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Das Lied des Regens

von

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Kapitel 2 – Calista

Calista riss ihren gebannten Blick von den zwei Gestalten los, die mit Mühe einen Weg durch das Wasser zum Ufer suchten. Unfassbar! Da hatte sie die beiden vorhin erst gefunden und beinahe wären sie den Fluten zum Opfer gefallen! Sie wollte sich nicht ausmalen, wie ihre Chancen auf eine Rückkehr dann gestanden hätten.

Hastig, um nicht aufzufallen, trat sie einen Schritt zurück, presste ihren Rücken gegen die raue Rinde der alten Eiche, die am Waldrand der Anhöhe stand, und zwang sich einen tiefen Atemzug zu nehmen. Auch wenn sie dank des elenden Regens bis auf die letzte Stoffschicht durchnässt war, so half ihr das Prasseln der Tropfen, die trotz des dichten Blätterdaches zu ihr fanden, ihre Gedanken zu ordnen.

Endlich hatte sie zwei vielversprechende Kandidaten – lebend – ausmachen können. Wenn ihr selbst das nicht gelungen wäre, so hätte sie das Glück mit Knochen zermürbender Sicherheit gänzlich verlassen: Erst die magische Entladung am Übergang, der sie für einige Stunden außer Gefecht gesetzt hatte, gefolgt von der Erkenntnis, dass der Weltenschleier an diesem Fleckchen Erde wortwörtlich in Fetzen gerissen und ihr der Rückweg aus eigener Kraft in die Anderwelt nun versperrt war. Doch am schlimmsten war es, dass sich ihre Schwester nun daran laben konnte, wie recht sie damit hatte, keinen Zeh auf diese Seite des Schleiers zu setzen.

Dort lauert nichts als Ärger und Stumpfsinn, Calista! Höre auf, deine Zeit dort zu vergeuden!, echoten Almedas Worte in ihrem Kopf. Nach den letzten zwei Tagen musste Calista sich bitter eingestehen, dass ihre Schwester vielleicht nicht ganz Unrecht hatte. Einerseits würde Calista alles darum geben, sich diese Tirade nicht anhören zu müssen, andererseits würde sie ebenso alles dafür tun, zu ihrer Schwester und die Anderwelt zurückzugelangen.

Das hatte sie nun von ihren Ausflügen hier her. Aber diese mondäne Welt besaß ihre eigenen Reize und war für sie einfach zu verlockend. Die Anderwelt war so … reich und schwer. Alle Sinne wurden becirct, doch genau da lag das Problem. Wenn immer nur das Köstlichste die Zunge berührte, so wurde man es leid. Zumindest galt das für sie. Ihre Schwester und die meisten anderen Anderweltler und Fae sahen das anders. Die Menschenwelt war mit der nur schwachen Magie ein wahrlich frischer Wind, den sie sich inzwischen gern von Zeit zu Zeit um die Nase wehen ließ. Zudem konnte man mit den Menschen den ein oder anderen Schabernack treiben, was ihr in der Anderwelt nie gelingen würde. Doch jeder Spaß barg Langeweile, wenn er zu oft geführt wurde und für den Moment hatte sie genug von dieser Welt und besonders von diesem Regen, der sich in diese Wälder verbissen hatte.

Doch um es zurück zu schaffen, musste sie selbst einen Übergang erschaffen. Andernfalls wäre sie für Wochen unterwegs, um die halbe Welt zu umkreisen und zu einem anderen Schleierpfad zu gelangen. Sie musste einen Riss selbst erschaffen. Zwar war der Übergang zerstört, doch war der Schleier zwischen den Welten an dieser Stelle dünner. Jedoch forderten derlei Risse mehr Energie, als sie selbst aufbringen konnte. Die Lösung genau dieses Problems befand sich einige dutzend Meter hinter ihrem Rücken und machte sich daran, ans Land zurückzukommen.

Menschen. Wenn ihnen nur bewusst wäre, wie viel magische Quellkraft noch in ihnen schlummerte, sie hätten wohl unlängst auch die Anderwelt überrannt. Es war vermutlich ein Segen, dass das magische Potential für die meisten Menschen verschüttet blieb, aber von Anderweltern mit etwas Geschick angezapft werden konnte – genau das, was Calista nun brauchte: Zusätzliche Quellkraft, um sich selbst einen kleinen Riss im Schleier zu erschaffen. Je mehr Energie, desto besser, allerdings wollte sie sich nicht mit einer Meute Menschen auseinandersetzen müssen. Daher kam es ihr mehr als gelegen, dass sie dank ihres achten Sinnes diese beiden hatte ausfindig machen können. Ihre Quellkraft war mehr als genug, konnte jedoch auch zur Gefahr werden, wenn sie, wie der Zufall es wollte, selbst damit hantieren würden. Calista musste also für alle Eventualitäten vorbereitet sein. Sie schluckte und horchte zur Sicherheit ein letztes Mal in sich selbst hinein, wo sie seit jeher ihren Quell spüren konnte, den jede Fea oder jedes Feenwesen besaß. Wie von allein kribbelte ihre Magie in ihren Fingerspitzen und würde Funken schlagen, wenn sie nicht eine Meisterin ihres Faches wäre. Unweigerlich schüttelte sie ihren Kopf. Sie war sich sicher gewesen, dass sich ihre Magie gestern noch anders angefühlt hatte. Doch das Missempfinden schien verflogen zu sein. Ihrer Erfahrung nach konnte das nur bedeuten, dass die magische Entladung ihr tatsächlich direkt in die Glieder gefahren sein musste und ihre Meridiane aufgewühlt hatte. Die Zeit brachte jedoch nicht nur Rat, sondern zum Glück auch Heilung. Mit der jetzigen Gewissheit, ihre Magie wie gewohnt in der Hinterhand zu haben, würde sie die beiden Menschen schon in Schach halten können, sollten sie zu experimentierfreudig werden.

Aber was nun? Sollte sie sie bereits hier ansprechen?

Sie wagte einen Blick um den Baumstamm herum. Alle beide schleppten sich soeben an das Ufer. Was auch immer sie vorhin bei sich getragen hatten, war nun verschwunden. Dennoch begaben sie sich auf dem Land wieder stromaufwärts. Calista runzelte die Stirn und strich sich eine helle, kinnlange Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr der Regen immer wieder vor die Augen spülte.

Nun, was blieb ihr anderes übrig, als ihnen zu folgen? Calista nutzte den Waldrand weiterhin als Deckung, während die beiden flussaufwärts gingen und zehn Minuten später nahe der Hauptstraße, die vom Wald zur Stadt führte, stehen blieben.

Irritiert neigte sie den Kopf, als der Größere wieder ins Wasser ging und seinen Begleiter am Stadtrand zurückließ. Es vergingen einige Minuten, bis sie Stimmen hörte. Doch auch wenn ihre Sinne denen der Menschen überlegen war, so war sie zu weit entfernt, als dass sie etwas verstehen könnte, und das wilde Rauschen des aus seinem Bett getretenen Flusses tat den Rest.

Nach einigen Momenten, in denen der Kleinere stur wie ein Stein am Ufer ausharrte, kam der andere zurück. Beide folgten nun der befestigten Straße und ließen die halb versunkene Menschenstädte hinter sich.

Calista presste ihre Lippen aufeinander. Es war noch keinem gut bekommen, jemand auf der Straße und bei so einem unheiligen Wetter mit einem Anliegen zu überfallen. So wollte sie es auch nicht darauf ankommen lassen. Zumal es der Höflichkeit der Seelie und ihrer Familie gebot, auch der Etikette dieser Welt zu folgen. Damit war Calistas Entscheidung gefällt: Sie würde den beiden nachgehen und konnte nur hoffen, dass sie sich tatsächlich auch in ihr Refugium zurückzogen und nicht eine Wanderschaft im Regen begannen.

Für einige Sekunden heftete ihr Blick an den beiden Gestalten, besonders an der des Größeren, bis sie zwischen Dickicht und Baumstämmen verschwanden. Erst dann gab Calista ihr Versteck auf und säuselte den vier Winden dieser Welt zu, bis sie an ihrer Hose, dem Hemd und dem ärmellosen Mantel zupften.

Mit einem hoffnungsvollen Lächeln auf den Lippen trat sie zwischen die Lüfte und wurde für jedweder Sinne unsichtbar.

 



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