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Omniscient

YuKa
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich wollte eigentlich erst morgen was hochladen, aber ich hab dieses Kapitel jetzt so oft gelesen, wenn noch Fehler drin sind, sehe ich sie sowieso nicht mehr. Auf den letzten Drücker habe ich auch hier noch ein paar kleine Szenen hinzugefügt. Vielleicht funktioniert es ja. Ich habe jetzt so viele Metagespräche über Beybattles und Streit geführt, und dieses Kapitel hat beides, da steht mir natürlich ein bisschen der Angstschweiß auf der Stirn ;D Also viel Spaß! Komplett anzeigen

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Rom

Baihuzu vs. Barthez Soldiers

BBA Revolution vs. Neo Borg

PPB All Starz vs. F Sangre
 

„Es ist heiß”, stellte Boris fest. Er zupfte an seinem T-Shirt, um es von seiner Haut zu lösen und drehte sich um. „Yuriy, es ist heiß!” Kai nutzte diesen Moment, um Falborg aus dem Stadium zu kicken, worauf Boris einen wütenden Ruf ausstieß. Kai verzog keine Miene, als er Dranzer mit einer Hand auffing, doch insgeheim pflichtete er seinem Teamkollegen bei. Unter seiner Jacke liefen ihm kleine Schweißbäche den Rücken hinunter. Er hatte sich eingeredet, sein weißer Schal würde ihn vor der Sonne schützen, doch im Moment war er einfach nur schwer, die beiden Enden hingen schlaff herab, denn es wehte kein Lüftchen. Und Suzaku machte es nicht gerade besser.

Yuriy schien Boris’ Beschwerde gar nicht gehört zu haben. Sergeij und er trugen noch immer ihr Match aus, und obwohl Sergeij ebenfalls schweißgebadet war, schien ihr Teamchef nicht im Geringsten auf die Temperaturen zu reagieren. Seelenruhig bereitete er seine letzte Attacke vor und schlug Seaborg schließlich mit einem eleganten Schlenker. „Na endlich!”, kommentierte Boris. Yuriy sah erst Sergeij an und dann auf sie hinab, wie sie zerzaust und staubig von drei Stunden Training vor ihm standen. „Okay. Weiter mit Einzelübungen”, sagte er. Boris stöhnte. „Dein Ernst?”

„Es macht keinen Sinn, bei der Hitze weiterzutrainieren”, kam ihm Sergeij zu Hilfe. Yuriy wirkte irritiert. Er musterte die anderen beiden noch immer und blinzelte dabei sehr langsam. Boris und Sergeij wurde sichtlich unbehaglich unter diesem Blick. Yuriy war nicht an Widerworte gewöhnt, ging Kai auf, der sich in dieser Situation sehr an die Bladebreakers zurückerinnert fühlte. Er beobachtete die Szene, wartete ab, was der Rothaarige tun würde.

„Sagt mir, warum ich euch nicht sofort drei Runden ums Stadion laufen lassen sollte”, sagte Yuriy schließlich. Während Sergeij zwar verzweifelt, aber auch sich seinem Schicksal ergebend wirkte, entfachten diese Worte bei Boris Aggression. „Willst du uns umbringen?”, rief er, „Du weißt genau, dass wir strapazierfähig sind, aber das hier ist Wahnsinn! Es gibt hier nirgends Schatten und das Wasser ist schon seit zwei Stunden leer!” Rom war nicht gut ausgestattet mit Beyblade-Hallen, und so hatten sie mit einem freien, asphaltierten Platz Vorlieb nehmen müssen. Die Blades kochten beinahe in den Bowls.

„Kai hält sich noch gut.” Sofort wandten sich alle zu ihm um. Boris starrte ihn an, seine Miene sagte deutlich, dass er ihm etwas brechen würde, wenn er jetzt etwas Falsches sagte. Andererseits sah Kai nicht ein, ausgerechnet vor Boris Schwäche zu zeigen. Also schwieg er.

Sergeij hob ergeben die Hände. „Drei Runden, ja? Ich fang an.” Als er die ersten Schritte machte, schaffte er es jedoch kaum, die Fußsohlen vom Boden zu lösen. Es schien unmöglich, dass er innerhalb der nächsten Minuten in den Laufschritt fallen würde. Yuriy sah ihm nach und ächzte schließlich frustriert. „Oh, na schön. Wir können heute Abend weitermachen.”

Von Boris kam ein erleichtertes Seufzen. Er drehte sich auf dem Absatz um und Sergeij folgte ihm mit schlurfenden Schritten. Auch Kai war versucht, zurück zu gehen. Wenn er Glück hatte, gab es irgendwo in einer klimatisierten Halle noch eine kleine Arena für ihn. Wobei er, wenn er wirklich ehrlich zu sich war, zu einer kleinen Pause auch nicht nein gesagt hätte. Yuriy allerdings wirkte, als wolle er eine neue Runde starten, ob er nun einen Gegner hatte oder nicht. Er steckte Wolborg wieder in den Shooter und machte sich bereit. Kai hob eine Augenbraue.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?”

„Bist du etwa weich geworden, Hiwatari?”

„Hm. Wenn du morgen einen Sonnenstich hast…” Er ließ den Satz unvollendet. Yuriy verdrehte die Augen und startete seinen Blade. Kai konnte nicht umhin, von dieser Verbissenheit beeindruckt zu sein. Die Bladebreakers hatte er immer regelrecht zum Training schleifen müssen, erst recht bei Wetterlagen wie diesen. Und nun knickte er vor Yuriy ein. Was trieb ihn bloß dermaßen an? Selbst die Peiniger der Abtei hatten irgendwann eingesehen, dass es nichts nützte, wenn sie ihre besten Blader noch vor den Turnieren kaputt trainierten. Yuriy müsste es also besser wissen.

Kai räusperte sich, um die Aufmerksamkeit seines Leaders wieder auf sich zu ziehen. Widerwillig blickte der ihn an.

„Du wirst noch umfallen, wenn du so weitermachst. Und dann bist du zu nichts mehr zu gebrauchen.”

„Dann schlag was besseres vor.”

Kai verschränkte die Arme. „Wir könnten uns die Stadt ansehen.”

„Bitte was?”

„Jetzt sieh mich nicht so an. Ich dachte, du willst mal was anderes als Russland sehen? Arenen hast du überall.” Und irgendwie ließ sich Yuriy dann breitschlagen. Vielleicht war er insgeheim doch erschöpft.
 

Sie gingen in ihr Hotelzimmer, um sich umzuziehen. Im Bad zog Kai die nasse Bladerkleidung aus, um sie gegen ein normaleres Outfit zu tauschen: Helle Jeans und ein schwarzes Shirt. Das war zwar nicht so viel besser in der Hitze, doch es mangelte ihm an Alternativen. Er sah in den Spiegel und fuhr sich kurz durchs Haar. Es war lang geworden seit er Japan verlassen hatte.

Auch Yuriy hatte sich umgezogen. Er trug nun ebenfalls Jeans und ein locker sitzendes Shirt, darüber, ja, trotz der Hitze, eine graue Jacke, deren Ärmel er gerade bis zu den Ellenbogen umkrempelte. Kai, dem nun endlich bewusst wurde, warum der andere nur sehr selten wirklich sommerlich gekleidet war, deutete darauf. „Lass mich raten – Wolborg?” Anstatt zu antworten hielt Yuriy ihm die Hand hin. Kai verzog ungläubig den Mund. Er war davon ausgegangen, dass Yuriy eine ähnliche Abneigung gegen Berührungen hatte wie er. Dennoch war ihm bereits zuvor aufgefallen, dass dies sich geändert zu haben schien. Allein wie er ihn in Irkutsk eher mit der Hand als mit Worten aufgehalten hatte, war ein gewaltiger Unterschied zu ihrer ersten Meisterschaft, als Volkov noch da gewesen war. Und heute Morgen, als sie zu Beginn des Trainings nebeneinander gestanden hatten und Kai mit Dranzer einen Parcours in Angriff nahm, um sich warmzuspielen – hatte Yuriy, genau in dem Moment, da Kai starten wollte, kurz aber bestimmt nach seinem Ellbogen gegriffen und diesen ein Stück nach oben geschoben. Noch bevor Kai überhaupt reagieren konnte, zischte Dranzer vom Starter und durchquerte den Parcours in engeren Kurven als sonst, wodurch er wesentlich schneller war. Also hatte Kai sich einen bösen Kommentar verkniffen und lediglich eine Augenbraue gehoben, woraufhin er neben sich Yuriys leises, spöttisches Lachen hörte.

Nun griff er nach der Hand des anderen, und tatsächlich waren dessen Finger kühl und trocken. Die Temperaturen draußen konnte ihm anscheinend nichts anhaben. Kein Wunder, dass er nicht bemerkt hatte, wie überhitzt Boris, Sergeij und Kai gewesen waren.

„Praktisch”, urteilte Kai und ließ schnell wieder los, „Dann hättest du wohl doch noch weitermachen können.” „Oh, ich hebe mir lieber etwas Energie auf, um euch später noch mal in den Hintern zu treten.”

Kai verdrehte die Augen und wandte sich ab, um nach seinem Geldbeutel zu suchen, den er irgendwo zwischen seine Sachen geworfen hatte. Tatsächlich musste er eine Weile wühlen, bevor er ihn am Boden seiner Reisetasche fand. Er stopfte ihn in die hintere Tasche seiner Jeans und sah sich suchend nach der Schlüsselkarte für ihr Zimmer um.

„Verdrehst du eigentlich vielen Kerlen den Kopf?” Die Worte trafen ihn unvermittelt, sodass Kai seine Überraschung nicht ganz verbergen konnte, als er den Blick wieder auf Yuriy richtete. Der stand bereits wartend an der Tür, in der Hand hielt er beide Schlüsselkarten.

„Was soll die Frage?”, sagte er. Yuriy hob die Schultern. „Bin nur neugierig.” Seine Augen brannten sich in Kai und natürlich konnte er ihn nicht einfach anschweigen, wie er es mit anderen Menschen tat. Aber was erwartete er sich von der Antwort?

„Mein Gott, dann halt nicht”, sagte Yuriy da und öffnete die Tür, um nach draußen zu gehen. Kai hob eine Augenbraue und folgte ihm. Es war ein seltsames Schweigen, das daraufhin zwischen ihnen stand. Es hielt an, bis sie sich im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten befanden. Dort verschränkte er die Arme und sagte schließlich: „Ich kann mich nicht beklagen.” Yuriy hob den Kopf und sah ihn verständnislos an.

„Kerle, meine ich.”

„So so.”

„Was soll das denn jetzt heißen?”

„Hmmm.”

„Hey, du hast doch gefragt!” Der Fahrstuhl gab ein kurzes Klingeln von sich, als sie im Erdgeschoss ankamen, dann öffneten sich die Türen. Ihr Schlagabtausch ging weiter, während sie durch die Eingangshalle liefen. Kai war nur halb so entrüstet, wie er tat. Aber er konnte Yuriys Grinsen einfach nicht ignorieren. „Verurteilst du mich jetzt oder was?”, fragte er.

„Ich denke mir meinen Teil”, entgegnete Yuriy.

„Einen Scheiß denkst du dir, Ivanov, es geht dich nichts an, wen ich date.”

„Du lässt dich aber leicht provozieren.”

„Oooh, das hier werte ich noch lange nicht als Provokation, keine Sorge.”

„Okay.”

„Okay!”
 

Kais letzter Besuch in Rom war schon so lange her, dass er sich kaum noch an etwas erinnern konnte, außer vielleicht an Giancarlos Kampf gegen Takao. Und Yuriy schien gar nicht zu wissen, was er anfangen sollte, jetzt, wo er sich an einem Ort befand, der so viele Sehenswürdigkeiten bot. Wären sie allein unterwegs gewesen hätten sie wahrscheinlich jeder für sich wahllos einen Weg eingeschlagen und schon irgendwann etwas gefunden, was sie interessierte. Doch nun wussten sie wohl beide nicht recht, was sie mit der Gesellschaft des jeweils anderen anfangen sollten. Etwas unschlüssig standen sie daher vor dem Portal des Hotels, bis Kai sich einen Ruck gab. „Also… Antike oder Renaissance?”

„Uh...sieht das nicht alles gleich aus?”

„Bitte? Was haben sie euch in der Schule beigebracht?”

Yuriy verdrehte die Augen. „Ich hatte ein paar andere Probleme in letzter Zeit.”

„Pah, beskulturny tschelowek!”, sagte Kai betont hochnäsig und fing sich einen amüsierten Seitenblick von seinem Teamchef ein. In diesem Moment erinnerte er sich an etwas. „Oh, ich weiß, wo wir hingehen. Das wird dir gefallen.” Ohne eine Antwort abzuwarten setzte er sich in Bewegung. In der Hotellobby hatte er sich geistesgegenwärtig einen Plan der Innenstadt eingesteckt, den er nun entfaltete. Ihr Ziel lag in nördlicher Richtung, war fußläufig aber gut erreichbar. Er drehte sich nicht um, sondern verließ sich darauf, dass Yuriy ihm folgte. Und tatsächlich schloss der andere einen Augenblick später zu ihm auf.

Sie fanden ein Café, in dem sie günstigen Espresso bekamen (und spätestens dieser lenkte Yuriy gänzlich vom Wunsch, einfach weiter zu trainieren, ab; italienischer Kaffee war um Längen besser als alles, was er bisher getrunken hatte). Dann schlenderten sie weiter durch die Nebengassen, machten ab und zu halt, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte – und in Rom gab es viel zu sehen. Auf einer kleinen Piazza entdeckten sie Team Baihuzu, die auf Stühlen unter einem Schirm saßen und sie neugierig beobachteten, während sie in großen Eisbechern stocherten. Kai tat, als bemerkte er ihre Blicke nicht, doch Yuiry erwiderte sie gereizt. „Ich frage mich wirklich, was so komisch an uns ist“, sagte er, als sie an einem Kiosk hielten, der billige Souvenirs führte. Kai drehte desinteressiert das Gestell mit den Sonnenbrillen, bevor er eine nahm und aufsetzte. „Du benimmst dich normal“, sagte er und betrachtete sich kurz in dem zerkratzten Spiegel, der an der Wand hing, „Im Gegensatz zum letzten Mal.“ Dann nahm er die Brille wieder ab. Yuriy griff dazwischen, als er sie wieder zurücklegen wollte und setzte sie nun seinerseits auf. „Und?“

„Besser als bei mir“, meinte Kai, „Oh, du hast schon Sonnenbrand auf der Nase.“

Etwas zwischen ihnen war anders geworden, seit sie ihren Konflikt in Irkutsk begraben hatten. Sie gingen respektvoller miteinander um und es war für Kai beinahe unheimlich, wie schnell er sich in Team Neo Borg eingefunden hatte. Wie nicht anders von Abteijungen zu erwarten, arbeiteten sie alle vier effizient zusammen. Doch er wollte glauben, dass nicht allein ihre Erziehung der Grund dafür war. Yuriy, das konnte er inzwischen sagen, war ein guter Teamcaptain. Er fragte nicht, wohin Kai ging, wenn er ab und an für ein paar Stunden verschwand; im Gegenzug hielt Kai sich an die wenigen Regeln, die Yuriy aufstellte.

Außerdem hatte sich das ehemalige Team Borg verändert. Es war unverkennbar, dass ihnen das Leben ohne Volkov gut bekam. Vor allem Boris wirkte viel lockerer und sprach deutlich mehr als noch vor zwei Jahren. Das war auch der Grund, warum Kai und er so oft aneinander gerieten, denn Boris konnte oder wollte sich einfach keine Gelegenheit für eine Stichelei entgehen lassen. Sergeij hingegen war so schweigsam wie immer, jedoch war seine aggressive Ausstrahlung und mit ihr das permanente Knöchelknacken verschwunden, das früher jeder Person in seiner unmittelbaren Umgebung Angst und Bange werden ließ.

Yuriys Veränderung war nicht zu übersehen und doch schwer zu beschreiben. In manchen Momenten herrschte ein Vertrauen zwischen ihnen, das Kai sich nicht erklären konnte. Trotzdem gab es noch immer eine Grenze, vor der er Respekt hatte. Sowohl ihre Kindheit als auch Yuriys Wissen über Volkov lagen dahinter.

Je länger sie durch die engen Gassen liefen, wo es wesentlich kühler war als auf dem Platz am Vormittag und still trotz der Touristenströme auf den Hauptwegen, desto mehr konnte Yuriy sich für die fremde Stadt begeistern. Und Kai spürte einen zufriedenen Stolz in sich wachsen, schließlich war dies auch sein Verdienst. Wahrscheinlich hatten sich die Bladebreakers genauso gefühlt, als er sich auf ihren ersten Reisen immer weniger von ihnen abgekapselt hatte. Bisher hatte er nie verstanden, warum sie sich ständig hatten beglückwünschen müssen, wenn sie ihn zu irgendeiner wilden Aktion überreden konnten.

Manchmal war es schwer für Kai, den Blick von seinem Teamchef abzuwenden. Als sie ein Buchantiquariat fanden und Yuriy die Hand ausstreckte, um einen Bildband aus einem Karton vor dem Schaufenster zu ziehen und in ihm zu blättern, bemerkte er feine Sommersprossen auf seinem Unterarm. An einigen stellen war die Haut gerötet, und an seinem Handgelenk zeichnete sich eine Vene ab. Yuriy schlug das Buch zu und lächelte ihn kurz an. „Sollen wir weitergehen?”

Gott, dieses Lächeln.
 

Sie mussten nur um zwei weitere Ecken gehen, dann standen sie vor einer Kirche. Yuriy blickte am Portal hinauf und hob eine Augenbraue. „Das ist...unauffällig.”

„Das ist Santa Maria Immacolata a Via Veneto”, erklärte Kai, zum Glück ohne sich zu verhaspeln, und winkte ihn weiter zum Museum, das sich in einem Nebengebäude befand. Yuriy hatte wohl die Neugier gepackt, denn er folgte ihm kommentarlos und legte bereitwillig mit ihm zusammen, damit sie genug Geld für zwei Eintrittskarten hatten. Erst als sie schon durch die Ausstellung gingen schien ihm zu dämmern, was das Besondere an diesem Ort war. „Warte”, sagte er irgendwann, „Verstehe ich das richtig? Die haben hier eine Krypta voller Knochen?”

„Jepp”, entgegnete Kai, „Und es sind sogar so viele Knochen, dass sie Kunstwerke daraus gemacht haben.”

„Ooh.” Der Gesichtsausdruck seines Begleiters wurde sofort etwas wacher. Kai grinste. „Ich wusste doch, du bist genauso morbide veranlagt wie ich.”

„Das sollte nun wirklich keine Überraschung sein.”

Kurze Zeit später spähten sie in das Beinhaus hinein, das mehrere Räume umfasste, in denen sich ergraute Knochen zu kaleidoskopartigen Mustern zusammenfügten. In einigen Ecken lagen und standen vollständige Skelette in Kapuzinerkutten und in den Boden waren kleine Kreuze gerammt. Selbst an der Decke war ein Skelett angebracht, das, eine Knochensense in der Hand, auf sie herabglotzte. Der ganze Ort ein einziges Memento Mori.

Eine Weile lang standen sie schweigend nebeneinander, dann wandte Kai vorsichtig den Kopf, um unbemerkt Yuriys Reaktion sehen zu können. Sein Begleiter musterte die Schädelsäulen, die um sie herum aufragten, in seinem Gesicht stand nichts als ungeteilte Faszination. Wieder war Kai auf eine ziemlich lächerliche Weise zufrieden mit sich selbst.

„Erinnerst du dich an die Krypta in der Abteikirche?” Dieser Satz riss ihn aus seinen Gedanken, doch Yuriy hatte sich beim Sprechen nicht von den Schädeln abgewendet. Kai dachte nach. Vor zwei Jahren hatte er mit dem Black Dranzer in einer unterirdischen Halle trainiert, die voller Säulen war. War es das, was Yuriy meinte? „Ja. Denke schon”, sagte er vorsichtig.

„Auch an die Mutprobe?”

„Mutprobe? – Moment.” Er konnte nun nicht anders als Yuriy anzustarren, während sich einige Puzzleteile seiner Vergangenheit mit einem Mal zusammenfügten. Die Säulenhalle, erleuchtet von Black Dranzers unheilvollem Glühen, wurde ersetzt von einem anderen Raum, ähnlich, aber nicht derselbe. Und das Licht war anders. Diese Szene kannte er, doch er hatte sie nie einzuordnen vermocht. „Ich habe eine Kerze gehalten”, sagte er langsam, „An der Wand waren Malereien. Golden. Sie haben geglänzt. Und ich…” Seine Worte verloren sich. Irgendetwas hatte ihm Angst gemacht in diesem Raum. Er runzelte die Stirn, dann traf ihn die Erkenntnis: „Ihr Arschlöcher habt mich dort eingeschlossen!”

„Zusammen mit dem Sarg des alten Abtes Wassili Wassiljewitsch. Und irgendwann hast du uns angebettelt, dass wir dich wieder herauslassen.” Yuriy grinste ihn an.

„Wessen gottverdammte Idee war das? Warte, sag nichts, es war entweder Boris oder Ivan, dieses kleine Stück Dreck…” Mit diesen Worten überspielte Kai das Lachen, das ihm in der Kehle lag. Jahrelang hatte ihm das Bild von der Krypta ein unbestimmbares Unbehagen bereitet – dabei war es nur ein banaler Kinderstreich gewesen!

„Oh nein”, entgegnete Yuriy, „Das war allein meine Idee.” Kai blieb der Mund ein Stück weit offen. Sein Gegenüber hingegen wirkte ziemlich zufrieden mit sich. „Hätte trotzdem nicht gedacht, dass du das noch weißt.”

Er entschied, sich nicht die Blöße zu geben und zuzugeben, dass Yuriy mit seinem tollen Einfall ein mittelschweres Kindheitstrauma verursacht hatte. Soweit er es rekonstruieren konnte, musste er sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Noch Jahre später, in Japan, hatte er manchmal Alpträume von mumifizierten Leichen, die aus steinernen Sarkophagen stiegen, gehabt. „Ich erinnere mich an so einiges”, sagte er und versuchte, möglichst neutral zu klingen, „Nur weiß ich bei Vielem nicht, wann genau es passiert ist. Oder in welcher Reihenfolge.”

Yuriy nickte nur und ließ dann wieder den Blick wandern. Sie hatten nun schon einige Zeit inmitten der Knochen verbracht, doch immer wenn Kai wieder genauer hinsah, stach ihm ein neues Detail ins Auge. Die Schädel, die zunächst wie aus einem Guss wirkten, unterschieden sich doch sehr voneinander. Man war versucht, sich die Menschen vorzustellen, die sie einmal gewesen waren.

„Wusstest du, dass sie versucht haben, die Abtei wieder in eine religiöse Stätte umzuwandeln?”, ergriff Yuriy erneut das Wort.

„Wirklich?”

„Ja. Ich habe gehört, ein paar reiche, traditionsbewusste Leute sind sehr versessen darauf, die Gebäude zu restaurieren. Ziemlich lächerlich, wenn du mich fragst.”

„Was würdest du denn mit der Abtei tun?”, fragte Kai. Yuriy legte den Kopf schief, seine Miene wurde hart. „Ich würde sie niederbrennen. Bis auf den letzten Stein.”

Natürlich, mit einer anderen Antwort hatte er gar nicht gerechnet. „Ich auch”, sagte Kai.

„Tja. Schade, dass es damals nicht geklappt hat, als du Volkov den Black Dranzer zurück gebracht hast.”

„Hätte ihn wohl eher in einen der Heizkessel jagen sollen.”

„Ja. Stattdessen ist einfach nur überall das Licht ausgegangen. Ich habe erst viel später erfahren, dass du daran Schuld warst.” Er seufzte und drehte sich um. Das war das Zeichen dafür, dass sie endlich den Weg zum Ausgang einschlugen. „Wenn ich gewusst hätte, dass nur ein paar Tage später alles vorbei sein würde…”

„Was dann?”, fragte Kai leise und Yuriy warf ihm einen flüchtigen Blick über die Schulter zu, bevor er die Hände in die Taschen schob und weiter vorausging. „Ich möchte glauben, dass ich weggelaufen wäre”, antwortete er, während sie an großen Renaissancegemälden vorbeikamen, auf denen Mönche sich verrenkten und verzückt gen Himmel wandten. „Aber um ehrlich zu sein, wahrscheinlich hätte ich nichts Besseres gewusst, als trotzdem zu kämpfen. Vielleicht mehr für mich und weniger für Volkov. Aber ich wäre bei Borg geblieben.”
 

Bis zum Abend war Yuriys Sonnenbrand schlimmer geworden. Auf seinen Armen und im Gesicht sah man es deutlich. Sie saßen nebeneinander in einer versteckten Ecke im Innenhof des Hotels, rauchten heimlich und hörten David Bowie mit Kais MP3-Player. Die Akustik war schrecklich, denn jeder hatten sie nur einen Kopfhörer und so jeweils die Hälfte des vollen Klanges. Kai konnte dem Drang nicht widerstehen und drückte seinen Zeigefinger in die Haut des anderen. Ein deutlicher weißer Fleck blieb zurück, der sich nur langsam wieder zurückfärbte. „Du brauchst Aprés-Sun“, sagte er.

„Ja, Mama.“

„Brennt das denn nicht?” Er piekste ihn noch mal, setzte eine Kette heller Punkte auf seinen Unterarm, bis Yuriy ihn am Handgelenk packte. „Lass das.“ Dann hob er die freie Linke und nahm Kai die Zigarette aus dem Mund, um selbst daran zu ziehen. Kai beobachtete die Bewegungen seiner Lippen und wie seine Augen beim Inhalieren halb zufielen, während Bowies dunkle Stimme in seinem Ohr säuselte. Erst dann bemerkte er, dass auch Yuriy ihn ansah, dass sie sich schon die ganze Zeit stumm musterten. Und dass er noch immer seine Hand festhielt.
 


 

Später stand Kai unter der Dusche und bereitete sich mental auf den nächsten Turniertag vor. Das monotone Rauschen des Wassers half ihm, sich zu konzentrieren. Vor seinem inneren Auge sauste Dranzer hin und her, vollführte tollkühne Haken. Suzakus Geist flackerte unter seinen Rippen, ihre Nähe war beruhigend. Obwohl diese Weltmeisterschaft ihn bereits jetzt mehr Nerven gekostet hatte als alle Turniere zuvor, gelang es ihm in diesen Momenten, die Außenwelt komplett auszublenden. Er wusste nicht, wie andere Blader sich auf ihre Battles vorbereiteten – für ihn war diese Visualisierung die beste Art. Er lehnte sich nach vorn und ließ Wasser übers einen Kopf laufen. Seine Frisur fiel in sich zusammen und seine Haare legten sich auf seine Wangen und Schultern. Er hörte nichts mit Ausnahme des feuchten Gurgelns – das heißt, bis zu dem Zeitpunkt, da die Tür aufging.

„Kai?” Es war Yuriys Stimme. Wollte er nicht noch einmal zu Boris und Sergeij gehen um sicherzugehen, dass die beiden sich am Vormittag nicht überlastet hatten? Vielleicht kam er gerade von dort. Von der Tatsache, dass Kai nackt vor ihm stand, ließ er sich jedenfalls nicht beeindrucken. Sie schlossen generell fast nie ab, weil es irgendwie schneller ging, das Bad gleichzeitig zu benutzen. Durch die milchigen Scheiben der Duschkabine sah er, wie Yuriy sich ans Waschbecken lehnte und die Arme verschränkte. „Sie haben uns gerade gesagt, gegen wen wir antreten.”

Kai bewegte sich nicht, sondern wartete einfach ab.

„BBA Revolution”, sagte Yuriy, „Übermorgen.”

Endlich strich er sich die Haare nach hinten und richtete sich wieder auf. „Tja. Scheiße.”

„Möchtest du das für mich etwas elaborieren?”, fragte Yuriy. „Machst du dir Sorgen?”

„Wieso sollte ich?”, entgegnete er. „Es kommt nur ein wenig zu früh für meinen Geschmack. Du hast ihren letzten Kampf gesehen. Kinomiya ist nicht auf der Höhe. So will ich nicht gegen ihn antreten.“ Mit einem Ruck öffnete er die Türen der Duschkabine, wobei der Rothaarige ein paar Tropfen abbekam. „Gib mir mal das Handtuch.”

„Ich verstehe“, sagte Yuriy, zog eines der Handtücher vom Ständer und reichte es an Kai weiter. „Ich meine, ich verstehe, wenn dir das irgendwie ans Ego geht. Aber es wäre trotzdem schön, wenn du dich bemühen würdest, zu gewinnen.“ Kai erwiderte seinen Blick nur kurz, dann lehnte er sich zurück, um seine Haare zu trocknen. Eine Bestätigung blieb er seinem Leader schuldig.
 


 

Die Kämpfe in Rom begannen mit der Begegnung von Barthez Soldiers und Baihuzu. Sie sahen sich das Match nach dem morgendlichen Training in ihrer Kabine an. Kai hatte sich auf eine Bank gesetzt und die Arme verschränkt. Seine Gedanken kreisten um Kinomiya. Er rief sich alle Fakten über seinen Rivalen ins Gedächtnis, jede Spezialität, jede Schwäche. Es war beinahe unheimlich, wie gut er den anderen kannte. Kinomiya überraschte Kai nur noch sehr selten; wenn er ihn bladen sah, konnte er beinahe alle Bewegungen voraussagen. Das war in letzter Zeit freilich nicht mehr so oft passiert, aus dem einfachen Grund, weil Kinomiya im Moment deutlich schlechter spielte als normalerweise. Sobald Kai sich an das Match zwischen Baihuzu und der BBA Revolution erinnerte, brodelte erneut Wut in ihm. Ein solcher Kampf war nichts wert, und wenn Kinomiya so weiter machte, würde er es nie und nimmer ins Finale schaffen, und alles war umsonst.

In diesem Moment setzte Yuriy sich neben ihn. „Alles in Ordnung?”, fragte er, als er Kais Mimik bemerkte.

„Hmmm”, machte er nur und sein Leader verzog belustigt den Mund. Nicht zum ersten Mal fragte Kai sich, ob seine Rivalität mit Kinomiya Yuriy überhaupt etwas bedeutete. Nun, zumindest hatte der diesen Umstand ausgenutzt, um ihn in sein Team zu holen. Ob er sie darüber hinaus verstand, war wohl eine andere Sache.

Der Rothaarige beugte sich zu ihm, während Boris den Fernseher einschaltete und Sergeij die Wasserflaschen, die er gerade besorgt hatte, auf den Tisch stellte. „Ich bin sicher, Kinomiya fängt sich wieder, wenn du ihn ein bisschen wachrüttelst”, sagte er, „Also hör auf zu schmollen.”

„Ich schmolle nicht!”, entgegnete Kai und ließ die Arme sinken. Yuriys Grinsen wurde breiter und ihm fiel der scharfe Bogen seiner Lippen auf. Dann wandte er sich ab und gab ein abfälliges Geräusch von sich. Eine Erwiderung seitens des anderen blieb aus, denn die Übertragung des Turniers begann. Boris und Sergeij setzten sich auf die Bank hinter ihnen. Es zischte laut, als Boris eine der Wasserflaschen öffnete. „Baihuzu werden gewinnen, das ist sicher”, meinte er. Gedanklich pflichtete Kai ihm bei. Es schien unmöglich, dass Rei gegen so blutige Anfänger verlieren würde. Gerade wurde die Bowl enthüllt und gleichzeitig mit dem Getose des Publikums im Fernseher war der Jubel auch direkt von ihren Sitzplätzen aus zu hören. Ihr Raum befand sich unter den Tribünen, und scheinbar waren die Wände hier recht dünn.

„Kai”, sagte Yuriy plötzlich, wieder in ernstem Ton und so leise, dass er zuerst glaubte, sich verhört zu haben. „Sieh genau hin.”

Die Bedeutung dieser Worte blieb ihm schleierhaft, bis Lai sein Match verlor. „Was war das?”, rief Boris aufgebracht und Sergeij verschränkte die Arme. „Da stimmt was nicht”, stellte er fest. Yuriys Blick löste sich keine Sekunde lang vom Bildschirm.

Kai wollte an einen Glücksfall für Barthez Soldiers glauben, doch dann traf Rei auf Miguel. Und was in diesem Kampf passierte, trotzte jeder Logik. Als Driger aus dem Stadium flog, sog er scharf die Luft ein. „Was zur Hölle-?” Jetzt war Boris aufgesprungen. „Das darf doch nicht wahr sein! Verdammt! Wo ist die Zeitlupe, wenn man sie mal braucht?”

Kai sah Yuriy an, der die Lippen fest aufeinander gepresst hatte. In diesem Moment hatte er Fragen, sehr viele sogar, doch er ahnte, dass sein Teamchef sie nicht beantworten würde.
 


 

Kai hasste Hitoshi Kinomiya. Das konnte er spätestens jetzt mit Sicherheit sagen. Er stand auf dem Podest, um ihn herum die schreienden Zuschauer und ihm gegenüber Daichi Sumeragi, wie immer auf und ab hüpfend. Es war ein groteskes Dejá vu ihres Vorrundenkampfes und wie schon zuvor fühlte Kai sich mehr als fehl am Platz. Und Hitoshi Kinomiya verhöhnte ihn. Saß dort breitbeinig auf der Bank, die Arme verschränkt und ein dreckiges Grinsen im Gesicht. Von seinem jüngeren Bruder fehlte jede Spur.

Dieses Match war ganz und gar falsch. Von Anfang an hatte es unter keinem guten Stern gestanden. Es kam viel zu früh, niemand hatte damit gerechnet, dass sie schon in der zweiten Runde auf die BBA Revolution trafen. Und nun war Kinomiya nicht einmal hier. Stattdessen waren Daichi und – ausgerechnet! – Kyoujyu aufgestellt worden. Kai ahnte, dass dies nicht nur dazu diente, dem schwächelnden Champion eine Lektion zu erteilen – es war auch ein Zeichen an ihn selbst, der er das Team verlassen hatte. Eine späte Rache des Shippu-no Jin.

In diesem Moment war ihm das Turnier zuwider. Er hasste es, wie auf dem Präsentierteller in dieser Arena zu stehen und sich einen Kampf wie diesen geben zu müssen. Am liebsten hätte er Hitoshi – gar nicht mal so metaphorisch – vor die Füße gekotzt. Mit welcher Überheblichkeit dieser Kerl handelte. War jahrelang in irgendeiner Versenkung verschwunden und erwartete nun, dass sie alle genau das machten, was er wollte. Und Daitenji leckte ihm die Füße. Es ekelte Kai an, und er war wütend. Hitoshi verstand nicht im Geringsten, was zwischen Bladern wie ihm und Kinomiya stand. Wie wichtig so ein Match sein konnte. Und, verdammt, niemand hatte das Recht, ihn derart zu beleidigen. Schließlich war er Kai Hiwatari, und er hatte sehr viel Zeit und Energie darauf verwendet, dass dieser Name den Leuten im Gedächtnis blieb.

Es gab eigentlich nur eine Antwort, die er Hitoshi geben konnte. Das bedeutete einen Nachteil für Neo Borg – aber Yuriy würde das schon wieder richten. Im Gegensatz zu ihren Gegnern schwächelte sein Leader nämlich kein bisschen.

Der Countdown erklang und Kai holte weit aus, um Dranzer zu starten. Doch anstatt in die Bowl flog sein Blade direkt auf Daichis Gaia Dragoon zu. Sie prallten noch im Flug aufeinander, und während Gaia Dragoon danach in die Arena fiel, schoss Dranzer in einem komplett anderen Winkel davon. Er schlug funkensprühend in die Bank, auf der die BBA Revolution saß, ein – direkt neben Hitoshis Gesicht. Dann sprang er zurück in Kais Hand.

Für einen Augenblick war das Stadion komplett still. Hitoshis Mimik zeigte keine Regung, doch Kai war sicher, dass niemand hier ernsthaft annehmen würde, Dranzers Flugbahn sei zufällig genau so verlaufen. Die Botschaft war angekommen. Er drehte sich um und verließ das Podest, während DJ Daichis Sieg verkündete. Dieser begriff erst nach ein paar Sekunden, was überhaupt passiert war.

Yuriy kam ihm entgegen. Sie trafen sich auf halbem Weg zwischen ihrer Bank und der Bowl und Kai beschlich das Gefühl, dass in diesem Moment die meisten Augenpaare auf sie gerichtet waren. Nur sehr kurz sahen sie sich an, Yuriy begann erst zu sprechen, als sie schon beinahe aneinander vorbeigegangen waren. „Was treibst du hier eigentlich, Kai?”

„Das siehst du doch”, entgegnete er. „Dieses Match kriegst du auch alleine hin.” Dann setzte er seinen Weg fort. Kurz darauf hörte er seinen Leader seufzen: „Du bist wirklich schwierig.”

Boris und Sergeij wirkten, als wollten sie ihn in der Luft zerreißen, ließen ihn aber vorbei, damit er sich auf die Bank setzen konnte. Das würde sicher auch noch ein Nachspiel für ihn haben, unabhängig davon, wie Yuriy sich jetzt schlug. Aber er bereute nichts, im Gegenteil: Es hatte verdammt gut getan, diesem ganzen Turnierapparat einfach den Finger zu zeigen. Allen voran natürlich auch Hitoshi, der sowieso viel zu viel Kontrolle in diesem Wettbewerb ausübte. Daitenji und er waren wirklich viel zu vertraut miteinander.

Das zweite Match begann und Kai hob den Kopf, als das Surren der Blades zu hören war. Wolborg trieb Kyoujyus Blade, Einstein, vor sich her wie eine Katze die Maus. Doch Einstein war natürlich kein gewöhnlicher Blade. Kai wusste, dass eine Feder in seine Achse eingelassen war, die ihn tollkühne Sprünge vollführen ließ. Es reichte, um Yuriy kurz zu überraschen, dennoch war Wolborg um ein Vielfaches überlegen. Außerdem war sein Teamchef wahrscheinlich einer der erfahrensten Blader in diesem Turnier. Was auch immer Kyoujyu versuchte, es gab so gut wie kein Angriffsschema, das sein Gegner nicht kannte.

Und Yuriy beließ es nicht einfach beim Bladen: Er verunsicherte Kyoujyu durch ein paar provokante Sticheleien zusätzlich. Der Jüngere war sowieso ein schüchterner Mensch und musste vor Anspannung fast vergehen; Yuriys verbale Angriffe konnten ihm gut und gerne den Rest geben.

Der Kampf dauerte länger an, als Kai erwartet hatte. Doch Yuriy ließ sich Zeit, spielte ein wenig und zeigte, was Wolborg konnte. Vielleicht war es auch als eine kleine Machtdemonstration für Kai gemeint. Es war nicht zu verleugnen, dass der weiße Blade ein schöner, aber gefährlicher Anblick war. Perfekte Technik, absolute Kontrolle.

Für die BBA Revolution wurde es brenzlig, also schaltete Hitoshi sich ein, um Kyoujyu anzufeuern. Jetzt kam wieder Leben in den Kampf, denn Kyoujyu schaffte es nun tatsächlich, ein paar Schläge auszuteilen. Yuriy zeigte sich einigermaßen beeindruckt davon, doch Kai war nicht überrascht. Comebacks wie diese waren so etwas wie das Markenzeichen der BBA. Dass sein Teamchef ein wenig ins Schwitzen geriet, machte das Match nur interessanter.

Schließlich hatte Yuriy genug. Kai spürte es vielleicht einen Augenblick früher als alle anderen und richtete sich unbewusst auf. Die Aura des sibirischen Wolfs breitete sich im Stadion aus, und dann kam die Kälte. Er hatte diesen Special Move noch nicht gesehen, doch als sie noch in Russland waren hatte er eines Tages Boris und Ivan davon sprechen hören. Der Novae Rog, der Eissturm, inspiriert von den subarktischen Temperaturen Sewerodwinsks, Yuriys Geburtsstadt. Wenn er diese Attacke nun einsetzte, sprach er definitiv eine Warnung an alle ihre Gegner aus. Und so wartete Kai auf das, was dort kommen mochte.

Auf seiner Haut stellten sich die Härchen auf, als der Frost um sich griff, und unbewusst presste er die verschränkten Arme stärker gegen seine Brust. Die Bowl wurde in einen Wirbel von Eis und Schnee gehüllt. Vor diesem Hintergrund hob sich Yuriys Gestalt scharf ab, es war, als würde der Sturm ihn mit sanften Fingern umschließen. Kai war wie gebannt von diesem Anblick. Das war also Yuriys Macht. In seinem Magen breitete sich ein warmes Flackern aus – auch Suzaku reagierte auf Wolborgs Energie und schützte ihn gleichzeitig vor den sinkenden Temperaturen. Die Eiskristalle, die der Wind bis zu ihm hin trug, glänzten wie Glas, bevor sie zu schmelzen begannen. Sie legten sich auf Yuriys Schultern, verfingen sich in seinem Haar. Seine Haut schien jegliche Farbe verloren zu haben. Kai konnte sein Gesicht nicht sehen, doch manchmal wurde es von einer der Kameras eingefangen und auf den Monitor projiziert – Yuriys Augen wirkten dunkler als sonst und er lächelte bedrohlich. Dies war sein Element, und in diesem Moment war er ganz er selbst.

Kyouyju hingegen litt sichtbar, er hatte dem Novae Rog nichts entgegenzusetzen und wurde auch nicht von einem eigenen Bit Beast geschützt. Sein Blade wurde von Eis umhüllt, dann traf Wolborg ihn ein letztes Mal. Der Kunststoff, strapaziert durch die Temperatur, zersprang. Einstein zerfiel in unzählige Einzelteile, während Wolborg langsam wieder zu Boden schwebte und mit einem sanften Klicken aufsetzte. Als Kai das sah, verengten sich seine Augen. Er warf einen kurzen Blick zu Kyoujyu und seine Befürchtungen wurden bestätigt, denn auch der andere starrte den weißen Blade an, anstatt den Verlust Einsteins zu betrauern. Sie hatten es also beide bemerkt.

Als Yuriy Wolborg auffing, fielen die letzten Schneeflocken aus seiner Kleidung. Boris lief zu ihm und nahm ihm den Blade ab, um ihn kurz durchzuchecken. Währenddessen sah Yuriy nicht einmal zu Kai hinüber. Der überlegte, ob er seinen Teamchef warnen sollte, denn auch Kyoujyu blieb nicht untätig: Er wühlte gerade wild in seinem Ersatzteilkoffer herum. Schließlich kamen Boris und Yuriy zur Bank zurück.

„Du hattest Schwierigkeiten”, fing Kai an.

„Ich hab nur ein bisschen mit ihm gespielt”, entgegnete der Rothaarige.

Kai öffnete den Mund, doch in diesem Moment passierten mehrere Dinge auf einmal: DJ sagte das Entscheidungsmatch an, wurde aber unterbrochen, als hinter der Absperrung zu den Rängen Tumult entstand. Es war Kinomiya, der sich dort verbissen gegen zwei Ordner wehrte und schon halb über die Absperrung gestiegen war. Kai stand auf und trat neben Yuriy, um das Schauspiel sehen zu können. Kinomiya verlangte lautstark danach, im dritten Battle anzutreten. Aber natürlich besagte eine der vielen Regeln dieser Weltmeisterschaft, dass das nicht ging. „Wie egoistisch”, urteilte Yuriy und wandte sich dann überraschend an Kai: „Im Gegensatz zu dir will ich dieses Turnier gewinnen. Das weißt du, oder?”

„Tu was du für richtig hälst”, entgegnete er. Bevor er weitersprechen konnte, rief Boris erneut nach Yuriy, und der Rothaarige verließ ihn ohne ein weiteres Wort. Kai verzog den Mund und verschränkte erneut die Arme. Also schön, dann sollte der andere halt ins Verderben rennen.
 


 

Yuriy holte ihn in der Umkleidekabine ein. Sein Körper versteifte sich, als er hörte, wie die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

„Ich glaube es nicht, Kai!“, sagte Yuriy leise, „Ich habe dich nicht ins Team geholt, damit du nur an der Bowl stehst und gut aussiehst! Du sollst verdammt noch mal bladen!”

Kai verdrehte wortlos die Augen.

„Das war einfach nur lächerlich! Ich war ja geneigt, deine Allüren zu ignorieren...“

„…so lange, bis du selbst verloren hast, nicht wahr?“, unterbrach er ihn und drehte sich mit einem Ruck zu ihm um, „Wie kann man nur so blöd sein und zweimal die gleiche Strategie fahren? Du konntest dir doch ausrechnen, dass Kyouyju deine Attacke durchschaut!“

„Ach, konnte ich das?“, sagte Yuriy, „Nun, offensichtlich bin ich nicht allwissend. Aber da du ja so schlau bist, hättest du auch mal ein Wörtchen sagen können!“

„Seit wann nimmst du meine Hilfe an?“

„Verdammt noch mal, wir sind ein Team!“, rief Yuriy, „Wie oft muss ich dir das denn noch sagen?“

Sie starrten sich an, keiner wollte den Blick senken. „Du misstraust mir”, stellte Kai fest.

„Natürlich tue ich das – und anscheinend zu Recht! Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst keinen Scheiß machen, und was machst du?” Er breitete die Arme aus, eine Geste, die alles mit einschloss, was draußen im Stadion passiert war. „Wir können uns keine Niederlage leisten, verstehst du mich nicht?”

„Oh, na das hättest du dir aber überlegen sollen, bevor du in das Battle mit Sumeragi stolziert bist!”, giftete Kai.

„Ach, fick dich doch.” Yuriy wirkte, als wollte er die Worte ausspuken. „Sag mir, was ich jetzt tun soll. Soll ich Boris für dich einwechseln?”

Kai schnaubte. „Dann würdet ihr kein einziges Match mehr gewinnen.”

„Wow. Diese Arroganz. Weißt du, du bist nicht der einzige, der in Irkutsk bis zum Umfallen trainiert hat – aber ach ja! Das kannst du ja nicht wissen, du warst den Großteil der Zeit nicht anwesend!”

Kai hob die Augenbrauen. „Ich dachte, das hätten wir geklärt. Was willst du denn von mir? Wenn ich gut bladen soll, brauche ich mein eigenes Training.”

„Ja, aber das ist der Punkt – du bladest nicht gut!”

„Willst du sagen, ich bin schwach?” Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Glaubte Yuriy allen Ernstes, er hätte den Kampf aus Angst abgebrochen? Vor Sumeragi?

„Sag du es mir, Kai!”

Er öffnete den Mund, doch sein Leader war noch nicht fertig mit ihm: „Ich hab wirklich gedacht, ich wüsste, worauf ich mich einlasse. Ich hab dich auch noch verteidigt – gegen Boris, gegen Ivan, sogar gegen Sergeij. Selbst dem ging dein Verhalten irgendwann auf die Nerven. Aber du… du bist einfach…” Ihm gingen die Worte aus.

„Na was?”, zischte Kai, obwohl er es gar nicht hören wollte.

„Noch viel schlimmer als ich erwartet hätte”, beendete Yuriy den Satz. „Und das will wirklich was heißen. Was soll ich denn mit dir machen, hm? Wer sagt mir, dass das nicht wieder passieren wird?”

Kai spürte einen leichten, schmerzvollen Stich, den er ignorierte. Was fiel Yuriy ein, ihn allein verantwortlich für diese Blamage zu machen? Sein Ärger darüber übertraf beinahe jegliches Gefühl von Schuld.

„Okay, also nur damit ich das richtig verstehe”, sagte er, „Wir sprechen hier von einem – einem! – Match, das ich nicht einmal gespielt habe, und du wirfst mir nun vor, ich wäre ein schlechter Blader? Ausgerechnet du? Nachdem du selbst dein Match verloren hast, weil du schlicht zu dämlich warst, deine Strategie anzupassen?”

„Ja!”, rief Yuriy, „Ja, allerdings! Aber das ist bei Weitem nicht alles. Ich dachte, wir wären uns einig, was unsere Ambitionen bei diesem Turnier angeht. Ich habe mich auf dich verlassen wollen – und das erste, was du machst, ist uns, deinem Team, wegen ein paar Sentimentalitäten in den Rücken zu fallen!”

„Ein paar Sentimentalitäten? Kinomiya hat mich da draußen verhöhnt! Eine größere Beleidigung gibt es fast gar nicht!”

„Oh mein Gott, Kai! Darum geht es also? Sie haben deinen Stolz verletzt? Deine Blader-Ehre?” Bei dem letzten Wort fiel Yuriys Tonfall ins Sarkastische. Er verschränkte die Arme und musterte Kai. „Und? War es das wert?”

Kais Augen verengten sich. „Ja”, sagte er schlicht. Yuriy warf resigniert die Arme in die Luft, er wirkte, als würde er am liebsten irgendwo hineinschlagen. Kai dachte daran, ihm noch mal sein Gesicht anzubieten, nur, um ihn ein wenig mehr zu reizen. Doch dann drehte sich der andere zurück zu ihm. „Okay”, seufzte er und legte eine Hand in den Nacken, als wäre er verspannt. „Okay, das reicht. Komm mit.”

„Wohin?”

„Wir beide” Und damit öffnete er die Tür, „werden jetzt ein Match austragen. Also beweg dich!”

„Ein Beybattle?”, vergewisserte Kai sich, doch ihm blieb nichts anderes übrige als seinem Teamchef zu folgen, der schon draußen stand. Er wusste nicht, warum er sich darauf einließ. Etwas in Yuriys Tonfall ließ keine Widerworte zu. „Ja, ein Beybattle”, sagte der, während er vor ihm den Gang entlang lief, „Ich habe gerade zwei Matches gespielt, du – gar keins. Es dürfte also kein Problem für dich sein, mich zu schlagen.”

Kai hob eine Augenbraue. „Und was dann?”

„Dann weiß ich, dass ich den Richtigen in mein Team geholt habe.” Yuriy stieß eine weitere Tür auf und trat zur Seite, um ihn hineinzulassen. „Wenn ich gewinne, Hiwatari… Dann fliegst du raus.”

Sie standen in einem der kleineren Trainingsräume. Hier gab es eine Bowl, die in etwa die gleiche Größe hatte wie jene, in der sie die Turnierrunden ausgetragen hatten. Kai griff in seine Jacke, um Dranzer herauszuziehen, doch da streckte Yuriy die Hand aus. „Gib mir den Bit Chip”, befahl er, „Ich werde nicht riskieren, dass wir unsere Blades bei dieser Aktion schrotten.”

Zähneknirschend entfernte Kai Suzakus Bit aus dem Angriffsring. Es scheint lächerlich, doch die Bits waren trotz allem immer noch nötig, um während eines Battles die Bit Beasts zu rufen. Ohne sie würde ihr Match also nicht mit Kraft, sondern allein mit Technik ausgetragen werden. So waren sich ihre Blades noch ähnlicher. Dranzer hatte vielleicht ein bisschen mehr Schlagkraft, dafür war Wolborg wendiger. Allein das Maß an Kontrolle, das sie hatten, würde den Kampf entscheiden. Und Kai wusste, dass Yuriy, was die reine Technik anging, einer der besten hier war. Verdammt, erst vor ein paar Tagen hatte sein Leader auf den ersten Blick einen Formfehler bei ihm entdeckt, der ihm nicht einmal selbst bewusst gewesen war. Was auch immer er also in der Bowl veranstaltete, er musste damit rechnen, dass der andere ihn durchschaute und jeden Patzer sofort bemerkte.

Sie nahmen ihre Positionen an den gegenüberliegenden Seiten der Arena ein und starteten ohne jegliches Kommando. Für so einen Schnickschnack hatten sie beide keine Geduld. Doch anstatt aufeinander loszugehen hielten sie erst einmal Abstand zueinander. „Na was?”, kommentierte Yuriy, „Traust du dich etwa nicht?”

Kai schwieg, doch Dranzer machte einen Schlenker und verpasste Wolborg den ersten Schlag.

„Du bist heute aber leicht zu provozieren.” Nun war es Dranzer, der einsteckte.

Sie hielten sich insgesamt mit Angriffen zurück, denn sobald einer von ihnen sein Bewegungsmuster veränderte, wurde der andere darauf aufmerksam und reagierte entsprechend. Mit der Zeit erschien ihr Match weniger wie ein Kräftemessen als wie eine Vorführung ihrer Fähigkeiten. Kai ertappte sich dabei, wie er mit angehaltenem Atem auf Yuriys nächsten Move wartete, einfach, weil er wissen wollte, was der andere noch im Petto hatte. Suzakus Energie flackerte in ihm, irgendwo in der Nähe seines Zwerchfells. Und es schien ihm, als könne er auch Wolborg spüren wie einen Hauch Frost in der Luft, die ihn umgab. Das war ungewöhnlich; ähnliche Effekte kannte er bisher nur von den Bit Beasts der ehemaligen Bladebreakers, und das lag daran, dass Suzaku mit ihnen verbunden war, als eines von vier Teilen desselben Ganzen. Bit Beasts, die wie Wolborg außerhalb dieses Ganzen standen, waren normalerweise überhaupt nicht bemerkbar, wenn sie nicht im Kampf eingesetzt wurden. Ob Suzaku wegen des Turniermatches noch so empfindlich auf den Eiswolf reagierte?

Irgendwann kam der Augenblick, in dem Wolborg sehr dicht an Dranzer vorbeirauschte; Kai reagierte blitzschnell und teilte ein paar präzise Schläge aus. „Gut!”, kommentierte sein Teamchef, und als er ihm einen verwirrten Blick zuwarf sah er, dass die Augen des anderen fest auf ihre Blades gerichtet waren und ein grimmiges Lächeln auf seinem Gesicht lag. Sein Atem ging schwerer, wahrscheinlich fühlte er langsam die Erschöpfung nach den beiden Matches gegen die BBA Revolution. Vielleicht konnte Kai einen Moment abpassen, in dem sein Gegner unachtsam war und – „Zu spät”, sagte Yuriy, während Wolborg auswich und Dranzers Angriff ins Leere ging.

„Ich krieg dich noch”, entgegnete Kai und tatsächlich, die nächste Attacke verfehlte ihr Ziel nicht. Yuriy sog scharf die Luft ein. Der weiße Blade prallte vom Rand der Arena ab, doch der Winkel war günstig. Wolborg stieß sich noch ein paar Mal ab, dann traf er wieder auf Dranzer, der aus seiner Bahn geschleudert wurde. Kai entwich ein Fluch, der jedoch eher bewundernd als verärgert klang. „Gar nicht schlecht, Ivanov.”

„Klingt als wärst du überrascht, Hiwatari”, keuchte Yuriy. Langsam aber sicher gingen ihm die Reserven aus. Auch Kai bemerkte, wie der lange Kampf an ihm zehrte. Gerade weil ihm keine Sekunde blieb, um durchzuatmen, wurde es für ihn ebenfalls kritisch. Doch Yuriys Abwehr war noch immer solide. Es war beinahe unmöglich, einen wirklich gefährlichen Schlag gegen ihn auszuführen. Aber vielleicht konnte Kai sich dieses Verhalten zu Nutze machen…

Yuriy ging hier auf Nummer sicher. Er verteidigte sich, seine Angriffe waren aber kaum einmal wirklich überraschend. Risiken ging er selten ein – ganz im Gegensatz zu Kai.

Er hatte seinen Plan noch nicht im Geringsten gefestigt, als er ihn auch schon ausführen musste. Kaum hatte Kai Wolborgs Bewegungsmuster entschlüsselt, ließ er Dranzer abrupt den Kurs ändern. Dadurch büßte er einiges an Geschwindigkeit ein, doch mit ein bisschen Glück reichte die Kraft seines Blades immer noch, um seinen Gegner aus der Bowl zu befördern. Diese Alles-oder-Nichts-Attacken hatten einst den Ruhm der Bladebreakers begründet; mehr als einmal hatten sie in Battles alles auf eine Karte setzen müssen.

Yuriy stieß einen ungläubigen Ruf aus, dann war Wolborg getroffen und kullerte vor seine Füße. Dranzer hingegen schrammte am Rand der Bowl entlang und kam dann in der Mitte zur Ruhe. Seine Rotationsgeschwindigkeit hatte deutlich nachgelassen, und ein paar Sekunden später fiel auch er auf die Seite. Trotzdem, er hatte klar gewonnen.

Yuriy ließ sich auf den Boden fallen. „Das war gut”, urteilte er, „Wäre nett, wenn du beim nächsten Mal in den offiziellen Matches auch so bladest.”

Kai war kurz schwindelig geworden und er musste sich einen Augenblick auf den Knien abstützen, bevor er sich wieder aufrichten konnte. Mit einem energischen mentalen Schub drängte er Suzaku zurück, die noch einmal in ihm aufloderte. Sie wollte weiterkämpfen. Ihre kurze Auseinandersetzung hinterließ ein unangenehmes Brennen in Kais Magen. Dennoch ging es ihm wesentlich besser als Yuriy, dem dieses Battle wahrscheinlich die letzte Kraft gekostet hatte. Der andere wirkte allerdings nicht frustriert über seine Niederlage, im Gegenteil: Er sah ziemlich zufrieden mit sich aus. Und auch Kai merkte, dass seine Wut verflogen war. Dieser Kampf hatte Spaß gemacht.

Er seufzte und ging zu Yuriy. Schob die Hände in die Taschen und musterte ihn. Er wusste, was er zu sagen hatte, doch es war ihm noch immer unangenehm. Weil er einen Fehler gemacht hatte. Weil er sich dafür entschuldigen musste. „Okay. Ich geb’s zu, ich habe Mist gebaut.“, sagte er schließlich, und zwar schneller und leiser als beabsichtigt. Sein Leader legte den Kopf in den Nacken und blickte gelassen zu ihm auf. „Allerdings.” Kai verzog den Mund.

„Wir haben beide Mist gebaut. In Zukunft müssen wir uns besser absprechen“, sagte Yuriy, „Und wir sollten uns etwas ausdenken, was wir der Presse sagen.“

„Das mache ich“, bot Kai an.

„Nein. Ich habe keine Lust, zuzusehen, wie du von den Pressegeiern zerrissen wirst. Ich mache ein Statement.“

Erstaunt sah Kai ihn an. So etwas hatte noch keiner für ihn getan. Er selbst für andere, klar, für die Bladebreakers, weil es einfach selbstverständlich war als Teamleader… Ah, das musste es sein.

„Wow“, sagte er und wandte den Blick wieder ab, „Es ist seltsam, einen Captain zu haben.“

„Auch mal ganz angenehm, nicht wahr?“ Yuriy schmunzelte, dann kam er schwerfällig auf die Füße. „Versprich mir, dass das nicht nochmal vorkommt.“

„Natürlich“, sagte Kai.

Der Rothaarige ächzte und streckte sich langsam. „Oh verdammt. Ich brauche eine Kippe. Du auch?”

Er hob unverbindlich die Schultern und nickte. Was soll’s.
 

Ein paar Minuten später hockten sie auf der windigen Stahltreppe im Schatten des Gebäudes. Kai zog eine Zigarette aus einer der Innentaschen seiner Jacke, wo er immer einen kleinen Vorrat bei sich trug. Dummerweise fand er aber sein Feuer nicht. „Kannst du mir helfen?”, nuschelte er schließlich, denn die Zigarette behinderte ihn beim Sprechen, während er noch ein letztes Mal mit beiden Händen seine Jacke abklopfte. Yuriy knipste sein Feuerzeug an und hielt es ihm hin, doch es wurde vom Wind ausgeblasen. Sie seufzten beide, Kai hob eine Hand vor die Flamme und Yuriy kam ihm sehr nahe, vielleicht nur, um noch mehr Windschutz zu bieten. Er atmete ein und roch das Haarspray, das Yuriy benutzte. In diesem Augenblick fing die Zigarette Feuer, er inhalierte automatisch und alle Düfte wurden vom Geschmack des Rauches überdeckt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anmerkungen

1) Headcanon: Wolborg senkt Yuriys Körpertemperatur, was manchmal ganz nette und manchmal nicht ganz so nette Folgen hat.
2) beskulturny tschelowek - wörtlich: unkultivierter Mensch
3) Den kurzen Dialog nach dem Match Kai vs. Daichi hab ich frei nach dem Original übersetzt (aus den Englischen Subs). Yuriys Satz "Du bist wirklich schwierig." lautete in den Subs "You really are a handful." und ich bin sehr traurig, dass ich das nicht adäquat übertragen konnte. Denn allein dieser Satz zeigt echt gut, was Yuriy von Kai hält (vor allem, da er lächelt, während er das sagt): Eine Herausforderung, der er sich aber gewachsen fühlt.
4) Natürlich regeln die beiden ihre Konflikte wie echte Männer - mit ihren Beyblades. Haben wir wirklich jemals etwas anderes erwartet? Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  FreeWolf
2019-08-18T20:44:48+00:00 18.08.2019 22:44
Es hat jetzt ein Weilchen gebracht, aber hier kommt nun auch mein angekündigter Senf, den ich dir aufs Brot schmiere. Zuallererst muss ich glaube ich einfach eine Liste der Dinge starten, die ich hier gut und zum Schmunzeln und herrlich toll fand, wobei ich sicher 100 Dinge vergesse:
- Boris am Anfang, der sich beschwert, dass es heiß ist
- Boris und Sergej, die aufmucken, und Yuriy der nicht daran gewöhnt ist
- die kleine Bemerkung über die Veränderung in den NeoBorg, die sich nicht nur auf Yuriy beschränkt
- Kais und Yuriys kleine Tour (<D Italienischer Espresso ist das beste! Ich freu mich dass Yuriy das jetzt auch so sieht!)
- David Bowie (!!!!), gerade weil ich ihn mir niemals in Kais mp3-Player erwartet hätte, und die Schlussszene, in der Kai kurz ganz nah an Yuriy ist.

Ganz insgesamt ist dieses Kapitel für mich ein feel-good-Kapitel, weil ich die entspannte Atmosphäre zwischen Kai und Yuriy in der ersten Hälfte schlicht und ergreifend genossen habe.

Der Konflikt zwischen den beiden ist dir wirklich gut gelungen: Es ist total realistisch, wie sie einander angehen, und Kais Versäumnis, Yuriy vor Kyoujou zu warnen, war schmerzhaft aber auch ein bisschen notwendig. Der Beyblade-Kampf war der nächst-logische Schluss für beide, in dem sie ihren Konflikt produktiv verarbeitet haben. Kai sieht seinen Fehler da auch ein: und macht das, was ihm sicher schwer fällt, nämlich sich entschuldigen.

Oh, etwas habe ich in meiner Liste noch vergessen: Dass Yuriy scheinbar drauf steht, andere zu berühren. <D Die kleinen Details sind der Hammer und meine Droge, die mich dazu bringen, die Kapitel wieder und wieder und wieder zu lesen (aktueller Stand: dreimal).

So, das war jetzt konfus, sorrynotsorry. :D Ich hoffe, meine Begeisterung habe ich anständig rüberbringen können. Ich freu mich auf das nächste Kapitel!



Antwort von:  lady_j
19.08.2019 11:07
Du machst mir so viel Freude mit deinem Kommentar! Und vielen Dank, dass du nach den Details Ausschau hältst - ich glaube, in der Geschichte geht es sehr viel um Details, da ja jeder den Plot so grob kennen dürfte (wegen der Serie) xD

Interessant, dass für dich das feel good überwiegt, obwohl Rom ja auch einer der großen Tiefpunkte für Neo Borg war. Für mich war es insofern herausfordernd, da ich ja Kais und Yuriys Beziehung ausarbeiten musste, aber eben auch den Backlash des verlorenen Matches...

Haha, mir ist auch erst vor kurzem aufgefallen, wie touchy Yuriy bei mir ist. Zumindest bei Kai. Also, ich glaube, er fasst Kai gerne an (höhö). Mit Sicherheit muss er da was aufholen, was er in der Abtei nicht hatte (Körperkontakt!).

Nun, und über David Bowie haben wir ja schon gesprochen xD

Jo, ich bin genauso konfus, aber sehr dankbar <3
Antwort von:  lady_j
19.08.2019 11:08
Ich habe deinen Kommentar auch mehrmals gelesen, übrigens.
Antwort von:  FreeWolf
19.08.2019 12:29
Mein Lieblingsdetail habe ich in der Aufzählung NATÜRLICH vergessen: Nämlich den "beskulturinij tshelovek". <D Ich habe so lachen müssen dabei.

Rom ist nicht nur für NeoBorg ein Tiefpunkt, sondern auch für Team BBA: Darin spiegeln sich beide Teams, wobei das BBA Comeback leider wie immer geklappt hat, während NeoBorg sich mit Kais Egotrip auseinandersetzen müssen (Yuriy macht das aber ziemlich vorbildlich bei dir).

Die Beziehungsarbeit gelingt in meinen Augen. Ich mag die ruhige Dynamik zwischen Kai und Yuriy und wäre gespannt, ob Sergej und Boris was davon auffällt. (Ich weiß, dafür ist kein Platz hier, aber - hach, ich will einfach zu viel. xD)

Ich nehme an, Yuriy muss gerade bei den Leuten, die er mag und denen er vertraut, ein bisschen Körperkontakt nachholen. Wer weiß, vielleicht muteirt er zum Kuschelmonster. (Eine niedliche wie erschreckende Vorstellung) <3

Bowie ist jetzt offiziell mein Headcanon. :D Daran bist DU Schuld!
Antwort von:  lady_j
19.08.2019 13:57
Ich muss dir mal an anderer Stelle noch ne Abhandlung zum Thema (без) культурный человек schreiben :D

Jaaa, Team BBA kommt einfach immer zu leicht davon -. - Interessant, dass du Yuriys Verhalten sogar vorbildlich findest, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber hey, er ist halt ein guter Captain :D

Sergei und Boris haben zum Glück immer mal wieder Auftritte, aber die kommen auch zu kurz, weil ich konsequent aus Kais Sicht erzähle. Ansonsten wären die Kapitel aber wirklich Monster...

Apropos: Finde die Vorstellung von Yuriy als Kuschelmonster irgendwie gruselig D:

Den Bowie kriegst du geschenkt :*
Antwort von:  FreeWolf
19.08.2019 14:00
Ich bitte darum und freu mich drauf, vor allem wenn es eine ganze Abhandlung ist :D

Yuriy ist wirklich ein guter Captain. Das merkt man auch an der Art, wie er das Team im canon führt. :3 Meine Fantasie ergänzt noch ein bisschen was zu Boris und Sergej, wann auch immer ich Lust und Muse habe :D (also immer)
Von:  Phoenix-of-Darkness
2019-08-17T08:59:48+00:00 17.08.2019 10:59
XD
Im Kommi zum letzten Kapitel "beschwere" ich mich noch, dass ich gern noch ein bisschen ausführlichere Battles lesen würde und zack :)

Ich mag die Momente die du zwischen Yuriy und Kai schaffst oder ausbaust.
Hoffentlich darf man bald weiter lesen 8*o*8
Antwort von:  lady_j
17.08.2019 11:28
danke nochmal und schön, dass es dir immer noch gefällt :D ich musste bei deinem letzten kommentar auch etwas schmunzeln :)
Von: Norrsken
2019-08-16T10:09:38+00:00 16.08.2019 12:09
Ich möchte die ganze FF noch lesen, aber ich war jetzt einmal so frech und hab das vierte Kapitel vorgezogen, weil ich so neugierig auf die Beyblade Matches war. :D Vielen lieben Dank also, dass du dich an die Kreiselkämpfe herangewagt hast! ♥
Ich verstehe jetzt, was du damit meintest, als du sagtest du "schummelst" dich etwas um die Kämpfe herum, aber sie sind ja trotzdem präsent und ich finde den Ansatz total spannend, dass du dich auf das Verhalten der Kontrahenten konzentrierst. Wenn wir ehrlich sind, ist das eh interessanter als die Plastikteile in der Arena. :'D
Die Matches von Neo Borg vs. BBA Revolution kann man ja außerdem in der Serie noch mal nachschauen, weshalb eine zu detailgetreue Nacherzählung, vermutlich sehr zäh wäre. Ich unterstütze daher deine Herangehensweise! òvób
Das Match nach dem Streitgespräch zwischen Yuriy und Kai fand ich auch eine interessante und so typische Konfliktlösung. :>
Antwort von:  lady_j
16.08.2019 15:01
Haha, ich sag doch, du bist die unbestrittene Queen of Beybattles. Und ja, mein Problem ist auch, dass in meiner Geschichte fast nur Kämpfe eine Rolle spielen, die eh schon in der Serie vorkommen. Deswegen konzentriere ich mich auf das, was man nicht sieht.
Was ich auch versuche, ist, die Verbindung von Mensch und Bit Beast zu beleuchten, und das nutze ich auch, um die Kämpfe interessanter zu machen. Da habe ich mir mit der letzten Szene natürlich ins eigene Fleisch geschnitten xD

Leider werde ich irgendwann den Finalkampf beschreiben müssen - eine Aufgabe, der ich mich nicht wirklich gewachsen fühle. Darf ich vorher bei dir in die Lehre gehen? :D
Antwort von: Norrsken
16.08.2019 15:23
Gar nix Queen! Das ist doch Äpfel mit Birnen vergleichen, wenn wir beide unterschiedliche Ansätze verfolgen. Ich hab auch vor hier noch ein paar mal vorbei zu schnuppern, wenn ich die nächsten Beybattle schreiben muss. :D
Und ich rechne dir wirklich hoch an, dass du die Matches nicht einfach überspringst und die Charakter das dann retrospektiv dem Leser erzählen. Das finde ich richtig langweilig.
Auf die Verbindung mit den Bit Beasts bin ich sehr gespannt. Ich hab die FF bisher ja noch nicht ganz gelesen, aber hier hat man es schon gemerkt. :3 Ich mag das, wie du beschrieben hast, dass die Bit Beasts der Bladereakers teile eines Ganzen sind. ♥

Die Verbindung von Wolborg und Dranzer zu ihren Kreiselkämpfern hat man in diesem Kapitel schon bemerkt, auch wenn du dir mit dem letzten Battle etwas ins eigene Fleisch geschnitten hast (ich kenne das, wenn das passiert xD). Dranzer bzw Suzaku war ja nicht ruhig zu stellen, obwohl er nicht mitmicshen durfte. :P
Antwort von:  lady_j
16.08.2019 19:00
Nur ganz kurz - ich liebe Suzaku :D

Dankedankedanke für deine Kommentare, hab ich vorhin gar nicht gesagt!


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