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The whole time

von
Koautoren: abgemeldet  sma  Toshi

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Beinahe hätte sie ihren Tee vergessen. So ging es ihr andauernd. Erst war das Getränk zu heiß, sodass sie nur zaghaft daran nippte. Jedes Mal nahm sie sich fest vor, einfach nur kurz zu warten, damit der Tee abkühlen konnte, um dann doch ganz in ihrem Roman zu versinken und dabei die Zeit ganz aus den Augen zu verlieren. Heute war also keine Ausnahme und so war ihr Tee kaum noch lauwarm, als sie die Tasse schließlich in wenigen Zügen leer trank. Das Buch war einfach zu spannend gewesen. Ehe sie es sich versah, war sie in der tragischen Geschichte beiden Protagonisten versunken, die gemeinsam versuchten, einen Weg aus dem Unheil zu finden, das ihnen so ungerechtfertigt widerfahren war. Sie konnte förmlich den Duft der Blütenwiese riechen, auf der die letzte Szene, die sie gelesen hatte, stattgefunden hatte.

Das liebte sie so an der Erzählweise dieses Autors. Er vermochte es einfach, den Leser in eine andere Welt zu ziehen, sodass man ganz vergaß, was um einen herum geschah und wie die Zeit verflog. Für einige unendlich kostbare Minuten war sie nicht mehr die Sekretärin eines dauergestressten Vorstandsvorsitzenden des Krankenhauses, die unter Bergen von Akten, Post-Its und zahlreichen Notizen versank, sondern nur sie selbst, die keine Hektik kannte, keinen Stress, sondern in aller Ruhe auch eine Zeile noch einmal lesen konnte, wenn sie es wollte. Sie hatte alle Zeit, sich jede Szenerie genau auszumalen und vorzustellen, wie die Vögel zwitscherten, wie der Wind wehte, wie die Protagonisten aussahen und wie sie gestikulierten, wenn sie sprachen.

Ihr kam es gar nicht vor wie eine halbe Stunde, die sie hier gesessen hatte. Das leise Ticken der Eieruhr hatte sie ohnehin schon längst ausgeblendet und würde diese nicht so laut und schrill klingeln, wenn sie ablief, vermutlich würde sie auch das einfach überhören. Einmal war ihr das sogar wirklich fast passiert. Da hatte die freundliche Dame an der Theke, sie angesprochen und daran erinnert, dass ihre Zeit wohl um war. Wie peinlich ihr das gewesen war, doch zugleich hatte sie das Lächeln der Frau ermutigt, ihre Gewohnheit weiterzuführen und die kostbaren Minuten ihrer Pause für sich zu nutzen, anstatt durchzuarbeiten. Blieb sie im Büro, liefe es nämlich genau darauf hinaus. Das Telefon klingelte, irgendjemand kam herein und wollte etwas und Akten gab es im Fragefall sowieso mehr als genug, die noch bearbeitet werden mussten. Keine Chance auf ungestörte Ruhe.
 

Jahrelang hatte sie ihre Pause im Büro verbracht. Es war ihr ganz normal erschienen, dass sie das tat. Sie hatte sich schnell daran gewöhnt. Ebenso wie daran, dass es eben reichen musste, wenn sie ihr mitgebrachtes Brot schnell zwischendurch aß, um nicht nur den Tag über von Kaffee zu leben. Tatsächlich hatte ihr erst eine Freundin ins Gewissen reden müssen, damit sie erkannte, was sie da überhaupt tat. "Du bist nur noch am Arbeiten. Merkst du das überhaupt? Du bist morgens früher da, machst keine Pausen und bleibst dann auch noch andauernd länger", hatte sie die Stimme ihrer Freundin noch immer im Ohr. "Kein Wunder, dass du abends immer so müde bist und keine Energie mehr hast."

Gerne hätte sie das alles abgestritten, doch es stimme ja. Abends nach der Arbeit war sie meist einfach nur noch müde und hatte keine Lust mehr, sich noch mit Freunden zu treffen oder etwas zu unternehmen. Sie kochte, räumte etwas auf und verbrachte ein Stündchen am Handy, wobei sie nicht selten einfach einschlief. Das alles wiederholte sich dann am nächsten Tag und am übernachsten und so weiter. Wochen waren vergangen, ehe sie selbst gespürt hatte, dass ihr das nicht gut tat. Immer stand sie unter Strom, sprang sofort, wenn jemand etwas brauchte, wollte oder ihr nur eine Nachricht schrieb. Sie war zur Stelle. Immer. Dass ihr das eigentlich überhaupt keine Freude bereitete und die Dinge, die sie einst gerne getan hatten, dabei völlig auf der Strecke blieben, hatte sich einfach eingeschlichen. Früher war sie so gerne ins Theater gegangen und hatte in der Studienzeit sogar selbst in einem Theaterkurs mitgewirkt. Aufgegeben. Gemütliche Leseabende waren ein Teil der Vergangenheit geworden.
 

Wie seltsam es sich angefühlt hatte, als sie dann zum ersten Mal zur Pause das Büro verlassen hatte. Nicht einmal besonders früh, sondern einige Minuten nach Pausenbeginn. Dennoch hatte sie sich fast schuldig gefühlt, einfach zu gehen. Dabei war es ihre Pause und was sie damit anfing, war ganz allein ihre Entscheidung. Die stand ihr zu und sie ließ damit auch niemanden im Stich. Dieses Gefühl abzuschütteln, war ihr schwer gefallen und nicht nur die ersten Tage. Selbst jetzt noch - und seit damals war sicher schon ein Jahr vergangen - fühlte es sich seltsam an, einfach zu gehen. Besonders seit die neue Kollegin ihre Stelle angetreten hatte und ihr vom ersten Tag an verwirrt nachgeschaut hatte.

Wie sehr sie sich selbst in der jungen, enthusiastischen Frau wiedererkannt hatte. Sie war genau so gewesen. Morgens früher anfangen, die Pause durcharbeiten und später noch länger bleiben, obwohl die Stunden nicht bezahlt wurden. Vom Chef hieß es dann nämlich gerne: "Sie hätten ja gehen können. Die Überstunden wurden nicht verlangt." Unabhängig davon, ob der alte Griesgram das auch meinte, er hatte Recht. Es war ihre Entscheidung, ihre Wahl. Also hatte sie sich entschieden, dass die Pause ihr gehörte. Es mochten "nur" 30 Minuten sein, aber es war ihre Zeit und die genoss sie in dem kleinen Café eindeutig mehr als hier im Büro. Sie wünschte der jungen Kollegin, dass sie zu dieser Erkenntnis auch bald käme, ehe ihr Lächeln einem gestressten Stirnrunzeln wich und ihre Munterkeit einer Müdigkeit, die darüber hinaus ging, nicht ausgeschlafen zu sein.
 

An diesen Punkt, das wusste sie, wollte sie nicht wieder kommen. Der Weckruf ihrer Freundin war genau zur rechten Zeit gekommen. Es war wichtig, sich Zeit für die Dinge zu nehmen, die glücklich machten und auch mal eine Auszeit zu nehmen vom Stress des Alltags, der jeden Menschen tagaus tagein begleitete. Auch abends nahm sie sich nun eher mal die Zeit, wieder ihren alten Interessen nachzugehen. Den Anfang hatte sie damit gemacht, sich eines Jahreskarte fürs örtliche Theater zu kaufen und gleich die erste Vorstellung, die sie interessierte, zu besuchen.

Der Zauber der Bühne hatte sie sofort in ihren Bann gezogen. Reglos, staunend und mit klopfendem Herzen hatte sie die Geschichte auf den Brettern, die die Welt bedeuteten, verfolgt, hatte mit den Protagonisten mitgefiebert, hatte die Geschichte förmlich geatmet. Sie kannte vorher weder die Darsteller noch das Stück selbst. Es war kein großes, bedeutendes Spektakel, über das die Zeitungen berichten würden, doch für sie war es wahre Magie. Sie liebte jede Sekunde, genoss die kleinsten Gesten und Augenblicke. Wie schnell dabei die Zeit vorüber flog, bekam sie nicht mit. Keine Worte hätten ausdrücken können, wie viel Spaß sie gehabt hatte und wie viel es ihr bedeutete, diese Leidenschaft wieder zu spüren. Wie hatte sie das nur aufgeben können? Wie hatte sie es ertragen, ohne das hier zu sein? Kein noch so grandioser Kinofilm könnte ihr das Theater auch nur im entferntesten ersetzen. Wie viel Zeit vergangen war, wurde ihr erst klar, als der Vorhang fiel und der letzte Applaus abebbte.

Früher hätte sie gesagt, das Stücke gehe zu lange, sie wäre dann zu müde und könnte am nächsten Morgen bei der Arbeit nicht konzentriert sein. Dass das gar nicht stimmte, zeigte sich am nächsten Morgen. Es war zwar spät gewesen, als sie heimgekommen und schließlich ins Bett gegangen war, doch eingeschlafen war sie fast sofort, um nach einer erholsamen Nacht bester Laune aufzuwachen. Die Freude des Theaterbesuchs war längst noch nicht verflogen und so strahlte sie förmlich vor Motivation und guter Laune, als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, um mit der Arbeit zu beginnen. Sogar ihrem Kollegen aus der Buchhaltung fiel das auf, als er einen Ordner abholte. "Sie sehen heute aber strahlend aus. Ist etwas Gutes passiert?", hatte er sich erkundigt. Sie hatte nur gelächelt und bejaht, war aber nicht ins Detail gegangen. Es war etwas Gutes passiert. Sie hatte ihre Leidenschaft wiedergefunden, ihre Zeit.
 

Einige Tage nach dem ersten Theaterbesuch war ihr Blick dann auch auf die Eieruhr gefallen. Diese einzustecken, war eine spontane Entscheidung gewesen. Dass das kleine rosa Schweinchen seitdem jeden Tag begleitete, hatte sich danach von selbst ergeben. So sehr, dass ihr zuhause manchmal die Eieruhr fast fehlte und sie sie erst aus ihrer Handtasche holen musste.

Im Café war auch der freundlichen Bedienung, eine Frau in ihren Vierzigern mit kurzen dunken Locken und einem ansteckenden Lächeln, die kleine Eieruhr schnell aufgefallen. Ein wenig peinlich war es ihr schon gewesen, als man sie darauf ansprach, doch als sie erklärte, wieso sie die Eieruhr mitgebracht hatte, lachte die Frau nur herzlich und befand, dass das wirklich eine gute Idee sei. Sie wünsche ganz viel Spaß beim Lesen und bringe auf jeden Fall gleich den Tee. Etwas kleinlaut hatte sie sich bei der Frau bedankt, doch in ihrem Innersten hatten diese Worte unglaublich gut getan. Sie vertrieben die Unsicherheit, die noch immer irgendwo verborgen in ihren Gedanken gelauert hatte, um sich zu melden, sobald auch nur ein schiefer Blick auf sie fiel. Den einen oder anderen hatte sie in den folgenden Wochen ob der kleinen tickenden Eieruhr sehr wohl geerntet, doch die hatte sie ignoriert und zu einem guten Teil nicht einmal mitbekommen. Sie tat, was sie glücklich machte, genoss ihre Zeit und schadete keinem damit. Sollten die Leute doch ruhig gucken. Daran gab es nichts Schlechtes und nichts zu verbergen.
 

Zufrieden genoss sie die kostbaren Minuten, die nur ihr allein gehörten. So lange, bis das schrille Geräusch der Eieruhr sie aus ihren Gedanken riss. Das neue Buch hatte sie noch mehr gefesselt als das letzte. So sehr, dass sie völlig vergessen hatte, wo sie war. Es dauerte einige Augenblicke, ehe das Bild der hohen Türme des alten Konstantinopels vor ihrem inneren Auge verblasste und die Realität sie einholte. Heute hatte sie ihren Tee völlig vergessen. Die Tasse stand noch fast vollends gefüllt vor ihr auf dem Tisch. Gerade, als sie danach greifen wollte, um den kalten Tee doch noch auszutrinken, sprach die freundliche Kellnerin sie an. "Lassen Sie nur. Der Tee ist doch schon ganz kalt und schmeckt nicht mehr. Er geht heute auf's Haus." Verlegen stellte sie die Tasse wieder ab, nach der die Angestellte - oder war sie sogar die Besitzerin? - sofort griff, um sie abzuräumen. "Das ist wirklich sehr freundlich, aber nicht nötig." Sie schob eilig ihr Lesezeichen ins Buch und dieses dann in ihre Handtasche, wo auch ihr Portemonnaie war. "Sie kommen doch fast jeden Tag her. So einer guten Stammkundin kann ich doch wirklich mal eine Tasse Tee ausgeben", wehrte die dunkelhaarige Frau ab und strich sich eine ihrer Locken hinters Ohr. "Dann... Danke." Unsicher erhob sie sich, um zu gehen. An der Tür warf sie der Frau über die Schulter noch einmal ein dankbares Lächeln zu. Dass sie ihre Eieruhr hatte auf dem Tisch stehen lassen, fiel ihr erst im Büro auf.
 

Eigentlich hatte sie die Eieruhr nach Feierabend noch abholen wollen, dabei jedoch nicht gesehen, dass das Café dann schon geschlosen hatte. Ihre Hoffnung, dass die Kellnerin die Eieruhr bemerken und für sie beiseite stellen würde, bewahrheitete sich am nächsten Tag. Als sie das Café betrat, stand die Eieruhr bereits an ihrem üblichen Platz und direkt daneben eine Tasse Tee. Die Frau an der Theke zwinkerte ihr verschmitzt zu. Eine Geste, die ihr ein breites Lächeln auf die Züge zauberte. Dass die Eieruhr leise tickte, bemerkte sie erst, als sei sich setzte. Zwei Minuten. Offenbar die Zeit, die der Tee noch brauchte, um zu ziehen. Tonlos formte sie ein "Danke" auf den Lippen in Richtung der Kellnerin, die nur wissend grinste und eine Tasse zum einzig anderen Gast balancierte. Der junge Mann kam erst seit kurzem her und auch nicht jeden Tag. Sie hatte ihn nur am Rande bemerkt, aber heute fiel ihr auf, dass er ebenfalls las und vor ihm auf dem Tisch eine kleine Sanduhr stand. Die erste Verwunderung wich schnell einem Gefühl von Verbundenheit. Hatte er sich das von ihr abgeguckt oder war es nur Zufall? So oder so, sie gönnte ihm seine Zeit, gönnte ihm die ruhigen Momente, die er in dieser kleinen, in sich geschlossenen Welt des Cafés genoss, während die Welt ringsherum still zu stehen schien.



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