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Wenn wir Vögel wären

von

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Epilog

Wir stehen am Fenster. Er hat die Hände flach gegen die Scheibe gepresst und spät zum Himmel hinauf. Vor uns dreht eine große Maschine auf dem Rollfeld. Boeing 737-900. Ich rufe die Typbezeichnung aus dem Gedächtnis ab wie eine Vokabel.

„Das ist unsers, oder?“

Seine Stimme klingt gepresst, kratzt trocken in seiner Kehle. Wir haben unser ganzes Erspartes zusammengekratzt für diesen Augenblick. Es reicht nicht für den Rückflug.

„Wenn ich ein Löwe wär“, sagt er plötzlich, den Blick zum ersten Mal seit wir die Sicherheitskontrolle passiert haben wieder auf mein Gesicht geheftet, „dann würde ich kämpfen für das, woran ich glaube.“

„Wenn wir Vögel wären“, gebe ich leise zurück, „dann wären wir frei.“

„Willst du ein Vogel oder ein Löwe sein?“

Sein Blick durchbohrt mich. Ich spüre den Schmerz in meiner Brust wie den eines gut gezielten Pfeils. Blut rauscht in meinen Ohren, verschlingt die von der hohen Decke der Halle widerhallenden Stimmen und Lautsprecherdurchsagen.

„Die Passagiere für den Flug LH4857 werden gebeten, sich beim Gate einzufinden. Ich wiederhole: Die Passagiere für den Flug LH4857 …“

Ich nehme seine Hand. Seine Finger sind kalt wie Eis und doch kann ich seine Wärme spüren. Diese Wärme, die nur er mir geben kann; diese Wärme, die nur wir miteinander teilen.

Ich kann den Abgrund sehen, der sich vor uns auftut – tief und schwarz und unergründlich – und mein Herz zieht sich zusammen. Wenn wir Vögel wären, könnten wir darüber hinweg schweben. Nichts dort unten am Boden ginge uns je wieder etwas an. Wir könnten davon fliegen, alles aufgeben, frei sein – wir könnten Feiglinge sein für den Rest unseres Lebens.

„Lass uns gehen“, höre ich mich sagen, irgendwo ganz weit entfernt. Er lächelt mich an. Sein schönstes, mildestes Lächeln. Ich kann sehen, wie die Boeing hinter der Scheibe ans Gate andockt. Die Anzeigetafel über dem Schalter springt auf „Boarding“. Wir kehren ihr den Rücken zu.

Weil wir Löwen sind, beginnt heute unser Kampf.



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