen, so wie der dem anderen in die Fluten nachgesprungen war. Doch ob sie ihn mit einer fadenscheinigen Lüge auf eine mehrere Tage andauernde Reise würde locken können? Sie bezweifelte es. Was nun? Irgendetwas musste sie den beiden auftischen. Vielleicht ein anderes Dorf, das in den Fluten versank? Ihre Familie, die sie retten musste und nun nur auf fremde Hilfe hoffen konnte? Ein … ein armes Tier, das in einem Brunnen festsaß und Rettung bedurft? Nein, ein Tier wäre wohl zu leicht zu missachten. Ein Kind! Ha! Noch besser, eine Schar Kinder!

Calista zog die Nase kraus.

„Darauf fällt doch keiner rein”, murmelte sie und sah zu dem Haus, hinter dessen Fenster inzwischen ein warmer Lichtschein zu erkennen war. Vielleicht war es ein Versuch wert, ihren Charme für ein paar Minuten zu testen, sodass sie endlich aus dem Regen kam und ihre Kleider eine Chance erhielten von klatschnass zu nass zu gelangen.

Oder …

Nach einem tiefen Atemzug stand Calista schwerfällig auf und schleppte sich nun auch zum Haus. Dort vor der vor Nässe noch dunkler wirkenden Eingangstür hielt sie inne. Mit den Fingern kämmte sie sich ihre Haare zurück und straffte ihre Schultern.

Sie würde es drauf ankommen lassen, entschied sie und klopfte drei Mal an.

Es dauerte einen Augenblick, bevor ihr die Tür geöffnet wurde. Irritation zeichnete sich auf dem Gesicht des Menschen ab, der zuvor seinen Gefährten aus den Fluten gerettet hatte. Sie lächelte ihn an und setzte alles auf eine Karte.

„Hallo, ich bin Calista. Ich bin ein Fae und brauche eure Hilfe. Darf ich reinkommen?”

Kapitel 5 – Kay

Als es klopfte, glaubte Kay zuerst, es wäre der Wind, der den Regen besonders stark gegen die Seite des Hauses prasseln ließ. Erst einen Moment später begriff er, dass dort jemand an der Tür sein musste. Ohne lange zu zögern öffnete er und sah eine Frau, die mindestens so nass war wie Luca und er eben noch. Bereits bevor sie erklärte, wer sie war, spürte er, dass etwas an ihr anders sein musste. Im selben Augenblick, als sie aussprach, was sie war, formte sich das richtige Wort für sie in seinem Kopf.

Eine Fee …

Auf einer seiner Reisen hatte er einmal eine Gruppe von Gelehrten beschützt, die jede Menge Geschichten über das Volk der Fae erzählen konnten. An einem Abend, nachdem alle anderen bereits schliefen, hatte eine von ihnen ihn gewarnt, dass, wenn er jemals einer Fee gegenüberstehen sollte, er ihr auf keinen Fall trauen durfte. Dass sie gerne logen, einen gegeneinander ausspielten und nie Gutes im Sinn hatten.

Kay warf einen Blick zurück zu Luka. War es schlau eine Fee hier herein zu lassen? Wäre es sicher? Aber niemand sollte bei diesem Wetter länger als nötig draußen bleiben müssen … Wenn es zudem stimmte, dass sie Hilfe brauchte, wollte er sich ihr Problem wenigstens anhören. Ablehnen konnte er dann immer noch.

Kay öffnete die Tür noch weiter, so dass Calista eintreten konnte. „Komm herein“, sagte er. Sein Haus war nicht dafür gedacht, dass so viele Leute sich darin aufhielten. Langsam wurde es eng, vor allem, mit den nassen Sachen, die von den Leinen hingen und vor sich hin tropften. Der Gastgeber sah sich um, damit er Calista einen Sitzplatz anbieten könnte, aber die einzigen Möglichkeiten waren mit Kleidung belegt.

„Ich bin Kay und das ist Luca“, stellte er sie beide vor, während er die Tür hinter Calista schloss. „Ist etwas eng hier ...“, entschuldigte er den Zustand seines Hauses und deutete vor das Feuer, wo Luca sich niedergelassen hatte und die Suppe in der Kochnische brodelte. „Such dir einfach einen Platz, der dir gemütlich vorkommt.“ Da gab nicht viele zur Auswahl. „Leider kann ich auch nichts zum Abtrocknen anbieten, aber was zu essen?“ Er würde ihr auch etwas Wasser anbieten, aber davon hatten sie wohl alle derzeit erst einmal genug.

Kay selbst blieb vorerst stehen und lehnte sich lediglich an sein Regal, ohne Calista aus den Augen zu lassen. Sein Blick schwankte zwischen Neugierde, Sorge und Zweifel, dass er das Richtige getan hatte. „Und dann … Was ist das Problem?“

Calista, die nahe der Tür stehengeblieben war, sah mit leicht zusammengekniffenen Augen zu ihm. “Das ist leichter, als ich mir das ausgemalt habe”, sagte sie und wölbte überrascht ihre Augenbrauen. “Versteh mich nicht falsch”, fuhr sie rasch fort, “ich bin dankbar für die Gastfreundschaft und dein bisheriges Wohlwollen, dir zumindest mein Problem anzuhören, doch normalerweise schlagen einem die meisten Menschen aus Furcht vor Irrsinn die Türe vor der Nase zu oder holen gleich eine Jahresration Salz, um sie vor Tür und Fenster zu verstreuen – was”, sie verdrehte die Augen, “zwar so manches, aber mit Sicherheit keine Fee fernhalten würde. Doch das ist eine andere Geschichte.” Sie räusperte sich. “Was ich wohl eigentlich fragen wollte ist, woher die Hilfsbereitschaft? Nicht nur einer Fremden, sondern auch jemandem vom Andervolk gegenüber?”

Ihre direkte Frage überraschte ihn. Er musste sogar einen Moment überlegen, ob er sich nicht einfach hatte hinreißen lassen. „Ich würde gerne behaupten, ich weiß einfach, wie ich mich schützen kann, aber das trifft nur auf Menschen zu. Bei allem anderen kenne ich kaum mehr als Geschichten und somit entspräche die Behauptung schlicht nicht der Wahrheit.“

Kay schaute zu Luca, der fasziniert ins Feuer sah und doch ab und an zu der Fremden blickte, als wollte er sie abschätzen und gleichzeitig nicht auffallen.

„Um die Wahrheit zu sagen, finde ich, dass niemand bei diesem Wetter zu lange dort draußen bleiben sollte und vielleicht hoffe ich, dass meine Gastfreundschaft sich positiv auf alles auswirkt, was hier noch passieren wird. Was auch immer das sein wird.“ Immerhin ging es in vielen Geschichten darum, das Gastfreundschaft gebrochen wurde, was meist der Beginn einer sehr schlechten Zeit war.

Calista lächelte breit. Beinahe unnatürlich breit. Oder spielten ihm Licht und Schatten einen Streich?

„Ah, ein Romantiker also. Gefällt mir!“, sagte sie, während ihre Augen amüsiert funkelten. Sie ging zwei Schritte weiter in den Raum und ließ abermals ihren Blick wandern. Ihre Miene blieb dabei eine freundliche Maske, die schwer zu lesen war. Gefiel ihr, was sie hier sah? Kay konnte es nicht sagen.

„Nun, dann wollen wir sehen, wie weit sich deine Gastfreundschaft erstreckt: Ich bin in eurer Welt gestrandet, aber muss dringend wieder zurück. Ihr müsst wissen, dass es, nun ja, Brücken oder Pfade zwischen eurer und meiner Welt gibt und eine ist durch irgendetwas in die Brüche gegangen. Ich kann den Weg dort nicht benutzen, aber kann mit etwas tatkräftige Unterstützung selbst einen Pfad öffnen. Mit eurer Hilfe, wenn es euer Wohlwollen zulässt“, erklärte sie und sah von ihm zu Luka.

Er hatte sich noch nie als Romantiker gesehen, aber wenn sie es so nennen wollte. Auch weiterhin blieb Kay stehen wo er war und beobachtete sie. Ihr Blick zu Luka gefiel ihm nicht, genauso wie dieses unheimliche Lächeln.

„Wie könnten wir dir denn helfen? Mir wäre nicht bewusst, dass Luca oder ich das entsprechende Wissen oder die benötigten Fähigkeiten vorweisen können, oder?“

“Nicht im üblichen Sinne, nein.” Die Fee zögerte, aber schien sogleich zu einem Entschluss zu kommen. “Ich benötige eure Kraft. Nicht die eurer Muskeln versteht sich. Eure Quellkraft. Eure Magie, wenn ihr wollt.”

Kay lag eine zweifelnde Erwiderung auf der Zunge, als sie eilig beide Hände hob. Er verkniff sich die Worte und ließ sie weiterreden.

“Ich weiß, ich weiß: Ihr seid nur Menschen und besitzt so etwas nicht. Nun ja, Überraschung? Ihr besitzt sie schon, könnt nur nicht darauf zugreifen. Zumindest nicht immer und nicht bewusst.”

Calista ging ein paar Schritte weiter, ignorierte den Stuhl, über dessen Lehne ein Hemd zum Trocknen hing, und setzte sich stattdessen auf den Tisch.

“Habt ihr schon einmal ein Déjà-vu gehabt? Magie. Der Moment, als euch jemand eine offensichtliche Lüge tatsächlich abnimmt? Magie. Die Fähigkeit, allein einen Baumstamm anzuheben, unter dem ein Freund eingeklemmt ist? Magie. Ihr Menschen besitzt sie noch und mit ein bisschen Extraquellkraft, kann ich mir einen Weg zurück in die Anderwelt bahnen.”

Während sie aufzählte, wie Menschen eine scheinbar in ihnen liegende Kraft zu nutzen vermochte, kamen ihm unweigerlich Momente während seiner Reisen in den Sinn, die nun verdächtig nach Magie klangen: Er hatte verstanden, was jemand zu ihm sagte, obwohl er dessen Sprache nicht beherrschte. Auch hatte er die Angewohnheit, an heißen Tagen Wind herbeizusehnen, und ab und an passierte es tatsächlich, dass plötzlich eine frische Brise wehte. Ob das dazu gehörte? Oder waren es doch Zufälle?

Zum ersten Mal seit Calista den Raum betreten hatte, behielt Kai sie nicht im Auge. Sein Blick wanderte langsam zu Luca. Für ungeübte Augen sah es so aus, als starre der Junge ins Feuer, aber seine Körperhaltung verriet, dass er ganz genau zuhörte. Was er von dem ganzen hielt, konnte Kay nicht erahnen und so schwang seine Aufmerksamkeit schließlich wieder zu Calista.

„Was für Auswirkungen hätte es auf mich, wenn ich dir helfe? Und … wie kann ich dir überhaupt helfen, wenn ich doch nichts bewusst steuern kann?“

“Im ersten Moment? Ihr werdet euch erschöpft fühlen. Aber das vergeht mit ein oder zwei guten Nachtruhen und einem herzhaften Essen. Und andere Auswirkungen … Nun ja.” Calista legte nachdenklich den Kopf in den Nacken. “Es ist schwieriger zu erklären, wenn es für einen selbst so natürlich ist”, sagte sie, bevor sie ihn wieder ansah. “Aber die andere Auswirkung hängt damit zusammen, dass nicht ihr etwas bewusst steuert, sondern ich auf eure Quellkraft zugreife und sie zu mir umleite. Wie einer dieser schmalen Wassergräben, die ihr zu Mühlrädern leitet. Und durch diese Verbindung könnte es möglich sein, dass ihr in Zukunft ebenfalls eine leichtere und bewusste Verbindung zu eurer Quelle erlangen könntet.” Caliste warf ihm ein bedeutsamen Blick zu und grinste. “Übrigens einer der Gründe, warum Anderweltler nicht in Scharen durch eurer Welt ziehen und euch anzapfen.”

Luca drehte sich herum und sah Calista mit großen Augen an. Die Faszination stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Kay fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Das würde dir gefallen, mh?“

Lucas Blick huschte kurz zu Kay, dann nickte er verlegen, zog die Beine fester an den Körper und schaute weiter zu Calista.

Kays Euphorie hielt sich in Grenzen. Natürlich klang es im ersten Moment verlockend, aber er war sich sicher, dass es sich im Alltag eher als hinderlich herausstellen könnte. Dennoch klang es erst einmal so, als hätte es keine schwerwiegenden langfristigen Folgen.

„Ich hätte noch ein paar Fragen, wegen der vielleicht besseren Verbindung zu dieser Quellkraft, aber zuerst würd ich noch wissen wollen, wie du diese Kraft anzapfen wirst. Hand auflegen? Nen Zauberspruch? Wie funktioniert das?“

Calistas leises Lachen floss wie eine Melodie durch den Raum, die so ansteckend war, dass sie sogar an seinen Mundwinkeln zupfte.

“So viele Fragen”, sagte sie und zwinkerte Luca verschwörerisch zu. “Aber ich verstehe die Vorsicht. Nur, auch hier … Es zu beschreiben wird schwer, und ein Vergleich … Hm. Vielleicht … ”

Calista neigte den Kopf zur Seite und ihr Blick verfing sich mit seinem. Sekunden verstrichen in denen nur das Knacken des brennenden Holzes zu hören war, als …

Im Augenwinkel sah Kay wie Luca sich im Sitzen aufrichtete und dann spürte er es: Ein Kribbel jagte von seinem Rücken bis in den Nacken, als eine warme, unsichtbare Wand gegen seine Beine, seine Brust und sein Gesicht drückte. Es war, als würde er im Hochsommer die Kühle seines Hauses verlassen und direkt in die Mittagshitze treten. Die magische Wärme fühlte sich zwar intensiv an, aber gleichzeitig war sie angenehmer … beinahe verführerisch … Wie ein warmes Rinnsal drückte sie nicht nur gegen ihn, sondern sickerte durch seine Haut. Tiefer und tiefer, bis–

Kay keuchte.

Die Wärme verschwand, ließ ihn in dem beheizten Raum kurz frösteln.

Calista saß lächelnd noch immer auf dem Tisch und zuckte entschuldigend mit den Schultern. “Es ist zu schwierig zu erklären. Und ungefähr so wird es sich anfühlen. Vielleicht noch intensiver und anstrengender, wenn ich eure Quellkraft zu mir leite.”

Nach diesem Erlebnis, brauchte Kay einen Moment, um sich zu sortieren. Zwar war es ungewohnt, aber nicht unangenehm, dennoch war er sich nicht sicher, ob er das wollte. Ein Teil in ihm war neugierig, ein anderer jedoch fand es zu riskant.

Luca hingegen starrte mit aufgerissenen Augen auf Calista, was Kay vermuten ließ, dass auch er gespürt hatte, was sie erwarten würde.

Noch bevor Kay Worte fand, stand der Junge auf und ging zu dem Tisch, wo Calista saß. Mit ein klein wenig Sicherheitsabstand, blieb er vor ihr stehen und nickte ihr zu. Das faszinierte Funkeln in seinem Blick war nicht zu übersehen.

Kay wollte am liebsten auf Luca einreden, ihn davon abbringen, so einfach der Fee zu vertrauen und helfen zu wollen, aber er stolperte über seine eigene Zustimmung. Es konnte keine gute Idee sein! Es war zu gefährlich – und dabei dachte er nicht einmal an die Prozedur an sich.

Und doch hörte er keine Ablehnung in seiner eigenen Stimme, als die Neugierde gewann.

„Wie es aussieht, helfen wir dir.“



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