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Cursed

von

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Bonus - Ein Funken Menschlichkeit

>>Kurzes Vorwort zu diesem Kapitel: Das ist ein spontan entstandenes Bonus-Kapitel zu einem von Reels früheren Opfern. Es hat keine Story-Relevanz und spielt irgendwann nach Kapitel 25. Im Grunde genommen kann man es da fast überall einfügen.

Thematisch ist es eher bei Trauer/Schmerz einzuordnen, aber nicht zu heftig, und ist eher ein Drabble.

Es ist eine kleine Gedankenspielerei, die sich über recht lange Zeit in meinem Kopf gehalten hatte und die ich während eines Heimatbesuchs spontan auf meinem Handy getippt habe. Ich hoffe, das kleine Kapitelchen findet trotzdem ein wenig Anklang (und verkürzt vielleicht auch ein wenig die Warterei darauf, dass ich endlich mal wieder ein richtiges Kapitel zustande bringe ^^“).

Viel Spaß und liebe Grüße

Lycc «
 


 

„Wer ist das?“ Aiden betrachtete interessiert die Zeichnung, an der Reel grade arbeitete. Sie zeigte keine der Figuren, die er bereits kannte, aber Reel legte ganz offensichtlich genauso viel Liebe in die Darstellung dieser Person, wie er es auch tat, wenn er Aiden, Nathaniël oder die Zwillinge aufs Papier bannte.

„Ich hab dir doch erzählt, dass du nicht das erste Opfer bist, dass für mich etwas besonderes ist. Du bist der erste, in den ich mich verliebt habe.“ Ein flüchtiger Kuss fand seinen Weg auf Aidens Lippen. „Aber sie war die erste, die mich aus meiner Verdammung geholt hat. Die erste, die etwas besonderes für mich war und die mir am Herzen lag.“

„Erzählst du mir, wer sie war? Ihre Geschichte?“ Reel atmete einmal tief durch. Über sie zu sprechen würde ihm tiefe Stiche versetzen und alte Wunden aufreißen, immerhin war sie auch die erste gewesen, um die er seit Nathaniël geweint hatte. Aber er würde sich besser fühlen, wenn er sich Aiden anvertraute, also rückte er dicht an seinen Liebsten, legte die Zeichnung auf seinen Schoß und begann zu erzählen.
 

Reel erwachte aus seinem erzwungenen Schlaf in schwebender Dunkelheit. Wie immer, wenn er an ein neues Opfer gebunden wurde, brauchte er eine Weile um sich zu orientieren und seine Macht vollständig verwenden zu können. Also nutzte er diese Zeit immer um sich einen ersten Eindruck von der erbärmlichen Gestalt zu verschaffen, der er als nächstes einen qualvollen Tod bescheren würde.

Zu seiner ehrlichen Überraschung war die Bezeichnung „erbärmlich“ dieses Mal ausgesprochen präzise.

Ein winziger Blick in den Geist seines Opfers genügte um Reel wissen zu lassen, dass er an ein Mädchen von grade einmal fünf oder sechs Jahren gebunden war.

Die Überraschung war groß genug, dass sie selbst dem unersättlichen Rachedurst eines Dämons einen Dämpfer verpassen konnte.

Was konnte ein dermaßen junges Mädchen denn getan haben, um den grausamen Tod durch einen Rachedämon zu verdienen?
 

„Es hat geklappt! Ich habe es wirklich geschafft. Eine perfekte Beschwörung. Makellos. Fehlerfrei. Einfach meisterhaft!“ Von seinem Erfolg berauscht betrachtete der Magier das Sklavenmädchen vor ihm. Endlich hatte er eine sinnvolle Verwendung für seinen schwächlichen Bastard gefunden. Eine seiner Sklavinnen hatte ihm diese wertlose Existenz geboren und er hatte lange nach einem Nutzen dafür gesucht.

Ihre Mutter hatte das Ding genauso wenig gewollt wie der Hausherr selbst, und es zu entsorgen wäre mühsamer gewesen, als es zu behalten und vielleicht doch noch als Arbeitskraft einsetzen zu können.

Doch das vermaledeite Balg entpuppte sich als kränklich, schwach und unfähig.

Sie konnte keinen Wassereimer tragen, keine Wäsche waschen und taugte mangels Ausdauer nicht mal als Bote, aber kürzlich hatte er eine sinnvolle Verwendung für den Bastard gefunden.

Er war zwar ein Magier, aber unerfahren in der praktischen Anwendung seiner Kunst. Zu viele Dinge hatte er nur in der Theorie studieren aber nie anwenden können, und das Mädchen gab eine hervorragende Laborratte ab. Sie jammerte nicht, beschwerte sich nie, gehorchte ihm aufs Wort und weinte nahezu lautlos.

Und heute war ihm endlich die Beschwörung eines höheren Dämons zweiter Ordnung gelungen.

Ein wahrhaftiger Fluch, wie ihn auch die Mächtigen des Zirkels verwenden würden.

Das hatte er schon immer ausprobieren wollen und es war ihm tatsächlich gelungen, und als Bonus würde der Dämon sich auch noch um das Problem mit seinem unehelichen Gör kümmern. Sieg auf ganzer Linie.

Jetzt musste er das Ergebnis seines Experimentes nur noch loswerden, bevor der Dämon vollständig erwachte und möglicherweise übergriffig wurde, denn er hatte die Bestie zwar gerufen, aber bannen oder kontrollieren würde er sie nicht können – da war er sich sicher – und einen randalierenden Dämon dieser Stufe wollte niemand in seinem Anwesen wissen.

Ohne lange zu fackeln, packte er das stumme Bündel am Boden seines Labors und schliff es grob zur Tür.
 

Sie blieb stumm. Ihre Beine knallten schmerzhaft gegen jede einzelne steinerne Treppenstufe und der grobe Griff in ihrem Leibchen schnürte ihr die Luft zum Atmen ab, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Es hätte ihr nur noch mehr Schmerzen eingebracht, wenn sie sich gewehrt hätte, und die Kraft dazu fehlte ihr auch.

Sie hatte schon lange aufgegeben und interessierte sich nicht mehr wirklich für das, was mit ihr oder um sie herum geschah. Sie war wertlos, nutzlos, überflüssig, ungewollt. Niemanden kümmerte es, was mit ihr passierte, also kümmerte es auch sie selbst nicht mehr.

Der Dienstboten-Eingang zum Anwesen ihres Herren wurde geöffnet und ihr kleiner Körper schwungvoll hinaus geworfen. Mit einem lauten Krachen fiel die Tür wieder ins Schloss und verbannte sie auf die kalte Straße.

Wortlos rappelte sie sich auf und lief los. Wohin, wusste sie nicht, aber zu bleiben würde ihr nur weitere Schmerzen bringen. Wenn die Stadtwache sie in der Nähe der Villen und Anwesen fand, würde sie das Mädchen nicht nur ins Armenviertel schicken, sondern zuvor mindestens halbtot prügeln, also ging sie lieber freiwillig.
 

Sie befand sich grade in einer Seitengasse nahe des Marktes, als ein seltsamer, schwarzer Nebel um sie herum aufzog. Verwundert betrachtete sie die fremdartigen Schwaden, die sich um ihren hageren Körper wanden und sich vor ihr zur Gestalt eines jungen Mannes ausbildeten.

Rücksichtslos wurde sie von seiner Hand gegen eine der Hauswände gedrückt und das unmenschliche Gesicht des Fremden war nun ganz nah vor ihrem eignen.

Reißzähne, wie bei einem Monster aus ihren Albträumen, ragten aus dem Mund vor ihr und die Augen der dämonischen Gestalt brannten sich mit dem Feuer der Verdammten in ihre Seele.

Sie verstand nicht, was vor sich ging, und Tränen rannen ihr übers Gesicht, doch sie konnte den Blick nicht abwenden und noch immer drang kein Laut aus ihrer Kehle.
 

Reel hielt inne. Er hatte schon einige Opfer auf diese Weise begrüßt und über ihren kommenden Tod in Kenntnis gesetzt, und er hatte vor, das Ganze auch bei diesem eher ungewöhnlichen Fall so zu handhaben. Doch der Blick dieses Mädchens drang durch den Mantel seiner Rachsucht, Trauer, Verzweiflung und dämonischer Instinkte hindurch und ließ ihn innehalten.

Sie hieß ihn als ihren Todesboten willkommen.

Etlichen Opfern – Magiern wie Menschen – hatte Reel schon in die Augen gesehen und jeder von ihnen hatte die gleichen paar Ausdrücke gezeigt.

Menschen waren verstört, verängstig, völlig hilflos.

Magier waren schlimmer – sie waren fassungslos. Fassungslos über ihre eigene Machtlosigkeit, über die Erkenntnis ihr Schicksal doch nicht selbst in Händen zu halten, und fassungslos darüber, dass sie eben doch sterblich waren. Reel hasste nichts mehr, als diese Überheblichkeit. Die Annahme der Magier, sie seien höhere Wesen und daher befähigt sich über Menschen und ihr eigenes Schicksal hinwegzusetzen, ließ bei ihm alle Sicherungen durchbrennen und ihn in die typische Raserei eines Rachedämons verfallen.

Doch die erbarmungswürdige Gestalt, der Reel grade die Luft zum Atmen nahm, hatte nichts davon. Keine Überheblichkeit und keine Panik, kein Betteln, kein Flehen – nur Erschöpfung und der Wunsch nach endgültiger Ruhe.

Er konnte es nicht. Zum ersten Mal in seiner Existenz als Werkzeug der Rache brachte er es nicht übers Herz seine Aufgabe sofort zu erfüllen. Er wollte ihr einen schnellen und schmerzlosen Tod schenken, doch nicht einmal das bekam er hin.

Die Leere in ihren Augen weckte Erinnerungen an Reels Tage als Mensch und entzündeten einen Funken Menschlichkeit, dessen Existenz ihm bisher verborgen geblieben war.

Damals in der Diebesgilde hatte er diesen Blick voll Hoffnungslosigkeit häufiger in Kinderaugen gesehen als ihm lieb war, und auch ihn selbst hätte ohne die Zwillinge wohl ein ähnliches Schicksal ereilt.

Die Zwillinge – der Funken glühte heller – wie sehr er sie vermisste. Corvos Schutz und Ravens Fürsorge waren es gewesen, die ihn durch jeden Sturm in seinem Leben gebracht hatten.

Ehe Reel es sich versah, ließ er von dem Mädchen ab und ging vor ihr auf die Knie.

Er konnte es nicht. Bisher hatte er jedes seine Opfer ohne zu zögern so zeitnah und quälend wie möglich ermordet, doch dieses Kind konnte er nicht töten. Nicht weil sie ein Kind war, sondern weil sie symbolisch für einen großen Teil seines alten, menschlichen Lebens stand und diesen Teil von sich selbst konnte er einfach nicht umbringen.
 

Geschlagen besah er sich sein neues Opfer einmal genauer.

Das kleine Mädchen stand etwas ratlos vor ihm, nestelte an ihrem Leibchen und sah ihn unverwandt mit einem gewissen Ausdruck von Erwartung an. Ihre Haare waren augenscheinlich gewaltsam kurz geschnitten worden, ihre Kleidung war einfach, etwas schmutzig und viel zu dünn für diese Jahreszeit, und ihr zerbrechlicher Körper war von Schrammen, Abschürfungen und Hämatomen gezeichnet.

Instinktiv streckte Reel eine Hand aus, um ihren Kopf leicht zu drehen und so ihr Gesicht besser betrachten zu können, doch kaum bewegte sich seine Hand auf sie zu, zuckte sie und kniff die Augen zusammen wie in Erwartung einer Ohrfeige.
 

Sie bereitete sich mental auf den altbekannten Schmerz in ihrer Wange vor, doch stattdessen spürte sie etwas ihr völlig Neues - eine sanfte Berührung. Die schmalen Finger waren warm und strichen behutsam über ihr malträtiertes Gesicht. Überrascht schlug sie die Augen wieder auf. Der Fremde mit dem monströsen Äußeren hatte einen weichen Gesichtsausdruck und schenkte ihr ein kaum merkliches Lächeln. Die allesverschlingenden, roten Augen waren so schwer von Kummer, dass sie selbst Mitleid mit ihrem Todesengel bekam.

„Ist dir kalt?“ Die Stimme, die aus dem reißzahnbesetzten Mund zu ihr sprach, klang viel menschlicher als sie es erwartet hatte. Sie verspürte eine starke, instinktive Angst vor dem Dämon, doch sie fror bitterlich und hatte nichts zu verlieren, also nickte sie zaghaft.

Vorsichtig kam die schwarze Gestalt näher, legte behutsam die Arme um ihren kleinen Körper und hob sie mühelos hoch.

Sofort spürte sie seine Wärme und presste sich instinktiv enger an die Brust ihres Todesengels, dessen beängstigende Schwärze sie sicher umfing.
 

Etwas ratlos stand Reel in der Gasse und hatte nun gleich zwei Probleme, mit denen er irgendwie fertig werden musste – seine neu entfachte Menschlichkeit und das verlorene Kind auf seinem Arm.

Eine Weile wartete er in der dunklen Gasse, bis die Sonne unterging und die Straßen immer leerer wurden. Reel kannte sich in dieser Stadt nicht aus, aber im Allgemeinen waren Städte immer gleich aufgebaut und dank seiner dämonischen Augen würde er auch in der Finsternis der Nacht finden, wonach er suchte.

Verborgen vor den Blicken der Stadtbevölkerung schlich der Dämon durch die Gassen und machte endlich eine halbzerfallene, kleine Hütte ausfindig, die ihren Zwecken dienlich sein würde. Sie bot Schutz vor dem Wetter und vor fremden Augen, also war sie ausreichend.

Als er die Hütte betrat wurden zwei Schreie laut. Natürlich war Reel nicht der einzige, der diese kleine Unterkunft nutzen wollte. Zwei Männer, ganz offensichtlich Tagelöhner, starrten den Dämon mit dem schlafenden Kind auf dem Arm voll Panik und Unglaube an.

Reel ließ ein tiefes Knurren aus seiner Kehle erklingen und sein Schatten bäumte sich bedrohlich auf. Das genügte schon um die beiden aus ihrer Bleibe zu vertreiben und zu Reels Entzücken hatten sie bei der Flucht ihren spärlichen Besitz zurückgelassen. Viel gab es nicht zu holen, aber ein wenig Proviant war noch übrig. Etwas Brot, Käse und zwei Äpfel - für die Kleine würde es reichen.

Reel richtete sich in der Ecke der Hütte ein, die am geschütztesten war, und drückte das fragile Bündel in seinen Armen wärmend an sich. Sie war viel zu klein für ihr Alter, viel zu schmächtig und offensichtlich alles andere als gesund. Ihr Kopf wirkte zu groß für ihren Körper und sie war physisch unterentwickelt – ein klares Zeichen von Mangelernährungen seit frühester Kindheit.

Aber da war noch etwas anderes. Sie war völlig kraftlos, ihre Muskeln schienen nicht richtig zu arbeiten beziehungsweise sich gar nicht erst auszubilden und Reel konnte die Krankheit in ihr buchstäblich riechen. Das war einer der zweifelhaften Vorteile seiner geschärften Sinne in seiner Rolle als übernatürliches Wesen. Er wusste bereits was das Kind erwarten würde. Ihr Körpergeruch verriet es ihm.

Das kleine Leben in seinen Armen war von Anfang an verwirkt gewesen, ihre Existenz zum Scheitern verurteilt, ihre Geburt zwecklos.

Es wäre gnädig ihr mehr Leid und Kummer zu ersparen, sie nicht langsam und qualvoll von ihrer Krankheit dahinraffen zu lassen, sondern sie schnell und effektiv zu töten, während sie vertrauensvoll in seinen Armen schlief.

Ein Stich in ihre Lunge und alles wäre vorbei, doch Reel konnte es nicht. Was wenn er bei seinem nächsten Opfer erwachte und der Funken Menschlichkeit wieder erloschen war? Wenn er nach und nach die Erinnerung an sein wahres Selbst, an Corvo, Raven und Nathaniël verlor?

Er wollte nicht endgültig zu einer willen- und seelenlose Bestie werden, wie viele andere Rachedämonen es waren.

Das kleine Ding in seinem Schoß tat ihm leid, aber er würde ihr nicht den leichten Ausweg schenken können. Sie würde seinen Egoismus ertragen und noch eine Weile für ihn leiden müssen, bevor sich ihr Wunsch nach Ruhe und Frieden endlich erfüllen würde.
 

Gewissenhaft wachte Reel über den Schlaf seins kleinen Opfers, strich ihr sanft über den Rücken und rief sich selbst immer mehr Details seines alten Lebens wieder ins Gedächtnis. Es schockierte und beschämte ihn, wie viel er bereits zu vergessen begonnen hatte, aber er wollte nicht zu einer Marionette der Magier werden, die er doch eigentlich verachtete wie nichts anderes auf der Welt.

Eine kaum merkliche Bewegung auf seinem Schoß riss ihn aus seinen Gedanken. Das kleine Bündel räkelte sich verschlafen und kuschelte sich auf der Suche nach Wärme enger in Reels Oberteil.

Erst einige Minuten später würde ihr bewusst, in welcher Lage sie sich befand, und sie entfloh instinktiv Reels Schoß.

Jedes Lebewesen verspürte diese Furcht vor Dämonen, und bei Tieren und kleinen Kindern wurde sie nicht von Vernunft gedämpft, was bei dem jungen Mädchen zu einer derart heftigen Reaktion führte.

Ihre natürliche Angst schüttelte den schmächtigen Körper, doch Reel blieb ganz ruhig und wartete geduldig bis die Kleine endlich vollkommen wach und aufnahmefähig wurde.

„Schon gut. Ich weiß, du hast Angst vor mir, aber ich werd dir nicht wehtun.“ Vorsichtig bot er ihr seine Hand da und das kleine Mädchen ergriff sie zögerlich. Ihre winzigen Finger waren knöchern, schief und ein wenig kalt.

„Ich heiße Reel.“ Das Mädchen blickte ihm ausdruckslos entgegen. „Du kannst doch auch sprechen, oder?“ Sie nickte zaghaft. „Willst du mir nicht verraten, wie du heißt?“ Sie sah beschämt zur Seite, hielt aber weiterhin Reels Zeige- und Mittelfinger mit ihrer kleinen Hand umklammert. Eine Antwort bekam er trotzdem nicht. Etwas verwirrt sah Reel die unglückliche Gestalt vor sich an.

„Hast du keinen Namen?“ Niedergeschlagen schüttelte sie den Kopf und sah zu Boden.

„Na na. Kein Grund zu weinen.“ Behutsam strich er über ihre Wange und wischte eine Träne weg. „Das heißt, dass du dir einen aussuchen kannst, der dir gefällt.“ Reel bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln, doch leider vergaß er seine Reißzähne, die dabei bedrohlich aufblitzten und die Kleine verschreckt vor ihm zurückweichen ließen. Ein tiefes Seufzen erklang aus Reels Kehle.

„Tut mir leid, Kleine. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Doch das Mädchen kam nicht mehr zu ihm zurück, sondern sah ihn nur aus sicherer Distanz mit großen Augen an, also wechselte Reel das Thema. „Hier. Du hast bestimmt Hunger.“ Beschwichtigend bot er ihr den gestern erbeuteten Proviant an und das Mädchen gab ihrem leeren Magen nach und machte sich hungrig darüber her.

Reel beobachtete sie dabei und als sie seinen Blick bemerkte, hielt sie ihm unsicher einen der beiden Äpfel hin. Reel musste unwillkürlich schmunzeln.

„Nein Danke, Kleine. Iss du ruhig. Ich brauche nichts.“ Schon wieder blitzten seine Reißzähne bei seinem Lächeln auf und ließen das Mädchen zusammenzucken. „Tut mir leid.“ Schnell schloss Reel wieder seine Lippen und verbarg sein gefährliches Raubtiergebiss. „Wie wär’s wenn wir bei dem Thema mit deinem Namen weiter machen? Gibt es einen, den du gerne hättest?“ Sie sah ihn ratlos an und zeigte dann zaghaft auf ihn.

„Ich? Soll ich einen aussuchen?“ Vorsichtiges Nicken. Sie hatte sich immer einen eigenen Namen gewünscht und zwar einen, den jemand anderes ihr gegeben hat. Denn nur dann, hatte er auch Gewicht und war von Bedeutung. Der Mann mit den roten Augen sah sie nachdenklich an. Er nahm die Aufgabe, sie zu benennen, nicht auf die leichte Schulter, sondern dachte gründlich über seine Entscheidung nach.

„Wie wäre es mit Enja? Das bedeutet ‚Feuer und Flamme‘ -“ Er besah sich das hagere, schwache, kleine Mädchen. „- wobei in deinem Fall wohl ‚Funke‘ zutreffender ist.“ Ihre Augen begannen regelrecht zu leuchten. Alle Müdigkeit und aller Kummer verschwand für einen winzigen Augenblick aus ihrem Gesicht.

Enja - ihr eigener Name und er hatte sogar eine Bedeutung.

Ihre kindliche Begeisterung überwog die instinktive Angst vor dem Dämon und ließ sie zu ihm rennen. Freudestrahlend fiel sie ihm um den Hals und Reel erstarrte für einen Moment vor Überraschung.

„Schon okay, kleine Enja.“ Sanft schloss er sie in die Arme und streichelte ihren Rücken. „ Freut mich, dass er dir so gut gefällt.“

Es fühlte sich gut an, nach so langer Zeit einmal wieder Nähe zuzulassen, und das arme Mädchen schien ebenfalls etwas Fürsorge und Zuwendung nötig zu haben. Also tätschelte er ihr bereitwillig den Kopf und hielt sie im Arm, bis ein plötzlicher Hustenanfall den zierlichen Körper schüttelte.

Schnell setzte er sie auf seinem Knie ab, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Das Mädchen schnappte mit hochrotem Kopf nach Luft und atmete dann einige male tief durch, dann schien es ihr urplötzlich wieder besser zu gehen.

Sorgenvoll betrachtete Reel seinen Schützling.

„Hast du das öfter?“ Sie nickte und rieb sich leicht das Brustbein. „Lass mich mal sehen.“ Vorsichtig platzierte Reel seine Hand an genau der Stelle, an der Enja Schmerzen zu haben schien, und spürte einen schwachen Herzschlag und flachen Atem.

„Hm... tut es sehr weh?“ Sie schüttelte den Kopf und umfasste Reels Handgelenk mit beiden Händen.

„Keine Angst. Ich lass dich nicht alleine.“ Reel hielt seine Lippen dieses Mal geschlossen während er sie anlächelte. „Ich werde ab jetzt bis zu deinem Tod immer an deiner Seite sein. Das kann ich dir versprechen.“ Dass diese Zeitspanne nicht so lang sein würde, wie sie im ersten Moment klang, musste er ihr ja nicht gleich auf die Nase binden.

Tatsächlich schien sie seine Worte als tröstlich zu empfinden, ließ sein Handgelenk los und streckte ihre Arme zaghaft in seine Richtung. Bereitwillig hob er sie wieder von seinem Knie und schloss die kleine Enja in seine Arme.

Sie war so ein liebes Mädchen und war nur deshalb mit einem Rachedämon verflucht worden, weil der selbstgefällig Magier, der sie gezeugt und die Gewalt über sie hatte, ausprobieren wollte, ob er dazu in der Lage war. Enja hatte nie etwas verbrochen und sich nichts zu Schulden kommen lassen, und dennoch litt sie ähnlich wie Reel unter den Allmachtsfantasien und der Arroganz der Magier. Reel würde nicht auch noch tun, was Enjas Peiniger von ihm wollte und sie töten. Er würde sie am Leben lassen und über die wachen so gut es ging - aus Protest. Zumindest redete er sich das ein. Protest. Es war nur sein Protest. Es hatte nichts damit zu tun, dass Enja ihn an sich selbst und an sein verlorenes Leben erinnerte. Es war kein Mitleid, dass er für sie empfand, nein es war purer Egoismus. Er wollte nur seine Erinnerungen behalten und dem Beschwörer eins auswischen. Mehr war da nicht. Ganz sicher. Und auch sein Wunsch nach Nähe und Zuneigung hatte hiermit überhaupt nichts zu tun.

Wenn er sich das Ganze nur überzeugend genug einredete, glaube er es sich vielleicht irgendwann selbst.
 

Haltsuchend klammerte sich das kleine Mädchen an ihrem Todesengel fest. Er war der erste, der ihr jemals Zuneigung gezeigt hatte, und er hatte ihr einen Namen gegeben, also würde sie ihm vertrauen, auch wenn alles in ihr danach schrie, sich von dem beängstigenden Mann mit den berennend roten Augen und den raubtierhaften Zähnen fernzuhalten. Sie überwand diese Angst und hielt sich entschlossen in ihm fest. Er war gut zu ihr, also wollte sie sich nicht vor ihm fürchten.

Reel hatte ein gewisses Maß an Erfahrung im Umgang mit Kindern wie Enja. In ihrer Gilde hatte er einige von ihrem Schlag erlebt, und nur die wenigstens hatten sich lange halten können. Kinder wie sie waren zu schwach um in einer Gruppe aus Dieben, Kleinkriminellen und Mördern allein zu bestehen, aber Enja war nicht allein. Reel hatte jetzt keine andere Aufgabe mehr, als über sie zu wachen. Er musste sich nicht um sein eigenes Überleben oder das Bestehen einer Gilde kümmern, sondern nur um dieses eine kleine Mädchen auf seinem Arm. Er musste sie nicht zur Selbstständigkeit erziehen oder sie irgendetwas lehren, er würde nur ihr Beschützer sein. Das sollte er als übernatürliches und fast unsterbliches Wesen ja wohl hinbekommen.

„Hör mal, Enja. Die Sonne geht bald auf und dann kann ich nicht mehr draußen rumlaufen. Mich darf niemand sehen, verstehst du?“ Sie löste ihre Arme von Reel und lehnte sich leicht zurück um ihn ansehen zu können. „Aber ich lass dich nicht alleine, keine Angst. Ich zeig dir mal, wie es aussieht und wie es sich anfühlt, wenn ich mich verberge. Dank immer dran, ich bin da. Auch wenn du mich nicht siehst, okay?“ Sie nickte etwas verständnislos und Reel stellte sie vorsichtig neben sich auf dem Boden ab. „Gerate jetzt nicht in Panik.“ Seine Hand legte sich sanft an ihre Wange und er begann sich aufzulösen. Enjas Augen weiteten sich. Ihr Engel verschwand vor ihren Augen, der schwarze Rauch umschwebte sie erneut und löste unbändige Angst in ihr aus. Sie war plötzlich mutterseelenallein in der Dunkelheit der windschiefen Hütte und Panik übermannte sich. Das kleine Mädchen brach in Tränen aus und weinte so bitterlich, dass Reel sich sofort wieder von ihrem zierlichen Körper löste und vor ihr erschien. „Ist ja gut. Ich bin doch da.“ Beschwichtigend nahm er sie wieder auf den Arm und drückte sie an sich. Der kleine Körper zitterte und ihr unregelmäßiges Schluchzen löste einen weiteren kurzen Hustenanfall aus.

Als sie diesen überwunden hatte, setzte Reel sie wieder auf seinem Schoß ab und sah sie sorgenvoll an. „Okay, das lassen wir in Zukunft wohl besser.“ Die kleinen Finger krallten sich verbissen in den Stoff seines schwarzen Oberteils und ihre verweinten Augen blickten flehend zu ihm hoch. „Schon gut. Ich mach das nicht nochmal.“
 

„Also blieb ich immer in meiner physischen Gestalt und an ihrer Seite. So könnten wir uns zwar nur nachts durch die Stadt bewegen, aber ihr schien das relativ egal zu sein. Sie schlief eh die meiste Zeit oder ließ sich von mir tragen.

Ihr Zustand verschlechterte sich zunehmend. Der Winter rückte näher und ihre Atmung wurde immer schwächer. Bald würde entweder ihr Herz einfach aufhören zu schlagen oder ihre Lunge keine Luft mehr einziehen. Ich wusste, dass ihre Zeit bald kommen würde und Ich glaube, Enja wusste das auch. Sie konnte es genauso deutlich spüren wie ich, vielleicht sogar noch deutlicher.“
 

„Reel?“

„Ja, Enja?“

„Danke.“ Das kränkelnde Mädchen vergrub ihr Gesicht an der Schulter ihres Todesengels. Zu viel mehr war ihr Körper inzwischen nicht mehr in der Lage. Allein laufen konnte sie schon seit Tagen nicht mehr und auch ihre Arme hatten seit gestern den Dienst fast vollkommen eingestellt. Selbst das Sprechen war zu einer Herausforderung für sie geworden, sodass sie nur unter Anstrengung ein vages Flüstern hervorbrachte. Und dabei hatte sie doch erst vor Kurzem ihre Stimme wiedergefunden. Reel sprach so viel mit ihr, dass sie sich irgendwann endlich traute ihm zu antworten. Von ihrem Herren war sie für jeden Laut geschlagen worden, also hatte sie sich stets in Schweigen gehüllt, aber Reel freute sich über jedes Wort von ihr.

„Du solltest mir nicht danken.“

„Aber du bis immer lieb zu mir.“ Reel seufzte schwer und tätschelte seinem kleinen Schützling den Rücken.

„Nein. Nein, bin ich nicht. Ich bin egoistisch.“ Sie sah ihn fragend an. „Das bedeutet, dass ich immer nur das tue, was ich will und was für mich selbst am besten ist. Egal wie sehr ich anderen dabei wehtue.“

„Aber du tust mir doch nie weh.“ Wie auf Stichwort blieb ihr plötzlich die Luft weg und sie musste heftig husten um ihre Lungen wieder zur Arbeit anzuregen.

„Doch, tue ich“, beharrte Reel mit leiser Stimme und streichelte ihr beruhigend den Kopf.

„Dann ist es mir egal. Ich hab dich lieb, also ist es egal wenn du das machst.“ Geschlagen vergrub Reel sein Gesicht in ihrem wirren Haarschopf. Er spürte, wie die Tränen in ihm aufstiegen, doch er wollte auf keinen Fall, dass Enja ihn weinen sah. Er durfte sie seine Schwäche nicht sehen lassen.

Er verzichtete auch darauf ihr einen Vortrag darüber zu halten, dass auch jemand den man liebte einen nicht verletzen durfte. Für die Kleine würde diese Regel eh keine Anwendung mehr finden.

Stattdessen drückte er sie nur eng an sich und flüsterte ihr leise zu: „Ich hab dich auch lieb, mein kleiner Funke.“

Reel konnte Magier der obersten Ränge töten, er konnte Seelen verschlingen, den Geist seiner Opfer verzehren, sie in den Wahnsinn und den Selbstmord treiben, aber ein kleines, einsames Mädchen beschützen konnte er nicht. Er war eben doch nur ein Werkzeug der Rache und dieser Funken Menschlichkeit brachte ihm nichts als Kummer.

Er hatte sein menschliches Herz an dieses Kind gehängt – wohlwissend, dass sie den Frühling nicht mehr erleben würde. Er hätte das niemals zulassen dürfen. Sie war damals bereit gewesen zu sterben, doch jetzt klammerte sie sich an ihn und ihr erbarmungswürdiges Leben. Er hatte es für sie beide unnötig schwer gemacht mit seiner impulsiven Entscheidung und nun mussten sowohl das Kind als auch er selbst die Konsequenzen dafür tragen.

„Versuch ein bisschen zu schlafen. Ich pass´ auf dich auf, Enja.“ Sanft berührte er ihren Haaransatz mit den Lippen und streichelte ihren Rücken, während ihre Lider schwer wurden und sie an seiner Brust in einen ruhigen Schlaf sank.

Auch Reel spürte die Erschöpfung, die ihn schon seit Tagen plagte, deutlich in seinem Körper und seine Augen fielen gegen seinen Willen zu.
 

„Enja starb in dieser Nacht. Ich weiß nicht ob ihr Herz stoppte oder ihre Lunge versagte. Ich weiß nur, dass sie in meinen Armen starb, während ich schlief. Seitdem habe ich mein menschliches Herz und die Erinnerungen an mein altes Leben behalten.

Meistens hab ich es verflucht. Dämonen sind nicht dafür geschaffen Menschlichkeit zu besitzen. Die Gefühlswelten laufen konträr, manchmal triggert das Gewissen und oft genug wird man nahezu zerrissen zwischen menschlichen Gefühlen und dämonischen Gelüsten. Ich habe lange gebraucht um beides halbwegs in Einklang zu bringen und Kontrolle habe ich bis heute weder über das eine noch das andere.

Diese Zweischneidigkeit unterscheidet mich von vielen anderen Dämonen meiner Art und nur deshalb bin ich nach so langer Zeit immer noch ich – wenn auch verändert. Alles nur, wegen eines winzig kleinen, schwachen Funkens.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MarryDeLioncourt
2021-05-13T08:13:59+00:00 13.05.2021 10:13
Dämon hin oder her, wer so viel Liebe zeigt, kann doch gar nicht so böse sein. Ich hoffe, es geht bald weiter 🥰


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