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Rivals' Reunion

von

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Prolog


 

Prolog

My ordinary mind is broken

You did it and you don't even know

You're leaving me with words unspoken

You better get back because I'm ready for more than this. 

(Mika)
 

Yami las das Schreiben in seiner Hand nun bereits zum dritten Mal gründlich durch. Er konnte es einfach nicht einordnen oder sich zu einer Entscheidung durchringen. Und doch konnte er nicht leugnen, dass es etwas mit ihm machte, etwas in ihm ausgelöst hatte. Seit sechs Jahren hatte er Domino nun bereits hinter sich gelassen. Manchmal ertappte er sich dabei, sich zu fragen, ob dieser damals so bedeutungsschwangere Ort überhaupt wirklich existierte. Er war so fernab von der Welt, wie ein eigenes kleines Universum.
 

Und nun – wie aus dem Nichts – hatte er heute Vormittag diesen Brief aus der Post gefischt. Eine Einladung zu einer Reality-Show, die alle damals berühmten Duellanten und einige andere Personen der Öffentlichkeit wieder zusammenbringen sollte. In einem einzigen Haus. Für eine Woche. „Rivals‘ Reunion“ nannten sie dieses Schauspiel. Innerhalb eines prunkvollen, alten Hauses sollten die ehemaligen Helden Dominos miteinander konfrontiert werden, über die vergangenen Jahre und ihre Karrieren und Abstürze sprechen, ihre Erfolge und Misserfolge ausbreiten, und sich einander öffnen. Außerdem sollte es im Haus ein Geheimnis geben, das es gemeinsam oder in Grüppchen zu lösen galt. Offenbar versprach man sich davon prickelnde Unterhaltung und viel Seelenstriptease und Wortgefechte.
 

Yami konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es sich hierbei um eine Masche von der billigsten Sorte handelte, Profit aus ihm und anderen involvierten Personen zu schlagen – andererseits war die Inszenierung seines Lebens für ein Publikum nun mal das, womit er im Großen und Ganzen sein Geld verdiente. Und der Gedanke, einige bekannte Gesichter wiederzusehen, weckte lange schlummernde Emotionen in ihm. 
 

Er dachte zurück an seine letzten Monate in Domino City. An das entscheidende Duell mit Yugi. Daran, wie verletzt dieser gewesen war, als ihm der wohlverdiente Befreiungsschlag in Form eines Sieges gegen ihn, den Pharao, nicht gelungen war. Wie ein getretener Hund hatte er ausgesehen. 
 

„Yugi“, hatte Yami ihn zu trösten versucht, „bitte versteh mich. Es hätte sich einfach nicht richtig angefühlt. Ich hatte nie Gelegenheit, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Nicht vor 3000 Jahren und nicht heute. Ich möchte noch so vieles herausfinden. Wer ich bin und was ich vom Leben will. So ein blödes Spiel ist doch das letzte, womit du dir beweisen müsstest, dass du eine eigenständige Person bist. Das tust du bereits jeden Tag aufs Neue.“ Außerdem war da ein Instinkt gewesen, der ihm sagte, dass auch nach ihrem epischen Spiel Bakuras Präsenz noch nicht verschwunden war. Sogar jetzt konnte er sie noch dumpf spüren, wenn er in seinem Geist danach tastete. Ihre Verbindung zueinander war nie gekappt worden: zwei umherirrende, fremde Seelen auf der großen Suche. 
 

Yami hatte viel vom Leben gewollt. Und er hatte es auch bekommen. In erster Linie hatte er mit seinem eigenen Körper erst eine reale Chance auf ein eigenes Leben bekommen. Zuerst hatte er ein Studium der Sozialen Arbeit absolviert. Er wollte mit beiden Beinen im Leben stehen und etwas bewegen. Als seine Social Media-Profile jedoch begannen, auch überregional und schließlich international wahrgenommen zu werden, bot man ihm in den USA die Moderation einer erfolgreichen Gameshow an. Und Yami hatte sich entschieden zu gehen. Herauszufinden, welches Leben auf ihn wartete. Viele interessante Erfahrungen und Jobs waren gefolgt. 
 

Nun war er bereits seit Jahren in Übersee und hielt nur sporadischen Kontakt zu seinen Freunden und Bekannten aus Domino. Natürlich tauschte er sich regelmäßig mit Yugi aus. Auch mit Joey telefonierte er hin und wieder. Wenn er in New York war, besuchte er Teas Shows Am Broadway und sie brachten sich gegenseitig auf den neusten Stand. 
 

Er seufzte. Dann schaltete er den Lokalsender von Domino an seinem Tablet ein. Er hatte das Bedürfnis, wieder auf Tuchfühlung mit alldem zu gehen, zu sehen, wie die Stimmung war. 
 

Und als hätte eine höhere Macht ihn geleitet, erschien sofort Seto Kaibas Gesicht auf dem Display. Offenbar zeigten sie gerade ein Interview mit dem CEO der Kaiba-Corp zur geplanten Sendung. „Ja, ich werde mich auf diesen Schwachsinn einlassen. Und ich hoffe, dass sich daraus auch einige langerwartete Revanchen ergeben werden, bei denen endlich einiges klargestellt wird“, schnarrte Seto in teils ernsthaft-angespanntem, teils belustigtem Tonfall. Und Yami hatte das Gefühl, der Firmenchef blickte ihn durch das Display direkt an, als wären seine Worte nur für ihn bestimmt.
 

Sogar Seto hatte sich also auf diese Sache eingelassen. Ein untypischer Schachzug. Yami hatte immer den Eindruck gehabt, er habe es ihm übelgenommen, dass er fortgegangen war. Seto konnte seinen Verpflichtungen der Kaiba-Corp nicht so einfach entrinnen. Und so saß er in Domino fest, während Yami seiner Kontrolle entschlüpft war. Der ehemalige Pharao musste schmunzeln, wenn er daran dachte, dass in der Show keine Duel Discs erlaubt waren. Ein gutes, altmodisches Duell mit Spielmatte also. Den Gedanken daran fand Yami so amüsant wie intim. 
 

In diesem Moment vibrierte sein Smartphone und auf dem Display wurde eine Nachricht von Joey angezeigt: „Hey, Kumpel, bist du dabei? Ich hoffe doch. Tea und Yugi sind auch angefragt worden. Ich freu‘ mich schon auf eine gute Zeit!“ Yami schüttelte ungläubig den Kopf. Es könnte durchaus interessant werden. Eine unerwartete Welle von Heimweh überkam ihn und der Wunsch, eine Lücke zu schließen, Distanz abzubauen. 
 

Abgesehen davon: Er war noch immer der König der Spiele. Und war das hier nicht so etwas wie eine Herausforderung zu einem Spiel? Er lächelte. Wie konnte er da ablehnen? Er nahm den Hörer und wählte die Nummer auf dem Schreiben. Er hatte sich entschieden.

Appell


 

1. Appell

Making your way in the world today

Takes everything you got

Taking a break from all your worries

It sure would help a lot

Wouldn't you like to get away?

Sometimes you want to go

Where everybody knows your name

And they're always glad you came

You want to be where you can see

The troubles are all the same

You want to be where everybody knows your name.

(Gary Portnoy)

 

Joey Wheeler im Interview
 

Naja … für mich war es jetzt keine große Überwindung, mich hierfür herzugeben. Nich, dass ich irgendwie … keinen Stolz hätte oder so. Aber ganz ehrlich … ich bin nich erfolgreich, wie Yami oder Kaiba, dieser reiche Penner. Ich bin Altenpfleger. Mein Vater war ein Säufer und hat lieber seinen letzten Penny für Schnaps ausgegeben, als mir irgendwas zu hinterlassen. Ich kann’s mir einfach nicht leisten, mir zu schade für sowas zu sein. 
 

Außerdem … find ich’s ganz nett, dass so alle mal wieder zusammenkommen. Ich weiß, dass unsere Clique sich auseinandergelebt hat und dass man Reisende nicht aufhalten kann und so. Ich will auch niemandem auf die Nerven gehen. Aber manchmal fehlt’s mir, wie es früher war. Ich denke, ich bin jemand, der Freundschaften pflegt, sofern welche zustande kommen. Ich hab vielen, die hier drin sind, ne ganze Menge zu verdanken. Ich hab’s nich vergessen. Deshalb … ja … ich freu mich auf die Zeit hier. Ehrlich, Mann. 
 

Ok … ich hatte teilweise ne harte Zeit … aber das is vorbei. Es war nich immer einfach. Manchmal sagt man sich, dass man nie dieselben Fehler macht wie die eigenen Eltern. Man denkt, man ist vor allem gefeit. Man fühlt sich als was Besseres. Tja … aber wir sind alle nur Menschen, oder? Ich hab‘ viel Mist gebaut, das weiß ich. Ich bin nicht auf alles stolz, was ich gemacht hab. Manchmal isses schwer, was anders zu machen als die Menschen, die man sein ganzes Leben lang vor Augen hatte. Aber … ich bestimm' über mich selbst und ich will nich' die Schuld auf irgendjemanden schieben. Alles, was ich verbockt hab, geht auf meine Kappe. 
 

Ich will einfach … ich will den Leuten da draußen zeigen, dass Joey Wheeler kein Loser ist. Dass mein Leben nicht durch das bestimmt wird, was mir quasi „in die Wiege gelegt“ wurde. Menschen können sich ändern. Wir ham immer die Wahl.
 

Wenn ich meinem Vater heute was sagen könnte … wenn er noch hier wär … dann ist es wohl das: Wir ham immer ne Wahl. Auch du hattest eine. Aber du hast es nich' geschafft, die richtige zu treffen. Und das kann ich dir nich' verzeih’n. Das nich'.
 

Ich hab‘ gewählt, dass ich mich hier zeigen will, wie ich bin. Keine Show. Nur Joey. Bis auf die Knochen.

 
 

~*~

Yugi und Joey holten Yami vom Flughafen ab. Der Empfang war herzlich und Yami war erleichtert darüber. Er war angespannt gewesen und hatte befürchtet, die Stimmung könne vielleicht unangenehm und befremdlich sein. Nach all der Zeit, in der ihn Yugi nur zwei Mal in den USA besucht hatte und er selbst kein einziges Mal nach Domino zurückgekehrt war, hatte ihn nun die Angst überkommen, sie könnten sich entfremdet haben. Dem war aber nicht so. Nach einer kurzen Zeit des Smalltalks saßen sie zu dritt in einer von Dominos Kneipen und verbrachten einen lustigen Abend miteinander, bei dem das ein oder andere Glas geleert wurde. 
 

Sie nutzten die verbleibende Zeit auch, um sich ausführlich über die anderen Kandidaten zu informieren. „Ach, und Kaiba hat bei einer Pressekonferenz verlauten lassen, wenn du nicht dabei bist, dann löst auch er seinen Vertrag mit dem Sender wieder auf!“, klärte Yugi Yami eifrig über die neusten Ereignisse auf.  „Ach … hat der das?“, Yami versuchte, gleichgültig zu wirken und sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, aber Joey schien die leichte Regung in seinen Augen ausgemacht zu haben. Nachdenklich studierte er sein Gesicht und fragte dann: „Nicht, dass es mich was anginge, aber hast du dich irgendwann mal mit ihm ausgesprochen?“ „Es gab nie irgendwas zu besprechen“, sagte Yami schnell, „Das sieht er sicher genauso.“ Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass ihn ein mulmiges Gefühl umklammert hielt, wenn er an ein Wiedersehen mit Seto Kaiba dachte. Sie waren tatsächlich nicht gerade mit geklärten Fronten auseinandergegangen.
 

„Nah, vergessen wir das. Das wird sich alles zeigen“, sagte Joey und streckte sich genüsslich, „Lasst uns diesen letzten Abend in Freiheit genießen, Leute! Ich hole uns noch was zu trinken!“ Und auch Yami hatte alles, was kommen würde, ruhen lassen. Es blieb noch genug Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wenn es soweit war. 
 

„Also dann, auf uns!“, Joey hatte für Yami und Yugi Bier und für sich selbst eine Apfelsaftschorle an ihren Tisch gebracht und hob nun sein Glas. Die beiden anderen taten es ihm gleich. Yami spürte, wie viel Wärme in der Anwesenheit der beiden lag. Joeys Blick war so offen und ehrlich, wohlwollend, und Yugi war aufrichtig glücklich, dass sie die nächste Zeit zusammen verbringen würden. Ein Lächeln legte sich auf Yamis Lippen. Ja, er war froh, hier zu sein. Er war wieder zu Hause. Er war angekommen. 

 
 

*

Am nächsten Tag bereuten sie es nicht, dass sie den Vorabend so ungezwungen miteinander verbracht hatten. Als sie am frühen Vormittag am Set ankamen, wurden sie zuerst durch einen endlosen Marathon aus Makeup, Styling und Interviews gejagt. Yami war diese Art von Arbeit gewohnt, doch Joey brach ungefähr zu jeder vollen Stunde in einen ungeduldigen Wutanfall aus und auch viele andere Teilnehmende wirkten angespannt und verunsichert. 
 

Auch Tea war mittlerweile am Set eingetroffen. Sie hatte noch gestern Abend in einer Broadwayshow mitgewirkt und war unmittelbar danach in den Flieger gestiegen. Ihr Zeitplan war immer eng getaktet und mit Yami hatte sie gemein, dass sie sich trotz Stress oder Müdigkeit nie aus der Ruhe bringen ließ oder zur Diva wurde. Auch für sie war das lange Warten v am Set Routine und sie plauderte ausgelassen mit Joey und Yugi, während ein Visagist ihre Foundation auftrug und eine Stylistin an ihren Haaren herumzupfte. 
 

Yami empfand diese Zeit vor Drehbeginn eigentlich stets als Geschenk. Er konnte sich ganz in sich zurückziehen, während die Visagisten und Designer seinen Körper manipulierten, und nutzte diese Ruhe, um seine Mitstreiter ein wenig näher unter die Lupe zu nehmen. 
 

Auf dem Stuhl neben ihm saß ein junger Mann mit schwarzem, widerspenstigem Haar und Brille, der ihm freundlich und offenherzig zulächelte. Einige Meter entfernt erspähte Yami dessen Ex-Mann, der wohl der eigentliche Grund für die Anwesenheit des Schwarzhaarigen war. Sicherlich erwartete sich das Fernsehteam eine Menge dramatischer Szenen von diesen beiden Charakteren, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. 
 

Der nette Schwarzhaarige hieß Umko Bari und war ein ruhiger, bodenständiger und gutmütiger Krankenpfleger. Sein Ex-Mann Limono Otoya hingegen erregte nicht nur durch sein Äußeres, das sich vor allem durch sein giftgrünes Haar und seinen extravaganten Kleidungsstil auszeichnete, sondern auch durch sein zynisches, eigensinniges Wesen Aufsehen. Gerade hatte er sich selbst aus seiner Sitzung mit den Visagistinnen entlassen und schlenderte nun scheinbar unbeeindruckt zu ihnen herüber. Er ließ sich nur schwer in ein Korsett zwängen und Yami wunderte sich, warum er sich überhaupt auf ein solch abgekartetes Spiel wie diese Show hier eingelassen hatte. Womöglich konnte auch er eine kleine Finanzspritze vertragen. 
 

Vor Umkos Stuhl blieb er stehen und begann, wie in Plauderlaune, ein lockeres Gespräch, als ob nie etwas zwischen den beiden vorgefallen wäre: „Na, haben sich dich auch für diesen Blödsinn geködert? Das Ganze ist doch ne einzige Farce.“ Umkos Blick wurde hart und Yami konnte sehen, wie seine Hände sich verkrampften. Tonlos presste er zwischen den Zähnen seine Antwort hervor: „Na, damit kennst du dich ja bestens aus.“ Limono sah ihn unverwandt an, schließlich nickte er wissend, als ob sich ein Verdacht bestätigt hätte. „Alles klar. Du hast immer noch ein Problem mit mir. Lass es mich wissen, wenn du wieder bereit bist, normal mit mir zu kommunizieren. Bis später“, sagte er und streunte davon, während Yami beobachtete, wie Umko in sich zusammensackte wie ein nasser Sack. 
 

Limono war als Leadsänger und Gitarrist der Band „Green Leviathan“ bekanntgeworden. Zudem war er kein unbeschriebenes Blatt in der Homosexuellenszene und im Szeneclub "Black Rainbow" gewesen. Yami hatte diese Diskothek ein paar Mal besucht und Limono war ihm stets unangenehm aufgefallen. Er war visuell laut, omnipräsent, manipulativ und schaffte es, jeden Mann auf die durchschaubarste Art um den Finger zu wickeln.
 

Nachdem zuerst seine Band, unmittelbar darauf dann seine Ehe mit Umko in die Brüche gegangen war, war Limono jahrelang abgetaucht, niemand wusste wohin. Vor wenigen Monaten war er dann urplötzlich wieder auf der Bildfläche erschienen. In die Aufmerksamkeit der Medien war er vor nicht allzu langer Zeit vor allem wegen der Gerüchte geraten, eine Affäre mit Seto Kaiba zu haben. Als sein Mann war Umko vollkommen unfreiwillig in die Scheinwerfer dieses Medienrummels hineingeraten. Er hatte mit alldem nichts zu tun und hätte wohl ein ruhiges Leben vorgezogen.
 

Yami war auch überrascht, als er Mokuba Kaiba vorbeihuschen sah, der ebenfalls an der Show teilnahm. Acht Jahre hatten den damals 12-Jährigen zu einem attraktiven jungen Mann heranwachsen lassen. Er hatte sich sehr zum Positiven entwickelt und war mittlerweile Vizepräsident der KaibaCorporation, absolvierte allerdings auch neben der Arbeit ein BWL-Studium. Sein schwarzblaues Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Er war geschmackvoll, aber nicht geschäftlich gekleidet. 
 

Von seinem Bruder war keine Spur zu sehen, soweit Yami es bisher im Blick hatte. Er war sich wohl etwas zu schade für das Getue hier und es war nicht verwunderlich, wenn eine Größe wie er es war beim Aufsetzen seines Vertrages einige Extrawünsche erfüllt bekommen hatte. 
 

Als sie sich alle gemeinsam auf den Weg zum Parkplatz machten, auf dem sie in Wagen verladen und zum eigentlichen Drehort chauffiert wurden, erhaschte Yami einen kurzen Blick auf einen weißen Haarschopf, der gerade in einem der Autos verschwand. Ein vages Gefühl von Zeitlosigkeit überkam ihn. Er spürte, dass die Fäden der unsichtbaren Bande, die ihn mit dem Geist des Milleniumsringes verbanden, in Schwingungen versetzt wurden. Und sofort war ihm klar, dass es sich bei dem jungen Mann im Wagen nicht um Ryou handelte. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust und heftig überkamen ihn Bruchstücke von Erinnerungen und fluteten seinen Verstand, bis sein Kopf sich anfühlte, als müsse er zerspringen. Er drängte sie mit aller Macht zurück. Aber er hatte nun die leise Ahnung, dass dieses Zusammentreffen in mehr als nur einer Hinsicht enthüllend sein würde.


 


 


 


 

Startschuss


 

2. Startschuss

Isn't it strange

That we never keep up with

The breakneck pace, who we are how we were

Another case

Another reminder

The future’s here and we want something more.

I know I’m late, but it’s ok, because I’m on my way.

You said you've had a hell of a time

But do you find peace of mind when things change

You told me it's been so hard to find

But do you look deep inside when things change.

(Less than Jake)

 

Yugi Muto im Interview
 

Ich … entwickle Spiele. Also, Brettspiele. Ganz altmodisch. Ich mache quasi dasselbe wie Seto Kaiba, nur in analog (lacht). Ich muss sagen, mittlerweile habe ich einige Spiele rausgebracht, die ganz gut laufen. Ich kann definitiv davon leben, ja. 
 

Eine Zeit lang hatte ich extreme Selbstzweifel. Ich … wusste nicht mehr so richtig, wer ich eigentlich bin und was ich will. Ich hatte das Gefühl, keine eigenständige Persönlichkeit zu sein und nichts alleine hinzukriegen. Daran hatte ich lange zu knabbern. Und egal, wie viele Leute in deinem Umfeld dir das Gegenteil versichern … letztendlich bist du es selbst, der es glauben muss. Und das ist nicht so einfach. Du musst es von dir selbst hören. Dir selbst beweisen. 
 

Aber irgendwann hab ich dann doch kapiert, dass ich vielleicht nicht so schlecht bin in dem, was ich jetzt mache. Klar, ich hab immer noch meine schwachen Momente … es geht mir dabei gar nicht mal ums Gewinnen von Duel Monsters Turnieren. Seit dem KC Grand Prix hab ich schon noch das eine oder andere mal im Finale gestanden. Ich habe auch kein so großes Interesse mehr dran, in der großen Liga zu spielen. 
 

Es geht mir mehr darum, dass ich mir jahrelang eingeredet hab, dass mich keiner so richtig wahrnimmt. Dass ich alleine auch nichts ausrichten kann. Dass wenn meine Freunde die Wahl hätten, ob sie Yami oder mich um sich haben wollten, sie immer Yami wählen würden. Yami hatte so viel, das ich gerne gehabt hätte. Ich musste mich immer dafür anstrengen, anerkannt zu werden. Das dachte ich zumindest. Dann, wenn ich so darüber nachgedacht hab, wusste ich manchmal gar nicht mehr, was MICH eigentlich ausmacht, ob ich überhaupt jemand bin. 
 

Aber ja … das ist vorbei. Geschichte. Ich hab mittlerweile kapiert, dass man nicht gut daran tut, sich an anderen zu messen. Dass es nicht eine einzige Instanz gibt, an die man anknüpfen muss. Und dass Menschen nicht nur eine Person in ihr Herz schließen können. Ich habe gute Eigenschaften. Ich bin etwas wert. Und mir ist es wichtiger, dass Yami in mein Leben gekommen ist als eine Bereicherung. Und nicht als Bedrohung. 
 

Ja, manchmal muss ich mir das alles immer wieder vorbeten, damit ich es glaube. Auch heute noch. In dunklen Momenten. Aber insgesamt … ist es ok. Mit geht es gut. Ich bin erfolgreich und habe Spaß an dem, was ich tue. Was will man mehr? 
 

Also nochmal fürs Protokoll: Ich mag Yami. Ich habe ihm so viel zu verdanken und er ist für mich ein wahrer Freund. Nur falls das jetzt anders rübergekommen sein sollte …

 
 

~*~
 

Endlich erreichten sie ihren Zielort. Schweigend standen sie alle vor einem riesigen Gebäude, das ein wenig an das Spukhaus aus Psycho erinnerte. Es war erhaben und schlummernd.  Schichten um Schichten aus Zeit schienen sich über seine Mauern gelegt zu haben und eine anachronistische Welt zu formen. Man konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass es innerhalb des Hauses warm und erleuchtet war und dass es sich bald mit Stimmen und Leben füllen würde. 
 

Drinnen angekommen zeigte man ihnen zuerst ihre Zimmer. Im ersten und zweiten Stockwerk gab es lange Korridore, die mit Türen gespickt waren. Das Innere der Zimmer verlieh einem das Gefühl, in einem Hotel zu sein, aber dennoch wirkten sie weniger steril, sondern vielmehr wie Gästezimmer aus einer anderen Zeit. Die Möbel waren verschnörkelt, die Bettwäsche und Vorhänge schwer und dunkel und das Licht schummrig. 
 

Ihnen war nur wenig Zeit gegönnt, um ihre Sachen abzustellen, dann wurden sie gebeten, sich im Speisesaal im Erdgeschoss zu versammeln. Vor ihnen erstreckte sich ein langes Buffet mit den erlesensten Köstlichkeiten. Dazu mehrere Flaschen Wein. Stehtische waren um das Buffet herum postiert. 
 

„Ich hätte ja lieber eine Eistorte!“, beschwerte sich Malik Ishtar lauthals, dem die Fülle der gebotenen Speisen offenbar nicht ausreichte und der erst gestern aus Ägypten angereist war, um an der Show teilzunehmen. Die Battle City-Zuschauer hatten Malik wegen seines exotischen Aussehens und seines durchtrainierten Körpers gefeiert und wollten nun sehen, was aus ihm geworden war. 
 

Joey hingegen war hin und weg. „Oh Mann, Leute, mir läuft das Wasser im Mund zusammen! Ich kann einfach nicht warten!“ Aufgeregt sprang er von einer Ecke der Tafel zur nächsten und kehrte mit prallvollen Backen und Händen zu dem Stehtisch zurück, an dem sich Yami, Yugi und Tea postiert hatten. „Joey, du bist unmöglich! Du hättest wenigstens warten können, bis wir angestoßen haben!“, raunte ihm Tea peinlich berührt zu. „Ach was“, tat Joey seine Bedenken ab, „das Leben ist zu kurz, um so förmlich zu sein!“ Yami musste schmunzeln. An der Dynamik ihres Freundeskreises hatte sich trotz der langen Zeit nichts geändert. Sie waren sich nicht fremd geworden oder zu schade, um unbeschwert zu scherzen.
 

Auch Umko war einer der ersten gewesen, der neugierig die Speisen auf dem Tisch begutachtet hatte. Er verschluckte sich jedoch unbeholfen an einem Reisbällchen, als Limono plötzlich hinter ihm stand und an ihm vorbei nach etwas auf dem Tisch griff. „Ich denke, hier ist etwas für uns“, bemerkte er unbeeindruckt. In der Hand hielt er einen versiegelten Brief, der neben dem Spanferkel drapiert gewesen war. Alle entschieden, dass Yugi die Ehre zukommen sollte, ihn zu öffnen. Darin stand: 
 

„Liebe Domino-Stars, willkommen in eurem neuen zu Hause für die nächsten Tage. Wir hoffen, unsere Eröffnungszeremonie gefällt euch und das Essen mundet. Denn dies wird die letzte Mahlzeit sein, die ihr nicht selbst zubereiten müsst. Alles, was ihr zum Kochen braucht, findet ihr in den Vorratskammern. Vergesst über die Woche nicht, das Haus zu erkunden, denn es birgt ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Außerdem denkt daran, eure Haushaltsdienste einzuteilen. Denn natürlich müsst ihr euch selbst versorgen und organisieren. Und nun wünschen wir euch eine schöne und unterhaltsame Woche und einen guten Appetit!“
 

In dem Augenblick, in dem Yugis letzte Worte verklungen waren, öffnete sich knarrend die Tür zum Speisesaal. Verdutzt fuhren alle herum. Im Türrahmen stand Seto Kaiba und bedachte die Anwesenden mit einem unlesbaren Blick. Es war totenstill und die Luft zum Zerreißen gespannt, als er sich seinen Weg durch die Teilnehmenden suchte. Als er Yami passierte und ihre Blicke sich trafen, hatte dieser das Gefühl, er verweilte kurz und schien etwas in seinen Augen ergründen zu wollen. Die Antwort auf eine Frage, die er sich lange gestellt hatte. Yami sah so viel Stolz, aber auch eine hauchdünne Unsicherheit und Angerührtheit. Er hielt dem Blick stand und versuchte, ihm nicht mit Befangenheit zu begegnen. Warum sollte er auch? Es gab nichts, weshalb man gehemmt hätte sein müssen. Er hatte geglaubt, es sei Gras über Dinge gewachsen, die so viele Jahre zurücklagen, aber womöglich hatte er sich getäuscht? Und womöglich war auch er neugierig auf all das hier gewesen, weil die Frage an ihm nagte, ob alles hätte anders kommen können. 
 

Schließlich war es Seto, der seinen Blick abwandte und die Augen gen Boden senkte. Yami spürte, dass alles womöglich schwerer auf dem Firmenchef lag, als er es vermutet hatte. Der Drang erwachte in ihm, mit Seto zu sprechen und ihm mit einigen Worten diese Anspannung zu nehmen. Doch der Moment war vorbei und Seto stellte sich an einen Stehtisch zu seinem jüngeren Bruder, der ihn aufgeschlossen und freudig begrüßte. 
 

„Oh Mann, das ist das beste, das ich seit Langem gegessen hab!“, schmatze Joey mit vollem Mund, als sich die Situation wieder entspannt hatte und alle gelöst miteinander plauderten, „ich hoffe nur, das wird keine Henkersmahlzeit!“ Röchelnd verschluckte er sich an einem Stück Brot. Während Yugi ihm schmunzelnd auf den Rücken klopfte, bewegte sich ein silberner Haarschopf auf ihren Stehtisch zu. Im ersten Augenblick verkrampfte sich Yami, doch das bedeutungsträchtige Gefühl von vorhin blieb aus und auf den zweiten Blick sah er, dass es nicht Bakura, sondern Ryou war, der sie freundlich begrüßte. Yugi freute sich ehrlich, seinen alten Freund einmal wieder zu sehen. Während Ryou von seinen letzten Jahren in England berichtete, entschuldigte sich Yami und suchte sich seinen Weg durch den Raum. 
 

Abseits der anderen Kandidaten saß derjenige, den er suchte, auf einem großen Ohrensessel und beobachtete das Treiben in der Halle aufmerksam und mit einem leicht amüsierten Glimmen in den Augen. Ohne ein Wort zu sagen lehnte sich Yami an den Sessel und sah von der Seite aufmerksam auf Bakura herab. Auf dessen Mundwinkeln spielte nun ein Lächeln. 
 

„Na, Mumie, du warst lange weg. Hast du dir ein neues Königreich gesucht?“ Nun war es an Yami zu lächeln. „Sowas in der Art. Und du? Wo hast du dich rumgetrieben? Und was viel wichtiger ist: Warum bist du hier und wie kann es überhaupt sein, dass DU hierfür eingeladen wurdest?“
 

Bakura ließ ein amüsiertes Kichern vernehmen. „Ich wüsste gar nicht, was dich das zu interessieren hat. Aber naja, zu deiner letzten Frage nur so viel: Ich habe mir Ryous Ausweis ‚geliehen‘, um mich als er einzuschleusen. Aber die kleine Natter hat es irgendwie geschafft, trotz meiner Maßnahmen herzufinden und sich ebenfalls anzumelden. Als sie mitbekommen haben, dass wir uns gleichen wie ein Ei dem anderen, wollten sie uns beide in der Show. Die springen doch auf alles an, was auch nur im Geringsten die Quote hochtreiben könnte.“
 

Yami sah Bakura nachdenklich an. Wenn er nach seinem Geist tastete, dann war er sich ganz sicher, dass Zorc verschwunden war. Doch so beruhigend das auch im ersten Moment zu sein schien, so warf es doch viele weitere Fragen auf: Wer war Bakura? Und welche Ziele verfolgte er? Sein Gesicht sah vom Leben gezeichnet aus. Yami fragte sich ernsthaft, was er in den letzten Jahren getrieben hatte. 
 

Bakura schien bemerkt zu haben, dass es in Yamis Kopf arbeitete, während er ihn nun unverblümt ansah. Vielleicht hatte er auch die dünnen Fühler bemerkt, die der ehemalige Pharao nach seinem Wesen ausgestreckt hatte. Nun drehte auch Bakura seinen Kopf in Yamis Richtung und sah ihm unverhohlen in die Augen: „Pharao … oder Yami, wie du dich ja jetzt nennst … erinnerst du dich denn?“
 

Yami zuckte zusammen. Er zögerte kurz, bevor er antwortete, obwohl ihm nicht ganz klar war, ob Bakura eine spezielle Erinnerung im Sinn hatte oder seine Frage ganz allgemein gestellt war: „… An manches.“ Er konnte es schwer erklären, aber von Zeit zu Zeit überkamen ihn Bruchstücke von Erinnerungen aus seinem früheren Leben als Pharao. Ganz unvermittelt. Es konnte überall passieren: Auf einer öffentlichen Toilette, nachts im Bett, auf einer Gala oder beim Überqueren einer Straße. 
 

Bakuras braune Augen schienen ganz in sich zu ruhen und sahen ihn nun eindringlich an. Vielleicht versuchten sie zu ergründen, welcher Erinnerungen ihm bereits zur Verfügung standen und welche nicht. „Gut, gut“, sagte er schließlich, „vielleicht hast du ja endlich begriffen, dass weglaufen dich nicht im Geringsten weiterbringt.“ Yami biss sich auf die Unterlippe und machte ein knurrendes Geräusch. „DAS wiederum geht DICH nicht das Geringste an. Und abgesehen davon: Das alles ist 3000 Jahre her. Ist es nicht langsam mal Zeit, diesen verstaubten Kram ruhen zu lassen? Wie genau bringt es uns weiter, wenn wir ständig weiter darauf herumreiten?“ 
 

Er fühlte sich ertappt und gleichzeitig ärgerte es ihn, dass Bakura ihm solche unverschämten Vorwürfe machte. Er spürte, dass mehr Wahrheit in dem lag, was der Geist des Ringes gesagt hatte, als ihm lieb war. Vielleicht war er nach der Rückkehr aus dem alten Ägypten tatsächlich vor mehr Dingen weggelaufen, als er zugeben wollte. 
 

So vieles aus seiner Vergangenheit hatte ihn umklammert gehalten wie starke Ranken und er hatte nicht gewusst, wie er damit umzugehen hatte. Je öfter ihn diese Erinnerungsblitze ohne Vorwarnung überfielen, desto größer war seine Wut auf all das geworden, das sein Leben so alternativlos vorherbestimmt hatte. Was, wenn er das alles nicht wollte? Was, wenn alles, was er wollte, Zeit war, um herauszufinden, wer er war und WAS er wollte? Aber es war, als tippte ihm seine Vergangenheit ständig von hinten auf die Schulter und erinnerte ihn daran, dass er keine Wahl hatte. Nie gehabt hatte. Dass ihn alles ohnehin einholen würde.
 

Ja, er hatte seinen eigentlichen Namen erfahren. Und er hatte ihn wieder abgelegt. In seinem Youtubekanal und auch sonst überall in seinem Privatleben war er nur als Yami bekannt. Er hatte für sich selbst ein Zeichen setzen wollen, dass er im Hier und Jetzt nicht derselbe sein wollte. Dass ihm ein neues Leben geschenkt worden war. Dass er jemand anders war als zuvor. Und als eigene Person brauchte er einen eigenen Namen. Nur für sich. 
 

Der physische Abstand zu all jenen, die mit seiner Vergangenheit unentwirrbar verwoben waren, hatte ihm geholfen. Auch wenn er wusste, dass er ihre Stimme nicht zum Schweigen gebracht hatte, sondern nur aus ihrer Reichweite war. Irgendwann würde er sich damit auseinandersetzen müssen. So viel stand fest. Er fragte sich, ob dieser Zeitpunkt jetzt gekommen war. 
 

Noch immer hielt Bakura Yamis Blick stand und beobachtete offenbar, dass in seinem Inneren etwas geschah. „Du klingst vollkommen anders als damals“, stellte er dann nüchtern fest, „Woher diese Sinneswandel? Bei unserer letzten Begegnung warst du noch vom Schicksal und von deiner Vergangenheit geradezu besessen.“ Yamis Blick wurde hart und ein wenig überheblich. „Damals ist damals. Es ist lange her. Menschen ändern sich. Zumindest trifft das auf mich zu. Ob das auch für dich gilt, wird sich zeigen. Ich werfe in jedem Fall ein Auge auf dich, mein Lieber.“  Bakura lächelte, vielleicht ob der vertrauten Anrede, während Yami sich von der Sessellehne abstieß und den Geist des Ringes sich selbst überließ.

 

Zusammenkunft


 

3: Zusammenkunft

You know what I'm going through

I know this is true

'Cause you stood in my shoes

Desire's inside of me

But it's hard to believe

In what you cannot see

Can you catch the wind?

See a breeze?

Its presence is revealed by

The leaves on a tree.

(DC Talk)

Yami im Interview
 

Mein Beziehungsstatus … also ich bin Single. Okay… einige wissen ja wahrscheinlich, dass ich bis vor einem Jahr in einer Beziehung mit meinem Manager war. Es war immer groß in den Medien und … ich habe ja auch in den sozialen Netzwerken keinen Hehl daraus gemacht. Leider … hat es einfach nicht so richtig funktioniert. Aber es ist ok. Ich weiß, dass es nicht das Richtige war und es sollte einfach nicht sein. Im Nachhinein tut es mir nur etwas leid, dass ich mein Privatleben zu dieser Zeit vielleicht zu sehr in der Öffentlichkeit ausgebreitet hab. Wir sind nach der Trennung so sehr ins Kreuzfeuer der Klatschpresse geraten … das hätte sich vielleicht verhindern lassen.
 

Also … naja, ich muss mittlerweile schon auch sagen, dass ich mehr daran hätte arbeiten können. Aber ich war nicht unbedingt bereit dazu. Sigi war wirklich ein Super-Typ. Ihn trifft da gar keine Schuld. Es war nur … zu dieser Zeit hatte ich einfach zu viele andere Dinge im Kopf und zu viel mit mir selbst zu tun. Ich war so fokussiert auf meinen Job, auf diese Erfüllung, die mir meine Karriere brachte. Ja, ich fürchte, er ist da einfach etwas zu kurz gekommen.
 

Aber dann denke ich auch wieder: Wenn es das Richtige gewesen wäre, dann hätten wir das schon hinbekommen. Aber es war am Ende mehr wie eine Wohngemeinschaft. Und übrig geblieben ist eben nur die geschäftliche Beziehung, die uns ja auch erst zusammengebracht hat. Und ich war in einem Modus, wo es mir nicht so wichtig war. Ich hätte mir besser überlegen sollen, wie ich wirklich zu Sigi stehe. Ja, vielleicht war ich tatsächlich ein wenig egoistisch. Ich war nur froh, als mir endlich klargeworden ist, dass da keine Gefühle mehr waren. Was ich mir vorwerfe, ist, dass ich diese Entscheidung so lange vor mir hergeschoben habe.
 

Ich musste mich dann leider trotzdem von Sigi als Manager trennen. Ich hab einfach gemerkt, dass das Ganze zwischen uns stand und dass es ihn belastet. Ich dachte, es ist das Beste. Ja … es war eine schwierige Zeit. Sehr schade, das alles.
 

Hm … Gerüchte über eine Beziehung mit Seto Kaiba? … Ich weiß jetzt nicht, auf was Sie da hinauswollen. So eine Beziehung hat es nachweislich nie gegeben. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
 

~*~
 

Seto stand am Eingang der Kammer. Von draußen schien ein Strahl des gleißenden Sonnenlichts zu ihnen herein, der den kleinen Raum jedoch nur schwach beleuchtete. Die anderen waren bereits wieder in das wärmende Licht geflüchtet, um die eiskalten Schatten der Vergangenheit aus ihren Gliedern zu vertreiben, während er noch immer hier stand und spürte, wie die Kühle dieses aufgeladenen Ortes ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
 

Nur er, der andere Yugi, hatte sich noch nicht zu den anderen gesellt. Noch immer stand er vor der Tafel der verlorenen Erinnerungen und wirkte weiterhin abwesend, in entfernten Sphären gefangen. Die Anspannung schien keinesfalls von ihm abgefallen zu sein. Nach wie vor war es für Seto nicht greifbar, was sich abgespielt hatte. Und als die schmale, kleine Gestalt sich schließlich zu ihm umdrehte, erwartete er halb, in die Augen des kleinen Yugi zu sehen. Nichts an dessen Präsenz löste in ihm dieses schwindelerregende Gefühl des freien Falls aus.
 

Doch seine Erwartungen wurden nicht bestätigt. Als die Person vor ihm sich umwandte, blickte er in die Augen dieses anderen, dieses dunkleren Yugi. Bilder aus dem eben Erlebten rauschten über ihn hinweg und schwappten förmlich über in seinen Gedanken. Wenn er ihn ansah, dann erkannte er in ihm den erhabenen ägyptischen König, seine mysteriöse und uralte Seele schien den Firmenchef förmlich zu erdrücken. Alles an ihm hatte so herrschaftlich gewirkt, besonders – wie eine Seele, die es wert war, sie 3000 Jahre später erneut zu erwecken – und die doch zugleich auch zerbrechlich war, sodass man sie schützen wollte.
 

Der andere Yugi hingegen fing nun seinen Blick auf und begriff, dass Seto der einzige war, der, genau wie er, in der Situation gefangen schien und sich nicht lösen konnte. Seto konnte nun sehen, wie viel Haltlosigkeit in seinen Augen lag, wie viel Sehnsucht, Trauer und Verzweiflung. Fast war es ihm unangenehm, ihn in einem solch intimen Moment der Schwäche zu beobachten. Er hatte das nicht verdient. Er sollte stolz und stark sein, wie er es im Grunde seines Herzens war.
 

Doch es war nur ein kurzer Augenblick, dann gewann der andere Yugi wieder seine Fassung. Er lächelte leicht. „Danke, dass du mir geholfen hast. Das … bedeutet mir viel“, sagte er leise. „Es … ist also alles wahr“, entgegnete Seto tonlos. Sein Gegenüber hob leicht sein Kinn an und nickte lediglich. Dann machte er einige Schritte auf Seto zu.
 

„Yugi … ich meine …“, setzte Seto wieder an. Der andere sah ihn aufmerksam an, herausfordernd, begierig zu erfahren, ob er endlich bereit war, seine Identität durch das Nennen seines eigenen Namens anzuerkennen. „Ich meine … Pharao Atem …“, Seto sagte die Worte, als teste er ihren Geschmack auf seiner Zunge. Doch jetzt schlug sein Gesprächspartner die Augen nieder. Er wirkte unangenehm berührt. „Ich … Yami reicht aus“, sagte er. „Gut, also, Yami“, erwiderte Seto. Auch er mochte das lieber. Es passte zu dieser mystischen, dunklen Seele.
 

„Ich verstehe das alles immer noch nicht. Es kommt mir um ehrlich zu sein komplett verrückt vor.“ Yamis Augenbrauen zogen sich jetzt zusammen. Er brach den Blickkontakt ab und wollte sich seinen Weg an Seto vorbei nach draußen bahnen. „Ganz wie du meinst. Wenn du nach alldem noch immer die Augen vor der Wahrheit verschließen willst, dann nur zu. Also, entschuldige mich“, sagte er mit harter Stimme. Für ihn war das Gespräch offensichtlich beendet. Aber Seto war noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Er hielt ihn im Vorbeigehen am Handgelenk fest.
 

„Warte einen Augenblick. Lass mich zu Ende reden: .... Ja, es klingt verrückt, aber … hilf mir doch, es zu verstehen. Denn ich möchte es verstehen. Wirklich.“ Yami hielt inne und Seto lockerte den Griff um sein Gelenk. Erneut drehte sich der andere Yugi zu ihm um und musterte ihn aufmerksam mit diesen tiefen, violetten Augen, denen nichts zu entgehen schien, nicht die kleinste Regung in seinem Inneren. „Wenn das so ist … in Ordnung“, sagte er, „ich werd‘s versuchen.“
 

*
 

Als Yami zum ersten Mal die Kaibavilla betrat, war Seto unheimlich nervös und seine Hände schwitzten. Eine innere Unruhe hatte ihn befallen, wie er sie zuvor nicht kannte. Alles zwischen ihnen war undefiniert. Manchmal hatte er das Gefühl, den jungen Pharao schon ewig zu kennen, als Ruhe seine Beziehung zu ihm tief in sich, wie in Stein gemeißelt. Im nächsten Augenblick jedoch wurde ihm klar, dass er im Grunde nichts über ihn wusste, dass er bis vor wenigen Tagen für ihn nicht einmal als eigenständige Person existiert hatte.
 

Er hatte keine einzige gemeinsame Erinnerung mit ihm, die er nicht zuvor als eine Erinnerung mit jemand ganz anderem abgestempelt hatte, und doch war es, als hätten sie bereits ein halbes Leben gemeinsam verbracht.
 

Immer hatte er nur Rivalität für Yami empfunden, hatte ihn nie als Menschen gesehen, sondern ihn nur nach seinen Leistungen beurteilt, nach dem Spiel, das er mit ihm gespielt hatte und das ihn süchtig gemacht hatte, berauscht hatte. Aber die Reise in die Vergangenheit hatte etwas verändert. Sie hatte ihm viel mehr von Yami gezeigt, als er sich je erträumt hatte. Und sie hatte in ihm die Saat für etwas gesetzt, das er nur für sehr wenige Menschen empfand: Respekt. Und jetzt, da er ihn respektierte, da er ihn wahrnahm als Person, wollte er mehr denn je sehen, wer er wirklich war.
 

Dass der Pharao sich kurz nach ihrem Gespräch vor der Tafel der verlorenen Erinnerungen gegen das Totenreich und für ein Leben in dieser Zeit entschieden hatte, ließ Seto irgendwie hoffen, dass er selbst und die Abmachung, die sie nach ihrer Zeitreise getroffen hatten, zumindest ein geringer Grund für diese Entscheidung gewesen war. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob er Yamis Erwartungen gerecht werden konnte. Welche Erwartungen er überhaupt an ihn hatte.
 

„Ich erinnere mich nicht an alles, was war, bevor ich Pharao wurde“, sagte Yami, als er neben Seto auf dem Sofa im Wohnzimmer der Kaibavilla saß, „manchmal kommen mir Dinge plötzlich in den Sinn. Dann weiß ich sie einfach, als wären sie nie weggewesen. Und manchmal zerbreche ich mir stundenlang den Kopf darüber, wie etwas gewesen sein könnte, aber ich kann die Lücke nicht füllen:“ Seto hörte interessiert zu. Er selbst spürte eine Verbindung zu alldem, und doch erschien es ihm fremd. Er wusste, dass ihn mit Yami ein uraltes Band einte, aber er konnte nicht sagen, wie es entstanden war. Es war einfach immer dagewesen. Er teilte Yamis Erinnerungen nicht und spürte das alles mehr als eine Art Antrieb hinter seinen Handlungen, eine unerschütterliche Gewissheit in ihm drin. Und nun, da er es zuließ, war all das lauter denn je.
 

Aber die meiste Zeit wollte Yami nicht über seine Vergangenheit sprechen. Es machte ihn manchmal sehr zufrieden und fast so herrschaftlich und stolz, wie er es früher sicher gewesen war, aber sehr oft auch schwermütig und angestrengt. Stattdessen wollte er Filme ansehen, Seto beim Programmieren zusehen, Spiele spielen oder einfach nur neben Seto sitzen und sein Deck neu ordnen oder vor sich hinträumen, während dieser auf seinem Laptop geschäftliche E-Mails schrieb. Seto fragte sich des Öfteren, was Yamis Freunde wohl davon hielten, dass dieser seit Neustem einen großen Teil seiner Zeit in der Kaibavilla verlebte. Es war eine Wendung, die so wohl keiner erwartet hätte.
 

Manchmal wollte Yami auch etwas über Seto wissen, darüber, wie er aufgewachsen war. Aber er wollte ihn zu nichts drängen und fragte nur wenig. Es dunkelte schon, als sie an einem späten Nachmittag im November wieder einmal so beisammensaßen. Yami seufzte. „Ich möchte noch nicht nach Hause“, sagte er in Gedanken. Seto sah ihn nachdenklich an. Wenn er in sein Inneres fühlte, dann musste er sich eingestehen, dass auch er nicht wollte, dass Yami ging. Es war ein Gefühl, von dem er sich nicht erinnern konnte, dass er es schon einmal bei jemandem erlebt hatte. Ohne zu bemerken, was er tat, legte er sachte seine Hand auf die Yamis. Eine Wärme und ein Aufgehobensein ging von dessen Haut aus. Yami, der an Seto gelehnt dasaß, drehte langsam den Kopf zu ihm. Sie sahen sich an. Die Zeit schien stillzustehen.
 

„Yami, ich … ich habe dich gern hier. Ich war immer allein“, sagte Seto sehr leise. Yami wusste zwar nichts darüber, wie sein bisheriges Leben verlaufen war, aber er schien zu begreifen. „Das musst du nicht sein“, sagte er. Sachte wie eine Feder spürte Seto, wie Yamis schlanke Finger seine Wange streiften und mit seinem Haar spielten. Ihre Gesichter waren nun so nah beieinander, dass sie den Atem des anderen spüren konnten. Seto roch Yamis Geruch und stellte fest, dass er ihm vertraut geworden war.
 

Sie versanken in der Gegenwart und Wärme des anderen, als sie sich küssten. Sie näherten sich einander so vorsichtig und Stück für Stück. Keiner von ihnen wollte den anderen verschrecken. Seto schätzte das an Yami. An diesem Abend erzählte er dem Pharao von seinen Eltern. Seinen wahren Eltern. Es fühlte sich richtig an, über sie zu sprechen, nicht über seinen Stiefvater, der so viel Wüste in ihm drin hinterlassen hatte. Yami verdiente es, etwas von ihm zu hören, das Emotionen in ihm geweckt, nicht ausgelöscht hatte.
 

*
 

Der Winter verstrich mit einem wohligen Gefühl. Der Frühling kam. Und plötzlich war nichts mehr so wie zuvor. Gerade wenn man glaubte, etwas zu erleben, was Bestand hatte, wenn man den Moment festhalten wollte und sich wünschte, dass alles so blieb, wie es war, gerade dann musste man am schmerzlichsten feststellen, dass die Zeit nicht stehenblieb, dass die Welt sich weiterdrehte und dass das Flüchtigste von allem – menschliche Gefühle – sich veränderten.
 

Die Natur erblühte und in Seto war etwas gestorben. Und den Schmerz, der ihn überwältigte, konnte er nur bannen, indem er ihn so weit von sich fernhielt wie er nur konnte. Bis er nur mehr ein leichtes Pochen in ihm drin war. Ein Pochen, das ihn doch latent immer begleitete. In allem, was er tat. Bei der Arbeit, der er nun mehr und mehr Raum gab, wenn er die Nachrichten sah und bei allen spärlich gesäten Freizeitaktivitäten.
 

Er wusste nicht, ob er noch einmal die Chance bekommen würde, etwas besserzumachen. Er glaubte nicht wirklich daran. Aber ein kleiner Fleck in ihm drin, der noch immer mit Leben erfüllt war, ließ sich nicht töten, breitete sich von innen heraus in ihm aus, solange bis er ihm 8 Jahre nach alldem mehr Raum gab. Bis er die letzte Chance ergriff, die er vielleicht noch hatte.

Vertrauen


 

4: Vertrauen

I lie awake on a long, dark night

I can't seem to tame my mind

Slings and arrows are killing me inside

Maybe I can't accept the life that's mine

No, maybe I can't accept the life that's mine

Simple living is my desperate cry

Been trading love with indifference

And yeah it suits me just fine.

(Creed)

Ryou Bakura im Interview
 

Also … was habe ich so gemacht nach der Schule. Ich bin erst mal nach England gezogen und hab dort studiert, ein bisschen Berufserfahrung gesammelt … Naja, ich bin in meinem Leben schon viel rumgekommen und umgezogen und so. Ich bin es gewohnt, mal was Neues auszuprobieren, und mir fällt das auch nicht schwer.
 

Außerdem brauchte ich nach allem, was so passiert war, auch mal nen Tapetenwechsel. Da war ich ja nicht der einzige. Scheint ja einigen so gegangen zu sein.
 

Also … während meiner Oberschulzeit hatte ich oft das Gefühl, irgendwie fremdgesteuert zu sein. Ob ich das erklären kann? Hm, nicht so richtig. Das ist ein bisschen kompliziert. Aber jedenfalls … nachdem dieses Gefühl dann verschwunden war, wusste ich erst mal gar nicht so wirklich, wer ich eigentlich bin und was ich so in meinem Leben will. Ich kam mir vor, als hätte ein anderer die ganze Zeit über Entscheidungen für mich getroffen, und wenn ich zurückgeschaut hab, konnte ich nicht mehr sagen, welche meine eigenen Entscheidungen waren und welche nicht. Ich weiß, das klingt ein bisschen beängstigend … aber so war es nun mal.
 

Ich wusste auch nicht so recht, was ich von den Freundschaften halten sollte, die ich geschlossen hatte. Alle waren zu sehr mit dieser ganzen Sache verbunden, die mich während er Oberschule … nicht losgelassen hat. Deshalb wollte ich einfach mal weg. Was anderes sehen. Andere Leute um mich haben. Leute, die von alldem nichts wussten.
 

Ich hab‘ dann angefangen, Mediendesign zu studieren, nebenbei verschiedene Jobs gemacht, um meine Wohnung zu finanzieren. England ist nicht gerade so günstig.
 

Ne Zeit lang war das auch echt schön, endlich einfach mal das Leben so zu nehmen, wie es kam. An andere Dinge zu denken als vorher. Aber irgendwie muss ich im Nachhinein sagen, dass es mich so sehr nicht verändert hat. Vielleicht hört man ja einfach nie auf, sich selbst zu suchen oder im eigenen Kopf nach sich zu graben.
 

Mittlerweile denke ich, man kann nicht wirklich vor dem weglaufen, was in der Vergangenheit gewesen ist. Oder davor, wer man war. Ich bin ja auch letztendlich zurückgekommen.
 

Ich meine, das hatte sicher mehrere Gründe. Zum einen ist meine Mutter krank geworden. Zum anderen … irgendwie hat es mich zurückgezogen. Ich denke schon, dass es gut war, mal etwas Zeit für mich gehabt zu haben. Ich bin dadurch ruhiger geworden und habe gemerkt, dass es auch Menschen gibt, mit denen man ganz leicht umgehen kann und die keinen doppelten Boden haben. Flüchtige Bekanntschaften tun hin und wieder ganz gut.
 

Aber in Domino sind eben die Leute, die von meiner Vergangenheit wissen, und ich bin heute ganz froh, dass es sie gibt. Und dass man sich austauschen kann. Deshalb bin ich auch hergekommen. Irgendwie hatte ich plötzlich den Drang, über die alten Zeiten zu sprechen. Vielleicht auch einiges endlich mal für mich selbst abzuhaken, was ich nur beiseitegeschoben hab.
 

Ich weiß, es ist schwer, das zu verstehen, wenn man nicht genau weiß, um was es hier geht. Aber … wie soll ich das erklären? Es ist einfach zu verrückt.
 

~*~
 

„Mann, bin ich satt!“, äußerte sich Joey gähnend, nachdem sie ihr Festmahl in der Halle beendet hatten, „Ich könnte auf der Stelle einschlafen! Lasst uns für heute Feierabend machen!“ Entspannt streckte er sich und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, während er einige Schritte in Richtung Tür ging.
 

„Moment noch!“, meldete sich Ryou zu Wort, „bevor wir alle verschwinden, sollten wir auf jeden Fall noch unsere Aufgaben für morgen klären, damit jeder weiß, was er zu tun hat. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass sich alles schon irgendwie von alleine regelt, oder?“ Die Anwesenden sahen ihn an und brachen in kurzes angeregtes Gemurmel aus. Letztlich stimmten jedoch alle zu, bis auf Bakura, der sich ein wenig abseits hielt und nicht zu der Angelegenheit äußerte.
 

Kurze Zeit später waren alle Teilnehmenden in einem kleinen Nebenzimmer versammelt, wo sie auf Sofas und Sesseln um einen niederen Tisch herumsaßen.
 

„Also gut“, sagte Umko, „jemand sollte sich auf jeden Fall ums Frühstück kümmern, zwei andere Gruppen ums Mittag- und Abendessen. Jeweils eine Gruppe sollte den Abwasch übernehmen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass wir hier irgendein Geheimnis lüften sollen. Vielleicht sollten wir ein Team benennen, das sich morgen hier mal ein bisschen umschaut.“ Yami nickte. Das klang vernünftig. Er war froh, dass jemand die Organisation in die Hand nahm. Er war tatsächlich ziemlich erschöpft und fühlte sich schwerfällig vom üppigen Essen und vom Wein. Neugierig warf er einen Blick zu Seto hinüber, der zu seiner Linken saß. Wenn er ihn so betrachtete, dann schien er sich kaum verändert zu haben. Und doch konnte Yami nicht sagen, wie es in seinem Inneren aussah. Kannten sie sich denn überhaupt noch? Hatten sie überhaupt noch irgendwelche Anknüpfungspunkte?
 

Den Großteil des Abends hatte Seto mit Limono zusammengestanden und die beiden hatten sich leise miteinander unterhalten. Sie wirkten vertraut miteinander und Yami fragte sich, was an den Gerüchten um die beiden dran war. Es war ihm ein Rätsel, wie sich dieses ungleiche Paar gefunden hatte.
 

Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie die beiden sich auch jetzt wieder miteinander besprachen. Dann sagte Limono „Seto und ich übernehmen von mir aus das Frühstück.“ „Nicht so schnell“, schmetterte Umko die Initiative ab, wobei er Limono einen harten Blick zuwarf, „ich bin dafür, dass wir die Teams auslosen. Ich fände es nicht ok, wenn sich einfach jeder die Rosinen rauspickt. Außerdem sind wir hier teilweise miteinander gar nicht vertraut. Wir werden nicht drumherum kommen, uns hier näher kennenzulernen. Warum also nicht fairerweise die Aufgaben per Zufall verteilen?“
 

Obwohl Umko überzeugt gesprochen hatte und sehr ruhig war, schob er sich nun, da alle Blicke auf ihn gerichtet waren, nun doch etwas nervös die Brille zurecht. Die Kandidaten sahen sich untereinander unschlüssig an. Schließlich sagte Seto: „Klingt vernünftig. Dann lasst uns Lose machen“, während Limono nur genervt die Augen verdrehte.
 

So wurden Seto und Yugi fürs Frühstück eingeteilt, Bakura und Ryou sowie Tea und Malik für den Abwasch, Joey und Yami fürs Abendessen und Limono und Umko bildeten das Team für die Suche nach Hinweisen für das Rätsel um das Haus, was keinen der beiden besonders begeisterte.
 

Als Yami endlich sein Zimmer betrat und sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, breitete sich Stille wie eine schwere Decke über ihm aus. Es gab nichts, das er lieber wollte, als in sein Bett zu fallen. Als er jedoch schließlich dalag und die Decke über das Kinn gezogen hatte, wollten seine Augen nicht so recht zufallen. So viele Gedanken schwirrten wild in seinem Kopf hin und her und zogen ihre Kreise. Er dachte an all die anderen Kandidaten und fragte sich, wie sich alle entwickeln würde. Selbst jetzt fiel es ihm schwer zu begreifen, dass sie rund um die Uhr von Kameras umgeben waren. Alles schien so ruhig, so privat.
 

Dieses Zimmer war wie eine Zuflucht und Yami musste feststellen, dass es ihn mit Ruhe erfüllte. Die dunklen Farben und die rustikalen Möbel, denen man ihr Alter ansah und in denen eine gewisse Geschichte zu stecken schien, verliehen diesem Ort einen warmen Charakter. Es war ein Rückzugsort, an dem er sich in Ruhe ordnen konnte. Mit diesem Gedanken im Sinn wurden seine Lider schließlich doch schwer und schlossen sich allmählich. Schlaf fiel auf ihn. Seine Gedanken wurden träge.
 

*
 

Das Zimmer um ihn herum verschwand. Die weichen Laken unter seinem Körper wurden zu Gras und Schilf. Die stille Luft durch eine leichte nächtliche Brise ersetzt. Das Brummen der Heizung durch Rauschen von Wasser. Plötzlich wusste er, dass er am Nil lag. Schlaf hatte ihn auch hier übermannt wie eine sanfte Welle dieses großen Flusses. Er war nicht allein. Jemand war bei ihm. Er fühlte sich sicher und aufgehoben. Dieser Jemand hob ihn jetzt in die Höhe und trug ihn fort vom Wasser. Wo ging es hin? Zurück zum Palast, wie ihm klar wurde.
 

Schließlich wurde er in seinem Gemach auf seinem Bett abgelegt. Verschlafen öffnete er die Augen. Es war nicht Seth gewesen, der ihn nach Hause getragen hatte. Denn er war nicht mit Seth am Nilufer gewesen. Müde sah er stattdessen in Bakuras braune Augen. „Ist das Fest denn schon vorbei?“, fragte er mit heiserer Stimme. Bakura grinste ihn an. „Ich denke nicht. Einige hartnäckige Gäste leeren fleißig weiter den Weinkeller. Aber dass sie deinen Geburtstag feiern, haben sie wohl mittlerweile vergessen, wozu deine Abwesenheit keinen geringen Teil beiträgt.“ Jetzt war es an Atem zu lächeln. „Sie hätten es auch vergessen, wenn ich dagewesen wäre. Manche Leute brauchen keinen Grund zum Feiern.“
 

Bakura kniete sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. „Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen wegen Fürst Sahir. Ich behalte ihn im Auge. Ich verspreche dir, dass er keinen Ärger mehr machen wird.“ Atem nickte dankbar. „Ich weiß doch“, sagte er leise und drückte kurz Bakuras Hand, „Ich möchte dich nicht um das Fest bringen. Ich bin müde und werde hierbleiben, aber geh du ruhig und hab noch eine gute Zeit.“ Bakura wirkte unschlüssig, ob er den Kronprinzen tatsächlich davon überzeugen konnte, dass es nichts gab, um das man sich Sorgen machen musste. Schließlich aber ging er langsam zur Tür und verließ die herrschaftlichen Gemächer. Atem wusste, er würde nicht zum Fest zurückkehren.
 

Während er dalag, erhellten sich die vorherigen Ereignisse des Abends mehr und mehr in seinem Kopf, wie ein Weg, der Stück für Stück erschien, sobald er sich umdrehte und einige Schritte zurück machte. Es fiel ihm wieder ein, wie er und Bakura das Fest verlassen hatten, nachdem Gaufürst Sahir wieder und wieder einige stichelnde Bemerkungen gemacht hatte, die Atem nicht recht hatte deuten können. Er hatte ein wenig zu oft darauf herumgehackt, dass Atem der einzige Erbe seines Vaters war und nach ihm nur sein ebenfalls bereits betagter Onkel für den Thron infrage kam. Atem hatte Bakuras vielsagende Blicke aufgefangen und ihn bei der ersten Gelegenheit beiseite gezogen.
 

Bakura sah ihn ernst an, obwohl er offensichtlich versuchte, es zu verbergen, damit Atem sich nicht allzu viele Gedanken machte. „Ich sage es nur ungern, aber ich schlage vor, wir unterrichten deinen Vater davon“, sagte Bakura düster, „sicher ist sicher.“ Ernst nickte Atem. Er konnte Bakura nicht widersprechen. Pharao Aknamkanon wirkte nicht weniger besorgt und ernsthaft, als Bakura ihm von den Worten des Gaufürsten berichtet hatte. „Du hast das Richtige getan, Bakura. Das freut mich. Als der zukünftige Wesir des Pharao musst du wachsam sein und solche Vorfälle ernstnehmen.“ Bakura senkte den Kopf. „Naja ... danke, aber was ich getan habe, ist jetzt nicht wichtig. Ich mache mir Sorgen um Atem und um Euch.“ Atem empfand Stolz und ehrliche Freude darüber, dass sein Vater Bakuras Entscheidung guthieß und lobte, denn ab und an befürchtete er aufgrund von Bakuras unkonventionellem Betragen, dass sein Vater jemand anderen für den Posten seines zukünftigen Wesirs und persönlichen Beraters auswählen könne. Trotz seiner Erleichterung war er aber auch verunsichert von der Situation und wusste nicht, auf was er sich einstellen sollte.
 

„Es klang ganz so, als hätten einige der Fürsten bereits irgendwelche konkreten Pläne …“, grübelte Atem laut, als Bakura und er wenig später zu zweit am Nil entlangliefen. Sie hatten keinen Sinn mehr für ausgelassene Feierlichkeiten gehabt und sich von den Gästen abgesetzt. „Ja, ich gebe zu, das hat es. Es ist aber auch möglich, dass er lediglich blufft, damit ihr euch nicht zu sicher fühlt, und ein paar Gerüchte streuen will, weil ihm die Politik deines Vaters gegen den Strich geht. Er war schon immer ein Querschläger.“ „Kann sein. Trotzdem sollten wir mehr darüber in Erfahrung bringen. Wir sollten vielleicht jemanden einschleusen, der sich ein bisschen umhört, so ungern ich auch zu solchen Mitteln greifen würde“, seufzte Atem. „Atem … hör zu: Was immer auch ist, du bist hier sicher. Dein Vater weiß bescheid und er wird die entsprechenden Maßnahmen ergreifen. Du musst dir nicht auch noch den Kopf darüber zer …“
 

„Aber was ist, wenn mein Vater mal nicht mehr da ist?“, fiel Atem ihm aufbrausend ins Wort, „wir können uns nicht immer darauf verlassen, dass er schon wissen wird, was zu tun ist. Was werden wir tun, wenn ich Pharao bin und wir mit solchen Dingen konfrontiert werden?!“
 

Bakura war stehengeblieben. Er blickte kurz auf seine Füße, dann sah er Atem an und legte ihm behutsam eine Hand auf die Schulter: „Mumie … du hast Recht. Aber meine Antwort bleibt dieselbe. Wenn du Pharao bist, bin ich an deiner Seite – und ich kümmere mich darum. Du konzentrierst dich auf deine Aufgaben und lässt das meine Sorge sein. Du musst mir einfach vertrauen.“ Und Atem tat es. Sein Blick wurde weich, er entspannte sich etwas unter Bakuras Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag. Kaum merklich nickte er schließlich.
 

Und er fühlte es, dieses Vertrauen. Ein Vertrauen, das so stetig war wie der Fluss, an dessen Ufer sie sich niedergelassen hatten. Die anstrengenden, oberflächlichen Unterhaltungen mit den Palastangestellten und Beamten war er leid. Er wollte wenigstens einen kurzen Teil seines Geburtstags als er selbst und in Gesellschaft verbringen, die ihn so sah, wie er war. Diese Menschen konnte er an einer Hand abzählen. Und von allen war Bakura derjenige, der ihn am längsten kannte. Und der sein zerbrechliches Sein in seinen Händen trug.
 

Später hatte Bakura ihn zu seinen Gemächern begleitet. Eine leichte Brise wehte zum Fenster herein und brachte die Uferluft mit sich. Von Weitem hörte er gelöstes Stimmengewirr. Erschöpft schloss er erneut die Augen.
 

*
 

Als er sie wieder öffnete, lag er hellwach in seinem Bett. Da war kein Nil und auch keine sanfte Brise. Die Vorhänge am Fenster waren dunkel. Er brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden, bis er begriff, dass er sich in mitten einer Fernsehshow befand. Er schüttelte den Kopf und strich sich die schweißnassen Haare aus der Stirn. Die Uhr auf seinem Handy zeigte bereits 7 Uhr am Morgen. Es war nicht das erste Mal, dass nachts Teile seiner Erinnerungen zu ihm zurückkamen. Und dennoch … ließ diese ihn nachdenklich zurück. War es überhaupt eine reale Erinnerung? Er dachte an Bakura, wie er ihn gestern erlebt hatte. Und an den Bakura aus seinem Traum. In den bisherigen Puzzleteilen seiner Vergangenheit hatte er stets einen anderen Bakura erlebt, einen verzerrten und zerrütteten. Den Bakura, der untrennbar mit Zorc verwebt war.
 

Dieses Gefühl, das ihn durchflutet hatte, als er mit diesem neuen Bakura aus seinem Traum am Nil gesessen hatte, war etwas vollkommen anderes. Das tiefe, gefestigte Vertrauen, das er empfunden hatte, hatte ihn überwältigt und hatte noch jetzt seine Spuren in ihm hinterlassen, klang noch in ihm nach. Er stand auf und lief zum Fenster hinüber. Eine Weile lang sah er hinaus, ließ sich die Szene wieder und wieder durch den Kopf gehen. Griff nach den Emotionen, die sie mit sich gebracht hatte. Er musste sich an diese neue Perspektive erst gewöhnen. Hatte er Bakura wirklich so nahegestanden? Konnte er denn ein Freund für ihn gewesen sein? Bisher hatte er ihn stets nur sehr distanziert als einen dunklen Begleiter wahrgenommen, dessen Seele er immer in seiner Nähe spürte. Oder war alles nur ein verwirrender Traum gewesen, ausgelöst von ihrer Begegnung gestern Abend?
 

Manchmal wünschte er sich geradezu, dass bestimmte Erinnerungen aus seinem früheren Leben nicht zu ihm zurückkehrten. Wollte er denn wirklich noch mehr Denkstoff haben, wo er doch schon genug damit befasst war, sein jetziges Leben auf die Reihe zu bekommen? Musste sich alles ständig verändern und einen das Gewesene neu sortieren und durchdenken lassen? Oft hatte er schon versucht, die Bruchstücke seines Erinnerungspuzzles einfach auszublenden, wenn sie ihn überkamen, einfach nicht zu reflektieren und so weiterzumachen wie bisher. Aber besonders erfolgreich war er dabei nicht gewesen. Und jedes Mal, wenn ein Ereignis zu ihm zurückkam, in dem Seth eine Rolle spielte, musste er unwillkürlich an Seto denken und fragte sich, wie es ihm gerade erging. So oft hatte er in seinem Bett gelegen und sich gefühlt, als werde ihm die Luft zum Atmen abgeschnürt. Als halte ihn seine Vergangenheit an der kurzen Leine.
 

Nachdem er genug von all den Gedanken hatte, schlüpfte Yami in seine Sportklamotten und beschloss, den Tag mit etwas körperlicher Betätigung zu beginnen. Als er sein Zimmer verließ, öffnete sich die Tür neben ihm fast gleichzeitig. Heraus trat Bakura. „Na, Mumie, gut geschlafen?“, fragte er beiläufig und machte sich dann ohne sich noch einmal umzudrehen auf den Weg zum Salon. Yami sah ihm noch eine Weile nach, bis auch er sich in Bewegung setzte.

Elegie


 

5: Elegie

Ziggy played guitar, jamming good with Weird and Gilly,

And the Spiders from Mars.

He played it left hand

But made it too far

Became the special man,

then we were “Ziggy's band”

He could lick 'em by smiling,

he could leave 'em to hang

'Came on so loaded man,

well hung and snowwhite tan.

Making love with his ego

Ziggy sucked up into his mind

Like a leper messiah

When the kids had killed the man

I had to break up the band.

(David Bowie)

Mokuba Kaiba im Interview
 

Ich bin eigentlich ziemlich anders als mein Bruder. Naja, ich bin ein Kaiba. Daran wird sich nichts ändern und das gehört auch zu mir. Auch wenn man Bruder irgendwie mehr mit dem Namen in Verbindung gebracht wird. Immerhin hat er sich das auch alles alleine aufgebaut. Deshalb ist er auch so stolz auf den Namen.
 

Ja, also manchmal muss ich schon sagen, dass ich mir wünschte, ich hätte einen anderen Namen. An der Uni zum Beispiel. Man ist schon immer stigmatisiert. Sobald die Leute „Kaiba“ hören, hat man eigentlich keine Chance mehr, Vorurteile zu vermeiden. Sie denken dann, dass man einen Haufen Geld hat, in einer Villa wohnt, alles bekommt, was man will, verwöhnt ist, dass man unnahbar ist und so weiter. Jedenfalls trauen sich viele gar nicht mit mir zu reden. Sie tuscheln dann nur hinter meinem Rücken in den Vorlesungen. Manchmal macht mich das echt sauer. Ich hab‘ gar keine Chance, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
 

Auch wenn ich Mädchen kennengelernt hab, hab‘ ich mich oft gefragt, ob sie mich nur wegen meinem Namen und dem Geld, das dahintersteht, daten. Ja, man wird schon echt paranoid. Aber kein Wunder. Ich hab auch schon oft solche Erfahrungen gemacht, Seit sich meine Freundin aus der Schule von mir getrennt hat, hatte ich eigentlich keine Beziehung mehr. Ok, das liegt natürlich auch daran, dass ich jede Frau, die ich treffe, versuche an ihr zu messen. Bei ihr wusste ich eben auch einfach, dass sie mich wirklich gern hat. Naja … jedenfalls …
 

Mit meinem Bruder kann ich darüber nicht so richtig reden. Ich will ihn nicht verletzen. Er denkt dann, dass ich mich für ihn und unseren Namen schäme oder sowas. Aber das stimmt nicht. Ich sage nur: Es ist manchmal eben nicht so einfach. Ich bin in das Ganze eben so reingewachsen. Mein Bruder hat das ja auch zu einem großen Teil für MICH getan, damit ich ein gutes Leben hab. Und dafür bin ich ihm auch sehr dankbar, keine Frage. Aber manchmal frage ich mich trotzdem, wie es wäre, wenn ich „normal“ aufgewachsen wäre. Ich fühle mich nicht „besonders“.
 

Klar, ich bin jetzt auch in der Firma dabei, aber dafür habe ich nichts getan. Ich hatte nicht mal ein Vorstellungsgespräch. Vielleicht wäre jemand anders ja geeignete gewesen. Bestimmt sogar … ich wünschte manchmal, ich hätte auch mehr geleistet dafür, was ich hab. Ich denke, ich brauche noch ein bisschen, bis ich das Gefühl hab, ich hab mir den Posten verdient.
 

~*~
 

Limono war gegen eine Mauer geprallt, als er versucht hatte, ungezwungen mit Umko zu kommunizieren. Wer konnte es ihm verübeln, dass er vollkommen abblockte. Limono hatte herausfinden wollen, wie die Stimmung zwischen ihnen war, und darüber war er nun vollkommen im Bilde.
 

Als er den Vertrag zur Teilnahme an dieser Show unterzeichnet hatte, hatte man ihm vorenthalten, dass Umko ebenfalls mit von der Partie war. Alles in allem überraschte ihn diese Art von abgekartetem Spiel nicht im Geringsten und normalerweise wäre er sich für eine solche öffentliche Bloßstellung zu schade gewesen. Im Grunde hatte er den Medienrummel nie gemacht. Alles, was er gewollt hatte, war, Musik zu machen und im Moment zu leben. Zu einer Person der Öffentlichkeit zu werden war ein unangenehmer Rattenschwanz, den es mit sich zog, wenn man etwas gut machte.
 

Dennoch hatte er die Anfrage dieses Mal nur schwerlich ignorieren können. Er brauchte das hier einfach. Es war leicht verdientes Geld und da er den Plan gefasst hatte, den Szeneclub „Black Rainbow“ aufzukaufen und zu betreiben, nachdem der Besitzer in Ruhestand gehen wollte, ihm aber das nötige Kapital dafür fehlte, kam die Teilnahme hier wie gerufen. Zudem hatte ihn Seto geradezu angebettelt, diese Sache gemeinsam durchzuziehen. Für den Firmeninhaber war es bereits klar gewesen, dass dies der Weg war, den er gehen musste. Es war wohl nötig für ihn, um sich über einige Dinge klarzuwerden und endlich den Staub seiner Vergangenheit abzuklopfen und einen neuen Pfad zu finden. Und auch Limono war es ein wenig wohler, solange er sich der Gesellschaft eines Freundes sicher sein konnte. Und Freunde waren sie. Oder zumindest etwas in der Art.
 

Oft grübelte Limono darüber nach, wie es gewesen wäre, wenn er sich damals anders entschieden hätte. Schon lange war sein Leben komplett aus den Fugen geraten. Noch mehr als es ohnehin schon der Fall war. Die Beziehung mit Umko endlich zu beenden und ihnen beiden all das zu ersparen, war für ihn die logische Konsequenz gewesen. Ja, er hatte es über Umkos Kopf hinweg entschieden, aber er dachte, ihnen beiden einen Gefallen zu tun. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er sich fragte, wie alles jetzt wäre, hätte er es nicht getan. Hätten sie alles wieder auf geregelte Bahnen bringen können? Oder wäre dieser Ausgang ohnehin unvermeidlich gewesen? All diese absurden Streits, die Spannungen. Vielleicht war dieses Leben einfach nicht für ihn. Alles, was er begann, schien in einem Scherbenhaufen zu enden. Es zeigte ihm einmal mehr, dass er es lieber ganz bleibenlassen sollte. So, wie er es damals mit seiner Schullaufbahn oder dem Medizin- oder Jurastudium getan hatte, das sein Vater sich von ihm immer gewünscht hatte. Er hätte auch diesen Anforderungen nicht genügen können, deshalb war es das Beste gewesen, es gar nicht erst zu versuchen.
 

*
 

Das Ende seiner zugegeben kleinen Glückssträhne hatte damit begonnen, dass sich die Tür des kleinen Untergrund-Clubs „Black Rainbow“ vor 5 Jahren geöffnet hatte und sein alter Freund und Bandkollege Riku an den Tresen trat, wo Limono fast jeden Abend als Barkeeper arbeitete. „Sieh an, ein bekanntes Gesicht. Lange nicht gesehen“, sagte er, während er sich lässig über die Theke lehnte. Limono schmunzelte amüsiert. „In der Tat. Was für ne nette Überraschung. Du bist ja richtig erwachsen geworden. Was verschlägt dich hierher?“ „Und du hast dich kaum verändert. Immer noch die kühle Schönheit“, sagte Riku, während er Limono direkt in die Augen sah, „Ich war gerade in der Gegend – und dachte, ich besuche mal einen alten Freund. Dich ausfindig zu machen, war nicht allzu schwer. Dein Ruf eilt dir ja geradezu voraus.“ Limono grinste. „Ja, da hast du nicht Unrecht. Also benimm dich hier besser gut, denn der Club ist unter meinem Regime.“ „Das glaube ich nur zu gern“, lachte Riku auf, „hey … was hältst du davon, wenn wir uns mal treffen und uns ein bisschen über die letzten Jahre updaten … vielleicht ein bisschen zusammen jammen, wie in den alten Zeiten.“
 

Als Teenager hatten Riku und Limono zusammen mit einigen anderen Freunden Musik gemacht, meistens nur privat in irgendwelchen Kellern. Manchmal hatten sie sich auch an eigenen Songs versucht. Aufgetreten waren sie damals nicht. Sie waren sehr jung gewesen und alles, was sie gewollt hatten, war, sich von einem Moment zum nächsten treiben zu lassen. So wie die Musik sie dahin trug, wo die Momentaufnahmen ihrer eigenen Gemüter hinwollten, so war es auch mit ihren Emotionen und Begierden. Im Falle von Limono und Riku trugen diese sie in eine kurze, aber intensive Affäre, die recht schnell wieder endete. Die Musiker verloren sich aus den Augen, Limono dachte nicht mehr viel an diese Zeit.
 

Nie hätte er geglaubt, dass vier Jahre später Riku hier vor ihm an der Bar stehen würde. Er hatte sich in der Tat verändert, wirkte reifer, wusste, was er wollte. Und was er wirklich wollte, war, mit Limono Musik zu machen. Als sie die ersten Songs zusammen angestimmt und die Zeit darüber vergessen hatten, war Limono überrascht. Er erinnerte sich nicht mehr daran, dass sie musikalisch so gut harmonierten. Er musste es zugeben: Es fühlte sich verdammt gut an, all seine Gefühle und Stimmungen in Töne fließen zu lassen. Und jemanden an Bord zu haben, der jede Nuance davon heraushörte, aufgriff und umsetzte. Eine perfekte Symbiose. Es war eine Intimität auf einer ganz anderen Ebene als die, die er in seiner Ehe mit Umko teilte.
 

Riku hatte ihn ungläubig angeblickt, als Limono ihm erzählt hatte, er sei mittlerweile verheiratet. Und er spürte seine musternden und fast eifersüchtigen Blicke auf ihm, wenn Umko ihn von den Proben abholte und Limono einen Song vor dem letzten Akkord abbrach, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen oder wenn er und Umko nach einer durchzechten Nacht zusammen das Black Rainbow verließen und in ihre gemeinsame Wohnung zurückkehrten.
 

Limono konnte nicht sagen, dass er es nicht genoss, diese Art von Aufmerksamkeit zu erhalten. Er spürte, dass Riku mehr wollte und er reizte diese Situation bis zum Äußersten aus. Durch kleine Gesten und wohlgewählte Worte ließ er immer die Möglichkeit offen, dass Rikus Hoffnungen nicht ganz vergebens waren. Riku wusste, durch die Musik teilten sie eine Verbindung, die Umko verwehrt blieb. Sie waren Musiker, Künstler. Spontan und unvorhersehbar.
 

Dabei spielte es Riku nur in die Hände, dass die Klauen des Erfolgs sie unerwartet mit sich riss. Plötzlich spielten sie statt kleiner Gigs im Black Rainbow oder in anderen Bars vor 1000, dann vor 5000, schließlich vor 20 000 Menschen. Limono verbrachte auf Tour mehr Zeit mit Riku als mit seinem Mann. Er reflektierte nicht mehr. Weder den unerwarteten Ruhm, der so gar nicht zu seinem bisherigen Leben passte, noch seine Taten. Es gab viel Alkohol und andere Substanzen mit Suchtpotential und irgendwo inmitten dieses Rausches vergaß Limono sich. Oder vielleicht fand er sich auch darin. Wer konnte das schon sagen? Doch für Riku war all das mehr als nur ein kurzer Trip. Er war wirklich erwachsen geworden. Er wollte mehr von Limono. Er wollte ihn für sich.
 

*
 

„Scheiße, du weißt, dass ich verheiratet bin. Das war von Anfang an keine Option. Jetzt lass endlich diesen Mist und lass uns einfach die Show heute Abend hinter uns bringen.“ Limono lief genervt in seinem Trailer auf und ab und wischte Rikus Belange wie beiläufig weg, während er sich Ketten und Armreife anlegte und eine karierte Krawatte band. Alles war mittlerweile so routiniert, dass er die Musik in seinem Blut kaum noch spürte, wenn sie auf der Bühne waren. Alles war so weit weg, als lebte er das Leben eines anderen. Der Rausch war mittlerweile verflogen. Alles fühlte sich dumpf an und Limono wusste nicht mehr, für was er das hier alles tat, was es ihm noch gab.
 

„Ach ja?“, schnappte Riku ungehalten, „das sagst du mir ständig, aber ich sprech es jetzt mal aus, wie es ist, Limono: Deine Körpersprache sagt was anderes als deine Worte. Mal ganz ehrlich: Wann hast du das letzte Mal an Umko gedacht? Wann hast du mit ihm gesprochen?“ „Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Das ist eine Sache zwischen Umko und mir“, Limono zog seine Jacke und Stiefel an, dann griff er nach seiner Gitarre, aber Riku hielt ihn am Handgelenk fest. „Versuch nicht immer wegzulaufen, wenn es um die Dinge geht, über die du nicht nachdenken willst“, knurrte er bedrohlich. Limonos ganzer Körper spannte sich unter der Berührung an, aber er begegnete Rikus Blick hart und in seinen Augen glomm jetzt Wut auf, „Lass mich sofort los. Ich sag's nicht noch einmal.“ Riku bemerkte, dass er zu weit gegangen war, und ließ von Limono ab. „Und jetzt entschuldige mich“, zischte dieser, bevor er den Trailer verließ, „ich habe einen Gig zu spielen.“ Es war zwei Monate, bevor die Band „Green Leviathan“ ihre letzten Atemzüge aushauchte.
 

*
 

In den Proberaum fiel ein spätsommerliches Licht, als Limono alleine dasaß und seine Finger auf den Saiten seiner Gitarre die Irrwege nachzeichneten, die seine Gedanken nahmen, und sie in Musik verwandelten. In eine beunruhigende und verlorene Melodie. Trotz der Musik war die Stille schreiend. Niemand außer ihm war mehr übrig und die Erkenntnis sickerte in ihn hinein, dass es vermutlich das letzte Mal war, dass er Zeit in diesem Raum verbrachte, dass er mit Tönen gefüllt werden würde. Es bedeutete auch, dass er seine letzte Zuflucht eingebüßt hatte. Die immer seltener werdenden Proben mit der Band waren mittlerweile die einzigen Momente , in denen er das Gefühl hatte, frei atmen zu können. Er konnte sich von der Musik davontragen lassen, sie ließ ihn überall dorthin reisen, wo ihn nichts zu Boden drückte und schwer auf seinen Lungen lag.
 

„So geht das einfach nicht, Limono“, hatte Riku gesagt, „ich kann das einfach nicht mehr. Du … machst es uns allen echt verdammt schwer. Scheiße, du machst uns das Leben zur Hölle.“ Die anderen hatten nur stumm danebengestanden Ihre Blicke hatten Zustimmung preisgegeben, aber sie waren nicht bereit dazu gewesen, diese Entscheidung selbst zu fällen. Limono fuhr sich mit den Fingern durch sein giftgrünes Haar und hob das Kinn ein wenig an. „Tja … wenn das eure Entscheidung ist … es ist ja euer Verlust.“ Er schnaubte und drehte sich gleichgültig weg, tat die Anschuldigung wie beiläufig ab.
 

Riku war der letzte, der im Proberaum zurückgeblieben war. Er wirkte hilflos und unzufrieden, als läge ihm noch immer etwas auf dem Herzen. „Was denn noch?“, schnappte Limono, ohne sich umzudrehen. „Limono, verdammt, kannst du mich nicht mal ansehen? Ich hätte echt mehr von dir erwartet. Ich hätte mir wenigstens mal eine Entschuldigung erhofft. Dass du es bereust, dass das alles hier kaputtgeht.“ Limono senkte den Kopf. Dann drehte er sich langsam zu Riku am. Um seine Mundwinkel spielte jetzt ein Lächeln, selbstsicher und herausfordernd. „Was weißt du schon von mir? Du kennst mich reichlich schlecht, wenn du geglaubt hast, ich komme jetzt reumütig bei euch angekrochen, mein Lieber. Es gibt nichts, was ich bereuen müsste. Aber wenn du das anders siehst – denke ich, war's das ab hier. War ne nette Zeit mit uns. Ist sonst noch was?“ Er würde keinem von ihnen den Gefallen tun, ihnen nachzuweinen oder sie anzubetteln. Wenn sie hinter seinem Rücken geplant hatten, ihn abzuservieren, dann sollten sie wenigstens mit dem Gefühl gehen, die größte Chance ihres Lebens verspielt zu haben.
 

Riku stand noch einen Augenblick da, mit offenem Mund und verletztem Gesichtsausdruck. Schließlich sackte er ein wenig in sich zusammen und räumte das Feld.
 

Später schloss Limono den Raum ab – wohl zum letzten Mal. Auf dem Nachhauseweg nahm er einen Umweg, um das Unvermeidbare hinauszuzögern. Aber endlich konnte er sich nicht mehr länger davor drücken. Er war in die Probe vor dem geflohen, was ihn in Umkos und seiner gemeinsamen Wohnung erwartete. Nun war diese letzte Zuflucht ausgelöscht und er musste sich auch diesem letzten, diesem größten Missstand in seinem Leben stellen. Er musste endlich einen Schlussstrich unter all das ziehen, Alle Menschen, die er in dieses Netz gesponnen hatte, das ihnen unbarmherzig ins Fleisch schnitt, endlich daraus entwirren. Dennoch – diesen letzten Faden zu durchtrennen würde bei Weitem am schwersten sein. Denn diesmal würde er nicht mit einem einzigen überheblichen Lächeln und einigen schroffen Worten alles Gewesene wegwischen können. Und das wollte er auch gar nicht. Diesmal nicht.
 

*
 

Limono und Umko saßen auf der Treppe ihres Mehrfamilienhauses. Limono Hand ruhte auf Umkos Arm, der schlaff auf dessen Knie lag. Umko hatte kaum reagiert, sodass Limono sich fragte, ob er überhaupt verstanden hatte, was er ihm zu sagen versuchte. Vielleicht hatte er sich weit in seinen Kopf zurückgezogen, sich abgeschottet und ihn ausgesperrt. Hinter seiner Brille konnte Limono seine azurblauen Augen kaum erkennen.
 

„Umko … versuch mich zu verstehen. Es müssen doch nicht immer die ganz großen Gefühle sein. Manchmal ist vielleicht die große Liebe nicht, was erstrebenswert ist. Schau dir doch an, wo uns das alles hingebracht hat. In den letzten Monaten haben wir fast jeden Tag mehr gestritten als sonst irgendwas miteinander geredet. Ich hab‘ Mist gebaut, ich weiß. Und ganz ehrlich: Ich kann dir nicht garantieren, dass ich’s nicht wieder tun würde. Ich meine: Was ist besser: Ein ganzes Leben voller Aufs und Abs und dass du immer und immer wieder verletzt wirst? Oder ein ruhiges, beständiges Leben mit einem Partner, der dir das alles erspart und dich auf lange Sicht glücklich macht.“ Das hier war anders als die Trennung von seiner Band, die ihm nur noch lästig geworden war, nicht mehr zu ihm gehörte. Er wollte, dass Umko es begriff, dass er ihm auf den Wegen seiner Gedanken folgte und zum selben Schluss kam wie er, nachdem er alles tausende Male durchgespielt hatte.
 

„Heißt das, es gibt keinen Weg, wie ich dich umstimmen kann? Wirst du jetzt einfach das Handtuch werfen und verschwinden?“, fragte Umko nun endlich tonlos. Limono atmete schwer aus. Er legte seine Stirn in seine Handfläche. Er war so müde. So erschöpft von all den Wortgefechten, den endlosen Streitereien, die sie tagtäglich austrugen, innerlich wundgerissen von den scharfen Worten. Durchgerüttelt von all den Momenten, in denen sie aufeinander zugingen, sich füreinander öffneten, tiefe Gefühle zuließen, sich dann wieder gegenseitig abstießen, die Berührungen des anderen wegschlugen und sich gegenseitig auf Abstand hielten. Zerfressen von seinem Gewissen, das mit jedem Tag lauter und aufdringlicher wurde, das Stück um Stück aus seinem Inneren nagte, bis nichts mehr von ihm übrig war.
 

Sanft hob er Umkos Kopf an und zwang ihn, ihn anzusehen. Er nahm ihm langsam die Brille ab und strich ihm sein wirres, schwarzes Haar, das er so mochte, aus der Stirn. Nur ganz leicht berührten seine Lippen Umkos. Einmal. Und ein letztes Mal. In Umkos Augen las er Resignation. Er hatte begriffen, dass es keinen Weg gab, ihn von seinem Entschluss abzubringen.
 

*
 

Er hatte nichts bei sich außer ein wenig Geld, das er abgehoben hatte, einige Klamotten und seine Gitarre, als er in den Bus stieg. Er wusste nicht, wo es ihn hinführen würde, aber das machte ihm nichts aus. Er war ein Überlebenskünstler und hatte mehr Tage erlebt, an denen er nicht wusste, was hinter der nächsten Ecke auf ihn wartete, als jeder, der er kannte. Die Türen schlossen sich und die stickige Luft des Busses umfing ihn. Er lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe und dachte an Umko. Daran, wie traurig er ausgesehen hatte, gebrochen. Er spürte einen leichten Stich in seiner Brust. Aber das würde vorbeigehen, so, wie die Landschaft um ihn herum sich verändern würde, wie ihm sein vorheriges Leben bald wie ein farbenfroher Traum erscheinen würde. Menschen würden in den Bus einsteigen, andere würden aussteigen. So war es immer gewesen. Er schaute nicht zurück.

Vorahnung


 

6: Vorahnung

'Cause I'm trying to be somebody

I'm not trying to be somebody else

This life is mine I'm living

Don't you know me, I won't ever let you down.

What they say

What they know

What they think

Won't ever bring me down

This life is mine

And I am my own.

(Three Doors Down)

Yami-Bakura im Interview
 

Warum ich so aussehe wie Ryou … tja … vielleicht bin ich sein verlorener Zwilling. Vielleicht bin ich ein guter Imitator.

Ob eines davon zutrifft? Hm, mal überlegen … nein. Nicht wirklich. Raten Sie doch mal. Sie sind sicher kreativ. Ihnen fällt etwas Schönes ein, das vielleicht mehr Sinn ergibt als die Wahrheit.
 

Ich habe mit Yami geredet? Ehrlich? Ist das so? Hm, das muss mir entfallen sein. So wie ihm ja auch einiges entfallen zu sein scheint. Vielleicht erinnere ich mich ja, wenn er damit anfängt.
 

Warum ich hier bin? Das ist wirklich mal eine gute Frage. Wäre das Spiel nicht vollkommen langweilig, wenn man immer alles von Anfang an schon wüsste? Sollte die Motivation mancher Spieler und Spielerinnen nicht so lange verborgen bleiben, bis die Zeit gekommen ist, sie zu enthüllen?
 

Ist dieses Interview jetzt beendet? Ich habe den Eindruck, wir drehen uns hier im Kreis. Warum lesen Sie nicht mehr in dem, was die Menschen tun, als in dem, was sie sagen. Glauben Sie mir, man wird daraus wesentlich schlauer. Worte sind Schall und Rauch. Wir sehen uns.
 

~*~
 

Yami stand auf dem Flur, für einen Moment nicht mehr schlüssig, wohin er eigentlich wollte und was mit diesem Tag anzufangen war. Er spürte in sich hinein und fühlte sich seltsam entzweit. Auf der einen Seite war er begierig zu erfahren, was diese Woche mit sich bringen würde. Ja, er hatte keine Angst. Er freute sich sogar ein wenig, so vielen Menschen aus seiner Vergangenheit so nahe zu sein.
 

Aber andererseits war da tief in ihm doch eine Unruhe und Unsicherheit. Er wollte sich so zeigen, wie er tatsächlich war, aber was, wenn man etwas anderes von ihm erwartete? Was, wenn seine Mitbewohner jemanden erwarteten, der er längst nicht mehr war?
 

Dennoch … er hatte sich vorgenommen, die Dinge zu tun, die er gerne und immer tat, sich nicht zu verstellen und offen mit seinem Leben der letzten Jahre umzugehen. Und so wollte er auch den heutigen Tag beginnen. Deshalb machte er sich auf den Weg zu dem kleinen Fitnessraum, den man ihnen in ihrem vorübergehenden zu Hause eingerichtet hatte. Ein kurzer Blick auf den Lageplan an der Wand im Treppenhaus genügte, um herauszufinden, dass er sich im Keller befand.
 

Der Raum strahlte einen gewissen Retrofuturismus aus. Im Gegensatz zum Rest des Gebäudes wirkte er fehl am Platz und anachronistisch, aber auch nicht so modern wie übliche Fitnessstudios. Yami hatte damit begonnen, Sport zu treiben, nachdem ihn eine bestimmte Erinnerung aus seiner Zeit als Kronprinz Ägyptens überkommen hatte. Seit seiner Kindheit hatte er neben seiner Schulbildung auch Unterricht im Kamp und darin gehabt, sich zu verteidigen, sowohl mit als auch ohne die Magie seines Milleniumsgegenstandes. Es war ein Training gewesen, das ihm körperlich viel abverlangt und ihn dauerhaft ausgelastet hatte. Außer Kartenspielen war er in Domino kaum sportlichen Betätigungen nachgegangen und plötzlich hatte er begriffen, dass ihm etwas fehlte. Seit er begonnen hatte, den Tag mit ein wenig Krafttraining zu beginnen und regelmäßig joggen zu gehen, fühlte er sich wesentlich ausgeglichener.
 

Das Haus wirkte vollkommen still, wie ausgestorben, als Yami die Treppe hinabgeschlichen war. Er war wohl einer der ersten, die heute Morgen auf den Beinen waren. Auch hier im Studio war er völlig alleine und genoss die Ruhe, während er sich ein kleines Trainingsprogramm überlegte und ausführte. Nach einer Dreiviertelstunde fühlte er sich erschöpft, aber sehr gut. Er beschloss, es ab jetzt jeden Tag so zu handhaben und freute sich jetzt auf ein gemütliches Frühstück.
 

Als er gerade seine Sachen von der kleinen Bank an der Wand geschnappt hatte und nach oben gehen wollte, um eine Dusche zu nehmen, öffnete sich die Tür und Joey betrat das Studio. „Oh hey, da hatten wir wohl denselben Gedanken“, sagte er belustigt, „störe ich dich denn?“ „Nein, gar nicht“, gab Yami wahrheitsgemäß zurück, „ich bin gerade fertig. Du kannst dich also ungestört austoben.“ „Alles klar, es wird Zeit für ein paar Joey-Moves! Wir sehen uns dann beim Frühstück!“, lachte Joey, während Yami sich anschickte, nach oben zu gehen. Doch dann rief Joey ihn noch einmal zurück.
 

„Yami, warte kurz. Sag mal … ist dir das hier eben nicht aufgefallen?“ Verwundert drehte sich Yami um und trat näher, um nachzusehen, auf was Joey sich bezog. Auf dem Display eines Laufbandes, das Yami nicht benutzt hatte, klemmte ein Zettel, ähnlich des Briefes, den sie gestern Abend alle gemeinsam erhalten hatten. Nachdenklich las Yami den Text, der darauf stand:
 

„Lieber Yami, lieber Joey, wir hoffen, ihr habt euch gut eingelebt. Wir haben eine kleine Aufgabe für euch. Ihr seid heute nicht nur für das Abendessen zuständig, sondern dürft euch zusätzlich auch ein Abendprogramm für die ganze Gruppe überlegen. Ihr habt also noch den ganzen Tag Zeit, euch etwas Nettes auszudenken, womit ihr alle HausbewohnerInnen ca. 2 Stunden lang beschäftigt. Wir sind gespannt, wie ihr diese Challenge umsetzen werdet.“
 

Die beiden sahen sich ratlos an. „Oh Mann“, sagte Joey und kratzte sich am Kopf. „Ganz schön fies, diese Showmacher da oben. Was zur Hölle sollen wir uns denn da überlegen, das nicht superspießig ist. Sollen wir etwa mit allen Monopoly spielen? Oder Twister? Die lachen uns doch aus.“
 

Yami überlegte einen Moment. Dann erhellte sich sein Gesicht. Joeys Worte hatten ihn auf einen Einfall gebracht. „Vielleicht nicht Monopoly … aber dafür ein anderes Spiel.“ Joey bekam große Augen. Dann schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Oh Mann, du bist genial! Wieso bin ich nicht darauf bekommen! Wir veranstalten ein Duel Monsters-Turnier!“ Yami nickte zufrieden: „Am besten, wir verkünden das gleich nach dem Frühstück. Dann kann sich jeder noch in Ruhe darauf vorbereiten und ein Deck zusammenstellen.“ Joey feixte. „Ich kann mir schon vorstellen, wie angefixt Kaiba ist, wenn er erfährt, dass er endlich die Chance auf eine Revanche gegen dich bekommt!“
 

Yami seufzte, ließ sich auf der Bank nieder und streckte sich. „Ja, ich hoffe, er nimmt es sportlich, wenn er nach all den Jahren wieder nur verliert.“ Joey schien kurz mit sich zu ringen, dann fragte er: „Lässt du ihm denn … auch nicht die geringste Chance?“ Yamis Gesicht wurde ernst. Er hatte das Gefühl, sie hatten jetzt das Thema „Duel Monsters“ verlassen und Joey spielte hier auf etwas anderes an. „Joey … es ist ja nett, dass du dir Gedanken um mich machst, aber vielleicht liest du mehr in diese ganze Sache, als da tatsächlich ist oder war.“
 

„Das kann sein“, seufze Joey, „aber ich hatte einfach irgendwie das Gefühl, dass es eine Zeit gab, als du echt glücklich darüber warst, wie es sich zwischen Kaiba und dir entwickelt hat. Und – ich glaube nicht, dass ich das tatsächlich sage, aber – auch Kaiba wirkte irgendwie glücklich. Nicht so verbissen, wie sonst immer.“ Yami schlug die Augen nieder. „Das mag sein, aber du weißt nun mal nichts darüber, warum es jetzt anders ist und vielleicht verstehe ich es selbst nicht so richtig. In jedem Fall ist das alles lange her. Und das Leben geht auch irgendwann mal weiter.“
 

„Ist ja schon gut. Ich frage ja nicht mehr. Aber eins musst du mir trotzdem verraten“, Joey atmete tief ein, als brauchte er Mut für seine nächsten Worte, und trat auf Yami zu und dieser sah zu ihm auf, „bist du wegen Kaiba weggelaufen? Oder unsretwegen? Ich meine, hätte ich irgendwas tun können, damit du dich in Domino wohler gefühlt hättest?“
 

Yami hätte gerne die Augen verdreht, aber er wollte Joey nicht merken lassen, dass ihn dessen Worte ärgerten. Warum zur Hölle unterstellten ihm alle, er sei vor irgendwas weggelaufen? Er hatte sich schließlich nicht gegen sein bisheriges, sondern nur für ein anderes Leben entschieden. Das war etwas vollkommen anderes. Warum warfen ihm zuerst Bakura, jetzt auch noch sein Freund Joey vor, er sei vor irgendwelchen ungelösten Problemen geflohen. Auch Ryou war schließlich nach der Oberschule nach England gegangen und ihm machte keiner solche Unterstellungen, obwohl auch er allen Grund dazu gehabt hätte, vor seiner Vergangenheit davonzurennen.
 

Aber alles in allem wusste Yami, dass Joey es nicht böse meinte, sondern sich lediglich Sorgen machte, vielleicht schon einige Zeit gemacht hatte. Womöglich gab er sich auch tatsächlich eine Teilschuld an Yamis Entscheidung. Joey hatte selbst eine Zeit hinter sich, die nicht einfach gewesen und in der er sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Sie hatten sich aus den Augen verloren und warfen sich nun jeweils vor, zu wenig füreinander dagewesen zu sein. Nachdenklich musterte Yami Joey. Sein Gesicht wirkte älter, von seinen Schicksalsschlägen gezeichnet, aber da war nach wie vor dieses Leuchten in seinen Augen. Yami dachte daran, wie er den Wein an der Eröffnungszeremonie nicht angerührt hatte. Er wollte gerne offen mit Joey sprechen, aber spürte, dass hier und jetzt nicht der Zeitpunkt dafür war.
 

„Joey … mit euch hat es nichts zu tun. Bitte denk sowas nicht. Nicht mal ansatzweise. Ich wollte einfach mal was Neues ausprobieren. Ich wollte sehen, was dieses Leben hier zu bieten hat. Und zwar alles davon. Und ich bereue es auch nicht, dass ich gegangen bin, auch wenn ihr das zu glauben scheint. Es war auch in Ordnung, wie es mit Seto ausgegangen ist. Wirklich. Ich würde auch das heute nicht anders machen.“ Er erhob sich. Er war es leid, diese Diskussion immer und immer wieder führen zu müssen. Er war hergekommen, um sich im Hier und Jetzt zu zeigen. Stattdessen wurde er ständig aufs Neue mit seiner Vergangenheit konfrontiert.
 

„Ok, ich gehe mal noch oben zum Duschen. Ich hab‘ echt Hunger. Wir sehen uns dann, Joey“, sagte er und griff nach dem Türknauf. Er zog daran. Nichts rührte sich. Er rüttelte ein paar Mal – ergebnislos. Ratlos sah er Joey an und dieser blickte zurück.
 

Wenige Minuten später hatte auch Joey mittels akrobatischer Einlagen und allem verfügbaren Kraftaufwand versucht, die Tür dazu zu bringen, sich zu öffnen. Aber ohne Erfolg. „Ok, das ist echt nicht lustig“, sagte er und schaute dabei nach oben, als hingen die Kameras alle von der Decke, „hey, ihr da oben! Hier stimmt irgendwas nicht! Lasst uns sofort hier raus, kapiert? Wenn das irgend so ein krankes Spiel von euch ist, dann habt ihr wirklich einen unpassenden Humor. Und falls nicht, dann schickt gefälligst jemanden her, der sich darum kümmern, ok? Aber pronto!“
 

Yami war still geblieben. Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Sache hier nicht von den Spielmachern inszeniert war. Ein eisiger Schauer kroch ihm über die Haut, ohne dass er hätte sagen können, was ihn alarmierte. Noch immer rüttelte Joey aufgebracht an der Tür.
 

„Ich denke, es hat keinen Zweck. Du kannst damit aufhören“, sagte Yami ruhig. Joey sah ihn perplex an. „Aber … was sollen wir denn dann deiner Meinung nach machen?“ Yami zuckte mit den Schultern. „Abwarten und hoffen, dass die verschlossene Tür nicht unser einziges Problem bleibt.“ Auf Joeys Gesicht zeichnete sich Angst ab. Ihm schien nicht zu gefallen, wie Yami sprach, und dieser wusste selbst nicht, was ihn dazu veranlasste zu glauben, dass mehr hinter der verschlossenen Tür steckte als ein verklemmtes Schloss. Aber wenn er die Augen schloss, dann spürte er, dass sie nicht alleine waren …
 

*
 

Limono und Seto saßen gemeinsam beim Frühstück. Alle anderen frühstückten in größeren Grüppchen, aber an diese seltsame Konstellation traute sich abgesehen von Mokuba keiner so recht heran. Das war wohl in Setos Fall seiner Berühmtheit und in Limonos Fall seinem Ruf als zynischer und launenhafter Mensch geschuldet. Seit einigen Jahren pflegten die beiden eine Art Freundschaft. Im Grunde verstand sich Limono nicht als jemand, der überhaupt Freunde brauchte. Er beschränkte sich auf Bekanntschaften und Menschen, die ihm nützlich werden konnten. Aber seine Beziehung zu Seto hatte zumindest einige Ähnlichkeiten mit einer herkömmlichen Freundschaft und Seto hatte nicht viele andere Freunde – eigentlich gar keine.
 

Das Frühstück des Kaibacorp-Chefs fiel, wie üblich, minimalistisch aus und bestand zu 80 Prozent aus Kaffee. Dafür, dass er es zuvor mit dem kleinen Yugi selbst vorbereitet hatte, zeigte er erstaunlich wenig Appetit darauf. „Ich frage mich, ob du deine eisernen Essgewohnheiten über Bord werfen würdest, wenn es … sagen wir … Schokomuffins oder Schokoladenkuchen gäbe“, zog Limono seinen Tischnachbarn auf, denn er wusste um seine größte Schwäche, wenn es um Nahrungsmittel ging, und die hieß Schokolade. Seto zeigte sich unbeeindruckt. „Du kannst es ja versuchen. Wenn du sie allerdings backst, verzichte ich gerne“, startete nun seinerseits Seto einen Seitenhieb auf Limonos nicht-vorhandene Kochkünste.
 

Limono tat, als würde er überlegen, „Hm … na gut. Diesen Einwand kann ich dir ausnahmsweise nicht verübeln. Ich würde sie selbst verschmähen. Aber was anderes: Was hast du heute so vor?“ „Arbeiten“, sagte Seto sachlich, „ob ich das hier tue oder zu Hause oder in der Firma, das ist ganz egal.“ Limono legte den Kopf schief. „Ich will mich ja nicht einmischen, aber … bist du nicht aus einem bestimmten Grund hier?“ Seto sah ihn an. Er wirkte unbeeindruckt, aber Limono konnte in seinen Augen sehen, dass er ihn kalt erwischt hatte. „Wie kommst du darauf?“, fragte er deshalb auch wenig einfallsreich. „Ach komm schon“, ein Grinsen hatte sich auf Limonos Lippen gestohlen. Er liebte es, wenn er etwas gegen Seto in der Hand hatte und es gegen ihn ausspielen konnte. Er suhlte sich in diesen kleinen Wortgefechten, bei denen er am Ende die Oberhand behielt. „Du bist zu durchschaubar. Ich bitte dich. Diese Ansage in der Pressekonferenz, dass noch einige Revanchen ausstehen und all dieser Schwulst? Ich weiß, was in deinem smarten, aber sozial beschränkten Kopf vorgeht.“ „Ach ja, und was soll das deiner Meinung nach sein?“, Seto wirkte nun schnippisch, fast schmollend. „Du erhoffst dir, endlich herauszufinden, was du damals in deiner Liaison mit dem kleinen König der Spiele vermasselt hast.“ „Das …“, begann Seto, bemerkte dann, dass er viel zu aufbrausend war und einige der Anwesenden zu ihnen herübersahen, „… ist überhaupt nicht wahr! Und abgesehen davon weiß ich sehr wohl, was ich …“
 

In diesem Moment begann der elektrische Kronleuchter über ihren Köpfen zu flackern. Für einen Moment erlosch er komplett, nur um dann wieder aufzuflackern. Sie blickten verwundert nach oben. „Was geht denn hier ab?“, fragte Limono und ließ Seto ausnahmsweise aus seiner bereits zugezogenen Schlinge entwischen. „Vermutlich sind die Stromkreise schon recht alt und einfach mit so vielen Geräten überlastet. Diese Amateure haben das sicher nicht ausreichend überprüft“, fachsimpelte Seto nüchtern. Er hatte gerade sein Geschirr beiseitegeschoben und seinen Laptop aufgeklappt, als sie ein Scheppern und Poltern vernahmen. Sie blickten sich an. „Überlastete Stromkreise oooder … ein Spukhaus“, sagte Limono mit übertrieben schauriger Stimme. „Blödsinn“, tat Seto den Scherz ab, „Klingt, als käme es aus dem Keller.“ Er erhob sich. „Ich kann mit diesem Lärm ohnehin nicht arbeiten. Ich sehe jetzt nach.“
 

*
 

Seit 30 Minuten saßen Joey und Yami nun bereits fest und nichts hatte sich gerührt, außer dass ihnen die Nackenhaare zu Berge standen. Joey hatte jetzt begonnen, gegen die Tür zu trommeln in der Hoffnung, dass sie oben jemand hörte und Hilfe holte. Yami hatte sich auf dem Boden niedergelassen und überlegte. Er war in einen lethargischen Zustand verfallen. Die Zeit schien irgendwie verschwunden zu sein oder stillzustehen und hatte seinen Tatendrang mit sich genommen. Durch die Stille, die nur von Joeys Hämmern unterbrochen wurde, drang plötzlich ein weiteres Geräusch. Schritte auf der Treppe. Wachgerüttelt sprang Yami auf.
 

Jetzt verstummten die Schritte. „Hallo? Ist da jemand?“, rief Joey, etwas hysterisch. „Wheeler, bist du das?“, es war Setos Stimme. „Wir sind hier eingesperrt“, sagte Yami, der sich nun ebenfalls der Tür genähert hatte, „Seto, kannst du für uns Hilfe holen?“ Von außen wurde nun der Türknauf gedreht – und plötzlich schwang die Tür nach außen auf. Yami und Joey standen völlig perplex einem verwunderten Seto Kaiba gegenüber. Sie sahen einander an. Dann wieder zu Seto.
 

„Es … also … bevor du uns jetzt auslachst, Kaiba: Die Tür ging wirklich nicht auf!“, stieß Joey empört aus. Yami atmete erleichtert auf. „Sehr merkwürdig“, sagte Seto nur, „eben gab es oben einen kurzen Stromausfall. Aber ich schätze, es besteht kein Zusammenhang.“ „Ein Stromausfall?“, Yami zog die Brauen zusammen. Und das ungute Gefühl in seinem Magen verstärkte sich …

Geheimnis


 

7: Geheimnis

]Said, "Hey man, what's goin' on?"

's about time I'm movin' on

So just go with your inner voice

You get down and I'll bring the noise

'Cause you move to a different sound

(Teddybears)

Umko Bari im Interview
 

Für mich persönlich war es nicht so einfach, immer in der Öffentlichkeit zu stehen. Mir ist es lieber, wenn nicht alles, was ich mache, von den Medien und hunderten von Followern beurteilt wird. Ich bin lieber für mich und ich habe nicht nach alldem gefragt.
 

Als ich Limono kennengelernt hab, war nicht abzusehen, dass „Green Leviathan“ so durch die Decke gehen würde. Natürlich habe ich mich für Limono sehr gefreut. Das ist ja selbstverständlich. Aber das Leben ist dadurch nicht unbedingt einfacher geworden. Manchmal frage ich mich, wie alles gekommen wäre, wenn der Erfolg der Band unser Leben nicht umgekrempelt hätte. Ob wir dann jetzt noch ein Paar wären. Aber wenn ich ehrlich bin, dann denke ich eigentlich, dass das am Ausgang der Sache nichts geändert hätte. Limono ist eben Limono. Man kann Menschen nicht einfach ändern. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen, aber letztendlich denke ich, ich habe es jetzt akzeptiert.
 

In den Medien stand oft, dass ich nicht über die Trennung von Limono hinwegkomme, dass ich nicht bereit bin, weiterzugehen. Das hat mich natürlich nicht kaltgelassen. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, ob das stimmen könnte. Ich denke, es war viel Wahres daran. Ich muss es leider zugeben.
 

Ja, ich wollte mit Limono alt werden, so romantisiert das auch klingen mag. Keine Frage. Aber ich habe eingesehen, dass mir dieser Wunsch nicht erfüllt werden kann. Es hat lang gedauert, aber irgendwann habe ich es dann auch geschafft, zu verstehen, dass, wenn es in dieser Hinsicht kein Glück für mich gibt, das nicht heißt, dass ich nie mehr glücklich sein kann. Ich habe auch ein zufriedenes Leben verdient. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man im Leben ankommen kann.
 

Naja, als ich angefangen hab, die Dinge so zu sehen, war ich auch wieder offener für andere Menschen und neue Bekanntschaften: Ich habe dann Ren kennengelernt. Mit ihm war alles anders als mit Limono, aber das war gut. Am Anfang habe ich mich oft dabei ertappt, wie ich die beiden verglichen habe, aber ich wollte das nicht, denn es wäre unfair gegenüber Ren gewesen. Irgendwann musste ich das nicht mehr tun, weil ich Ren für das geliebt habe, was er war.
 

Er und ich passen viel besser zusammen, in jeder Hinsicht, wir wünschen uns dieselben Dinge. Ich musste an etwas denken, das Limono mir bei unserer Trennung gesagt hat. Dass es nicht immer die großen Gefühle sein müssen, die einen im Leben glücklich machen. Bei Ren waren es nicht von Anfang an die großen Gefühle. Aber ich bin froh, dass ich ihm eine Chance gegeben habe. Dass ich nicht gleich weggeschaut habe. Das war die beste Entscheidung überhaupt.

 
 

~*~
 

Yami war sich über seine sexuelle Orientierung bewusst. Obwohl er sich noch immer nicht an alles erinnerte, das zu seiner Zeit als Pharao geschehen war, so wusste er doch, dass er diesen Prozess der Erkenntnis schon einmal durchlaufen hatte. Es hatte ihm nicht immer klar vor Augen gestanden, um ehrlich zu sein hatte es eine Zeit gegeben, in der er schlicht und ergreifend nicht darüber nachgedacht hatte. Aber nachdem er Seto so nahegekommen war, hatte sich dieses Wissen in seinen Gedanken mehr und mehr eingenistet und war an die Oberfläche gelangt.
 

Seto hingegen … war offenbar noch nicht an diesem Punkt angelangt. Noch lange nicht. Yami wurde das schmerzlich bewusst, als er zum wiederholten Mal versuchte, ihn dazu zu überreden, sich außerhalb der Kaibavilla mit ihm zu treffen. Er wollte durch die Stadt flanieren, in kleinen Läden einkaufen, mit Seto ins Kino gehen oder einfach im Eiscafé sitzen. Aber Seto schien das alles nicht wichtig zu sein. Er schien es sogar geradezu zu meiden.
 

Nach dem Abend, an dem sie sich geküsst hatten, hatte Yami Seto mehrmals angerufen, aber seine Angestellten hatten ihm immer zu verstehen gegeben, dass er sehr in Arbeit versunken war, und dass er sich sicher melden werde, sobald er den Kopf wieder frei hatte. Yami beschlich das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. In seinem Kopf ging er es wieder und wieder durch. War er zu brüsk gewesen? Zu anhänglich? Allerdings hatte nichts an Setos Art an jenem Abend darauf schließen lassen. Im Gegenteil: Sie waren sich so nah gewesen, dass Yami nicht geglaubt hätte, dass sie diese Ebene nicht dauerhaft erreicht hätten. Er wusste nicht, ob er seiner eigenen Wahrnehmung trauen konnte, aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er fand keine Unstimmigkeit.
 

Am siebten Tag hielt Yami es nicht länger aus. Er musste dem ein Ende machen. Nachdem er auch an diesem Nachmittag bereits zwei Stunden auf seinem Bett gelegen und darauf gewartet hatte, dass Seto sich bei ihm meldete, machte er sich kurzerhand auf den Weg zur Kaibavilla. Wenn Seto ihm nichts mehr zu sagen hatte, dann sollte er es ihm wenigstens persönlich sagen – oder so ähnlich.
 

Er fand den Firmenchef tatsächlich in seinem Arbeitszimmer vor, bis zum Hals in Arbeit vertieft. „Ich versuche seit Ewigkeiten, dich zu erreichen. Ist irgendwas nicht in Ordnung?“, fragte er etwas ängstlich, auf das Schlimmste gefasst. „Oh …“, Seto sah zu Boden, wie er es oft tat, wenn er nicht wusste, wie er mit Situationen umgehen sollte, „nein, es ist nichts. Tut mir leid, ich hatte nur so unglaublich viel zu tun diese Woche.“ „Ok, verstehe. Aber … du solltest dir auch mal ne Pause gönnen. Das ist wichtig.“ „Ja, ich weiß ja. Und das werde ich auch – irgendwann.“ „Naja, da ich schon mal da bin: Wie wär’s mit jetzt?“, schlug Yami zaghaft vor. Seto sah ihn an und schien ihn jetzt erst richtig wahrzunehmen. Schließlich gab er nach. „In Ordnung. Was möchtest du machen?“
 

Einer der Vorzüge der Kaibavilla war, dass es im Keller ein privates Kino gab. Eine riesige Leinwand zierte die vordere Wand. Dafür befanden sich Sofas und Sessel. Das Licht war angenehm gedimmt und man fühlte sich wie in eine andere Welt eingesogen. Yami und Seto saßen auf dem Sofa und redeten leise miteinander. Der Film, den sie sich angeschaut hatten, war längst zu Ende und sie hatten auch in der zweiten Hälfte nicht mehr wirklich aufgepasst. Obwohl sie so verschieden waren, fanden sie immer Gesprächsstoff. Yami fragte sich, ob es möglich war, dort anzuknüpfen, wo sie aufgehört hatten. Hatte sich etwas zwischen ihnen geändert? Er musste es herausfinden. Mitten in Setos Satz drückte er seine Lippen auf die des Kaibacorp-Chefs. Er legte seine Hände auf dessen Schultern und rückte näher an ihn heran. Aber Seto löste sich von ihm und versuchte, etwas Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Wieder sah er zu Boden und drehte seinen Kopf leicht weg.
 

Diesmal aber ließ Yami ihn nicht gewähren. Er fasste sanft sein Kinn mit einer Hand und zwang ihn, ihn anzusehen. „Seto … was ist los? Hab‘ ich irgendwas falsch gemacht?“ „Nein, gar nicht. Das ist es nicht, ehrlich. Ich … fand unser letztes Treffen sehr schön“, erwiderte Seto leise, „Ich … ich weiß auch nicht … Gibst du mir etwas Zeit? Ich muss das alles erst mal in mir ordnen.“ Enttäuschung stieg in Yami auf, aber er nickte resigniert. „Klar. Ich verstehe. Kein Problem.“ Seto zog ihn in seine Arme. So saßen sie lange da und genossen einfach die Nähe des anderen. Yami spürte, dass auch Seto es als wohltuend empfand, deshalb beschloss er, ihm all die Zeit zu geben, die er brauchte, die Geduld, die er sich von ihm wünschte.
 

Und nach einer Weile begann dieser tatsächlich, weiter aufzutauen. Wenn Seto Überstunden machte und Yami am Abend in der Kaibavilla darauf wartete, dass er nach Hause kam, dann lächelte der Firmenchef und küsste ihn zur Begrüßung. Immer mehr und mehr ließ er Yamis Nähe zu und Yami begriff, dass es für Seto ein großer Schritt war, so viel Veränderung in seinem Leben zu akzeptieren. Es war alles andere als leicht für ihn, denn er lebte nicht aus dem Moment heraus, aber dennoch wollte er es so und er tat es, weil er mit jedem Tag mehr und mehr begriff, dass es ihm guttat und dass es etwas bedeutete.
 

Spät am Abend lagen sie im Dunkeln auf Setos Bett und sahen sich in die Augen, nichts stand mehr zwischen ihnen. Hier in ihrer Zweisamkeit konnten sie ganz sie selbst sein. Sie versanken im Blick des anderen. Ihre Seelen verhakten sich ineinander und ihre Körper wollten einander näher sein. Yami spürte Setos Wärme, seine Hände erkundeten all das, was ihm von Seto bisher noch verborgen geblieben war. Testeten aus, was er sich wünschte und was sie einander mit Worten noch nicht hatten entlocken können. Er schmeckte Setos Emotionen salzig auf dessen Haut und gab ihm die Nähe und Zuneigung, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Hier, wo es nur sie beide gab, öffneten sie sich vollkommen füreinander. Aber würde das reichen?

 
 

*
 

„Verdammt, Seto, ich will doch nicht, dass du mich gleich heiratest. Ich möchte nur, dass wir mal zusammen essen gehen. Ist das denn wirklich so viel verlangt?“ „Nein, ist es nicht. Es ist nur … ich möchte nicht, dass irgendwelche Paparazzi uns irgendwo auflauern und dann morgen irgendwelcher Blödsinn in den Blättchen steht." „Aber was sollte denn in den Zeitungen schon so Schlimmes über uns stehen?“, fragte Yami schnippisch zurück. „Naja, du weißt schon …“ „Nein, ich weiß es nicht. Erklär es mir doch bitte.“ „Na dass … wir ein Paar sind oder sowas.“ „Oh … verstehe. Na, das wäre ja eine mittelschwere Katastrophe. Da gebe ich dir Recht.“ "Gut, dann sind wir uns ja einig“, sagte Seto erleichtert, der den Sarkasmus in Yamis Stimme überhört hatte. „Ach komm schon, Yami, warum können wir denn nicht bei mir essen? Mein Koch kann das mindestens genauso gut, das weißt du.“ „Ja, das weiß ich. Aber du weißt offenbar gar nichts. Am allerwenigstens, um was es hier geht.“ Yami legte auf. Tränen schossen ihm in die Augen. Er wusste nicht weiter.
 

Er war so geduldig gewesen. Wieder und wieder hatte er Nachsicht gezeigt, hatte seine eigenen Bedürfnisse hintenangestellt, damit Seto sich wohler fühlte. Hatte den Wunsch, sein Glück endlich mit anderen zu teilen, ignoriert, war unendlich viele Kompromisse eingegangen, um Zeit mit Seto zu verbringen. Aber nun war er an einem Punkt angelangt, an dem er sich fragte, wie lange er es noch würde durchstehen können. Wie lange sollte er noch warten, bis Seto sich endlich eingestehen würde, was da zwischen ihnen bestand? Denn nur, wenn er das tat, würde er auch endlich in der Lage sein, es vor anderen zu tun, das wusste Yami. Er war es so leid, war so müde.
 

Erschöpft schloss er die Augen. Eine Erinnerung überkam ihn heftig und trieb ihm weitere Tränen in die Augen. Eine Erinnerung, die mit alldem nichts zu tun hatte und doch so das Puzzle zu komplettieren schien. Er konnte den Schmerz noch fühlen, als lägen keine 3000 Jahre dazwischen.

 
 

*
 

Es war ein unglaublich langer Tag gewesen, Atem hatte Stunden über Stunden knöcheltief in Arbeit gesteckt. Seit seiner Krönung zum Pharao hatten sich mehr und mehr Baustellen aufgetan und Atem war dabei, den Überblick zu verlieren. Er wusste, er hatte viel Hilfe, aber er war auch ausgelaugt und hatte den Blick für das große Ganze verloren. Die Sonne ging gerade unter, als er den Garten hinter dem Tempel betrat. Als er die Person erblickte, nach der er gesucht hatte, erhellte sich sein erschöpftes Gesicht ein wenig. „Seth.“ Der Hohepriester lächelte schüchtern.
 

Atem und Seth saßen auf einer steinernen Bank und Seth hatte einen Arm um Atem gelegt. Atem schloss die Augen und ließ sich einfach fallen. Für einen Moment schienen all die Verpflichtungen weit weg zu sein. „Ich wünschte, es könnte öfter so sein“, sagte er, es war fast ein Flüstern. „Aber das kann es doch“, antwortete der Hohepriester. Sie sahen sich an. Atem nahm Seths Gesicht in seine Hände. Er legte seine Lippen auf die des Priesters, spürte, wie Seths Hände über seinen Rücken strichen. Sie versanken in einem Kuss. Atem wollte die Wärme, wollte dass Seths Berührungen all das, was er sein musste und was ihm auferlegt war, für diesen Augenblick wegwischten. Er schloss seine Augen.
 

„Hohepriester Seth“, eine Stimme bahnte sich ihren Weg vom Tempel zu ihnen heraus und wurde schnell lauter. Erschrocken fuhren Atem und Seth auseinander und rückten voneinander ab. „Hohepriester Seth … oh, mein Pharao“, der Tempeldiener ging auf die Knie, als er sah, dass Seth in der Gesellschaft des Herrschers von Ägypten war. „mein König, Hohepriester, ich soll Euch darüber unterrichten, dass die neuen Statuen vor dem Tempel fertiggestellt sind. Man bittet, dass Ihr sie begutachtet.“ „Das werden wir tun. Wir haben noch etwas zu besprechen. Wir sind in ein paar Minuten da.“, sagte Atem geduldig. Der Diener nickte und wandte sich ab.
 

Als er verschwunden war, seufzte Atem und erhob sich widerwillig „Schauen wir uns diese Statuen an und dann werde ich zurück zum Palast gehen. Ich bin müde.“ „Atem, bitte geh noch nicht“, sagte Seth und Atem sah, dass er es ehrlich meinte. Aber der Pharao schüttelte nur traurig den Kopf. „Seth, ich bin es so leid, dass wir uns so selten sehen. Ich möchte dich um mich haben. Wann können wir einfach mal etwas Zeit zusammen verbringen, ohne Angst zu haben, dass irgendjemand dazwischenplatzt und über Statuen oder Bittsteller redet oder eine Unterschrift will?“ Seth sah ratlos aus. „Du bist nun mal der Pharao und hast viele Verpflichtungen. Du kannst nicht einfach …“ „Das weiß ich selbst!“, giftete Atem ihn ungehalten an. Das letzte, das er jetzt brauchte, waren Moralpredigten und eine Erinnerung daran, welche Stellung er in diesem Land innehatte. Er war hergekommen, um all das für ein paar Minuten oder Stunden abzustreifen und sich selbst wiederzufinden, und nun zwängte Seth ihn umso gewaltvoller in diese Haut. Der Priester blickte drein wie ein getretener Hund und im nächsten Moment tat Atem seine barsche Art auch schon leid. Er hatte ihn nicht wegstoßen wollen.
 

„Seth … macht dir das denn gar nichts aus?“, Atem trat an ihn heran und nahm die Hand des Hohepriesters. Er sah ihn forschend an. „In ein paar Monaten wird das Mädchen im Palast eintreffen, das mein Vater als meine zukünftige Ehefrau ausgewählt hat. Wer weiß, wie oft wir dann überhaupt noch zusammenkommen können. Ich habe dann … weitere Verpflichtungen.“ In Seths Augen glaubte Atem jetzt für einen Augenblick eine Rührung aufflackern zu sehen. Der Priester zögerte. Dann sagte er: „Atem … natürlich macht es mir etwas aus. Aber du bist mein König und es ist mir nicht gestattet, etwas zu tun, das dich von der Ausübung deiner Pflichten ablenken könnte. Ich möchte nicht, dass …“
 

Seth hielt inne. Tränen füllten Atems Augen und er sah ihn fassungslos und schmerzerfüllt an. So viel Verzweiflung musste in seinem Gesicht liegen, dass Seth erschrocken wirkte. Schließlich gab er nach. Er zog Atem in seine Arme und hielt ihn fest. „Es tut mir leid. Sag mir, was ich tun kann.“ Atem schüttelte den Kopf gegen Seths Brust. „Du kannst nichts tun. Sei einfach nur da. Solange es geht.“
 

*
 

Seine Tränen waren getrocknet, aber der Schmerz pochte weiter. Und selbst jetzt, 3000 Jahre später, fühlte er eine Übelkeit, als ihm klar wurde, dass sich die Geschichte zu wiederholen schien. Er hatte diese Chance auf ein neues Leben ergriffen. Ein Leben, in dem nicht jedes einzelne Zahnrad bereits ineinandergriff, in dem nicht jeder seiner Schritte bereits vorherbestimmt war. Er wollte dieses Leben und er wollte es gemeinsam mit Seto erkunden. Aber er hatte seine Rechnung ohne dessen Bindungsangst gemacht.
 

Und auch wenn er versuchte, Seto zu verstehen, so kochte doch Wut in ihm. Wut darüber, dass er ihm erneut dieses Korsett der Heimlichkeit anlegte, dass er nicht zu ihm stehen wollte, nicht einmal jetzt, wo dies endlich möglich war. Es tat so weh und letztlich blieb Yami keine Wahl, als sich einzugestehen, dass er das nicht verdient hatte. Er hatte einen Entschluss gefasst. Auch, wenn es hieß, dass er sich selbst und Seto wehtun musste. Auch wenn er spürte, dass er jemanden wie Seto nicht wiederfinden würde. Dass das Band, das sie teilten, einzigartig war.
 

Er wollte Seto, aber ihn zu haben war mit dem Leben, das er sich wünschte, unvereinbar. Und vielleicht wartete in diesem Leben ja jemand anders auf ihn. Jemand, der stolz darauf sein würde, mit ihm gemeinsam ein Restaurant zu betreten, einkaufen zu gehen oder ihn seinen Freunden vorzustellen. Und selbst wenn das nicht der Fall war, so gab es doch so viele andere Dinge, die diese Welt zu bieten hatte. Dinge, die jenseits der Abgeschiedenheit der Kaibavilla lagen.
 

Er wollte nicht mehr sein, was er einmal gewesen war. Ein Gefangener seines Standes. Er beendete schließlich sein Studium, und alle Bande, die ihn noch in Domino gehalten hatten, waren gekappt.
 

Er hatte bereits begonnen, ein Leben in der Öffentlichkeit zu leben und es gefiel ihm, auf so vielen verschiedenen Kanälen zu sagen, was er dachte, sich zu geben wie er war, und das zu tun, was ihn inspirierte, und dafür viele positive Rückmeldungen zu bekommen. Diese neue Zeit bot ihm so viele Möglichkeiten, sich zu verwirklichen.
 

Und als schließlich die erste Anfrage für eine Produktion in den USA eintrudelte, war sie nur die Zündung der Lunte, die schon geglommen hatte. Yami war auf und davon. Es tat ihm leid, auch seine Freunde zurückzulassen, aber diese Stadt klebte an ihm wie klamme Kleider und er konnte den Ruf eines neuen Abenteuers nicht länger ignorieren. Er war bereit für etwas Neues und er wollte herausfinden, was es war, das da auf ihn wartete. Er wollte weg aus Domino, weg von Seto Kaiba und von allem, was ihn an sein früheres Leben erinnerte. Er wollte Pharao Atem abstreifen wie eine alte Haut und wie ein Phönix aus der Asche erstehen.
 

Nun hatte es ihn zu alldem zurückgeführt, was er hinter sich gelassen hatte. Nach Domino, zu seinen mittlerweile schmerzvollen Erinnerungen – und zu Seto Kaiba.

 

Spuren


 

8: Spuren

This habit is always so hard to break.

I don't want to be the bad guy,

I've been blaming myself and I think you know why.

I'm killing time, and time's killing you

Every way that I do.

Did you say "please just follow me"?

I thought you wanted me.

Cause I want you all to myself.

I can try to suck it up,

I just can't suck it up.

Make me feel like someone else.

(Marianas Trench)

Umko Bari im Interview Part II
 

Also … ja, ich habe ja von meiner Beziehung mit Ren erzählt. Dass sie sehr gut war auf eine … gesunde und beständige Art. Ich sage „war“, weil … naja, es ist so: Ich bin nicht mehr mit Ren zusammen. In der Presse war es kein großes Thema, deshalb hat es sich wenig herumgesprochen. Genauso wenig, wie es sich herumgesprochen hat, dass wir überhaupt ein Paar waren. Immerhin war Limono nicht involviert. War wohl dann einfach nicht so von Interesse.
 

Auf jeden Fall … war ich es, der die Beziehung beendet hat. Ich muss es leider sagen, ja. Ich weiß auch nicht. Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es mir selbst ein Rätsel. Eigentlich war alles super. Alles lief gut zwischen uns. Wir haben uns fast nie gestritten. Wir hatten dieselben Vorstellungen von Leben. Die Chemie hat einfach gestimmt.
 

Ok, ich gebe zu, wenn ich es so erzähle, dann klingt es vielleicht etwas langweilig, als wären wir uns zu ähnlich oder so, aber das war es nicht. Im Grunde hatten wir unterschiedliche Interessen. Aber wir haben uns füreinander interessiert, dafür, was uns bewegt und was wir so denken und tun. Haben uns viel Freiraum gelassen. Ren hatte einige Hobbys, er hatte auch einen Freundeskreis, den ich sehr gern mochte und mit dem wir viel unternommen haben.
 

Aber ich weiß auch nicht: Am Ende hat mir doch irgendwas gefehlt. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, weil ich es beendet hab. Ren hat es nicht verstanden. Ich habe das in seinen Augen gesehen. Wir hatten wirklich alles. Es gab keine Probleme. Die Frage hat offen in seinen Augen gestanden, warum es vorbei sein sollte. Und er hat sie mir auch gestellt. Ich hatte keine Antwort.
 

Ich hätte das alles haben können. Bis zum Ende. Bis wir alt und grau gewesen wären. Ich wollte es nicht. Und das ist ganz allein mir zuzuschreiben. Ich habe das zu verantworten und muss jetzt damit leben, dass ich mir das verbaut habe. Dass ich ihn verletzt habe. Es war mir irgendwie … nicht genug. Ich weiß einfach nicht. Ich verstehe mich selbst nicht. Vielleicht brauche ich etwas ganz anderes, als ich immer dachte. Vielleicht kenne ich mich selbst nicht gut genug.
 

~*~
 

Yami strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Er trug noch immer seine Sportklamotten und wollte nichts mehr als eine Dusche. Schon im ersten Augenblick, als sie den Fitnessraum endlich verließen, kam es ihm vor, als wäre das alles nicht real gewesen. Waren sie tatsächlich hier eingesperrt gewesen? Hatten sie es sich nur eingebildet? Waren sie ganz einfach zu dämlich gewesen, um die Tür zu öffnen?
 

Während er die Treppe hinaufstieg, bemerkte er, dass Seto ihn von der Seite nachdenklich musterte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er, als Yami seinen Blick auf sich ruhen spürte und den Firmenchef ansah. „Ja … ich denke schon“, sagte Yami etwas angespannt, „Es ist nur … wir waren ein wenig unter Stress da unten. Wir hatten echt Angst, da festzusitzen: Jedenfalls … danke, dass du nachgesehen und uns rausgeholt hast.“ Seto nickte. „Vielleicht liefern sie uns ja eine Erklärung, was da los war. Es wäre jedenfalls angebracht.“ Yami sah ihn dankbar an, erleichtert, dass Seto ihn nicht für verrückt oder unfähig hielt.
 

Für einen Moment überlegte er, ob er ihm von dem seltsamen Gefühl berichten sollte, das er gehabt hatte. Aber er wollte den Firmenchef nicht am ersten Tag hier bereits wieder mit irgendwelchen mystischen Vorahnungen belästigen. „Also … schön, dass es dir … euch gutgeht“, fuhr Seto leiser fort, „Ihr solltet erst mal was frühstücken und ein bisschen runterkommen.“ Yami nickte. „Ja, das wird das Beste sein.“ Er wandte sich um, um den Rest der Stufen nach oben zu nehmen, als er noch einmal Setos Stimme hinter sich vernahm. Eine ungewohnte Unsicherheit lag darin. „Yami, warte einen Moment. Ich wollte …“
 

In diesem Augenblick tauchten Mokuba, Tea und Yugi am Ende der Treppe auf. „Hey, Seto, alles in Ordnung? Was ist denn da unten los? Gibt’s Probleme?“, wollte der jüngere Kaiba wissen. Seto schien sich wieder gefangen zu haben. „Nein, alles klar, Mokuba. Wir hatten hier nur ein kleines Problem mit der Tür. Aber es hat sich alles geklärt.“ Mokuba blickte sie nachdenklich an.
 

*
 

Später, als Yami und Joey sich ein ausgiebiges Frühstück gegönnt hatten, verkündeten sie den anderen die Neuigkeiten zur Tagesplanung, die über die verschlossene Tür fast untergegangen waren. „Also, alle mal hergehört! Yami und ich haben den Auftrag bekommen, euch heute Abend ein bisschen zu bespaßen. Und wir haben uns etwas Nettes für euch überlegt. Um der alten Zeiten Willen.“ Joey grinste vielversprechend in die Runde. „Wir werden ein Duel Monsters Turnier veranstalten. Der Sieger bekommt … nur Ruhm und Ehre. Aber das ist es ja auch, wofür wir alle spielen. Und zum Spaß natürlich. Die ersten Paarungen werden ausgelost. Also, strengt euch an, mischt eure Karten, stellt eure Decks zusammen – und gebt euer Bestes!“
 

Ein allgemeines Raunen ging durch die Anwesenden. Yami konnte sehen, dass Setos Augen leuchteten und sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen gelegt hatte. Limono hingegen verdrehte genervt die Augen. „Oh zur Hölle, ist man denn wirklich nirgends vor diesem dämlichen Spiel gefeit?“, seufzte er. „Tut mir leid, ich muss leider passen. Ich besitze keine einzige Karte. Wie außerordentlich schade“, fügte er dann in gespieltem Bedauern hinzu. Wortlos trat Seto vor und breitete seinen berüchtigten Koffer vor ihm auf dem Tisch aus, der über und über mit Karten gefüllt war. „Dieses Problem hätten wir hiermit gelöst“, sagte er schmunzelnd und Limono sah ihn nur ungläubig an. Letztlich musste er sich allerdings geschlagen geben und Seto versicherte ihm, dass es an seinem eigenen Deck nichts zu feilen gäbe und dass er ihm deswegen beim Erstellen eines Decks helfen würde. „Wie großzügig“, gab der Grünhaarige murrend zurück.
 

In diesem Moment begann der Flachbildfernseher im Wohnzimmer, der in etwa so anachronistisch wirkte wie das Fitnessstudio im Keller, einen gleichmäßigen Piepton von sich zu geben und sprang ohne das Zutun eines der Kandidaten an. Limono und Seto sowie Yami und Joey sahen sich alarmiert an, doch schnell offenbarte sich diesmal die Quelle des verselbstständigten Elektrogeräts. Auf dem schwarzen Hintergrund des Displays erschien das Logo der „Rivals' Reunion“-Show und nach einem kurzen Jingle erschien eine schwarze Schrift: „Nicht so schnell, Seto Kaiba. Dein Deck mag gut sein, aber heute werden die Karten neu gemischt. Liebe Kandidaten: Öffnet den Koffer auf dem Esstisch.“ „Ein Koffer? Ich habe vorhin keinen gesehen“, überrascht lief Tea ins Esszimmer und kam kurz darauf mit einem Metallkoffer zurück.
 

„Wenn sie den hier reinschaffen können, warum sorgen sie dann nicht mal für ein bisschen Auswahl an Eissorten im Gefrierfach?“, maulte Malik, „ich habe gestern im Interview schon darum gebeten!“ „Leute, er ist so leicht, hier scheint gar nichts drin zu sein“, bemerkte Tea verwundert. Sie öffnete die beiden Klappverschlüsse. Im Koffer befanden sich, in Stapeln, mindestens fünfhundert nagelneue Spielkarten. Nun ertönte erneut ein Ton aus dem Fernseher. „Für euer heutiges Turnier werdet ihr diese hier benutzen statt eurer eigenen Decks. Nur höchstens ein Drittel eurer Decks darf aus euren eigenen Karten bestehen. Es handelt sich bei allen Karten im Koffer um neu entwickelte Karten, die noch nie im Spiel verwendet und gerade erst zugelassen wurden. Ihr solltet also eure Hausaufgaben machen und euch damit auseinandersetzen.“ Seto knurrte ein wenig missmutig. Schließlich aber machte sich erneut ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Wie auch immer: Ich schlage jeden, egal mit welchem Deck.“
 

Joey und Yugi hatten sich sofort auf diesen soeben gehobenen Schatz gestürzt und überschlugen sich fast vor Aufregung, zeigten sich gegenseitig Effekte und verglichen Angriffs- und Verteidigungswerte. „Alter, ich bin im Paradies!“; jauchzte Joey. „Manchmal denke ich, ich bin im falschen Film. Welche bewusstseinserweiternden Substanzen habt ihr nur alle genommen, um auf ein paar Papierfetzen für Kinder so abzufahren?“, fragte Limono mit hochgezogenen Augenbrauen, aber keiner nahm davon Notiz.
 

*
 

Nach dem Frühstück verstreute sich die kleine Gruppe langsam wieder. Einige ließen sich von Yami und Joey die Geschichte ihres unfreiwilligen Aufenthaltes im Keller erzählen. Seto ließ Limono derweil keine Zeit, sich wieder aus der Sache herauszuwinden, und nötigte ihn dazu, sich erste Gedanken über den Charakter seines Decks zu machen. So saßen die beiden wenige Minuten später auf dem Sofa, wo sie gestern noch die Aufgabenverteilung für den heutigen Tag besprochen hatten, und Seto sortierte einige Kartenhäufchen auf dem kleinen Tisch vor ihnen, denn auch er war nun vor die Herausforderung gestellt worden, sich ein neues Deck zu basteln. Außerdem hatte er eine Spielmatte vor ihnen ausgebreitet, auf der sich bereits diverse Karten tummelten.
 

Seto seufzte ungläubig. „Nein, so geht das doch nicht. Du kannst doch keine Zauberkarte in die Monsterkartenzone legen! Ist das denn so schwer zu begreifen, dass unterschiedliche Farben für unterschiedliche Kartentypen stehen? Hast du denn wirklich keine Ahnung von diesem Spiel? Wo zur Hölle hast du in den letzten Jahren nur gelebt?!“ Limono verdrehte zum wiederholten Mal die Augen. „Warum soll das nicht gehen? Immerhin ist doch auf der Karte so ne Art Monster drauf. Nur weil sie jetzt grün ist, soll ich sie nicht dahinlegen dürfen? Wer hat sich diesen Quatsch nur ausgedacht?“, entgegnete er zickig und zeigte auf die Topf der Gier-Zauberkarte in seiner Monsterkartenzone.
 

„Ich kann es nicht glauben, dass dieser Kelch an dir vorbeigezogen ist – und damit meine ich NICHT den Topf der Gier“, stöhnte Seto resigniert und schüttelte den Kopf. „Was denn, nur weil ich mich nicht derselben Gehirnwäsche unterzogen hab wie eure Freakshow, soll ich mich jetzt dafür schämen? Gibt es denn eigentlich keine Spielanleitung für diesen Mist? Damit würden wir uns diese Tortur hier sparen und uns unsere Nerven erhalten.“ Seto sah Limono entgeistert an. „Eine Spielanleitung? Ist das dein Ernst? Ich habe ganz ehrlich noch nie jemanden erlebt, der für Duel Monsters nach einer Spielanleitung gefragt hat. Ich kann es wirklich nicht glauben.“ Nun war es an Limono, verständnislos dreinzublicken. „Wie habt ihr Verrückten denn alle die Regeln gelernt, wenn nicht so?“, fragte er ungläubig, wobei er doch über Setos Empörung schmunzeln musste. Diese fanatischen Spielsüchtigen ließen wirklich nichts auf ihr Heiligtum kommen. Er selbst, der sich nie für das Spiel interessiert und es auch nie gelernt hatte, schien für Seto in einer völlig anderen Welt zu existieren, fast abnorm zu sein.
 

„Na … also, eigentlich kennt keiner so wirklich die Regeln“, gab Seto schließlich etwas kleinlaut zu, „im Grunde denkt sich jeder welche aus, die ihm gerade in den Kram passen, damit das Spiel dramatischer wird. Aber … wenn du es nicht anders haben willst, schaue ich mal, ob ich auf meinem Laptop eine Anleitung finde. Ins Internet darf ich mich hier ja leider nicht einwählen, aber vielleicht habe ich auf meiner Festplatte etwas Brauchbares.“ Limono nickte erleichtert und Seto zog seinen Computer auf seinen Schoß, als unvermittelt jemand zu ihnen an den Tisch trat und sich hörbar räusperte. Es war Umko. Seto und Limono sahen überrascht auf.
 

Limonos Ex-Mann wirkte eigentlich selbst nicht sonderlich glücklich darüber, die beiden in ihrem Tun zu unterbrechen oder überhaupt mit ihnen reden zu müssen. Trotzdem sprach er sachlich und bestimmt. „Limono, wir sind gestern beide für die Erkundung des Hauses eingeteilt worden, schon vergessen? Sollen wir das nicht heute im Laufe des Tages angehen? Alle anderen haben sich an ihre Parts gehalten, ich finde es nur fair, wenn wir dem auch nachkommen.“ Limono sah kurz auf die beiden Psi-Monsterkarten, die er noch immer in der Hand hielt. Dann blickte er wieder zu Umko auf. „Ja, du hast wie immer Recht. Dann lass uns das doch nach dem Mittagessen machen. Bis dahin habe ich vielleicht die Regeln dieses absurden Wahns hier kapiert.“ Seto warf ihm einen empörten Blick von der Seite zu, aber Umko nickte nur wortkarg und überließ die beiden wieder sich selbst.
 

Limono sah ihm mit gerunzelter Stirn nach. Er spürte, dass Umko am liebsten keinerlei Interaktion mit ihm eingegangen wäre. Er wirkte angespannt und verschlossen und Limono fragte sich, vor was er sich fürchtete. Vielleicht vor sich selbst. Vielleicht hatte er einfach nur gedacht, dieses Kapitel seines Lebens für immer abgehakt und Abstand gewonnen zu haben. Limono spürte einen Stich, wenn er Umko so unnahbar erlebte. Er vermisste es, wie sein Partner früher gewesen war. Aber es war der Weg, den er, Limono, für sie beide gewählt hatte, und er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass ihm dieser Teil von Umkos Persönlichkeit jetzt verwehrt blieb. Manchmal war es schwer, sich daran zu erinnern, dass man das Richtige getan und aus Überzeugung gehandelt hatte.
 

*
 

Sie standen sich gegenüber. Beide hatten sie sich an Abmachung und Treffpunkt gehalten. Die Situation war angespannt, als sie jetzt auf dem oberen Treppenabsatz neben der großen Brüstung standen und damit zurechtkommen mussten, dass sie hier würden zusammenarbeiten müssen. Umko hätte sich lieber aus dem Staub gemacht, das spürte Limono deutlich.
 

Er seufzte. „In Ordnung. Für mich ist das hier auch nicht gerade leicht. Warum machen wir nicht einfach das Beste draus und legen für die paar Stunden unsere Differenzen beiseite?“ In Umkos Augen konnte Limono Verletztheit aufflackern sehen. Er wusste, er hatte das Falsche gesagt. Natürlich konnte man alles, was war, nicht einfach wegschieben oder vergessen, auch nicht für ein paar Stunden. Aber welche Wahl blieb ihnen hier schon? Das war das Spiel und sie hatten sich darauf eingelassen.
 

„Ok, hör zu: Ich weiß, du bist noch sauer auf mich, weil ich einfach abgehauen bin. Aber was hätte ich denn machen sollen? Es hat uns doch alles nirgendwo hingeführt und ich wollte es dir einfach leichter machen.“ Umko hatte zu Boden gesehen. Nun blickte er auf. Er sah jetzt wirklich verärgert aus.
 

„Limono ganz ehrlich: Wann wirst du endlich verstehen, dass es nicht immer und jedem nur um DICH geht?! Ich bin längst über den Punkt hinweg, sauer auf dich zu sein. Ich bin über den Punkt hinweg, wo mich irgendwas davon überhaupt etwas angeht. Ich will einfach nur weitergehen und den ganzen Mist hinter mir lassen. Das hätte ich schon viel früher tun sollen. Und jetzt sitzen wir hier in dieser Show und wahrscheinlich wird von uns erwartet, dass wir hier irgendwie reden oder streiten oder anderes. Das alles nervt mich eigentlich einfach nur, genauso wie dein riesiges Ego. Also, ich gebe dir Recht. Lass es uns einfach hinter uns bringen. Ich tue, was von mir verlangt wird, um dieses Spiel bis zum Ende zu spielen, aber du solltest verstehen, dass DU kein Teil meines Lebens mehr bist, nicht einmal als Ärger oder Wut oder in Form irgendeines anderen Gefühls.“
 

Limono schwieg. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte, von Umko die Stirn geboten zu bekommen. Es hatte bisher niemanden gegeben, der so ehrlich mit ihm umging und so mühelos hinter seine kühle Fassade blickte. In den blauen Augen seines Gegenübers blitzte jetzt diese entwaffnende Ehrlichkeit auf, die Limono auch früher bereits fast dazu gebracht hatte, die absurden und so positiven Dinge zu glauben, die Umko über ihn gesagt hatte, als sie sich noch gut verstanden hatten. Während ihrer letzten gemeinsamen Monate waren es jedoch zunehmend die schmerzhafteren Wahrheiten gewesen, die über seine Lippen gekommen waren, und Limono hatte nicht weniger schneidend gekontert, obwohl er gewusst hatte, dass Umko Recht hatte. Mit allem.
 

Und vielleicht hatte Limono ihre Situation wirklich falsch eingeschätzt. Vielleicht war Umko an einem anderen Punkt, als er erwartet hatte. Ja, er hatte sein Leben weitergelebt, wie Limono es sich gewünscht hatte. Auch wenn es schmerzte, keine Rolle mehr darin zu spielen, hatte er sich doch immer wieder in Erinnerung gerufen, dass er bisher immer nur der dunkle, zerstörerische Teil gewesen war, der Umkos zufriedenes, ausgeglichenes Gemüt mehr und mehr von innen heraus zermürbt hatte. Und wenn er nichts anderes in Umkos Leben sein konnte als das, dann wollte er lieber gar keinen Anteil daran haben.
 

Umko hatte einen Partner gefunden, wie er es sich für ihn gewünscht hatte. Manchmal hatte Limono Neuigkeiten über die beiden aus den Medien erfahren. Sie schienen glücklich zu sein. Trotzdem hatte er immer irgendwie angenommen, dass dieser Ren nur Umkos zweite Wahl war, dass das, was sie beide geteilt hatten, anders war und nicht zu toppen. Ein arroganter Gedanke, das gab er zu. Aber vielleicht der einzige, der ihn das Ganze überhaupt ertragen ließ. Es war seine Entscheidung gewesen und das waren die Konsequenzen, die er gewollt, aber nicht gewünscht hatte.
 

„Also gut. Vergessen wir es und tun wir einfach so, als wären wir uns zum ersten Mal begegnet und hätten nichts miteinander zu schaffen, abgesehen von dieser Suche hier“, schloss Limono das leidige Thema ab, „Dann überlegen wir doch mal: Wenn die Spielleiter wollen, dass wir etwas finden, dann haben sie vielleicht irgendwo etwas deponiert ... Wo könnte das sein? Vielleicht in einem Gemälde oder einem Schriftstück. Wie wäre es, wenn einer von uns sich mal das Arbeitszimmer hier im ersten Stock ansieht und der andere in der Zeit alle Bilder an den Wänden unter die Lupe nimmt?“ „Klingt vernünftig“, sagte Umko und atmete hörbar aus, „dann übernehme ich das Arbeitszimmer. Treffen wir uns in einer halben Stunde wieder hier.“
 

*
 

Missmutig schlenderte Limono durch die Gänge des Gebäudes und inspizierte nur halb aufmerksam die Bilder an der Wand. Um ehrlich zu sein, fiel es ihm schwer, auszumachen, nach was er eigentlich suchen sollte. Er dachte an Umko und an den Moment, als er erfahren hatte, dass die neue Beziehung seines Ex-Mannes am Ende nicht funktioniert hatte. Umko war derjenige gewesen, der sich von seinem Partner getrennt hatte. Limono konnte schwer sagen, was er empfunden hatte. Vielleicht Erleichterung, vielleicht Mitleid. Vielleicht auch Angst. Solange Umko in dieser Partnerschaft gewesen war, war er aus seinen Gedanken verschwunden gewesen. Er war erleichtert gewesen, dass sein Plan aufgegangen war und Umko das gefunden hatte, von dem Limono geglaubt hatte, dass es das Beste für ihn war. Er hatte sich bestätigt gefühlt. Aber jetzt, da die Möglichkeit bestand, dass es offenbar doch nicht das gewesen war, was Umko gewollt hatte, war plötzlich alles wieder präsent.
 

Verdammt, seit er hier war, musste er sich nur mit all den Dingen auseinandersetzen, die er eigentlich lieber verdrängen wollte: seiner gescheiterten Ehe, diesem blöden Kartenspiel und dieser dämlichen Schatzsuche. Er fühlte sich in etwa so miserabel wie der blasse Junge auf dem Gemälde, das er gerade abwesend betrachtete und der bereits auf einigen weiteren Bildern gewesen war, an denen er – Augenblick mal.
 

Limono sah noch einmal genauer hin und ein Schauer überlief ihn eiskalt. Er hatte plötzlich die Gewissheit, gefunden zu haben, nach was sie suchten. Warum konnte er nicht sagen. Er fuhr mit dem Daumen über die zierliche Person auf der verblassten Fotografie, die so gar nicht zum Rest der Gesellschaft auf dem Bild zu passen schien. Sie war abseits der anderen und blickte düster vor sich hin. Limono hatte niemals so viel Unglück und ziellose Wut in menschlichen Augen gesehen. Obwohl auch die anderen eingefangenen Personen kaum lachten, wirkten sie ausgeglichen und ruhig. Die Stimmung dieses Jungen, der etwa 18, höchstens 20 Jahre alt war, schien durch das Bild in Limonos Inneres zu wabern. Er ging noch einmal zurück, um die anderen Bilder zu betrachten. Hier bot sich ihm ein ähnlicher Anblick. Nach einem Rundgang durch das erste Stockwerk hatte er insgesamt vier arrangierte Fotos gefunden, die den blassen Jungen zeigten – mal zusammen mit seiner ganzen Familie, mal nur mit zwei anderen Jugendlichen, die seine Geschwister zu sein schienen. Immer trug er recht altmodische Kleidung und wirkte deplatziert neben den anderen.
 

Erleichtert, nicht mit leeren Händen zurückzukehren, betrat er nach einer halben Stunde das Arbeitszimmer, wo Umko bereits Aktenberge auf dem Schreibtisch und Boden ausgebreitet hatte. „Ich denke, ich hab‘ hier was“, sagte der Schwarzhaarige eifrig, „hier im Regal stehen Dokumente mit Informationen zu den ehemaligen Bewohnern dieses Hauses. Hör dir das an: Die letzte Familie, die hier lebte, ist 1888 hier eingezogen. Sie war hier bis 1896, allerdings gibt es keine Informationen darüber, wohin sie verzogen sind. Zumindest hier nicht. Seitdem steht das Haus leer. Die Familie war wohl adelig und über sie finden sich hier mit Abstand die meisten Dokumente. Da steht zum Beispiel, sie hatten drei Kinder. Und jetzt kommt es: Über eines davon, einen Jungen namens Miko Tomayashi, finden sich hier umfangreiche Krankenakten. Er befand sich wohl in psychiatrischer und psychotherapeutischer Betreuung oder zumindest, was man eben damals darunter verstand. Der Arzt schreibt hier, hör dir das an, „ist manisch, zeigt Anzeichen Paranoia und Hysterie, wie sie sonst nur beim schwachen Geschlecht in Erscheinung tritt, und weist mehrere Psychosen auf.“ Limono trat an den Schreibtisch heran, wo sich Umko über die besagte Akte beugte. Wortlos legte er die drei Bilder auf den Tisch, die er samt RAHMEN unter dem Arm getragen hatte. „Könnte es vielleicht sein, dass DAS unser Patient ist?“, sagte er amüsiert. Umko warf nur einen kurzen Blick auf die Bilder und verglich sie mit den Fotos in der Patientenakte. „Bingo“, sagte er trocken.
 

„Ok, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Junge nichts mit unserem Rätsel zu tun hat? Die Hinweise sind ZU offensichtlich“, sagte Limono. Sie blätterten weiter in den Akten und lasen das eine oder andere über die Familie Tomayashi. „Nachdem das Haus leer stand, scheint es nie wieder bewohnt gewesen zu sein“, sagte Umko, der sich gerade durch den Bericht eines Maklers kämpfte, „also … könnte es eventuell sein, dass niemand mehr das Haus kaufen WOLLTE?“ „Ja, es scheint ganz so, oder?“ überlegte Limono und fuhr dabei gedankenverloren über das Portrait von Miko Tomayashi, „und vielleicht sollen wir ja herausfinden …“ „was der Grund dafür ist“, beendete Umko seinen Satz. „Ja, es könnte darum gehen, was hier mit der Familie Tomayashi passiert ist. Genau, wir sollen deren Geschichte aufdecken! Das ist unser Rätsel!“
 

Limono war aufgesprungen und war ein paar Schritte auf Umko zugelaufen und auch Umko hatte sich von den Papieren abgewandt und sah Limono erleuchtet an. „Genial, wir haben es echt geschafft. Wir haben eine Spur gefunden!“ Euphorisch lächelten sie einander zu. Limono mochte es, wie Umkos Augen vor Tatendrang sprühten. Er hatte sich im Moment verloren und plötzlich war er sehr froh, den Nachmittag hier mit Umko zu verbringen, und rügte sich im selben Moment dafür, als ihm das klar wurde. Noch immer waren ihre Blicke fest ineinander verhakt, als unvermittelt ein Rütteln durch den ganzen Raum ging.
 

Die Glastür des Bücherschrankes zitterte, die Wählscheibe des alten Telefons klingelte wachgerüttelt und der Schreibtisch begann zu beben, sodass die Papiere darauf durcheinandergewirbelt wurden. Mit einem schrillen Klirren fiel eines der gerahmten Bilder, die Limono dort platziert hatte, zu Boden und das Glas zerbrach. Zum zweiten Mal an diesem Tag flackerte das Licht des elektrischen Kronleuchters über ihnen und erlosch schließlich völlig. Da das Zimmer fensterlos war, standen sie für einen Moment in absoluter Dunkelheit.
 

Im nächsten Augenblick spürte Limono, wie Umkos Hand seine eigene ergriff und sie fest drückte. Limono konnte spüren, wie angespannt sein Ex-Mann war. Sie waren einander plötzlich sehr nah in der Dunkelheit, hörten den Atem des anderen. Dann wurde es wieder hell und schlagartig war alles ganz ruhig, als wäre nie etwas geschehen. Umko atmete aus. Dann, peinlich berührt, ließ er Limono los und räusperte sich, während er auf seine Schuhe sah.
 

Keiner von Ihnen traute sich zu fragen, was diese Ereignisse verursacht hatte. „Tja … wir sollten hier aufräumen und dann den anderen von unserem Verdacht berichten“, sagte Limono, der sich als erster wieder gefasst hatte. „In Ordnung“, Umko nickte dankbar und beeilte sich, zur Tür zu gelangen. Ob sein Fluchtreflex nun dem ungewöhnlichen Vorfall oder seiner ungeplanten Annäherung geschuldet war, konnte Limono nicht sagen.
 

Als sie das Zimmer verließen, fiel sein Blick noch einmal auf das zerbrochene Foto. Ein Riss ging genau durch die Stelle, an der Miko stand und ihn düster und ein wenig mit Häme beäugte. Auch wenn er es nie zugegeben hätte: Limono fröstelte.

Befreiungsschlag


 

9: Befreiungsschlag

You bath me

You know how to torture me

You keep me in my corner

I know you, I know you

You want me for yourself

But I am free

I know you, I know you

You want me on your shelf

But I am free!

(Black Lab)

Tea Gardner im Interview
 

Ist es schön, nach Hause zu kommen? Puh, eine knifflige Frage. Es ist eigentlich so: Zu Hause ist für mich eigentlich nicht ein bestimmter Ort. Zu Hause sind für mich die Menschen, die es dazu machen. Die Menschen, die ich hier in Domino kennengelernt habe, gehörten dazu. Freundschaft war mir immer wichtig und wird es immer sein. Das, was wir uns versprochen haben damals, das gilt ein Leben lang. Und wenn ich diese Menschen treffe, dann bin ich zu Hause, klar.
 

Aber ich bin genauso zu Hause bei meinem Freundeskreis in New York. Ich habe da einige sehr gute Freunde gefunden, mit denen man Pferde stehlen kann. Und auch mit ihnen hab ich schon jeden Blödsinn mitgemacht und viel durchgestanden. Und an dem Punkt, an dem ich momentan in meinem Leben stehe, nehmen sie einfach mehr Raum ein. Das heißt aber nicht, dass mir all das, was ich hier erlebt habe, nicht wichtig ist. Im Gegenteil.
 

Diese Menschen und Ereignisse haben mir gezeigt, was ich will. Sie haben mir geholfen, überhaupt erst dorthin zu kommen, wo ich heute bin. Und wer weiß, vielleicht gibt es auch eine Zeit in meinem Leben, wo all das wieder größer wird und wo sich mein Lebensmittelpunkt wieder hierher verlagert. Oder ganz woandershin. Ich bin schon jemand, der spontan ist und die Dinge so nimmt, wie sie kommen. Ob das hier nur ein Intermezzo ist oder etwas verändert … ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein.
 

Mir macht mein Beruf sehr viel Spaß. Mir gefällt das Tanzen an sich, aber mir gefällt auch alles drumherum. Um ehrlich zu sein: Ich liebe es! Einfach mal aus diesem ganzen Kleinstadtmief raus zu sein. An einem Ort zu sein, wo dich nicht jeder kennt. Nicht das nette Nachbarsmädchen zu sein. Und WENN man dich in New York kennt, dann kann man sich schon was drauf einbilden. Im Gegensatz zu Domino (lacht). Wer ist schon ein Limono Otoya oder sogar ein Seto Kaiba in der Stadt, die nie schläft?
 

Hach ja, meine Beziehung zu Yugi. Es war klar, dass ihr mich danach fragt (kichert). Naja, was soll ich sagen. Wir waren damals ja sehr jung. Ja, ich war eine Zeit lang ziemlich verschossen in Yami, aber ich mochte Yugi immer schon … Aber wie schon gesagt, momentan existiert das hier nur am Rand meines Lebens und ich denke nicht, dass das reicht, um an irgendwas anzuknüpfen. Yugi ist mein bester Freund aus der Schule und ich möchte das eigentlich gerne weiterhin so halten. Wir sind einfach alle zusammen dieses unschlagbare Team. Ich denke nicht, dass es gut wäre, an dieser Konstellation irgendwas zu ändern.
 

In den USA ist man ja etwas lockerer mit dem Dating. Am Anfang fand ich das ungewohnt, aber ich habe mich dran gewöhnt und es hat auch viel Gutes. Man kann sich viel Zeit nehmen, jemanden in Ruhe kennenzulernen, bevor man die Bande zu fest knüpft. Und ja, ich nehme diese Möglichkeit auch in Anspruch.
 

~*~
 

„Diesmal nicht“, sagte Joey, während er in der Wohnzimmertür stand. So lange hatte er gebraucht, bis die Worte über seine Lippen gekommen waren. Aber jetzt, endlich, fielen sie ihm so leicht. Jetzt, wo er seinen Vater dort auf dem alten Sofa liegen sah, kaum bei Bewusstsein. Nicht einmal in der Lage, aufzustehen und ihm irgendetwas entgegenzusetzen. Auf dem Wohnzimmertisch standen und lagen leere Dosen und Pizzakartons. Unter der Couch schlummerten vergessene Glasflaschen. Er prägte sich diesen Anblick gut ein. Er wollte ihn nie wieder ertragen müssen.
 

Sein Vater ließ ein heiseres, ersticktes Lachen vernehmen. „Du undankbare Brut!“, zischte er, „Das ist der Dank dafür, dass du so lange deine Füße unter meinen Tisch stellen durftest, für alles, was du mir zu verdanken hast!“
 

Joey lachte auf und schüttelte amüsiert den Kopf. Er hatte nichts weiter als Hohn für diese Worte übrig. „Ich lach mich kaputt. Und was genau sollte das deiner Meinung nach sein? Was hast du jemals für mich getan? Hast du vielleicht für mich gekocht, als ich klein war? Warst du auf Elternabenden? Hast du meine Hobbys bezahlt, anstatt deine ganze Kohle zu versaufen? Falls ja, muss es mir entfallen sein.“
 

Joey konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, als ihm eine Flasche entgegenflog, über seinen Kopf hinwegsurrte und klirrend an der Wand zerbarst, wobei sie einen riesigen Fleck hinterließ.
 

Stille legte sich über den Raum. Es gab nichts mehr zu sagen. Joey drehte sich wortlos um und ging. Das hier hatte nichts mehr mit ihm zu tun.
 

*
 

Fünfzehn Monate vor dieser Szene hatte Joey Wheeler die Schule hinter sich gelassen. In seinem Kopf war es ein großer Erfolg gewesen. Er hätte nie gedacht, dass er mal den Oberschulabschluss schaffen würde. Aber seine Freunde hatten ihn angespornt und motiviert. Seinem Vater hingegen war es gleichgültig. Alles, was er zu diesem Erfolgserlebnis zu sagen hatte, war, dass Joey sich endlich einen Job suchen und ihm nicht mehr länger auf der Tasche liegen sollte. Ja, damit du noch mehr für Schnaps ausgeben kannst, dachte Joey bei sich.
 

Joey war überglücklich gewesen, als er endlich eine Anstellung als Automechaniker gefunden hatte. Schon während der Schulzeit hatte er gerne an Wagen und Motorrädern herumgebastelt. Aber es hatte sich anders entwickelt, als er ursprünglich gedacht hatte. Jeden Tag kreidete sein Chef ihm Fehler an, oft suchte er geradezu in den Krümeln. Anfangs ärgerte sich Joey darüber, aber machte sich nicht viel daraus, doch mit jedem Tag wurde er nervöser und nervöser, bis ihm schließlich ausschließlich wegen seiner strapazierten Nerven Fehler passierten. Diese wurden natürlich doppelt geahndet. Ganz zu schweigen von den Vorwürfen, die sich Joey selbst deswegen machte.
 

Er wusste nicht, warum sein Chef ihn auf dem Kieker hatte, aber letztlich dämmerte es ihm doch, dass es etwas mit seiner Herkunft zu tun haben musste. Sein Chef sah jemanden in ihm, der er nicht war, der nur in seinem Kopf existierte. Vielleicht war es seine Sprache, vielleicht seine Kleidung, aber er hatte Joey in eine Schublade gesteckt, die für immer verschlossen war und aus der er keine Möglichkeit sah, jemals wieder auszubrechen. Das war der Moment, als Joey begriff, dass sein Schulabschluss und all sein Fleiß in der echten Welt nichts zählten. Was zählte war nur, als wer er geboren war. Und es war auch der Moment, in dem er begann, seinen Vater zu verabscheuen. Zuvor hatte er nur Mitleid empfunden, manchmal auch Gleichgültigkeit. Und es gab sogar Momente, in denen er ihn ehrlich gernhatte. Aber jetzt wollte er zum ersten Mal alle Verbindungen zu seinem alten Herrn kappen. Er hasste es, auf der Basis von etwas beurteilt zu werden, woran er selbst unschuldig war. So sollte die Welt nicht funktionieren. All das war höchst defizitär.
 

Er wollte für eine eigene Wohnung sparen, aber sein Vater sackte einen Großteil seines Gehalts ein. „Miete“ nannte er es. Was hängen blieb, war nicht der Rede wert. Als er am Ende den Job in der Autowerkstatt verlor, war er der Verzweiflung nahe. Wie sollte er es jemals schaffen, sich von diesem Menschen zu lösen? Er war genauso von ihm abhängig, wie sein Vater umgekehrt von Joey abhängig war. Und so machte er weiterhin die Einkäufe für ihn, besorgte ihm Schnaps, damit seine Laune nicht vollends in den Keller sackte, putzte die Wohnung, weil er es nicht ertrug, im Dreck zu leben, wusch Wäsche und schrieb spät in der Nacht und am Rande der Besinnungslosigkeit Bewerbungen.
 

Yugi, Yami, Tristan und Tea ermutigten ihn, nicht aufzugeben. Er würde einen Job finden, wo er für das geschätzt wurde, was ihn auszeichnete, sagten sie. Und endlich zeichnete sich tatsächlich ein Lichtstreif am Horizont ab. Nachdem er zig Bewerbungen weggeschickt hatte, wurde er letztlich für ein Bewerbungsgespräch als Altenpfleger eingeladen und bekam den Job. Und nicht nur das – er stellte fest, dass er gut darin war und dass es ihn erfüllte. Er konnte gut mit Menschen umgehen, andere zum Lachen bringen, war geduldig und half gerne. Im Putzen und Haushalten hatte er ja ohnehin bereits genügend Erfahrung gesammelt und stellte sich nicht ungeschickt an, und den Menschen, die die Seniorenresidenz in Domino bezogen, half er gerne. Im Gegensatz zu den Arbeiten, die er nach der Arbeit für seinen versoffenen Vater verrichten musste, brachte man ihm dafür Anerkennung und ehrliche Dankbarkeit entgegen.
 

Das alles brodelte mehr und mehr in ihm, aber noch immer waren ihm die Hände gebunden. Er wagte es nicht, seinem Vater sein Gehalt zu verweigern, da er sich noch immer keine Wohnung leisten, geschweige denn die Kaution vorstrecken konnte. Und er hatte zu viel Angst, was passieren würde, wenn er sich ihm widersetzte. Er verabscheute diesen Mann, er sah, wie jämmerlich er war. Und dennoch fürchtete er ihn auch. Mehr noch: Da war noch immer ein Teil in ihm, der ihn auch liebte. Ein Teil, der wusste, dass auch er nur an den Anforderungen dieses Lebens gescheitert war und nun versuchte, dieses erbärmliche Gefühl der Hilflosigkeit zu betäuben. Ein Teil, der spürte, wie menschlich auch jemand wie sein Vater noch war.
 

Alles kochte über an dem Tag, als einer von Joeys liebsten Patienten starb. Er wusste, er durfte diese Dinge nicht so nah an sich heranlassen, musste lernen, das als seinen Beruf zu betrachten, aber Herr Takanashi war für ihn immer ein so aufgeweckter Zeitgenosse gewesen, an dem er jeden Tag seine Freude gehabt hatte. Mit den anderen Pflegern und Pflegerinnen wurde der ältliche Herr nicht so recht warm, doch Joey hatte er ins Herz geschlossen. Sie hatten ihre Scherze zusammen gemacht, viel gelacht, und Joey hatte den Eindruck gehabt, er hatte dem Patienten seinen Aufenthalt hier etwas schöner gestalten können.
 

Als er am Abend dieses schicksalhaften Tages nach Hause kam, war er noch immer tief in seinen trüben Gedanken gefangen und wollte nichts weiter als seine üblichen Aufgaben ausführen und sich dann in seinem Zimmer weiter in seine Grübeleien fressen. Doch daraus wurde nichts.
 

„Joey, warum hast du keine Tiefkühlpizzas eingekauft?“, lallte sein Vater vom Sofa aus. Joeys Augenbraue zuckte. „Sorry … wusste nicht, dass keine mehr da sind. Ich kauf gleich morgen neue, ok?“, sagte er tonlos und beiläufig, während er einige Schritte in Richtung seines Zimmers machte.
 

Aber er kam nicht weit. „Warte mal, Freundchen. Wo denkst du, dass du jetzt hingehst?“, schnarrte sein Vater ihm hinterher, „Bleib gefälligst hier! Du bist wirklich das Letzte. Auf nichts kann man sich verlassen in diesem Haus!“
 

Irgendwas in Joeys Kopf setzte in diesem Moment einfach aus. Er dachte an Herrn Takanashi, an all die Wärme, die der ältere Herr ihm immer bedingungslos entgegengehracht hatte. An die Güte, die in einem Menschen stecken konnte und die er so leicht an andere weitergeben konnte. Daran, dass er selbst etwas Derartiges unter diesem Dach nie hatte erleben dürfen. Nicht von der Person, die ihn in die Welt gesetzt hatte. In diesem Moment konnte er den Menschen hinter dieser harten Fassade nicht mehr ausmachen, so sehr er es auch wollte. Alles, was übrig war, war dieses innerlich diffamierte, nach Alkohol riechende Ungeheuer da auf dem Sofa. Er war stehengeblieben. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt.
 

„Du gehst jetzt gefälligst zum Kiosk und holst mir was zu essen und ne Packung Zigaretten, hörst du?“, lallte sein Vater. Joey drehte sich um. „Nein“, sagte er, „schaff deinen Arsch von der Couch und hol’s dir selbst, wenn du es haben willst. Ich hab genug.“ „Du kleines Aas … was denkst du dir? Du bist ein Nichts ohne dieses Dach über deinem Kopf! EIN NICHTS, hörst du?! Du wirst jetzt gefälligst spuren oder es setzt ordentlich was!“
 

„Diesmal nicht.“
 

Noch während Joey das Haus verließ, drang das ziellose Schimpfen und Fluchen aus dem Wohnzimmer zu ihm. Aber er hatte aufgehört hinzuhören. Etwas, das lange überfällig war. Er ließ die Worte nicht mehr an sich heran. Er wollte etwas anderes vom Leben. Er wollte alles, was sein Vater nicht hatte oder war.
 

„Kann ich für’n paar Nächte bei dir unterkommen?“ Es war 10 Uhr am Abend, als Joey vor Yugis Haustür stand. Er konnte nirgends sonst hin. Sein bester Freund stellte keine Fragen. Er war froh, dass Joey endlich den nötigen Schritt gewagt hatte.
 

*
 

Mit der Zeit wurde alles besser. Joey wusste, er hätte es ohne die Unterstützung seiner Freunde nie geschafft, aber sie waren seine bessere Familie. Die Familie, die man sich aussuchen konnte. Bald konnte er sich eine winzige Wohnung leisten. Neben seiner Arbeit jobbte er noch in einer Kneipe. Aber irgendwann hatte er ein bisschen Geld angespart und kam ohne ein zusätzliches Einkommen über die Runden.
 

Er musste zugeben, es lief gut für ihn. Besser, als er es sich je erhofft hätte. Er war glücklich. Er führte ein gutes, zufriedenes, unabhängiges Leben. Aber da war noch etwas anderes, das ihm im Kopf herumspukte. Und mit jedem Tag, an dem er mehr das Gefühl hatte, in sich zu ruhen und stolz auf das zu sein, was er war, rückte dieser Gedanke in greifbarere Nähe. Bis er schließlich wagte, worüber er so viele Monate gebrütet hatte: Er lud Mai Valentine auf einen Drink ein.
 

Er war trotz allem schrecklich nervös und seine Hände schwitzten, als er auf das Hörersymbol auf seinem Handy drückte und es in der Leitung zu tuten begann. Mit trockener Kehle trug er sein Anliegen vor. „Verstehe … in Ordnung“, sagte Mai mit einem Schmunzeln in der Stimme auf der anderen Seite der Leitung. „Äh … was?“, fragte Joey begriffsstutzig. „Bist du schwerhörig, Wheeler? Ich sagte ja. Hol mich morgen um 8 ab, ok? Wir sehn uns!“ Joey starrte den Hörer an. Er konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte es tatsächlich geschafft.
 

Von da an hörte Joey auf, die Tage zu zählen. Er verlor den Überblick über Zeit und Raum. Er konnte im Nachhinein nicht sagen, wie er es geschafft hatte, aber er hatte den Weg zu Mais Herz gefunden. Vielleicht auf dieselbe Art, wie er den Weg zu den Herzen seiner Patienten fand. Er war diese Sorte Mensch, die unbedarft und so unbestechlich ehrlich war, dass er andere kalt erwischte, und ehe sie sich versahen, war er in ihrem Leben. Er wollte nie wieder damit aufhören, in Mais Leben zu sein, und als sie ihm sagte, dass sie ihn liebe, da war sein Herz so voll von alldem, was er zuvor nicht gehabt hatte und nie gedacht hatte zu finden, dass es zerspringen wollte.
 

Oft dachte er an diesen Punkt an seinem Leben zurück, der ihn sich wünschen ließ, dass alles einfach einfrieren und nie wieder anders werden würde. So oft, wenn er sich fragte, was danach eigentlich schiefgelaufen war. Zwei Jahre später hatte er alles verloren: Seinen Job, Mai – und seine Integrität, alles, was er sich tief in seinem Inneren geschworen hatte. Alles, das ihm geblieben war, war die Flasche, die ihm am Abend Gesellschaft leistete.
 

*
 

Joey saß auf dem Boden neben dem Sofa in der Villa, die nun für eine Woche ihr zu Hause war. Yugi und Yami knieten neben ihm und sahen ihn besorgt an. „Joey …“, begann Yugi vorsichtig, „du hast uns nie gesagt, was genau eigentlich zwischen dir und Mai vorgefallen ist. Wir möchten dir helfen. Du kannst mit ins sprechen. Wenn du möchtest natürlich nur.“ Tränen rannen über Joeys Gesicht und er versuchte, es zu verbergen. Aber es war sinnlos. Alle Dämme waren gebrochen. „Ich will‘s ja“, schluchzte Joey, „aber ich schaff‘s einfach nicht. Es tut zu weh. Ich schäm‘ mich zu sehr. Ich hab‘s vermasselt. Alles.“ So saßen sie weiterhin einfach nur gemeinsam da und leisteten ihm stummen Beistand, bis Joey etwas ruhiger wurde.
 

„Danke, ihr beiden“, sagte er irgendwann, matt, aber wieder etwas gefasster, „ich bin echt heilfroh, dass ich Freunde wie euch hab. Ehrlich, Mann. Danke.“ Yami und Yugi nickten. Und Yami dachte mit einem Stich in seiner Brust, dass er viel zu lange nicht für seinen Freund dagewesen war. Jedenfalls nicht so, wie er es jetzt sein konnte.

Schatten


 

X: Schatten

I hear a voice say "Don't be so blind"

It's telling me all these things

That you would probably hide

I love you, I hate you

I can't get around you

I breathe you, I taste you

I can't live without you

I just can't take any more

this lack of solitude

I guess that I'm out the door

and now I'm done with you.

(Saliva)

Malik Ishtar im Interview
 

Die Gerüchte, dass ich hier mitmache, um meine Eisdiele zu vermarkten … tja, das soll ich dazu sagen? Und wenn es so wäre? Fast jeder ist doch aus wirtschaftlichem Interesse hier, auch die, die vorgeben, es nicht zu sein. Warum also nicht wenigstens ehrlich sein?
 

Und ich mache ja wirklich gerne, was ich mache. Da bin ich ein Idealist. Deshalb will ich auch, dass es erfolgreich ist. Wir machen einfach die besten und ausgefallensten Eissorten. Nichts für Vanille- und Stracciatella-Langweiler, sondern für die, die Eis nur für sich entdecken wollen.
 

Mittlerweile haben wir ja Filialen in verschiedenen Städten weltweit. Tja, in Japan, Europa oder den USA verkauft sich Eis eben einfach gut. Und natürlich will ich auch davon leben können.
 

ABER es gibt tatsächlich noch einen weiteren Grund, warum ich mich auf diese Show hier gefreut habe. Tja, vielleicht bin ich ja ein hoffnungsloser Romantiker. Aber es ist so: Vor zwei Jahren war ich in London, um mir mögliche Standorte für Eisdielen anzusehen. Naja, ich wollte einfach mal ein bisschen rumkommen und dachte, es ist eine gute Gelegenheit. Ich hatte lange nicht so viel von der Welt gesehen. Auch nicht viel von Ägypten, wenn ich ehrlich bin. Hatte also viel nachzuholen.
 

Ich wusste ja, dass Ryou in London aufs College geht. Deshalb hab ich ihn angerufen und gefragt, ob wir uns nicht mal treffen sollen. Wir haben uns dann auch tatsächlich verabredet, Ryou hat mir die Stadt gezeigt und mich mit in ein paar Kneipen genommen. Es war ne echt schöne Zeit.
 

Ich glaub, ich hab mich in dieser Zeit ein bisschen in Ryou verliebt. Wie er da so stand an unserem Treffpunkt an der Themse vorm Parlament, als wir uns zum ersten Mal nach dieser langen Zeit wiedergesehen haben. Er wirkte so erfrischend und gutgelaunt. So voller Lebensfreude. In diesem Moment hatte er mich wirklich für sich eingenommen. Ein tolles Bild. Das kann ich einfach nicht vergessen.
 

Aber ich bin dann wieder nach Ägypten zurück und wir haben uns nur ab und an mal noch geschrieben. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass er mich auch ganz gernhat. Vielleicht hätte mehr daraus werden können. Ich bin mir nicht sicher. Ich würde das gern herausfinden. Ja, ich hab mich echt gefreut, Ryou wiederzusehen. Er ist schon echt süß.
 

~*~
 

Joey, Yugi und Yami waren damit beschäftigt gewesen, gemeinsam an ihren Decks zu tüfteln, als das Gespräch auf die letzten Jahre in Joeys Leben gelenkt worden war. Eine Weile war die Stimmung gedrückt nach dessen ungeplantem Gefühlsausbruch, aber als Joey in die Materie des Spiels zurückfand, vergaß er seine trüben Gedanken und war wieder fast der Alte. Er war trotz alldem ein sonniges Gemüt.
 

Später bereiteten Joey und Yami gemeinsam das Abendessen für die Gruppe zu. Sie entschieden sich für ein kräftiges Curry und als Nachtisch gab es Schokokuchen mit Vanilleeis. „Wenn es schon Eis gibt, dann lasst es mich wenigstens selbst machen! Diese Fertigpampe kommt mir nicht auf den Tisch!“, mischte sich Malik in ihr Treiben in der Küche ein.
 

Da Malik Ishtar seit einigen Jahren eine erfolgreiche Eisdiele namens „Icy Ishtar“ auf dem Basar in Kairo mit vielen Filialen weltweit besaß, ließen ihn Yami und Joey nur zu gerne gewähren. Er blühte auch sofort auf, probierte die Lebensmittel und Gewürze im Haus aus und war nicht eher zufrieden, bis jede kleinste Geschmacksnuance in seiner Kreation stimmig war. „Was soll ich machen“, sagte er schulterzuckend, „ich liebe eben einfach Eis!“
 

So verlebte die Gruppe ein lustiges Abendessen, bei den die Gespräche laut durcheinandergingen. Wie üblich aß Seto kaum etwas. Nach dem Essen jedoch gönnte er sich zwei Stück Kuchen. „Du bist der Inbegriff von schlechter Ernährung!“, triezte ihn Limono, während er ihm fasziniert zusah. Es kam nicht oft vor, dass Seto Kaiba etwas wirklich genoss. Fast machte es allen ein wenig Angst. „Kaum zu fassen, dass er überhaupt etwas isst, das von Joey zubereitet wurde“, bemerkte auch Tea kopfschüttelnd. „Das meiste davon hat Yami gemacht“, kommentierte Joey mit vollem Mund und Seto verschluckte sich beinahe an einer Gabel Kuchen. „Hört endlich auf, meine Essgewohnheiten zu kommentieren und schaut auf eure eigenen Teller, ihr Nervensägen!“, herrschte er die um ihn Sitzenden trotzig an.
 

Als Malik jedem eine große Kugel Eis auf den Teller gepackt hatte, setzte er sich neben Ryou auf einen freien Stuhl. „Hi“, sagte er etwas verlegen, „wir haben uns noch gar nicht so richtig unterhalten. Schön, dich mal wieder zu sehen. Wie läuft’s denn so?“ Ryou sah ein wenig betreten auf seine Knie. „Ja … tut mir leid, dass ich mich so selten gemeldet habe. Alles ist so schnelllebig. Und es war so viel los …“ „Ist doch nicht schlimm. Ich hab gehört, deine Mutter geht es nicht so gut. Das tut mir echt leid. Du hattest bestimmt viel um die Ohren“, beschwichtigte Malik sofort die unangenehme Lage, in der er Ryou gebracht hatte. „Ja, da hast du Recht …“, sagte Ryou, dankbar dafür, dass Malik ihm eine Erklärung für seine fehlende Kontaktfreudigkeit lieferte.
 

~*~
 

Ryou war überrascht gewesen, als Malik Ishtar ihn vor ein paar Jahren kontaktiert hatte. Trotz der Tatsache, dass sie beide sich nun als Ausländer in derselben Stadt aufhielten, hätte er nicht damit gerechnet, dass Malik einen Gedanken an ihn verschwenden würde. Als sie sich verabredet hatten, hatte er bis zuletzt nicht gewusst, wie sich ihre gemeinsame Zeit gestalten würde. Er hatte eingewilligt, Malik ein paar Ecken Londons zu zeigen, dabei kannte er den Ägypter eigentlich kaum. Das einzige, das sie gemeinsam hatten, war ihre Interaktion mit dem Geist des Milleniumsrings.
 

Diese war allerdings seltsamerweise am ersten Tag, den sie zusammen verbrachten, kein Thema. Sie redeten über dies und das, über Beruf und Studium, über Eis (das Thema war immer recht präsent für Malik) und die Sehenswürdigkeiten, die es zu begutachten gab. Kein Wort fiel über die mystischen Bande, die sie alle irgendwie zusammengeschweißt hatte. Ryou war das nur zu recht. Er war weggegangen, um etwas Abstand von den Ereignissen um den Pharao zu bekommen und er hatte nicht vor, Malik etwas vorzujammern. Er mochte Malik, aber es wäre ihm lieber gewesen, er hätte von alldem nichts gewusst.
 

Erst als sie am zweiten Abend zusammen in einem schummrigen Pub bereits über ihrem dritten Bier saßen, traute sich Malik zum ersten Mal an die Materie heran, als er vorsichtig sagte: „Übrigens … tut mir echt leid, dass wir dich damals so zugerichtet haben – ich meine den Geist des Ringes und mich. Ich hoffe, du weißt, dass das nicht wirklich ich war.“ Ryou sah auf seinen Pint und nuschelte: „Ja, schon ok. Das ist Schnee von gestern.“ „Oh je, ich wette, du willst nicht mehr gerne daran erinnert werden“, lachte Malik peinlich berührt und griff sich an den Hinterkopf, „ich Idiot.“ „Kein Ding“, sagte Ryou, „dafür geht die nächste Runde auf dich.“
 

Während Malik zwei weitere Bier für sie bestellen ging, krochen seine Worte ins Ryous Kopf und eine leichte Panik wallte in ihm auf. Das Gefühl, die Kontrolle über seinen Körper und seinen Geist zu verlieren, hatte er bereits seit Jahren nicht mehr gespürt, aber da war noch immer diese leise Angst in seinen Gedanken, dass es wieder passieren könne. Ihn überfallen. Dass er noch irgendwo da draußen war und ihn suchen könne. Diese Angst griff ihn jetzt an, nachdem Malik einen Kratzer in die Wand geschlagen hatte, die Ryou zwischen dieser Zeit und dem Hier und Jetzt errichtet hatte, und etwas in ihm zog sich krampfhaft zusammen. Er bemerkte, wie sich seine Verfassung änderte und seine Stimmung sich verfinsterte, und beschloss, dass er dringend dieses nächste Bier brauchte.
 

Nachdem er auch dieses Glas geleert hatte, hatte sich all das wieder etwas von ihm entfernt. Er hatte eine wattige Barriere aus Trunkenheit geschaffen. Er wollte nicht denken, war müde von der großen Wegstrecke, die sie heute beim Sightseeing zurückgelegt hatten. Das Stimmengewirr um ihn herum verschluckte ihn, zog ihn in das derbe Ambiente hinein. Er wusste nicht, wie es passierte, aber keine halbe Stunde später fand er sich wild knutschend mit Malik auf einer Eckbank in einer düsteren Ecke des Pubs. Er hatte sich in die Situation fallenlassen, um etwas anderes zu fühlen. Und es wirkte.
 

Am nächsten Morgen reiste Malik ab. Ryou schrieb ihm lediglich eine Nachricht, wünschte ihm eine gute Reise, schob einen Kater vor. Der Kater war Realität. Dennoch war es mehr, was ihn dazu bewog, Malik nicht zum Flughafen zu bringen. Er bereute diese spontane Aktion bereits bitter. Es passte nicht zu ihm. Er schämte sich für sein nicht sonderlich gewissenhaftes Verhalten. Zudem war er sich nicht klar darüber, was es eigentlich war, das er von Malik wollte.
 

*
 

„Also, wär schön, wenn wir uns mal etwas unterhalten könnten in den nächsten Tagen“, sagte Malik nun beim Abendessen neben Ryou hoffnungsvoll. „Ja, also Malik, ich denke, ich sollte dir vielleicht sagen, dass …“ „ALLE MAL HERGEHÖRT!“, Joey hatte einen Fuß auf seinen Stuhl gestellt und brüllte über die brabbelnde Menge hinweg, „in 30 Minuten beginnt das Turnier, also stellt das Popcorn bereit, gebt euren Decks die letzten Schliffe und findet euch im Wohnzimmer ein! Jetzt ist Schluss mit der Schlemmerei, klar?!“ „Oh nein, ich hab noch gar kein Deck“, stöhnte Malik aufgescheucht, „also, ich hoffe, wir sehn uns, Ryou.“ Er schenkte Ryou ein freundliches Lächeln, dann erhob er sich.
 

Ryou sah ihm etwas unwohl hinterher, dann machte auch er sich daran, Joey und Yami mit dem Abräumen zu helfen. Danach wollte er schnell noch auf sein Zimmer eilen, um sein Deck zu holen. Als er am Treppenabsatz angekommen war, ließ eine Stimme hinter ihm sein Blut gefrieren. „So so, du hast dich also mit Malik Ishtar, diesem schmierigen Trottel, angefreundet.“ Ryou drehte sich nicht um. „Was willst du?“, sagte er sehr langsam und versuchte, seine Stimme fest und entschieden klingen zu lassen.
 

„Teilhaben an deinem Leben, wie ich bereits sagte“, sagte der Geist des Ringes. Richtig. Alles war wahr. Kalt kroch diese Wahrheit ihm als Gänsehaut den Rücken hinunter. Seine schlimmsten Befürchtungen, seine dunkelsten Albträume. Ryou hatte immer gedacht, diese heimliche Furcht in seinem Unterbewusstsein wäre nichts weiter als ein traumatisches Überbleibsel und könne in Wirklichkeit niemals berechtigt sein. Aber vor einigen Wochen war es dann doch passiert: Der Geist des Ringes war wieder in sein Leben getreten.
 

*
 

„Ich gehe nur noch ein bisschen was einkaufen. Ich bin bald wieder da!“, rief er seiner Mutter zu, während er die Tür ins Schloss fallen ließ. Er hatte gerade sein Fahrrad aus der Einfahrt geschoben und wollte aufsteigen. Es war ein stürmischer, ungemütlicher Abend, an dem man lieber hinter verschlossenen Türen verweilte, und die Sonne war bereits untergegangen. Fast hatte die Dunkelheit die Straße bereits geschluckt, als Ryou es plötzlich spürte. Es fühlte sich an wie Fallen. In eine andere Zeit, in eine andere geistige Verfassung. Ein Schauer jagte ihm durch den ganzen Körper. Wie in Zeitlupe drehte er sich um. Da, an einer Laterne, lehnte eine Gestalt, von der er glaubte, sie nur noch in seinen finstersten Träumen sehen zu müssen. Er blinzelte, während Panik in ihm aufwallte, aber an dem Bild, das sich ihm bot, änderte sich nichts.
 

„Hast du mich vermisst?“, fragte Bakura, als er näherkam. Er verhöhnte ihn. „Komm nicht näher, bleib, wo du bist!“, sagte Ryou. Er wollte nicht schwach erscheinen, aber seine Deckung war völlig verlorengegangen. „Du hast hier nichts mehr verloren. Ich will dich nicht in meinem Leben!“ „Sieh an“, Bakura lachte ein leises, heiseres Lachen, „hast du dir diese Worte all die Jahre zurechtgelegt? Wie niedlich. Aber vielleicht solltest du dir erst mal anhören, was ich zu sagen habe.“ „Das kannst du vergessen!“, zischte Ryou. Wut wallte in ihm hoch. Nach alldem, was er durchgemacht hatte, war ihm nicht mehr nach Reden zumute. Warum sollte er jemandem zuhören, der ihn so viele Jahre lang ungefragt zum Schweigen gebracht und seine eigene Stimme ausgelöscht hatte?
 

Er setzte sich in Bewegung. Er wollte nur weg, sich aus der Reichweite dieses visuellen Eindrucks und der gefürchteten Stimme begeben, die ihm unter die Haut ging, weil sie ihm nach wie vor zu nah war. Vielleicht, wenn er zurückkehren würde, dann würde sich herausstellen, dass alles nur eine Sinnestäuschung war. Oder der Geist würde eingesehen haben, dass er bei ihm nur vor verschlossenen Türen stand. „Du kannst hingehen, wo du willst. Ich kann dich nicht mehr davon abhalten.“ Ryou war sich nicht sicher, ob die Stimme noch von Weitem klang oder bereits wieder in seinem Kopf war, „Aber wir werden uns wieder treffen, das weißt du so gut wie ich. Wir haben einiges zu klären und du wirst es verstehen, wenn du akzeptiert hast, dass du mich nicht los bist. Du wirst mich in deinem Leben ertragen müssen.“ Noch lange hallten die Worte in Ryous Gedanken nach, verfolgten ihn als Nachmahre in seinem unruhigen Schlaf.
 

~*~
 

Der Geist des Ringes hatte nicht gelogen. Ryou hatte bis zum gestrigen Tag keine Spur mehr von ihm vorgefunden. Aber nun waren sie hier, gemeinsam, unfähig, sich aus dem Weg zu gehen. Und so sehr Ryou sich auch hinter seiner Maske aus Gleichgültigkeit versteckte, so froh er auch in dieser Situation war, dass Yami, Yugi und die anderen auch zugegen waren, hielt doch eine Unruhe sein Inneres umklammert. Und nun war wohl der Moment gekommen, da sein verhasstes anderes Ich seinen Tribut einforderte.
 

Ryou drehte sich zu ihm um und sah ihn an. Es war ein seltsames Gefühl, ihn aus Fleisch und Blut vor sich zu sehen. Aber etwas war anders. Er nahm nicht dieselbe Gewalt und Erbarmungslosigkeit war, mit welcher sich der Ring die Kontrolle über sein ganzes Wesen verschafft hatte. Zum ersten Mal bildete er sich ein, in den braunen Augen, die ihn unverwandt und amüsiert ansahen, eine Person zu erkennen. „Dann spuck es endlich aus. Was willst du von mir? Warum bist du hier und warum lässt du mir nicht meine Ruhe?“ Bakura schien sich Zeit zu lassen, eine Antwort zu formulieren. Ryou machte eine Regung in seinen Augen aus. „Nun ja …“, begann er dann.
 

„Was ist hier los?“ Ryou und Bakura fuhren herum als Malik unvermittelt vom Wohnzimmer in den Flur trat. Innerhalb weniger Sekunden schien der Ägypter die Szene zu einem Bild zusammenzusetzen. Seine Züge verhärteten sich. „Du miese Schlange, lass Ryou zufrieden, hast du verstanden?! Halt dich von ihm fern!“, zischte er dem Geist des Ringes erbost zu und schob sich vor Ryou. Bakura warf den Kopf zurück und brach in ein lautes Lachen aus. „Sieh an, du hast dir offenbar einen kleinen, verliebten Bodyguard zugelegt. Wäre ja nicht das erste Mal, dass dieser Nichtsnutz meine Pläne mit seiner bloßen Existenz durchkreuzt“, sagte er mit einem Kopfnicken zu Malik hin. Malik biss die Zähne zusammen und ließ ein Knurren vernehmen.
 

„Hört auf mit dem Blödsinn“, sagte Ryou genervt, „eine TV-Show ist ganz sicher nicht der Zeitpunkt, um diese alten Kamellen rauszukramen. Und Malik, mir geht’s gut. Du brauchst nicht den Advokaten für mich zu spielen. Ich kann durchaus für mich selbst sprechen“, sagte Ryou gereizt. „Aber ich dachte …“, begann Malik, doch Ryou war bereits in der Mitte der Treppe angelangt. „Ich hab jetzt keinen Nerv für all das. Und wir müssen in 5 Minuten im Wohnzimmer sein, also reißt euch mal zusammen.“
 

*
 

Bakura stand noch immer an die Wand im unbeleuchteten Flur gelehnt da, als Ryou zurückkehrte und zu den anderen ins Wohnzimmer stieß. Sein ehemaliger Wirt würdigte ihn keines Blickes mehr, wollte ihn vielleicht nicht wahrnehmen. Bakura schloss die Augen. Erregtes Stimmengewirr drang durch die verschlossene Tür zu ihm heraus, Lachen, Johlen und Geplapper. Aber Bakura lauschte auf etwas anderes. Er lauschte tiefer hinein in dieses Haus. Etwas darin war geweckt worden. Etwas, das nicht wollte, dass man das Gebäude mit so viel Leben füllte. Dass die Stimmen und die aufgewirbelten Emotionen abstieß und dessen Zorn von Stunde zu Stunde wuchs.
 

Er würde abwarten und beobachten, wie es sich entwickelte.

Zeitreise

XI: Zeitreise
 

Well, it's on my mind

I'm headin’ back in time

And when I think of all the songs we used to play

And then I think of you and it's all right.
 

Well, it's this sort of thing that gets me to lose my mind

And it's the flash-flashy eyes that make it worthwhile

And every time when we'd, we'd get together

We'd just fall in love again.
 

All in all, it's the perfect scene

And it's not anywhere that I would rather be

And it's now, now or never when we're chasing our dreams

And oh, we're getting close now

Don't turn away!
 

(Mercy Mercedes)
 

Seto Kaiba im Interview
 

Nun ja, die KaibaCorporation hat in den letzten drei Jahren ihre Umsätze jeweils verdreifacht, wir haben Tochterfirmen in Japan, China, Malaysia und den USA, außerdem haben wir unsere Produktpalette erweitert und neue Nischen erschlossen und über unsere Aktien heißt es …
 

Wie bitte? Das interessiert Sie alles nicht? Aber Sie haben doch gerade gesagt, ich soll etwas über mich erzählen. Und DAS bin ich nun mal. Was sagen Sie? Etwas Persönliches? Aber das IST persönlich. Ich habe das alles aus den Trümmern der Firma meines Stiefvaters aufgebaut. Das ist mein Leben.
 

Aber wenn Ihnen das nicht passt, dann fragen Sie mich doch, was sie hören wollen.
 

Wie bitte? Ob an dem Gerücht, ich hätte eine Liaison mit Limono gehabt, was dran ist? Ok, ich sehe schon, welche Art von biographischem Material Sie interessiert. Also, ich habe mal gelesen, dass man geheimnisvoller rüberkommt, wenn man nicht alles von sich preisgibt. Also werde ich mich dazu jetzt einfach mal nicht äußern. Wenn Limono dazu etwas sagen möchte, kann er das gerne tun. Na los, nächste Frage. Bringen wir das hier hinter uns.
 

Ob ich hier teilnehme, weil ich mir erhoffe, wieder eine Beziehung mit Yami aufzubauen. Also, zuallererst mal: Es hat nie eine Beziehung gegeben, damit dieser Punkt ein für alle Mal klargestellt ist. Und dann: Wissen Sie, wie lange das alles her ist? Acht Jahre, ganz recht. Ich sage es jetzt hier vor der Kamera ein einziges Mal, damit Sie mich endlich mit diesem leidigen Thema in Frieden lassen. Ich bin hergekommen, um gegen Yami im Duell anzutreten.
 

Ja, ich finde den Gedanken interessant, dass, hätte ich mich damals irgendwie anders verhalten, die Gegenwart jetzt auch anders aussehen könnte. Ich gebe zu, diese Tatsache hat mich beschäftigt. Aber ich bin niemand, der in der Vergangenheit lebt. Was denken Sie denn sonst, warum ich das Firmenkonzept meines Stiefvaters komplett überarbeitet und die Firmeninsel zerstört habe? Ich habe ein sehr ausgefülltes Leben, in dem ich ganz zufrieden bin mit dem, was ich in der Welt bisher bewegt habe. Ich bin stolz auf meine Leistungen, ich bin auch stolz auf meinen kleinen Bruder und wie er sich entwickelt und was er erreicht hat.
 

Ich mochte Yami, ja. Und ich denke, ich habe da eine Chance verpasst. Aber es gibt noch andere Chancen und er hat sie genauso ergriffen, wie ich es tun würde. Natürlich hat mich der Gedanke umgetrieben, wie es ausgeht, wenn wir uns wieder begegnen, ob er sich verändert hat. Wir haben uns das letzte Mal vor zwei Jahren auf einer Gala kurz gesehen. Davor und danach nicht. Natürlich gibt es Dinge, von denen man denkt, man hätte sie schon vor einer Ewigkeit sagen sollen. Aber manche Gelegenheiten sind einfach verpasst und man kann nichts dagegen tun. Der Moment ist vorbei und damit muss man sich abfinden, Also, ich bin frei von irgendwelchen romantisierten Vorstellungen und Hoffnungen.
 

So. Das ist das Privateste, was Sie von mir hier zu hören bekommen und auch in der restlichen Woche hören werden. Mehr will ich dazu nicht sagen. Kann ich jetzt gehen?
 

~*~
 

Es war soweit. Alle standen um den kleinen Wohnzimmertisch herum, auf dem nun eine Spielmatte lag. An jedem Ende stand ein Stuhl. Es war minimalistisch, aber mehr brauchte es nicht. Das und das Deck in Yamis Hand. Das Turnier konnte beginnen. Egal, wie viel Zeit vergangen war, egal, was den Anwesenden hier widerfahren war, was sie einander entfremdet oder nähergebracht hatte, es gab etwas, das sie alle einte, das all die Zeit, die zwischen ihnen stand, in Nichts auflöste. Ein Spiel, mit dem alles begonnen hatte.
 

Yami musste zugeben, das Blatt in seiner Hand fühlte sich gut und richtig an. Er hatte lange nicht gespielt und hatte sich vorgenommen, heute einfach eine gute Zeit zu haben. Joey ging an ihm vorbei, sein eigenes Deck fest umklammert. Er nickte Yami zu. „Die genialste Idee seit langem, dieses Tunier“, sagte er grinsend, „ich bin sowas von Feuer und Flamme1“ Yami nickte zurück und schlug mit Joey ein, der ihm die Hand hinhielt. Auch Yugi stieß zu ihnen. „Ist lange her, nicht wahr?“, sagte er versonnen. Yami konnte spüren, dass es ihm etwas bedeutete. Tea mischte ihre Karten und zwinkerte ihnen zu. „Heute mal nicht in der Zuschauertribüne“, sagte sie gutgelaunt. „Das wurde ja auch mal Zeit“, grinste Yugi ihr frech zu. Alles schien irgendwie in altbekannte Bahnen einzurasten, rostige Zahnräder setzten sich in Bewegung.
 

~*~
 

Yamis erstes Duell bestritt er gegen Malik Ishtar. „Ich glaube, Pharao, es hat noch nie ein Duell zwischen uns beiden stattgefunden, an das ich mich richtig erinnern kann“, kommentierte Malik diese Fügung belustigt. „Da könntest du Recht haben. Ich bin gespannt, ob du auch so ein verrücktes Spiel bevorzugst wie dein Alter Ego damals“, stimmte Yami ihm zu. Es stellte sich schnell heraus, dass Malik in seinen Zügen zwar keine so wahnsinnige Schiene fuhr wie seine dunkle Seite, jedoch einige mit seinem handverlesenen Süßigkeiten-Deck zum Schmunzeln brachte. Es enthielt neben einer bissigen Eiswaffel auch andere zuckersüße Leckereien, die nach und nach einen ganzen Rummelplatz aufs Spielfeld gebracht hätten, wären sie als Hologramme materialisiert worden. Letztlich spielte er jedoch zu selten, um echte Ambitionen auf einen Sieg zu haben, und Yami musste feststellen, dass es sich gut anfühlte, das zu tun, was er am besten konnte, und dabei auch noch den süßen Geschmack des Erfolgs zu schmecken.
 

Nach seinem eigenen Duell genoss er es, bei den Spielen der anderen zuzusehen, bis es auch für ihn die die nächste Runde ging. Yugi spielte gegen Tea und hatte tatsächlich ein wenig an diesem Match zu knabbern. „Tja, da staunst du, was?“, kicherte Tea, „ich war ja schon immer ganz gut in Strategiespielen und mit all den neuen Karten zur Auswahl hab ich mich vielleicht gar nicht so schlecht angestellt mit dem Erstellen des Decks.“ „Du hast ja auch von den besten gelernt“, erwiderte Yugi etwas zerknirscht. Letztlich riss er das Ruder aber doch noch herum und gewann mit seinen letzten 50 Lebenspunkten.
 

Da sie elf Kandidaten waren und somit die Paarungen nicht ganz aufgingen, bestritt Mokuba sein erstes Duell gegen einen Duellcomputer der Kaiba-Corporation. Es zeigte sich, dass der junge Vize-Präsident durch und durch ein Kaiba war, denn er schlug der Technik ein Schnippchen und fand schnell die Schwachstelle in der Programmierung des Duell-Systems. „Das muss dringend überarbeitet werden, Bro. Das ist sowas von 2002“, sagte er an Seto gewandt und grinste ihn frech an.
 

Limono spielte genauso wie er lebte: Manipulativ und unberechenbar. Seto hatte keinen leichten Stand in seinem Duell mit dem Leadsänger und war kurzzeitig sogar ein wenig aus dem Konzept gebracht. „Oh, aber wie konntest du meine Stille Psi-Hexe denn so leicht besiegen?“, Limono gab sich verwundert und warf einen besorgten Blick auf die 1000 Lebenspunkte, die ihm geblieben waren. „Äh … ganz einfach weil sie verdammt schwach und kein Match für meinen Weißen ist?“, stellte Seto die Gegenfrage, während er stolz seinen Weißen Drachen auf der Spielmatte betrachtete, der diesmal nicht als Hologramm seine Gegner in Schrecken versetzen konnte. „Oh, ich verstehe. Ich bin aber auch schusselig“, sagte Limono seelenruhig. „Also gut, ich ziehe … Hm, was könnte ich tun? Oh, da fällt mir ein, da du meine Psi-Hexe im letzten Spielzug besiegt hast und ich deshalb ein Monster von meinem Blatt aus dem Spiel verbannt habe, darf ich dieses Monster jetzt spezialbeschwören. Das trifft sich wunderbar!“ Während er sprach, wurde er immer selbstsicherer und ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, „Jetzt opfere ich es auch gleich wieder, um meinen Stillen Psi-Tänzer zu beschwören und mit dem Ausrüstungszauber „Maske der Faszination“ auszurüsten. Ich schätze mal, er ist jetzt stärker als dein niedlicher Schoßdrache.“ Limono feixte. „Du miese Natter hast dich dummgestellt“, knurrte Seto ihn an, woraufhin Limono laut auflachte. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst. Ich hatte nur zur richtigen Zeit die richtigen Karten. Darf ich nicht auch mal Glück haben?“
 

Aber Seto Kaiba wäre nicht Seto Kaiba gewesen, wenn er keinen Weg aus dieser Zwickmühle gefunden hätte. Letztlich konnte er seinen blauäugigen Ultradrachen beschwören und Limonos Psi-Monster vom Feld fegen. „Jetzt ist Schluss mit diesem bewusstseinserweiternden Stroboskop-Bling-Bling! Es wird Zeit für richtige Lichtblitze“, lachte er, wie er es stets tat, wenn er sich seines Sieges gewiss war. „Mit einem holographischen Drachen, der das Ganze etwas untermalt hätte, wäre das irgendwie besser gekommen“, erwiderte Limono trocken, „aber Hauptsache diese leidige Exkursion ins Reich der Nerds ist vorbei.“
 

„Sieg ist Sieg“, sagte Joey, der sich selbst zum Schiedsrichter ernannt hatte, „egal wie imposant. Und jetzt begibt sich der Schiedsrichter selbst in die Arena.“ Joey spielte gegen Umko, der ebenso wenig Lust auf das Spiel hatte wie sein Ex-Mann. Dennoch ließ er sich durch Joeys Sprüche keineswegs aus der Ruhe bringen und spielte mit einer pflichtbewussten Ernsthaftigkeit. Sein Deck bestand hauptsächlich aus Pflanzen, aber einige Fehler in der Gewichtung der einzelnen Kartentypen brach ihm schließlich das Genick. „Hm, gar nicht so blöd, das Spiel. Ich denke, ich werde nochmal an meinem Deck arbeiten“, bemerkte er am Ende einsichtig. „Finde ich klasse. Das Deck ist vom Grundprinzip gut. Könnte ein echtes Killerdeck werden“, ermutigte ihn Joey.
 

Ryou hatte das Los gezogen, gegen sein ehemaliges Alter Ego zu spielen, woraufhin sich sein Gesicht verdunkelte. Es war wie ein innerer Kampf, der durch das Kartenspiel nach außen projiziert worden war. Ryou lächelte nicht ein einziges Mal während dieses Duells, seine Konzentration war nicht zu brechen, so sehr ihn Bakura auch versuchte, aus der Reserve zu locken. „Du kannst ruhig mal lockerlassen. Es ist nur ein blödes Kartenspiel, kein Kampf auf Leben und Tod. Ich fresse dich schon nicht auf.“ „Es ist mir egal, was du vorhast, ich werde mich nicht darauf einlassen!“, gab Ryou nur verbissen zurück. Er ging als Sieger hervor, aber Yami hatte den Eindruck, Bakura hatte sich nicht ernsthaft angestrengt und seinen ehemaligen Wirt gewinnen lassen. Als Bakura nach dem Spiel den Raum verließ und ihn auch im weiteren Verlauf des Abends nicht wieder betrat, machte er auf Yamis Höhe noch einmal Halt: „Wie schade, dass wir beide heute nicht die Ehre hatten, Mumie. Ich wette, du wärst nicht so langweilig gewesen. Du brauchst dir übrigens keine Sorgen mehr zu machen wegen dem, was euch heute da unten eingesperrt hat. Ich werde mich noch heute Nacht darum kümmern.“
 

Yami wollte etwas entgegnen, aber in diesem Moment trat Mokuba zu ihm und sagte: „Bist du bereit für unser Duell? Ich schätze, du musst erst den einen Kaiba besiegen, bevor du gegen den anderen antreten kannst. Ich mache es dir sicher nicht leicht.“ Yami drehte sich noch einmal um und wollte Bakura fragen, was das alles zu bedeuten hatte, doch der Geist des Ringes war bereits verschwunden und bevor er weiter darüber grübeln konnte, läutete Joey die nächste Runde des Turniers ein. Was sollte es auch? Yami hatte sich vorgenommen, heute einen schönen Abend zu verbringen. In welche Machenschaften Bakura verstrickt war, hatte ihn nicht zu interessieren, solange er die anderen Teilnehmenden aus dem Spiel ließ.
 

*
 

Die zweite Runde wurde von altbekannten Gesichtern bestritten. Am Ende waren es wohl doch die absoluten Cracks, die die besten Strategien auffuhren. Yami schlug Mokubas Burger-Deck, das allen umstehenden trotz ihres üppigen Abendessens Appetit machte, und auch Yugi behielt die Oberhand gegen Ryou. Weil sie wieder eine ungerade Gewinnerzahl waren, wurde der- oder diejenige mit den meisten Lebenspunkten aus der ersten Runde trotz Niederlage eine Runde weitergelassen. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um Tea handelte. Diesmal bekam also Joey es mit ihr zu tun und als er letztlich gegen sie gewann, sein Sieg gegen Sie weniger knapp als Yugis in der ersten Runde. „Du hast echt nachgelassen, Kumpel“, zog Joey den König der Spiele auf, „Ich weiß nicht, wieso du gegen sie so abgestunken bist. Das war doch ein Kinderspiel.“
 

„Ok, sieht ganz so aus, als wären wir die letzten in dieser Runde. Haben wir überhaupt schonmal gegeneinander gespielt? Ich bin gespannt, wie es ausgeht“, sagte Yugi zu Kaiba, freundlich und geduldig wie eh und je, während alle Seto ansahen, dass dieses Match für ihn nur ein notwendiges Übel auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel war. „Ich habe kein Interesse an einem Duell mit dir, Kleiner“, schnarrte der Kaiba-Corp-Chef ungehalten, „ich mache das hier kurz.“ Einhalten konnte er diesen Vorsatz jedoch nicht, denn Yugi dachte nicht einmal daran, es ihm einfach zu machen, aber Yami hatte Seto selten so fokussiert gesehen. Und auch wenn Yugi alles gab und sich keinen Fehler erlaubte, musste er am Ende zugeben, dass Seto ihn gegen die Wand gespielt hatte und es kaum einen Ausweg für ihn gab. „Ok“, seufzte er, „ich sehe schon: Gegen deinen eisernen Willen komme ich nicht ganz an. Ich hoffe, ich konnte wenigstens dafür sorgen, dass dir nicht langweilig war.“ Seto nahm sein Deck vom Spielfeld. „Ich muss zugeben: Du hast es spannender gemacht, als ich gedacht hätte. Du hast was drauf, Kleiner. Aber fürs Treppchen reicht es nicht ganz.“
 

*
 

Am Ende waren drei übriggeblieben. Joey wusste, dass er gegen Yami nicht gewinnen konnte, aber er lieferte ihm ein knappes und spannendes Spiel, das sie beide auskosteten. Hätten sie Wetten darauf abgeschlossen, wer im Finale dieses kleinen Turniers stehen würde, dann hätte wohl kaum jemand auf eine andere Paarung getippt. Irgendwie schien das Schicksal es vorbestimmt zu haben, dass Yami und Seto einander immer wieder gegenüberstanden. Oder vielleicht bogen sie auch selbst immer wieder aufs Neue alle Weichen, damit ihre Wege sich auf diese Weise trafen. Keiner zeigte sich jedenfalls überrascht, als die beiden ihre Decks mischten und abhoben. Sie gaben sich die Hand. „Ich freu mich. Ich freu mich wirklich, Seto. Eine Revanche zwischen uns steht schon ziemlich lange aus.“ In Setos Augen konnte Yami eine Rührung aufflackern sehen. Er befreite seine Hand schnell aus Yamis. Dieser konnte spüren, dass ihn die offene Ansprache verunsicherte.
 

„Ja, es ist lange her. Ich habe gehofft, dass wir hier wieder aufeinandertreffen. Es stimmt, was ich gesagt habe: Ich hätte andernfalls hier nicht teilgenommen.“ Yami pulsierten unzählige lang zurückliegenden Momente durch den Kopf, in denen sie sich in der Kaibavilla duelliert hatten. Jedes ihrer Duelle war spannend bis auf die letzte Sekunde gewesen und hatte sie immens gefordert, obwohl sie sie nur im privaten Rahmen ausfochten. Er hatte stets gewonnen, aber Seto hatte sich irgendwann nur noch scheinbar darüber aufgeregt. Er liebte die Herausforderung mehr als den Sieg und irgendwann hatte er begonnen, es Yami zu gönnen, dass er unangefochten war. Vielleicht war er sogar ein bisschen stolz darauf. Und darauf, dass Yami ihn als würdigen Gegner betrachtete, dass er sich am ihm die Zähne ausbiss. Yami fragte sich, ob Seto jetzt gerade in Gedanken auch diesen idyllischen Momenten nachhing.
 

„Ich gebe es zu: Du hast damit dazu beigetragen, dass ich mich auf all das hier eingelassen hab. Aber jetzt erwarte ich auch nicht weniger als dein Bestes. Ich bin gespannt, was du dazugelernt hast“, sagte Yami mit einem schmunzelnden Unterton in der Stimme und nahm sein Blatt auf. Auf dieser Ebene war das Eis zwischen ihnen gebrochen. Sie hatten eine Routine im Umgang miteinander beim Duellieren entwickelt, die nur sie beide teilten. Zu Anfang war das Duell konzentriert und Yami spürte, dass Seto sich keinen Fehler erlauben wollte, dass er ihm etwas bieten wollte dafür, dass er ihm hierher gefolgt war. Doch schnell nahm das Spiel Fahrt auf und sie verloren sich in den Zügen, in strategischen Finten und kleinen Spitzfindigkeiten.
 

Mittlerweile hatten sich alle Kandidaten um das kleine Spielfeld versammelt. Es war mucksmäuschenstill geworden und sogar Limono und Umko beobachteten gebannt den Balanceakt der Kräfte zwischen den beiden Kontrahenten. „Bei Yami ist ein Duell immer wie ein Tanz“, flüsterte Tea, seltsam bewegt. Joey prustete los, aber Limono sagte: „Das Quoten-Girly hat Recht. Es hätte wirklich etwas sehr Ästhetisches, wenn es nicht so absolut lächerlich wäre.“ „Wenn sie wirklich tanzen, dann sag mir doch mal, wer von den beiden führt“, blaffte Joey etwas kleinlaut. „Das wird sich wohl am Ende zeigen“, sagte Ryou schmunzelnd.
 

Die beiden Spieler nahmen von dieser Konversation keine Notiz. Sie waren viel zu sehr davon eingenommen, die Züge des anderen vorauszusehen und einander immer einen Schritt voraus zu sein. Sie hatten alles um sich herum ausgeblendet. Es gab nur noch sie beide und sie sogen jede Bewegung, jede Rührung und jede Handlung des anderen in sich auf. Aber letztlich war Seto zu ambitioniert. Yami hatte es gleich zu Anfang bemerkt. „Du bist so gut wie eh und je, ABER ich merke schon, du bist zum Scheitern verurteilt. Dir fehlt die Leichtigkeit, die Leidenschaft. Du bist zu verkrampft und willst zu viel“, neckte er Kaiba während er zwei Karten verdeckt ablegte. Seto biss die Zähne zusammen und starrte verärgert auf sein Blatt. Er gab sich erhaben und tarnte jeden seiner Züge als Strategie, aber Yami konnte sehen, dass er schwitzte. Jedes seiner Manöver schaffte Yami auszuhebeln, auch wenn es kein Leichtes war. Am Ende hatte Seto keine Monster mehr auf dem Spielfeld. Yami hatte alle Effekte seiner brandneuen Karte „Magier des Wandels“, die er auf dem Koffer ergattert hatte, vollends ausgeschöpft. Dieser hatte nun 2800 Angriffspunkte und Seto hatte keine Deckung. Yami startete den letzten Angriff.
 

„Nicht so schnell“, bellte Seto, „ich decke meine Falle auf: "Geburtsrecht". Sie erlaubt mir, ein Normales Monster von meinem Friedhof in die offene Angriffsposition zu beschwören. Und ich wähle einen guten alten Freund, der mich noch nie im Stich gelassen hat: Meinen weißen Drachen. Er hat 200 Angriffspunkte mehr als dein lächerlicher Zauberlehrling!“
 

„Bist du dir da auch ganz sicher?“, Yami lächelte Seto an. Er kostete den Moment aus, in dem Seto gedanklich strauchelte und Zweifel durch seine eisblauen Augen flackerte. Dann sagte er sanft: „Du hast die besondere Fähigkeit meines Magiers vergessen. Für jedes Monster eines von mir vorher gewählten Typs bekommt er einmal während er auf dem Spielfeld ist 1000 zusätzliche ATK. Na, was meinst du? Wollen wir mal sehen, welchen Typ ich mir ausgesucht habe?“ Seto knurrte und verkrampfte seine Finger um sein Blatt, während Yami kicherte. „Was glaubst du wohl? Ich habe natürlich ‚Drache‘ gewählt. Ich kenne dich einfach zu gut, Seto. Dank deines Weißen Drachen hast du mir die Tür zum Sieg geöffnet, mein Bester.“
 

*
 

„Der Gewinner steht fest!“, verkündete Mokuba, der bei diesem Duell Punktrichter gewesen war, „Yami hat das Duell gewonnen und damit den Sieg des Abends errungen! Glückwunsch! Und nichts für Ungut, großer Bruder, aber ich habe auf Yami gewettet.“ „Du hast was!?“, entrüstete sich Seto äußerst unwürdevoll. „Verdammt, wie konnte ich so naiv sein“, jammerte Malik, „ich hab auf Kaiba getippt!“ „Selbst Schuld. Es war doch klar, wie es ausgeht. Jetzt wird abgerechnet! Also her mit meiner wohlverdienten Kohle!!“, johlte Joey. „Ihr habt Wetten auf uns abgeschlossen?“, lachte Yami verlegen. „Ja, und du warst unser Glücksbringer – naja, zumindest für fast alle“, grinste Joey mit einem Blick auf den zerknirschten Malik.
 

„Gut gespielt”, Yami wandte sich von Joey ab, als Seto an ihn herantrat. „Danke. Du auch.“ „Ich hoffe, du weißt, dass ich mich so schnell nicht geschlagen gebe. Ich würde ja sagen: Eins von drei, aber ich denke, für heute sollten wir es besser darauf beruhen lassen.“ Yami kicherte. „Ja, das ist wohl das Beste. Es ist schon spät. Aber morgen bin ich wieder für alle Schandtaten zu haben. Also wenn du möchtest …“ „Das würde mich freuen“, sagte Seto und in seiner Stimme konnte Yami nun etwas Weiches ausmachen.
 

Für einen Moment waren die Umsehenden erneut verschwunden und es gab nur sie beide. So, wie es auch bei ihrem Duell bereits gewesen war. In diesem kathartischen Moment fühlte es sich so an, als kläre sich der Nebel vor ihnen, und alles, was zwischen ihnen lag, war wie gereinigt. Yami hatte sich versprochen, normal mit Seto umzugehen und doch hatte er nicht gewusst, wie er sich ihm nähern sollte. Zum ersten Mal sah er einen Weg. Sah die Chance an etwas anzuknüpfen. Etwas, das sie teilten und das ihnen den Zugang zueinander gewährte. Vielleicht würden sie lernen, miteinander umzugehen, ohne dass es befremdlich war.
 

„Das hat echt Spaß gemacht“, sagte er lächelnd. „Du meinst, mich mal wieder zum Gespött der Nation zu machen und meine Hoffnungen auf einen Sieg ohne mit der Wimper zu zucken brutal zu zerschmettern?“, fragte Seto sarkastisch, aber nicht unfreundlich. „Das vor allem“, grinste Yami.
 

Ein lange verlorengeglaubtes Gefühl war in ihm erwacht. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte er auf alles von außen. Er hörte das befreite Lachen seiner Freunde, spürte jede Verbindung zwischen ihnen allen als ein silbriges Netz auf seiner Haut. Eine Ruhe breitete sich ganz tief in seinem Inneren aus und Heimweh brach über ihn herein wie eine riesige Welle. Und der starke Wunsch, dazuzugehören. Und noch etwas anderes, das er selbst nicht identifizieren konnte. Dieser Abend hatte etwas in Yami angestoßen. Er war der Anfang eines Prozesses, der alles in ihm von innen nach außen kehren sollte.
 

„Das war doch mal eine gelungene Aktion!“, tönte Joeys Stimme zu ihnen herüber, „Dank Yamis und meinem Einfall hatten wir doch alle seine Superzeit! Warum lassen wir den Tag nicht mit einem Snack ausklingen?“ „Gute Idee. Joey, Tea, Yami, wenn ihr möchtet, können wir das neue Spiel spielen, das ich entwickelt hab. Ich glaube, es könnte euch gut gefallen“, schlug Yugi vor. „Das klingt super, Yugi!“, erwiderte Tea begeistert. „Ich bin auch dabei“, schaltete sich Ryou ein. Yami nickte zustimmend. „Das musst du uns nicht zwei Mal sagen!“, auch Joey stimmte zu, „Na dann, lasst die Spiele weitergehen!“

Augenblick


 

XII: Augenblick

In the cool of the evening when everything is getting kinda groovy

I call you up and ask you: Would you like to go with me and see a movie.

First you say no, you’ve got some plans for tonight

And then you stop and say all right.

You always keep me guessing, I never seem to know what you are thinking

And if a boy looks at you, it's for sure your little eye will be a-winking

I get confused: I never know where I stand

And then you smile – and hold my hand.

If you decide someday to stop this little game that you've been playing

I'm gonna tell you all the things my heart's been dying to be saying

Just like a ghost you've been haunting my dreams

But now I know: You're not what you seem.

Love is kinda crazy with a spooky little boy like you.

(Dusty Springfield)

Joey Wheeler im Interview Part II
 

Ok … läuft die Kamera? Gut.
 

Hey, ihr da oben. Ich hab ne kleine Ansage für euch. Wenn ihr denkt, ihr könnt hier irgendwelche Psychospielchen mit uns spielen, dann muss ich euch enttäuschen. Das, was ihr abzieht, stand nicht im Vertrag, und ich bin sicher, die Zuschauer da draußen durchschauen auch, was für eine miese Schiene ihr hier fahrt. Oder finden sie das sogar noch doppelt lustig?! Das wäre wirklich traurig.
 

Auf was ich mich beziehe? Ist das nicht offensichtlich? Ich meine diese dämliche Aktion von heute Morgen, als ihr Yami und mich im Keller eingesperrt habt! Freiheitsberaubung nenne ich das! Was, wenn jemand von uns klaustrophobisch ist, hä? Was, wenn jemand ein Trauma hat? Habt ihr an sowas überhaupt nur mal gedacht?! Ich denke nicht, ihr Penner!
 

Hä? … Was soll das heißen, ihr hattet damit nichts zu tun? Wer soll euch das bitte glauben? Haltet ihr uns für dämlich?! Jeder weiß, dass ihr hier die Fäden in der Hand haltet. Ihr habt wahrscheinlich Kontrolle über den Strom, ihr hackt euch in unseren Fernseher ein, und jetzt wollt ihr mir ernsthaft weismachen, das mit dem Keller war nicht euer Werk? Ihr seid ja noch dämlicher und niederträchtiger als ich befürchtete hatte.
 

Hört mal gut zu, damit das ein für alle Mal klar ist: Ich werde eigenhändig dafür sorgen, dass meinen Freunden hier drin nichts passiert und dass niemand körperlich oder psychisch zu Schaden kommt. Eine Sache, die euch anscheinend vollkommen egal ist! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, durch schlimme Zeiten zusammen zu gehen. Ihr wisst nicht, wie es sich anfühlt, wenn einem die Kontrolle über Dinge entgleitet, wenn es um Leben und Tod geht und man einfach nur versucht, alle, die einem etwas bedeuten, zu schützen und heil aus einer Sache rauszubringen. Ihr habt einfach keine Ahnung! Alles, was ihr kennt, ist euer lauschiges Büro, eure geleckten Apartments und euer Gehaltsscheck!
 

Und wenn es wegen eines solchen vertragswidrigen Vorfalls schlechte Publicity für euch gibt, dann könnt ihr selbst schauen, wie ihr eure Einschaltquote rettet! Dann könnt ihr sehen, wo euer Monatsgehalt bleibt und wie ihr euren Urlaub auf den Bahamas bezahlt! Mir ist das egal, denn ich handle so, damit ich abends mit gutem Gewissen einschlafen kann!
 

Und ihr Zuschauer da draußen vor dem Bildschirm: Seid nicht so dumm! Lasst euch nicht von so billiger Unterhaltung auf Kosten anderer einlullen. Was hier abgeht, ist nicht menschenwürdig. Und wenn sie noch so oft beteuern, sie hätten damit nichts zu tun gehabt. Fragt euch doch mal ernsthaft, wer es sonst gewesen sein soll.
 

Wer sonst?
 

~*~
 

Eine tiefgreifende Unzufriedenheit hatte Umko heimgesucht. Mittlerweile bereute er es, überhaupt an diesem sinnlosen und unwürdigen Format teilgenommen zu haben. Im Inneren dieses Hauses erschien ihm alles, was in den letzten drei Jahren geschehen war, so weit entfernt. Alles, das weiter zurücklag, seine Beziehung mit Limono und alle Gefühle, die mit ihr einhergingen, dagegen nahm viel mehr Raum in seinem Kopf ein, als er es für gesund hielt. Er konnte ihre süßen und bitteren Seiten auf seiner Zunge schmecken wie einen gerade geöffneten Wein, der sein Aroma entfaltete.
 

Umko war nicht sonderlich erpicht darauf gewesen, in irgendeiner Weise Zeit mit seinem Ex-Mann zu verbringen. Und doch hatte er keine Wahl gehabt, nachdem das Spiel ihn dazu verdonnert hatte, genau das zu tun. Es gefiel ihm nicht, dass ihm ihre gemeinsame Spurensuche zu deutlich in Erinnerung rief, wie gut sie miteinander harmonierten und dass sie etwas ineinander anstießen. Er wollte nicht mehr darüber nachdenken müssen, denn all das hatte er längst hinter sich gelassen. Es war zu kräftezehrend gewesen, sodass er keine Wahl gehabt hatte, als es endlich loszulassen. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er Limono beobachtete, seine Regungen und Gesten studierte.
 

Auch jetzt, bei seinem Duell gegen diesen mehr als merkwürdigen Seto Kaiba, ruhten seine Augen gebannt auf ihm. Limono schien immer zu wissen, wie man ein Publikum für sich gewann. Und er selbst stellte da leider keine Ausnahme dar. Er mochte es nicht, dass er begann, sich zu fragen, wie Seto Kaiba und sein Ex-Mann zueinanderstanden. Er mochte es nicht, dass in ihm erneut der Wunsch aufkam, Limonos Performance gelte ihm allein. Es war so erbärmlich. Er musste versuchen, nicht den Kontakt mit dem Hier und Jetzt zu verlieren. Musste sich in Erinnerung rufen, warum ihre Ehe auseinandergegangen war. Was danach gewesen war. Was er gelernt hatte und wer er dachte geworden zu sein. Aber je mehr er versuchte, daran festzuhalten, desto mehr entglitten ihm die dünnen Taue, die ihn mit der Gegenwart verbanden.
 

~*~
 

Umko trommelte mit den Fingern auf den Tresen. Dann nahm er einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche. Eine innere Unruhe hatte ihn befallen. Bereits seit einer Stunde saß er nun schon hier und wusste nicht, was das alles überhaupt sollte – es war ein regulärer Freitagabend in seinem und Limonos Leben.
 

„Hey, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Du sitzt schon die ganze Zeit total apathisch da und siehst aus, als wolltest du gar nicht wirklich hier sein.“ Der junge Mann, der sich neben ihn an die Bar gesetzt und sein Glas neben Umkos Bierflasche abgestellt hatte, lächelte ihn freundlich an. Er hatte blaues Haar und aufgeschlossene, rotbraune Augen. Obwohl seine Worte sicher nur gutgemeint waren, befand sich Umko in einem Tunnel, in dem er absolut nichts wahrnahm, abgesehen von seinen eigenen Gedanken, die ihn in höchster Lautstärke anschrien. Deshalb wandte er sich nur widerwillig dieser Unterbrechung zu, um die unerwünschte Anbahnung mit einem knappen „Nein, alles in Ordnung. Ich bin nur müde“ abzutun. „Ok … warum gehst du nicht nach Hause?“, ließ sein Sitznachbar nicht locker. Seine Gesichtszüge waren weich und neugierig musterte er Umko nun über den Rand seines Glases hinweg.
 

Umko seufzte. „Mein Mann ist noch hier. Ich warte auf ihn“, sagte er wahrheitsgemäß. War es eine leise Enttäuschung, die nun durch die Augen seines Gegenübers zuckte? „Verstehe“, sagte er, „naja, wer weiß. Manchmal werden die Abende, die man am wenigsten herbeisehnt, ja unverhofft die besten“, redete der junge Mann einfach weiter und zwinkerte ihm zu. Umko sah amüsiert auf, „Ich bezweifle, dass das heute noch passieren wird.“ „Vielleicht nicht. Mir fiel nichts Besseres ein, um dich aufzuheitern“, gab der Blauhaarige schmunzelnd klein bei. Ein blasses Lächeln umspielte nun Umkos Mundwinkel. „Naja, es scheint wenigstens ein wenig geholfen zu haben“, stellte seine unfreiwillige Bekanntschaft zufrieden fest, „ich bin übrigens Ren.“ „Umko“, sagte Umko. Tatsächlich hatte ihn das bisschen Smalltalk ein wenig aus seinem Sumpf der schlechten Laune gezogen.
 

Ren und Umko unterhielten sich eine ganze Weile miteinander und tranken das ein oder andere Bier. Und auch wenn sie sich nicht besonders viel von Belang erzählten, so war es doch eine gute Alternative dazu, hier zu sitzen und darauf zu warten, dass Limono die Lust am Feiern verlor, das musste Umko letztlich zugeben. Ren schien ein nettes Gespräch so sehr zu schätzen wie er selbst. Und während Umko von seiner Arbeit erzählte, während Ren ihm erklärte, wie Hockey funktionierte und sie über die neusten Netflix-Serien fachsimpelten, wuchs in Umko ein unterschwelliger Groll gegen Limono, der in den letzten beiden Stunden nicht auch nur ein einziges Mal hier aufgetaucht war und nach ihm gesehen hatte. Zuletzt hatte er einen flüchtigen Schimmer von ihm erhascht, wie er in Richtung Tanzfläche geschwebt war, und seitdem keine Spur mehr von ihm entdecken können.
 

Die Beziehung mit Limono war nie einfach für Umko gewesen. Am schlimmsten war vielleicht das Gefühl, ihn nie ganz für sich alleine zu haben, ihn immer mit anderen teilen zu müssen. Wenn sie gemeinsam das Black Rainbow betraten, um den Abend auswärts zu verbringen, dauerte es meistens keine halbe Stunde bis Limono verschwunden war und Umko deplatziert an einem Tisch oder an der Bar zurückblieb. Es war in Ordnung für ihn, denn er war kein großer Tänzer und nicht sonderlich extrovertiert und er wollte Limono nicht um seinen Spaß bringen. Dennoch nistete sich jedes Mal eine Enttäuschung in ihm ein, den Abend nicht gemeinsam mit Limono verbringen zu können.
 

Es war 2:00 Uhr, als Ren schließlich sagte: „Naja, ich denke, ich sollte mich mal so langsam auf den Weg machen. Ich muss morgen eigentlich früh raus. Ich bin schon länger hier als geplant.“ Gerade in diesem Moment tauchte Limono wie aus dem Nichts genau zwischen den beiden Gesprächspartnern auf. Sein Gesicht war gerötet, was ihm außerordentlich gutstand, und nachdem er beim Barkeeper ein Getränk bestellt hatte, wandte er sich lächelnd Umko zu und küsste ihn, als ob es in diesem Augenblick nichts Wichtigeres zu tun gäbe. Während er seine Hände auf Umkos Schultern liegen ließ, schenkte er ihm einen tiefen Blick und sagte: „Tut mir leid, hast du dich sehr gelangweilt?“ Und Umko hörte sich ein „Nein, ach was, alles gut“, antworten. Limonos Lächeln wurde größer und er sagte nah an Umkos Ohr: „Gut, dann bin ich froh. Ich hatte es schon befürchtet. Wollen wir gehen?“ Umko versank im Violett von Limonos Augen und die rauen Wellen in seinem Inneren waren geglättet. Er bemerkte kaum, wie Ren neben ihnen zahlte und noch vor ihnen den Club verließ, nachdem er einen letzten Blick über die Schulter zu Umko herübergeworfen hatte. Er verschwendete auch keinen Gedanken mehr auf seine neue Bekanntschaft.
 

Es war stets dasselbe Spiel. Immer wenn Umko sich darüber ärgerte, wie egoistisch sich Limono verhielt, wenn diese Angst ihn ergriff und umklammert hielt, dass alles und jeder auf dieser Welt ein größeres Stück von Limono abbekam als er selbst, dass er in jeder Hinsicht auf der Strecke blieb, dann schaffte sein Partner es innerhalb eines Wimpernschlages, all diese Gefühle mit einem Wort, einer Geste wegzuwischen. Gerade wenn die Enttäuschung begann, Raum in seinen Gedanken zu gewinnen, gab es stets diesen Augenblick, in dem Limono unvermittelt neben ihm auftauchte und einen Arm um seine Taille legte oder ihm einen vertrauten Blick schenkte und ihm so wieder das Gefühl gab, dass sich all das lohnte. Dass es immer versteckte Nischen des Lebens, Worte und Gesten geben würde, die nur ihnen beiden gehörten. Dass zwischen ihnen alles anders war. Und dass Limono dies ebenso empfand.
 

Limono war immer bei allen hoch im Kurs gewesen. Jeder kannte ihn und Limono kannte jeden. Er hatte ein Talent, es innerhalb weniger Herzschläge zu veranlassen, dass sich die Dinge um ihn drehten. Umko glaubte manchmal, er beeinflusste das Raum-Zeit-Kontinuum, indem er er nur einen Ort betrat. Er war eine Sonne, um die alles kreiste. Für Umko war es bereits nicht einfach gewesen, als sich dieses Szenario nur in den Kreisen ihrer Freunde und Bekannten aus dem Black Rainbow abgespielt hatte. Doch als Limono dann mit „Green Leviathan“ Bekanntheit erlangte, nahm das Ganze unerträgliche Ausmaße an, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte ausmalen können.
 

Es verging kein Tag mehr, an dem Limono, wenn sie durch die Stadt schlenderten, nicht von Fans beiderlei Geschlechtern angesprochen wurde. Umkos Ehemann war alles andere als der nette Boygroup-Star, der sich immer und überall für jeden Zeit nahm, aber das schien niemanden so recht zu stören. Im Gegenteil: Kichernde Mädchen und verzückte junge und ältere Männer schienen von Limonos unverblümter und manchmal unerhörter Art angezogen zu sein. Und Umko musste schnell begreifen, dass es nur eines in Limonos Leben gab, für das sie sich nicht interessierten: Und das war er selbst.
 

Im Gegenteil wären sie alle froh gewesen, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann wäre Limono entweder zu haben oder aber in einer aufregenden Romanze mit seinem zweiten Gitarristen Riku. Riku, der Umko von dem Moment an ein Dorn im Auge gewesen war, in dem Limono ihn als alten Bandkollegen vorgestellt hatte. Riku, der in sämtlichen Fanfictions, die Umko heimlich über „Green Leviathan“ im Internet las, als attraktiver und talentierter Liebhaber dargestellt wurde, der keinen von Limonos Wünschen unerfüllt ließ, während er selbst in selbigen nur der gehörnte, hintergangene Ehemann war.
 

Er war kein eifersüchtiger Mensch und das durfte man in einer Beziehung mit Limono auch nicht sein, aber was Riku anging war Umko an einem Punkt angelangt, an dem er sich selbst nicht mehr wiedererkannte. Dass Limono ein sehr körperlicher Mensch war, der mit Berührungen nie geizte, auch nicht bei seinen Bekanntschaften im Black Rainbow, konnte Umko hinnehmen. Aber er spürte einen Stich in seinem Herzen, wenn er sah, was zwischen Riku und seinem Partner auf der Bühne passierte, und wie sehr die Fans der Band darauf abfuhren. Alle spürten es und das jagte Umko einen kalten Schauer der Gewissheit über den Rücken.
 

*
 

„Zum tausendsten Mal, Umko, es ist – nichts – passiert!“, Limono sprach ruhig, aber in einem Ton, der keine weiteren Diskussionen mehr duldete, „Ich weiß nicht, wie oft ich es dir noch sagen soll, bevor du es mir glaubst!“ Limono stand in der Tür in seinem Mantel, einen Rollkoffer in einer Hand. Er sah ungeduldig auf die Uhr. Umko rang mit Worten. Was konnte er sagen, damit Limono seine Ängste und Gedanken begriff, bevor er gleich für so viele Tage vom Erdboden verschluckt sein würde. Er hatte das Gefühl, da war so viel, was sie einander klarmachen, voreinander aussprechen mussten, aber ihre gemeinsame Zeit war stets so knapp bemessen.
 

„Limono, kannst du nicht einen späteren Zug nehmen?“, fragte er mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. Limono seufzte und verdrehte die Augen. „Du weißt, dass das nicht geht. Ich verpasse sonst den Gig. Und ich sehe so oder so nicht, wo dein Problem ist. Du rennst irgendwelchen Hirngespinsten nach.“ „Hirngespinste?! Nennst du es etwa Hirngespinste, wenn ich auf Aufzeichnungen eurer Konzerte sehe, wie Riku dir auf der Bühne die Zunge in den Hals schiebt und dich angrabscht?“, brauste Umko auf. Es war ihm egal, wie eifersüchtig und erbärmlich er auf Limono wirken musste. Er musste es einfach alles aus seinem System bekommen. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das lediglich Show für die Fans ist und nichts weiter. Wieso willst du das nicht verstehen?! Unser Manager hat uns geraten …“ „Es ist mir egal, was euer Management euch rät! Du machst doch sonst auch nicht, was andere von dir wollen! Warum lässt du dich was das angeht so leicht darauf ein? Und überhaupt: Ich sehe doch, wie dieser Riku dir hinterhersabbert. Er steht total auf dich und er lässt keine Gelegenheit aus, dir nahezukommen! Du kannst mir nicht sagen, dass du das nicht siehst. Ich weiß, dass du sowas immer merkst.“
 

Limono schwieg jetzt. Einige Sekunden lang sah er Umko einfach nur wortlos an. Dann atmete er hörbar aus. „Ich muss jetzt los“, sagte er ruhig, „wir seh‘n uns in zwei Wochen.“ Die Worte waren wir eine Beißzange, die Umkos Herz zusammenpresste, und er konnte nicht mehr sprechen. Erschöpft ließ er sich auf das Sofa fallen, während das Geräusch der Räder von Limonos Koffer immer leiser wurde und schließlich verstummt war.
 

Noch immer hatte er die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass sein Partner vielleicht noch einmal umkehren würde, dass es ihm wichtiger war, diese Auseinandersetzung auszudiskutieren und beizulegen, dass das, was sie hatten, ihm wichtiger war. Doch es blieb still. Es war ein absurder Gedanke gewesen. Natürlich konnte Limono nicht einfach alles hinschmeißen. Die Band, sein Management, all die Fans, die ein Vermögen für Tickets ausgegeben hatten – sie alle zählten auf ihn. Nur Umko konnte das nicht.
 

Kraftlos und unendlich müde sackte er auf dem Sofa in sich zusammen. All das war so wirr und er durchschaute es nicht mehr. Sicher gab es für ihn einen Platz in Limonos Leben, aber vielleicht war es nicht der Platz, den er sich wünschte. Er fühlte sich machtlos. Wie in einem bösen Traum, in dem man alles, was einem zustößt, über sich ergehen ließ. Er wollte aufwachen und sehen, dass alles war wie immer, wie früher.
 

Also blieb er zurück in der stillen Wohnung. Ohne große Hoffnung starrte er auf sein Handy, aber es klingelte nicht. Was hatte er anderes erwartet? Limono war vor der Situation geflohen und die Ablenkung durch andere Verpflichtungen kam ihm wahrscheinlich nur zu recht. Für Umko jedoch waren die nächsten Tage eine Tortur. Er pendelte hin und her zwischen Angst, die ihm die Kehle zuschnürte, Hoffnung, Enttäuschung und Wut. Ja, er war wütend auf Limono, darauf, dass er Umkos Bedürfnisse so unter den Tisch kehrte, dass er so weit abgerutscht war in der Reihe von Limonos Prioritäten, dass er seine Gefühle und Bedenken nicht ernstnahm und nicht ansatzweise versuchte, ihn zu verstehen. Im nächsten Augenblick jedoch flaute der starke Ärger ab und wich einer Resignation und Traurigkeit, nur um an einer anderen Stelle in Umkos Gedankenkarussell wieder umso heißer aufzuflammen.
 

Er konnte nicht weiter, hatte alles zerdacht und keinen Schlaf gefunden. Am dritten Tag fasste er einen Entschluss. Er musste es jetzt klären oder nie. Fahrig und übermüdet setzte er sich ins Auto. „Green Leviathan“ spielte heute Abend in Osaka. Bei Instagram hatte Limono ein Foto gepostet, auf dem im Hintergrund des Tourbusses der Schriftzug eines Hotels zu sehen war. Es war ein Leichtes, dahinterzukommen, wo die Band untergebracht war. Die Fahrt dauerte drei Stunden, aber Umko nahm keine Notiz davon, er war aufgekratzt und befand sich gedanklich in anderen Sphären.
 

Als er das Hotel betrat, hängte er sich an die Fersen eines Staff-Members und folgte ihm in den dritten Stock. Während er den Flur entlanglief, hörte er aus einem der Zimmer laute, hitzige Stimmen. Eine davon erkannte er als Limonos, die andere musste zu Riku gehören.
 

„Ich verstehe nicht, warum es jetzt soooo furchtbar tragisch ist, dass ich nicht beim Soundcheck war. Ich war eben müde!“, seufzte Limono entnervt. „Es IST tragisch, weil wir anderen auch nicht einfach machen können, was wir wollen!“, Rikus Antwort klang gepresst und er schien sich zusammenzureißen, um nicht zu schreien, „wir waren alle müde. So ist das nun mal, wenn man nach der Show lange feiert. Aber du bekommst genauso dein Geld für diesen Mist wie wir auch, wenn nicht sogar das Doppelte. Also hast du gefälligst auch was dafür zu tun!“ „Sag mir nicht, was ich zu tun oder zu lassen hab. Als ob ihr mich für den Soundcheck unbedingt gebraucht hättet.“ „Das hätten wir! Und darum geht es auch gar nicht. Du verstehst einfach meinen Punkt nicht!“ „Hör zu, ich funktioniere, wenn ich es muss, klar? Alles andere ist unwichtig und geht dich im Übrigen nichts an. Und abgesehen davon bin ich dir keine Rechenschaft schuldig. Also, würdest du jetzt bitte mein Zimmer verlassen? Ich habe zu tun.“ „Schon klar, ich bin immer nur gut genug, wenn dir gerade die Laune danach steht. Sobald es unangenehm wird, soll ich gehn“, bemerkte Riku schnippisch. „So siehts aus. Du hast es kapiert, warum bist du dann also noch hier?“, fragte Limono unbeeindruckt zurück.
 

Umko hörte Schritte hinter der Tür und im nächsten Moment wurde sie schwungvoll aufgerissen. Limono blickte Umko an, der perplex auf dem Flur stand. Seine Augen weiteten sich überrascht. Umko konnte förmlich sehen, wie Limonos Schutzschilde sanken und seine harte Fassade bröckelte. Dann fiel er Umko wortlos um den Hals. Umko hielt ihn einfach fest, vergrub sein Gesicht in Limonos Haar, dass so vertraut duftete. Er sah kaum auf, als Riku sich mit dem abschätzigsten aller Blicke an ihnen vorbeidrängte und den Raum verließ.
 

*
 

Limono und Umko lagen auf dem Hotelbett. Limono hatte seinen Kopf an Umkos Schulter gebettet. „Ich würde lieber hierbleiben als heute Abend den Gig zu spielen“, sagte er und hob den Kopf leicht an, um Umko anzusehen. Sein Blick war jetzt ruhig und müde und er war ganz im Hier und Jetzt situiert. Nicht fern, wie bei ihrem letzten Gespräch. Umko zog ihn enger an sich heran. „Das wäre schön. Darf ich mir das Konzert anhören?“ Limono lächelte. Ein ehrliches Lächeln: Er schien sich über diese Bitte zu freuen: „Klar, ich besorge dir einen Backstage-Pass. Du kannst dich hinten aufhalten und dich am Buffet bedienen. Vielleicht solltest du öfter mit auf Tour gehen. Das hätte für uns beide viele Vorzüge“
 

Umko war noch dabei, diesen Vorschlag abzuwägen, als Limonos gelöste Gesichtszüge wieder ernster wurden. Leise fragte er: „Umko … glaubst du mir denn?“ Umkos Blick wanderte instinktiv in die andere Richtung. Es fiel ihm schwer, sich selbst oder Limono eine ehrliche Antwort darauf zu geben. Zaghaft sagte er: „Ich … ich versuche es zumindest.“ Es schien Limono zu ausreichen, auch wenn Umko sein verletzter Gesichtsausdruck nicht entging.
 

All ihre Konflikte, die endlosen Diskussionen hatten sich für diesen Moment aufgelöst. Wieder einmal hatte Limonos ehrliche Reaktion und seine Freude darüber, dass Umko ihm hinterhergereist war, diesen all seinen Groll vergessen lassen. Wieder einmal fühlte er sich vom einen auf den nächsten Augenblick im Zentrum von Limonos Aufmerksamkeit, fühlte sich gebraucht und besonders. Wie bei ihren Besuchen im Black Rainbow war auch nun wieder dieser Moment gekommen, gerade als er angefangen hatte, alles von Anfang an zu hinterfragen, als seine Gefühle ins Wanken gerieten. Dieser Moment, in dem Limono ihn ansah, als wollte er nie jemand anderen ansehen. In dem nur sie beide Platz hatten. In dem er das Gefühl hatte, etwas in Limono bewegen zu können, etwas wecken zu können, das sonst schlummerte. Allein für diese Momente war diese bodenlose Achterbahnfahrt es ihm wert. Es waren diese schönen Oasen in ihrer Beziehung, die Umko im Glauben daran ließen, dass all das gut und richtig war. Es reichte ihm und er kam ohnehin nicht von alldem los. Er wollte Limono. Daran ließ sich nicht rütteln. Das, was er ihm gab, war einfach zu schön, um es gehenzulassen.
 

Dennoch blieb ein winziger Zweifel zurück, die nagende Frage, ob er ein sicherer Hafen war, zu dem Limono immer wieder zurückkehren würde, oder nur jemand, den er von Zeit zu Zeit mit seiner vollen Aufmerksamkeit bedachte, wenn er sich an allem anderen sattgesehen hatte. Und der schwere Stein in Umkos Magen löste sich nicht ganz auf.
 

~*~
 

Nach dem Turnier war Umko ohne Umschweife auf sein Zimmer zurückgekehrt. Auch wenn er seinen Gedanken nicht entrinnen konnte, wollte er für sich sein. Er fürchtete sich davor, dass Limono ihn erneut ansprechen könnte. Er traute sich selbst nicht über den Weg und das enttäuschte ihn. War alles, was er sich eingeredet hatte und was er dachte gewonnen zu haben, nur ein Luftschloss gewesen? Würde er Limono wieder erliegen, wenn er ihm den nächsten exklusiven Augenblick schenkte? Und war Seto Kaiba vielleicht demselben Irrlicht hinterhergelaufen?

Nacht


 

XIII: Nacht

Expect to anticipate

Nothing comes for free

Except me

Yeah the night's in front of us

Let's tempt fate

Take the bait

Try and see

You and me

Forget what's behind us

The past is gone

We're gonna make it through the night

We can do no wrong

When we're doing it right.

(The Planet Smashers)

Limono Otoya im Interview
 

Ja, das ist etwas, was ich immer wieder gefragt werde: Wo komme ich eigentlich her? Was machen meine Eltern beruflich? Wie bin ich aufgewachsen? Haben sie meine musikalische Laufbahn gefördert? Wie war meine Schulzeit? Habe ich Geschwister? Ja ... ich kann es nicht mehr hören.
 

Ich gebe euch jetzt die Antwort, die ich allen anderen Journalisten bisher gegeben habe: Nichts aus meiner Kindheit oder Jugend hat auch nur das Geringste damit zu tun, wer ich heute bin oder was ich mache. Deshalb spielt es auch keine Rolle für euch oder sonst jemanden. Meine Eltern sehen mich höchstwahrscheinlich in den Medien oder hören unsere Songs und hassen all das wie die Pest.
 

Glaubt mir, sie wären glücklicher, wenn ich nicht ihr Sohn wäre und niemand sie auf mich ansprechen würde. Am liebsten wäre es ihnen wahrscheinlich, wenn sie mich umtauschen könnten und sich stattdessen einen Arzt oder Anwalt oder Börsenmakler aussuchen könnten. Vermutlich hoffen sie, ich wäre bei der Geburt mit jemand anderem vertauscht worden oder so, damit sie wenigstens nicht selbst schuld an diesem Missgeschick sind.
 

Ja, ich weiß, das klingt alles sehr hart, aber ihr habt keine Ahnung, wie meine Kindheit war. Und ich glaube auch nicht, dass ich euch das nur im Entferntesten beschreiben kann, ganz zu schweigen davon, dass es euch nicht das Geringste angeht. Also denke ich, es ist besser, wenn das hier völlig aus dem Spiel bleibt.
 

Meine Eltern werden es mir danken, wenn niemand mich zu ihnen zurückverfolgen kann. Vielleicht haben sie mittlerweile ihren Nachbarn erzählt, ihr Sohn werde vermisst, sei entführt worden oder sowas in der Art. Oder sie haben einen Schauspieler engagiert, um mich zu spielen. Ich sehe es lebhaft vor mir. So eine Farce.
 

Ob ich heute jemand anders wäre, wenn meine Kindheit anders verlaufen wäre … das ist eine interessante Frage. Hätte ich euch gar nicht zugetraut, so viel Tiefsinn. Klar hab ich mich das selbst auch schon gefragt. Ich hab gerade eben gesagt, meine Kindheit hat nichts mit dem zu tun, was ich heute mache oder wer ich bin. Natürlich stimmt das nicht so ganz. Es gibt sicher einige Kreuzungen in meinem Leben, an denen meine Eltern mich den einen Weg entlangjagen wollten und ich ihnen zum Trotz den anderen gewählt hab.
 

Meine Mutter wollte, dass ich Geige lerne, also hab ich Gitarre gelernt. Mein Vater wollte, dass ich Arzt werde und ich … Ihr habt ne Vorstellung davon, was ich meine. Aber ich hasse es, dass sie sogar auf diese Weise Gewalt über mich hatten. Die Ironie. Bis ich ausgezogen bin, haben sie mich manipuliert, egal, wie ich mich auch entschieden hab. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Diese Zeiten sind vorbei. Ich verspüre keinerlei Verbindung mehr zu ihnen. Keine Dankbarkeit, keine Verpflichtung, keinen Ärger und keine Enttäuschung. Sie sind mir ganz einfach egal. Alles, was uns verbindet, sind 50 Prozent unseres genetischen Materials.
 

~*~
 

Yami schlug seine Augen auf und war hellwach. Was ihn geweckt hatte, konnte er nicht sagen. War es ein Geräusch gewesen? Ein Traum? Er sah auf seinen Wecker: Er zeigte 3:30 Uhr. Er wollte sich wieder umdrehen und versuchen, weiterzuschlafen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Stattdessen schälte er sich aus der Bettdecke und setzte sich ans Fenster. Der Ausblick aus seinem Zimmer war nicht besonders spektakulär. Er sah lediglich eine kleine Wiese hinter dem Haus und einen an das Grundstück angrenzenden Wald. Der Mond schien hell auf die Wiese und die Baumkronen. Er schien fast voll zu sein. Alles wirkte friedlich und Yami ließ sich von seinem beruhigenden, kühlen Schein einlullen.
 

Plötzlich schob sich eine Gestalt in sein Blickfeld, die auf den Wald zusteuerte. Yami stieß einen Laut der Überraschung aus und rieb sich die Augen. Konnte das sein? Möglicherweise handelte es sich um jemandem vom Drehteam. Deren Trailer mussten hier irgendwo ganz in der Nähe sein. Er blickte angestrengt hin. Aber nun sah er, dass seine erste Vermutung nicht zutraf: Deutlich konnte er einen weißen, wirren Haarschopf ausmachen: Es war Bakura, der da über die Wiese streunte. Gebannt verfolgte Yami, wie der Geist des Ringes geradewegs auf den Wald zuhielt und schließlich von den Bäumen geschluckt wurde.
 

Sofort kamen ihm dessen Worte von vorhin in den Sinn, denen er keinen Sinn hatte entnehmen können. Er wollte sich heute Nacht um das kümmern, was sie im Keller eingesperrt hatte … War das der Grund für seinen nächtlichen Ausflug? Aber was hatte er in dem kleinen Wald verloren? Was wusste Bakura, das ihm selbst verborgen war? Was hatte sie im Keller eingesperrt? Yami drehte sich wie in Zeitlupe um und suchte hektisch den Raum ab. Etwas brachte sein Blut in Wallungen, als habe er mit dem Gedanken daran diese unbekannte Bedrohung aufgeweckt. Im Zimmer blieb es ruhig, aber Yamis Glieder bebten vor Anspannung. Was sollte er tun? Wieder schoben sich die Bilder aus seinem Traum in sein Bewusstsein, er dachte an, an das Vertrauen, das er zu Bakura empfunden hatte, daran, dass dieser sein antikes Ich beschützen wollte und um sein Wohlergehen bemüht war. „Ach, verdammt, was solls“, fluchte er flüsternd und zog sich schließlich an. Er wusste, es würde ihm keine Ruhe mehr lassen, bis er es selbst herausgefunden hatte.
 

Er öffnete lautlos die Tür und schlich die riesige Treppe hinunter. Jede Stufe schien zu knarren wie ein ganzer Wald in einem heftigen Sturm und er befürchtete schon, jeden Augenblick würde jemand eine Tür öffnen und ihn fragen, was zur Hölle er vorhabe. Aber er schaffte es unbehelligt nach unten. Aufatmend schlich er durch den Flur und stockte sofort wieder. Wie angewurzelt blieb er stehen. Durch einen Spalt in der halb geschlossenen Wohnzimmertür schimmerte ein bläulicher Schein, matt nur, aber erkennbar. Yamis Herz begann gegen seine Brust zu pochen. Er war wie gelähmt. Wie lange er so dagestanden hatte, konnte er nicht sagen, aber die Neugierde siegte letztlich. Langsam bewegte er sich auf die Tür zu und drückte sie zaghaft mit der flachen Hand auf.
 

Am Wohnzimmertisch saß Seto an seinem Laptop, dessen Monitor das Zimmer in ein gespenstisches Licht tauchte. Yami atmete hörbar aus. „Oh Mann. Hast du mir vielleicht einen Schrecken eingejagt!“, stieß er nach Luft schnappend hervor. „Ach ja, wieso das denn?“, fragte Seto, sich keiner Schuld bewusst, aber halb amüsiert, „und was machst du überhaupt hier mitten in der Nacht?“ „Dasselbe könnte ich ja wohl dich fragen!“, gab Yami energisch zurück. „Ich arbeite“, sagte Seto, „ist die beste Zeit. Niemand stört einen oder textet einen zu. Schlafen kann ich ohnehin nicht und Schlaf ist ganz nebenbei auch überbewertet.“
 

Yami überlegte einen Moment, dann fasste er einen Entschluss. Ob es der richtige war, konnte er nicht sagen. „Ich habe von oben beobachtet, wie Bakura in den Wald gegangen ist. Ich will ihm folgen und nachsehen, was er treibt.“ Auf Setos Gesicht glaubte Yami im Schein des Monitors Unglauben zu erkennen. „Kommt nicht in Frage!“, sagte er ernst, „Wenn dieser Idiot denkt, er müsse gegen die Regeln dieses Spiels hier verstoßen, ist das sein Bier. Damit hast du nichts zu tun.“ Yami schmunzelte, „Warum plötzlich so regelkonform?“, neckte er den KaibaCorp-Chef. „Weil ich nicht verantworten kann, dass du nachts draußen rumschleichst! Yami, bitte überleg dir das nochmal. Das ist doch Irrsinn. Was bringt dir das denn?“ „Bakura hat vorhin so eine Andeutung gemacht. Ich glaube, er hat irgendwas vor. Vielleicht was Gefährliches. Ich muss es einfach wissen.“ Seto seufzte. Dann klappte er den Computer zu. „Ich sehe schon: Du wirst dir das ohnehin nicht aus dem Kopf schlagen. Also gut, dann los. Bringen wir’s hinter uns.“ „Wir?“, fragte Yami, obwohl er bereits eine Ahnung hatte, worauf Seto hinauswollte. „Denkst du etwa, ich lasse dich allein gehen?“, raunte der Firmenchef, „dann hast du dich gewaltig geschnitten. Aber lass uns vorher noch nachsehen, ob wir eine Taschenlampe finden. Da wir unsere Handys abgehen mussten, brauchen wir irgendeine alternative Lichtquelle.“
 

Erleichterung durchströmte Yami. Insgeheim hatte er gehofft, Seto würde sich ihm anschließen, das musste er zugeben. Im Nachhinein fand er den Gedanken, allein im Wald herumzuspazieren, beunruhigender als er es in seinem anfänglichen Übermut getan hatte.
 

*
 

Yami war die perfekte Stille um ihn herum selten so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Selbst ihre Schritte waren nicht mehr als ein Knirschen im taufeuchten Gras. Er war angespannt, bis sie den Rand des Waldes erreicht hatten. Jeden Augenblick fürchtete er, jemand könne sie vom Fenster aus beobachten, so wie er es bei Bakura getan hatte, und ihnen nachkommen. Oder ein Mitglied der Filmcrew könne sie energisch zurückpfeifen. Erst als sie unbehelligt in den Schatten der dunklen Nadelbäume eintauchten, atmete er ein wenig auf.
 

Andererseits kamen nun womöglich die wesentlich größeren Probleme auf sie zu. Denn wo sollten sie suchen und auf was ließen sie sich ein? „Soweit so gut“, schien Seto Yamis Gedanken zu auszusprechen, als sie einige Schritte in den Wald hineingetan hatten, „und wo sollen wir nun suchen? Hast du denn soweit auch schon gedacht?“ Yami seufzte und verdrehte die Augen. „So groß ist dieser Wald ja nun auch wieder nicht. Wir werden schon irgendwann auf ihn treffen.“ „Wie du meinst. Ich hoffe, du weißt, was du tust“, Seto zuckte die Schultern. Yami drehte sich zu ihm um. „Ich denke, das tue ich. Ich bin mir sicher ich kann Bakura finden. Es ist so ein Gefühl. Aber wenn du mir nicht traust, dann kann ich das nachvollziehen. In dem Fall solltest du besser umkehren. Ich komme auch alleine klar.“ Seto musterte ihn für einen Moment eindringlich. Dann sagte er: „Nein, ich glaube dir. Lass uns gehen.“ Yami lächelte dankbar.
 

Während sie weiter und weiter in den Wald vordrangen, nahmen sie die wenigen Geräusche um sie herum so deutlich wahr wie laute Schüsse. Yami war wachsam und empfänglich für alles, das sie umgab. Es war, als wäre die Natur um sie herum lebendig, als zeige der Wald selbst ihnen den Weg, als führe er sie geradewegs in sein Herz hinein. Und Yami öffnete sich ganz für diesen Ruf und folgte den unsichtbaren Fäden, die ihn zogen. Sein Kopf war wie benebelt von der Monotonie ihres Marsches und der Dunkelheit, die wie Wasser höher und höher und ihm wie ein Rausch zu Kopf stieg. In das Rascheln der Baumwipfel schien sich jetzt ein leises Wispern zu mischen. Es waren kaum Worte, aber Yami verstand es dennoch nur zu gut. Er war so gefangen von diesen Klängen, dass er kaum merkte, wie Seto stehengeblieben war. Aber schließlich nahm er seine Schritte nicht mehr hinter sich wahr und drehte sich überrascht um.
 

Verunsichert sah der Chef der Kaiba-Corporation sich um, ließ seinen Blick über die Baumkronen schweifen. Im fahlen Mondlicht sah Yami, dass er blass war. „Du hörst es auch, nicht wahr?“, fragte Yami fast flüsternd, um die Ehrfurcht des Augenblicks nicht zu zerstören. „Schon möglich“, sagte Seto langsam, als wollten die Worte seine Lippen kaum passieren. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Unbehagen ab. Er wollte es nicht wahrhaben, aber Yami wusste, dass auch Seto empfänglich für all das war. „Ich denke, irgendwas will uns zeigen, wo es lang geht. Komm, lass es uns einfach ausfinden.“ Sie setzten sich langsam wieder in Bewegung. Yami verschloss sich nicht mehr vor dem Flüstern, das zugleich um sie herum und tief in ihm zu sein schien.
 

„Siehst du, nun gehen wir am Ende doch noch zusammen vor die Tür“, sagte Seto mit einem trockenen Lachen, als sie durch die wachsende Finsternis dem Schein der Taschenlampe folgten, „nur dass uns hier niemand sieht und unser Zielort nicht gerade so lauschig ist wie ein nettes Restaurant.“ Yami musste schmunzeln und schüttelte ungläubig den Kopf. Seto hatte ihn kalt erwischt. Er hätte nicht geglaubt, dass er das Thema ausgerechnet in dieser Situation auf diese banale Art und Weise aufkochen würde. „Das hast du jetzt gesagt. Ich lasse das mal so stehen“, erwiderte er mit einem amüsierten Unterton, noch halb abwesend. Als sie sich das letzte und das einzige Mal gesehen hatten, seit Yami in den USA lebte – es war nun ca. 9 Monate her – hatte keiner von ihnen über den Grund gesprochen, warum sie sich damals aus den Augen verloren hatten. Insgeheim hatte Yami gehofft, es könne immer so sein wie an diesem Abend, ungezwungen und leicht, aber irgendwann mussten sie wohl unweigerlich bis zum Grund ihres Scheiterns vordringen.
 

„Ja, ich habe es gesagt. Es ist ja auch wahr. Ich sehe keinen Grund, warum wir das totschweigen sollten“, erwiderte Seto ohne nachzudenken. Yami zwang sich, ihm seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er nahm sich Zeit, zu antworten. dann sagte er leise, „Ich sehe aber auch keinen Grund, warum wir überhaupt darüber reden sollten. Es ist lange her, also …“ Er machte einige weitere Schritte, bevor er bemerkte, dass Seto erneut stehengeblieben war. Er hielt ebenfalls inne. Mit einem unwohlen Gefühl drehte er sich um. Er war jetzt alarmiert und hatte den leisen Verdacht, dass nun zum wiederholten Mal ein Moment gekommen war, in dem jemand Dinge aus der Vergangenheit auf den Tisch brachte, die er eigentlich lieber begraben gelassen hätte. Warum wurden ihm diese Gespräche und Augenblicke ständig ohne seine Zustimmung aufgedrängt?
 

„Yami, bitte warte einen Moment“, sagte Seto besänftigend. Yami sah ihn aufmerksam an, erwartungsvoll und nun doch ein klein wenig neugierig. „Bitte versteh mich nicht falsch“, fuhr der Firmenchef fort, „Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst. Ich habe das nicht gesagt, weil mich das belastet oder ich mich für irgendwas entschuldigen möchte. Ich weiß, dass es dafür längst zu spät ist und dass das auch vollkommen sinnlos wäre nach so vielen Jahren. Auch ich habe irgendwann verstanden, dass ich die Gelegenheit dazu verpasst habe. Ich sage nur, es ist nichts, worüber wir nicht reden können. Wir müssen uns doch nicht mit Samthandschuhen anfassen und ich will auch nicht, dass die Stimmung zwischen uns seltsam ist oder all das zwischen uns steht. Nach acht Jahren weiß ich, was ich falsch gemacht habe und was ich hätte tun müssen, damit du nicht gegangen wärst, also lassen wir die Sache doch einfach ruhen und fangen neu an.“
 

Yami senkte den Kopf. Die Gedanken jagten einander in seinem Inneren. Er war überrascht, wie viel Setos Worte mit ihm machten. Er vergaß manchmal, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, was dieser für ihn gewesen war. Wie ehrlich und unbeholfen er sein konnte und wie sehr er ihm unter die Haut ging. Er hatte diesen Menschen gewinnen wollen wie ein Spiel, ihn lösen wie ein Puzzle. Er hatte ihn halten und ihm helfen wollen, aber Seto hatte ihn nicht gelassen. Und er hatte Yami diesen Halt nie zurückgegeben. Nicht so, wie er es sich gewünscht hatte. Aber vielleicht war es auch einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür gewesen. Für keinen von ihnen beiden.
 

„Ich gebe dir Recht: Ich bin es leid, dass das dieser Elefant im Raum unsere Beziehung belastet. Lass es uns endlich abhaken. Und falls dich das beruhigt: Ich weiß nicht, ob IRGENDETWAS, das du hättest tun können, etwas an meiner Entscheidung geändert hätte“, sagte er leise. Er hatte neu anfangen wollen und Seto war nun mal einer der Fäden gewesen, die ihn an seine Vergangenheit und sein Schicksal banden. Und auch jetzt wollte er einfach vergessen. Er wollte das Thema nicht aufwärmen, wollte nicht, dass es wirkte, als beschäftige ihn all das auf irgendeine Weise. Auch Seto sollte es nicht beschäftigen und ihm dadurch das Gefühl geben, etwas versäumt zu haben. Auch wollte er Seto nicht beruhigen oder ihm sagen, dass er ihm verziehen hatte, weil es keinen Grund dazu gab. Es gab nichts zu verzeihen.
 

Es gab nur Zeit, die Gras über alles wachsen und alles banal und bedeutungslos erscheinen ließ. Aber die ihn auch in ihren Klauen hielt, immer wieder nach ihm griff und ihn in ihre endlosen Windungen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft saugte. Hier an diesem zeitlosen Ort mitten im Wald so fern von der Realität, die sie lebten und mit einem ganzen Fernsehpublikum teilten, mehr denn je.
 

Er ballte seine Hand zur Faust. Es war, als könne er nicht atmen. Noch immer stand er da, den Kopf gesenkt. Und zum ersten Mal seit er damals entschieden hatte, all das hinter sich zu lassen, stieg eine Reue in ihm auf, die ihn ganz für sich einnahm. Und die vage Frage nahm in seinem Kopf Gestalt an, ob er sich falsch entschieden hatte. War alles, was er hatte glauben wollen, nur eine ausgeklügelte Ausrede gewesen, um sich einer Verantwortung zu entziehen? Er konnte nicht mehr sagen, was wahr war und was nicht. Hatte er nur den einfacheren Weg gewählt? War er vor sich selbst fortgelaufen? Hatte er seine Freunde und Verbündeten im Stich gelassen, weil er zu sehr von sich selbst eingenommen war? Hätte er mehr für Joey da sein müssen? Hätte es etwas geändert, wenn er mehr um Seto gekämpft hätte? Und sollte er nicht zum jetzigen Zeitpunkt wissen, warum er sich mit Bakura so sehr verbunden fühlte?
 

Aber er war so müde gewesen, nach alldem, was gewesen und von ihm gefordert worden war. So müde … Und auch jetzt war er müde. Morgen würde alles ganz anders aussehen. Morgen würde die Welt wieder im rechten Licht erscheinen. Dennoch: Zum ersten Mal fragte er sich selbst, ob die leiseste Chance bestand, dass Seto jetzt anders über ihre Beziehung dachte als damals.
 

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf, um die lästigen Gedanken abzuschütteln. Natürlich dachte Seto jetzt anders. Es war viel zu lange her. Alles. Alles war anders und auch wenn die letzten acht Jahre für ihn selbst gewesen waren wie ein langer, farbenfroher Traum, hatte sich die Realität hier doch verändert. Die Zeit war in Domino nicht stehengeblieben. Und was verloren war, war verloren. Also was sollte diese Gefühlsduselei, wo sie nicht angebracht war?
 

„Yami … ist alles in Ordnung? Ich wollte dir nicht zu nahe treten …“, fragte Seto verunsichert und riss ihn aus seinen Gedankenkarussel. Abermals schüttelte Yami den Kopf, nun sichtbar für Seto. „Nein, nein, alles okay. Es war nur ein langer Tag. Also lass uns endlich Bakura finden und dann nichts wie zurück.“ Etwas hilflos nickte Seto. Dann setzten sie ihren Weg fort und für die nächsten Minuten hörte man abermals keinen Laut außer ihren gleichmäßigen Schritten auf dem blättergesäumten Waldboden, ihrem Atem, der für jeden von ihnen die Gewissheit war, dass der jeweils andere noch da war, und der Stimme, die sie leitete und für jeden von ihnen ein ganz persönliches Lied sang, Für Seto fand die flüsternde Stimme ihre ganz eigenen Worte, die ihn mit Grauen erfüllten, aber auch etwas in ihm anstießen. Aber davon ahnte Yami noch nichts.
 

*
 

Limono fand keinen Schlaf. Er war von Natur aus ein nachtaktiver Mensch und da er im Black Rainbow stets nachts arbeitete und morgens lange schlief, war er seit seiner Ankunft in der Villa völlig aus dem Rhythmus geraten. Er war kein großer Freund von Büchern und Elektronik jeglicher Art suchte man in diesem Haus vergeblich. Alle anderen waren brav in ihre Betten gewandert und Limono lechzte nach irgendeiner Art von Zerstreuung.
 

Irgendwann beschloss er, ein wenig das Haus zu erkunden und sich einen Überblick darüber zu verschaffen, was sie bisher noch nicht in Augenschein genommen hatten. Wer wusste schon, ob er nicht durch Zufall einen weiteren Hinweis auf das Rätsel um Miko und seine Familie entdeckte. Von den Fotographien an den Wänden starrte ihn der bleiche, unglückliche Junge durchdringend an und schien jeden seiner Schritte zu verfolgen. Limono lief ein kalter Schauer über den Rücken und er versuchte, den finsteren Augen keine Beachtung zu schenken. Als er im ersten Stockwerk am Treppenabsatz innehielt, um sich für eine Richtung zu entscheiden, vernahm er plötzlich ein Geräusch. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich in einem der Korridore eine Tür öffnete. In letzter Sekunde ging er hinter einer Säule in Deckung und beobachtete, wie Yami, dieser Möchtegern-Influencer, aus dem Zimmer trat und behutsam Stufe um Stufe der Treppe nahm. Limono wartete, bis der König der Spiele in der Eingangshalle angekommen war, dann setzte er ihm in gebührendem Abstand nach.
 

Als auch er schließlich ebenfalls die Treppe passiert hatte, war Yami verschwunden. Aus dem Wohnzimmer drang ein schmaler Lichtstreif. Vorsichtig pirschte sich Limono heran und spähte durch den Spalt in der halb geöffneten Tür hinein. Der junge Mann mit der Sternfrisur unterhielt sich drinnen leise mit Seto. Das Gespräch schien angespannt zu sein, aber Limono konnte die Worte nicht verstehen, da sie sich ganz am Ende des Raumes befanden und fast wisperten. Schließlich erhoben sich beide und Limono blieb gerade noch genug Zeit, zur Seite hechten, bevor sich die Tür wieder öffnete und die beiden gemeinsam heraustraten und so leise wie möglich die Eingangstür aufzogen.
 

Als diese sich mit einem dumpfen Schlag wieder geschlossen hatte, beeilte sich Limono, zu einem Fenster zu gelangen, von dem aus er sehen konnte, welche Richtung die beiden einschlugen. Fassungslos sah er zu, wie sie sich schnellen Schrittes auf einen kleineren Wald zubewegten und schließlich nicht mehr auszumachen waren. Augenblicklich schnellten Limonos Gedanken zu Umko. Er musste ihm unbedingt auf der Stelle davon berichten, welche interessante Beobachtung er soeben gemacht hatte! Was konnten diese beiden so plötzlich draußen wollen? Ohne diese Entscheidung zu hinterfragen, nahm er gleich zwei Stufen auf einmal bei seinem Weg nach oben. So leise er konnte, pochte er an Umkos Zimmertür und hoffte darauf, dass dieser nicht allzu fest schlief. Er klopfte drei Mal an, aber nichts tat sich. Als er schon enttäuscht wieder abziehen wollte, hörte er hinter sich ein Klicken, die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Umko blinzelte ihn ohne seine Brille auf der Nase verschlafen an. „Limono … was um Himmels Willen ist los?“, wollte der Schwarzhaarige irritiert wissen.
 

„Keine Zeit für langatmige Erklärungen“, sagte Limono atemlos, „hör zu: Du glaubst mir das nicht! Eben sind Yami und Seto zusammen aus dem Haus geschlichen!“ Limono war hellwach und sein Gesicht glühte vor Tatendrang, aber Umko sah nur völlig verständnislos zurück. „Und … was habe ich damit zu tun?“ „Na – wir müssen ihnen folgen und sehen, was sie treiben!“, drängte Limono ungeduldig. „Limono – ich glaube du hast sie nicht mehr alle. Ich gehe jetzt wieder schlafen. Gute Nacht.“ Umko schickte sich an, die Tür zu schließen. „Aber … warte!“ Umko hielt in der Bewegung inne. Limono sah ihn an. Enttäuschung stieg in ihm auf.
 

Aber sein Ex-Mann hatte Recht. Was hatte er sich nur gedacht? Offensichtlich nicht das Geringste. Warum sollte Umko ihn bei einer solch kindischen und schwachsinnigen Aktion unterstützen? Alles war jetzt anders. Sie waren nicht dasselbe Team, das sie vor fünf Jahren gewesen waren, das nur allzu gerne Geheimnisse um befreundete oder bekannte Personen gelüftet und ohne Zögern zu absurden Beschattungsaktionen aufgebrochen war. Wie hatte er überhaupt nur daran denken können, dass Umko ihm folgen würde ohne Fragen zu stellen oder ihn zu verhöhnen? Plötzlich schämte er sich für diese brüske, unangemessene Annäherung. Er konnte die Distanz, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, förmlich in Umkos Augen lesen.
 

„Ich … tut mir leid. Du hast Recht. Was für ne dämliche Idee. Ich hatte wohl nen Blackout und hab nicht nachgedacht“, murmelte er kopfschüttelnd. Noch immer musterte Umko ihn aufmerksam. Dann fasste er sich mit der Hand an die Stirn. „Also … was genau hast du beobachtet?“, fragte er schließlich langsam. „Ich hab gesehen, wie der kleine Wichtigtuer die Treppe runter ist und sich im Wohnzimmer mit Seto unterhalten hat. Dann sind die beiden aus der Eingangstür raus – aber spielt keine Rolle. Also, sorry nochmal wegen der Störung und gute Nacht.“
 

Er machte auf dem Absatz kehrt und hatte es plötzlich eilig, sich der Situation zu entziehen. „Moment mal!“, nun war es Umko, der ihn zurückrief. „Also was denn nun? Erst reißt du mich völlig euphorisch aus dem Schlaf und jetzt ziehst du einfach so wieder ab?“ Er seufzte gequält. „Warum werd ich einfach nicht schlau aus dir“, murmelte er, mehr zu sich selbst als dass es für Limonos Ohren bestimmt war, „Also gut. Ich bin dabei. Gib mir zwei Minuten.“ Limono grinste. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus.

Lichtermeer


 

XIV: Lichtermeer

When lonely days turn to lonely nights

You take a trip to the city lights

And take the long way home.

You never see what you want to see

Forever playing to the gallery

You take the long way home.

And when you're up on the stage

It's so unbelievable

Oh unforgettable

How they adore you.

Does it feel that your life's become a catastrophe?

Oh, it has to be

For you to grow, boy

When you look through the years and see what you could have been

Oh, what you might have been

If you'd had more time.

So, when the day comes to settle down

Who's to blame if you're not around?

You took the long way home.

(Supertramp)

Interview mit den Fans
 

„Uuuund willkommen zurück bei „Domino (To)Day“, ihrem lokalen Nachrichtenmagazin. „Rivals‘ Reunion“, die Reality-Show, die vor zwei Tagen in die Startlöcher gegangen ist, erobert die Stadt im Sturm. Auf den Straßen gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema und in Kneipen und Diskotheken werden Public Viewing Events organisiert. Was unsere Zuschauenden von den Kandidaten und Kandidatinnen halten, wer ihr Liebling ist und welche Momente sie besonders berührt haben, das haben wir für Sie auf den Straßen von Domino herausgefunden!“ (Einspieler zeigt einen belebten Platz in Domino)
 

Fan 1: Also, mein All-Time-Favorite ist Seto Kaiba! Ich bin übrigens die Vorsitzende des Seto Kaiba-Fanclubs. Ich bin so happy, ihn endlich mal wieder mehr in den Medien zu sehen! In den letzten Jahren war es ja so still um ihn! Er ist so eiskalt und tough! Und diese Augen! Einfach der Hammer! Er hat so viel aus eigener Kraft erreicht, er braucht diesen König der Spiele nicht! Seto, ICH LIEBE DICH!!!
 

Fanclub: (grölt und kreischt im Hintergrund und hält Plakate hoch)
 

Fan 2: Ich liebe menschliche Abgründe! Die Show ist jeden Tag mein Highlight! Ich find’s unschlagbar, wenn irgendwann alle Hüllen fallen und die Personen mehr und mehr von sich preisgeben und zeigen, wie sie wirklich sind. Ich hoffe, bei Limono passiert das noch, er ist auf einem guten Weg dahin.
 

Fan 3: Ich finds meeega, dass sie zwei getrennte Pärchen in die Show genommen haben. Das ist total spannend. Ich persönlich bin für Limono und Umko! Die beiden sind so süß! Sie müssen einfach wieder zusammenkommen!
 

Fan 4: Ich finde, die haben gar nichts gemeinsam. Yami und Seto sind so ein Traumpaar. Ich bin gespannt, wann sie das endlich selbst erkennen. Ich glaube, ich weiß, worüber ich meine nächste Fanfiktion schreibe!
 

Fan 5: Naja, ich find Umko total süß! Er ist so ein Lieber, Limono hat ihn gar nicht verdient. Ich hoffe, er findet bald jemand Anständiges.
 

Fan 6: Mein Favorit ist Joey! Er ist so ein Sympathieträger und hat so ein gutes Herz. Mir tuts total leid, was ihm alles passiert ist, und dass er sich trotzdem wieder auf die Beine gekämpft hat, find ich ganz große Klasse! Das zeugt echt von nem starken Charakter! Jeder macht Fehler, aber nicht jeder arbeitet daran, sie wiedergutzumachen! Toller Typ!
 

Fans 7-10: Hi! Wir sind Limonos Clique aus dem Black Rainbow! Wir sind natürlich auch jeden Abend dabei und schauen zusammen im Club jede Folge! Limono, wir stehen hinter dir! Dein Club steht noch, mach dir keine Sorgen! Wir freuen uns aber auch, wenn du wieder zurück bist! Hier ist es echt ziemlich öde ohne dich! Keine Action!
 

Fanblock: (ohrenbetäubendes Geschrei) Wir sind toooootale „Green Leviathan“-Fans! Wir gehen auf jedes Konzert! Ja, auf JEDES! Wir lieben Limono, er ist so cool! Sein Style, seine Attitude, er ist einfach ein fertiger Star! Und er singt so hammer! Wir wünschen uns, dass Riku auch in der Show ist! Die beiden sind füreinander bestimmt! (Glucksen und Kichern)
 

Fan 11: Also, ich find ja diesen Bakura heiß. Er ist ja mal mega-mysteriös. Wie er da so gegen die Wand gelehnt stand – geiler Act!
 

Fan 12: Malik!!!! Ich will mehr von diesem sexy Tattoo sehen! Ich kaufe ab jetzt Eis nur noch bei „Icy Ishtar“!
 

Fans 13-17: Hi! We’re Tea’s friends from New York! We’re here to support our girl! We love her! She’s such a tough and beautiful young woman who’s making her own way in the world! And a real faithful friend! Go get them, girl! We believe in you, honey!
 

Fans 18-22: Hello out there! We were asked to send a video message from the USA! We are Yamis biggest fans! We adore him and he’s an absolute role model for us! We love his tutorials and shopping diaries on his channel and we never miss a single one of his shows! We don’t speak Japanese, but we watch this show anyway! We wish Yami the best of luck! (blowing kisses)
 

Fan 23: Also ich persönlich finde Mokuba total knuffig! Er ist richtig gutaussehend, charmant und sogar noch clever und erfolgreich! Sogar meine Mutter sagt, so jemanden wie den wünscht sie sich als Schwiegersohn. Sie sagt immer, sie könne es gar nicht glauben, dass die Kaibabrüder verwandt sind. Da hat sie schon ein bisschen Recht.
 

„Und damit zurück ins Studio und zu den Lokalnachrichten …“
 

~*~
 

Mit Sigi hatte Yami eine wirklich gute Zeit. Sie verstanden sich wortlos, sie konnten sogar trotz ihrer engen persönlichen Beziehung problemlos zusammenarbeiten, und wenn sie sich stritten, hatten sie hinterher das Gefühl, Vertrauen gewonnen zu haben und einander besser zu verstehen. Mit Sigi konnte sich Yami so ziemlich alles vorstellen – abgesehen von einer Ehe.
 

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich zu sehr von diesem aufregenden Leben eines Medienstars absorbieren zu lassen. Vielleicht hatte sich Yami zu sehr daran gewöhnt, nie alleine zu sein. Er war immer jemand gewesen, der viel Zeit für sich selbst brauchte, aber in seinem jetzigen Job war es für ihn eine Gewohnheit geworden, sich diese Zeit im Beisein anderer nehmen zu müssen. Er musste es tolerieren, dass ihn oft Menschen umringten, und mit der Zeit brauchte er diese oberflächliche Gesellschaft, erschien es ihm ohne all das seltsam still.
 

Auf diese Weise hatte es mit Sigi begonnen. Yami schätzte seinen Manager, was seine geschäftlichen Entscheidungen betraf. Im Grunde war er immer der Meinung gewesen, er könne selbst für seine Belange eintreten und darüber entscheiden, wie er sich vermarktete, und jemand anderen hätte er womöglich sofort wieder abserviert. Aber schließlich hatte er Sigi als Manager einer befreundeten Youtuberin kennengelernt und feststellen müssen, dass dieser verstand, was Yami auf seinem Karriereweg wollte. Dass er ihm dabei helfen konnte, es in seinem Sinne umzusetzen. So verbrachten sie viel Zeit miteinander und lernten einander unweigerlich kennen. Sigi war ein Aufreißer, der gerne flirtete, und Yami hatte ihn bei Premieren und High Society Events mit vielen verschiedenen Dates an seiner Seite erlebt. Es störte ihn nicht, denn er kannte Sigi nicht anders und sah diesen als einen Geschäftspartner und mittlerweile als guten Freund.
 

Aber irgendwann änderte sich etwas, ohne dass Yami es bewusst wahrnahm. Er begann, immer größere Teile seiner Freizeit mit Sigi zu verbringen. Er konnte nicht sagen, wann er zum ersten Mal realisierte, dass Sigi aufgehört hatte, andere Frauen und Männer zu treffen. Schließlich kam der Abend, an dem sie in Sigis Loft das ein oder andere Glas Wein zu viel tranken und Yami nicht nach Hause ging. Keinen Monat später war er bei Sigi eingezogen. Und alles war plötzlich mehr als aufregend.
 

Sigi war aufmerksam und attraktiv und nie langweilig und Yami genoss es, glücklich verliebt zu sein. Das war es jedenfalls, was die Medien über die beiden berichteten. Alles in seinem Leben war wie ein farbenfroher Trip, alles war ineinandergeblendet. Seine Arbeit, sein Privatleben, seine Beziehung. Nicht ein einziges Mal hatte er innegehalten und über seine Entscheidungen in den letzten Monaten nachgedacht. Hätte er das getan, hätte er womöglich kommen sehen, was schließlich geschehen sollte.
 

Drei Jahre waren Yami und Sigi ein Paar. Sie arbeiteten gemeinsam, sie wohnten gemeinsam und ihre Leben verliefen so synchron, dass Sigis Anwesenheit für Yami eine Selbstverständlichkeit geworden war. Er war sein erster Ansprechpartner, sein engster Vertrauter geworden. Er hatte nie einen Gedanken an die Frage verschwendet, ob sie ein gemeinsames Leben führten oder nebeneinander her lebten. Hatte sich nie gefragt, ob Sigi für ihn der Partner war, den er sich wünschte, ob er ihm das Gefühl gab, angekommen zu sein. Vielmehr hatte er den Eindruck, sie waren beide weit davon entfernt irgendwo anzukommen und genossen diesen Zustand. Er hatte ihn auch nie mit Seto verglichen. Wozu auch? All das lag weit hinter ihm.
 

Er hätte die ersten Zeichen sehen müssen, als sie eines Samstagnachmittags im Wohnzimmer auf der Couch saßen. Sigi beantwortete Mails und Yami arbeitete an einem Skript für eines seiner Videos. Yami hatte Sigi eine beiläufige Frage gestellt und Sigi hatte ihm, wie so oft, einen treffsicheren Tipp für die Gestaltung seines Konzepts gegeben. „Ja, ich mag das! Danke dir!“, sagte Yami und hauchte Sigi einen Kuss auf die Wange. Sigi sah von seinem Computer auf und Yami spürte, dass sein Blick auf ihm ruhte. Er hob den Kopf und ließ den Gedanken, den er gerade weitergesponnen hatte, gehen. „Was ist?“ fragte er sanft. „Nichts, nur … bist du eigentlich glücklich?“, wollte Sigi wissen. Yami lächelte etwas verständnislos. „Ich denke schon, ja. Momentan läuft alles ziemlich gut.“ Sigi fasste ihn um die Taille und zog ihn näher zu sich heran. „Ja, das finde ich auch. Ich bin auch echt glücklich momentan.“ Er küsste Yami.
 

Yami hatte nicht gelogen. Aber wenn er sich heute etwas vorwarf, dann war es, dass er so mit Blindheit geschlagen war, dass er nicht vorher begriffen hatte, wohin ihn all das führen sollte. Dass er so egoistisch gewesen war und sich nicht mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen auseinandergesetzt hatte. Auch wenn das paradox klang. Er hatte er vermieden, weil es leichter gewesen war. Er hatte sich treiben lassen vom Strom dieses sorglosen Lebens.
 

Die Augen gingen ihm erst auf, als er keine zwei Wochen später einen Livestream auf seinem Kanal ausstrahlte. Es war kurz vor Weihnachten und Yami hatte dazu aufgerufen, dass Follower ihm lustige Geschenke zusandten und er diese vor der Kamera öffnete. „Okay, dieses riesige selbstaufblasbare Gummi-Kuriboh mit dem glitzernden Horn findet sicherlich noch einen geeigneten Platz in unserem Apartment! Vielen Dank für diese geniale Idee. Und nun kommen wir zu unserem letzten Präsent. Wow, ich bin gespannt, was drin ist. Es sieht total winzig aus.“ Yami zog ein kleines schwarzes Päckchen mit goldener Schleife darauf zu sich heran und zog am Geschenkband. Die Box fühlte sich schwer an, fast wie ein Schmuckkästchen. Sein erster Eindruck täuschte ihn nicht. Zum Vorschein kam ein kleines Kästchen zum Aufklappen, das von einem Juwelier zu stammen schien. Noch immer hatte Yami nicht den geringsten Verdacht geschöpft, bis zu dem Moment, als sich der Deckel hob und der Ring zum Vorschein kam.
 

Yami wurde abwechselnd heiß und kalt. Seine Gesichtszüge entgleisten und ihm war plötzlich speiübel. Mit einem Mal durchdrang er plötzlich alles. Im Bruchteil von Sekunden sah er sich von oben und ließ die letzten Jahre in seinem Kopf revuepassieren. Und ihm war klar, dass alles, was er gesagt und getan hatte, zu diesem Augenblick geführt hatte. Vor seinem inneren Auge spielte sich jeglicher kitschige Kinostreifen, den er jemals gesehen hatte, im Zeitraffer ab und er kam sich vor wie inmitten von einem von ihnen. Er stand mit dem Rücken zur Wand und sah keinen Ausweg. Und während Sigi plötzlich neben ihm saß und ihm die Frage stellte, die er mit Furcht erwartet hatte, und er Millionen von virtuellen Augen auf sich gerichtet spürte, nahm das Dröhnen in seinen Ohren weiter und weiter zu. „Ich … was?“, keuchte er mit dünner Stimme. „Yami, was ist mit dir? Sag schon was!“, raunte Sigi ihm, halb besorgt, halb panisch, zu. „Ich … kann das jetzt nicht entscheiden!“, stieß Yami atemlos hervor. „Es tut mir leid, Sigi.“
 

Somit kam dieses Kapitel in seinem Leben zu einem Ende. Das Schicksal dieser Beziehung war besiegelt. Sigi, der seit langer Zeit in seinem Leben erstmals bereit gewesen war, eine langfristige Bindung einzugehen, war tief verletzt und hatte lange an diesen Wunden zu lecken. Yami hatte seine Hoffnungen gnadenlos zerschmettert und auch wenn er ihm keine Absage erteilt hatte, so hatte Sigi sich doch eine andere Reaktion erhofft. Sie hatten es am Ende beide gespürt: Dass sie nicht dasselbe wollten. Dass Yami nicht bereit war, diese Verbindung zu vertiefen.
 

Natürlich konnte Sigi langfristig unmöglich weiterhin Yamis Manager bleiben. Und urplötzlich war Yami wieder alleine mit sich. Die Stille drang schmerzhaft und kalt in ihn und viele Wochen wühlte er in seinen Gedanken. Zum ersten Mal seit langem war er gezwungen, sich selbst neu auszurichten und Dinge über sich zu lernen, die er nicht wusste, sich selbst wieder neu kennenzulernen. Irgendwo auf diesem beschwerlichen Weg zu sich selbst begann er sich zu fragen, ob Sigi sich jetzt in etwa so fühlte, wie er selbst damals, als Enttäuschung über Setos fehlende Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen, an ihm genagt und ihn mit finsteren Gedanken gefüllt hatte. Irgendwo musste er sich eingestehen, dass er selbstsüchtig und willkürlich gehandelt hatte und dadurch jemanden unglücklich gemacht hatte. Als einen solchen Menschen hatte er sich zuvor nie gesehen.
 

Es war wie eine Trunkenheit, die langsam abflaute, und sein Leben schien den glitzernden Schimmer zu verlieren und sich mehr und mehr zu normalisieren. Und nach drei Jahren, in denen bis auf einige knappe Nachrichten Funkstille geherrscht hatte, nahm er schließlich das Telefon in die Hand und wählte Yugis Nummer. Sie redeten lange und behielten es so bei. Es war der erste Funke seines alten Lebens, der sich in seine Gegenwart schlich.
 

Dann schließlich kamen die Erinnerungen. Jahrelang waren sie ferngeblieben. Nun überkamen sie ihn fast jede Nacht als Träume und manchmal sogar tagsüber. Eine nach der anderen spülten sie gnadenlos über ihn hinweg und jede von ihnen traf ihn wie ein harter Schlag gegen die Stirn, als wollten sie ihn auf die unbequemste Art und Weise daran erinnern, wer er gewesen war. An eine Identität, die noch immer ein Teil von ihm sein wollte, so sehr er sie auch hatte abschütteln wollen. In diesem Zustand besuchte er schließlich eines Tages eine Gaming-Convention, für die er als der aktuell erfolgreichste Game Show Host gebucht war, und traf unerwartet auf Seto Kaiba.
 

*
 

Seto hatte sich nicht großartig über die Veranstaltung informiert, für die er als Gast gebucht war. So hatte er nichts von Yamis Anwesenheit gewusst. Vor einem Monat hatte er in den USA ein neues VR-Spiel herausgebracht, das dort zu einem riesigen Erfolg geworden war. So musste er wohl oder übel dieser leidigen Ansammlung von Geeks beiwohnen und ihnen Rede und Antwort stehen.
 

„Hey, ist lange her“, sagte Yami zu ihm, als sie unerwartet in einem Diskussionspanel nebeneinandersaßen. „Ja, das ist es wohl“, antwortete Seto steif. „Ich hab gehört, dein Spiel ist durch die Decke gegangen. Glückwunsch!“ Yami war nie um Smalltalk verlegen und Seto fragte sich, ob er sich diese Fähigkeit in den letzten Jahren als Influencer angeeignet hatte. Der König der Spiele lächelte ihn leicht verlegen an, aber selbstbewusst genug, um ihm zuzuzwinkern und zu fragen: „Hast du Lust, nachher was zusammen zu trinken und mir zu erzählen, was es bei dir Neues gibt?“
 

*
 

Das kühle Getränk rann Setos Kehle herunter und er hoffte, dass es dafür sorgen würde, dass Worte den Weg aus seinem Mund fanden. Um ehrlich zu sein wusste er nicht, was er Yami sagen sollte. Er war alles andere als vorbereitet, konnte mit der Situation nicht umgehen. Aber Yami machte es ihm leicht, denn er ließ keine Stille zwischen ihnen aufkommen und irgendwann gelang es Seto, sich in den natürlichen Fluss des Gesprächs einzuklinken und einfach mit dem Strom zu schwimmen. Dennoch war nur die Hälfte seines Verstandes bei der Sache, die andere Hälfte konnte nicht damit aufhören, sich zu fragen, ob Yamis Worte nur leere Floskeln waren oder ob er tatsächlich so offen mit ihm umgehen konnte nach der Enttäuschung, die er durch ihn erfahren hatte. Hatte Yami all das mittlerweile ganz einfach vergessen und abgehakt? Erschien ihm das vielleicht nichtig nach seinem aufregenden Leben und seiner jahrelangen Beziehung mit diesem geschniegelten Vorzeige-Typen? War er, Seto, ihm sogar so egal geworden, dass er jetzt nicht mehr für ihn übrighatte als seichte, leere Worte?
 

In den letzten Jahren hatte er regelmäßig Yamis Social-Media-Kanäle verfolgt und sich fortwährend gefragt, ob die Person, die er dort vorgab zu sein, ein neuer Yami war oder lediglich eine Rolle, die er spielte. Ob der Yami, den er kannte, noch irgendwie hinter seinem Smartphone und all den Hashtags und Filtern existierte. Er musste es einfach wissen. Musste dahinterkommen, ob Yami noch derselbe war, der er gewesen war. Der ihn damals unerwartet in seinen faszinierenden Bann gezogen und zu dem er diese mystische und doch so unkompliziert-ehrliche Verbindung verspürt hatte.
 

Eine Reporterin hatte sie gerade erspäht, wie die dastanden, jeder mit seinem Glas Champagner in der Hand, und kam nun lächelnd auf sie zu. „Hey, das ist doch mal eine unerwartete Reunion. Der Weltmeister und der König der Spiele wieder vereint! Darf ich ein Foto von euch machen?“ „Klar doch!“, Yamis Lächeln wurde breiter und er zog Seto an seine Seite. Mit einem gequälten Grinsen ließ Seto die Vorführung über sich ergehen.
 

„Hey, wie wär‘s mit einem Foto für meinen Instagram-Kanal? Was meinst du?“, fragte Yami und sah Seto mit leuchtenden Augen an, denen dieser kaum widerstehen konnte. „Okay … wenn es unbedingt sein muss. Lass es uns hinter uns bringen“, murmelte er halbherzig. Yami zückte sein Handy und schoss ein Foto von ihnen, und wenige Sekunden später sah Seto ihm zu, wie er routiniert die Bildunterschrift tippte, bevor er das Bild postete: „Unerwartetes Wiedersehen mit einem alten Freund. #unexpectedmeeting #supriseoftheday #duelmonsterswillneverdie #duelists #someonewhoalsolikesgames #favoritechallanger #butalwaysonlysecondbest #stillkingofgames #bondsbeyondtime #gamescon #specialguests #hadlotsoffuntoday”.
 

Seto wurde das Gefühl nicht los, dass Yami ihr Treffen zu seinem Vorteil nutzte, dass er daraus eine Show machte. Er wünschte sich, dass dieser mehr im Moment bleiben und ihm zeigen würde, dass er sich tatsächlich für ihn interessierte und nicht nur für ihr gemeinsames mediales Potential. Aber auf der anderen Seite sah Yami so bestechend aus, er schien förmlich vor Energie und Tatendrang zu leuchten. Er hatte eine erhabene Leichtigkeit und ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt, das ihm gut anstand, und Seto fühlte sich in seine Welt gezogen. Und auch wenn er es sich ungern eingestand, hatte Yami ihn sofort am Haken mit seinem Lachen und seiner offenen, aber nicht aufdringlichen Art, die er seit jeher an ihm geschätzt hatte. Eine Art, in der man spürte, dass er seine eigenen Probleme mit Rücksicht auf andere zurückstellte und aufmerksam war nicht nur für die Worte anderer, sondern auch für andere Signale, die auf ihr Befinden hindeuteten.
 

„Seto, was sagst du dazu?“, fragte Yami leise und riss den Firmenchef aus seiner neugierigen Faszination. „Oh, entschuldige bitte. Was hast du gerade gemeint?“, beeilte er sich zu antworten. „Ich wollte wissen, ob du vielleicht Lust hast, ein bisschen an der Küste entlang zu spazieren. Ich habe noch gar nichts von der Stadt gesehen und ich fänd's ganz schön, noch ein bisschen rauszukommen, bevor ich wieder im Flugzeug sitze. Du nicht auch?“
 

Seto hatte zugestimmt. Nun schlenderten sie nebeneinander her über eine große Brücke. Die Sonne brannte auf sie herunter und alles roch nach Sommer und Entschleunigung. Dieses Gefühl schwappte auf Seto über und das und die beiden Gläser Champagner, die sie zuvor getrunken hatten, trugen dazu bei, dass er sich mehr in die Situation fallen ließ, als er es normalerweise tat.
 

„Erzähl doch mal, wie geht es Mokuba? Ist er schon in die Firma eingestiegen?“ Seto schmunzelte, bevor er antwortete: „Er war ein rebellischerer Teen als ich es war, so viel steht fest. Aber jetzt ist er sehr fleißig und studiert. Und er mischt auch schon in der Firma mit. Ich habe also nichts zu meckern.“ Yami kicherte. „Das ist schön!“ Mehr und mehr hatte Seto den Eindruck, dass Yami nun die Bühne seiner Social Media-Persona hinter sich ließ und ganz die Augen der Öffentlichkeit abstreifte. Sein Smartphone steckte unbeachtet in seiner Hosentasche.
 

Schließlich brachte Seto den Mut auf, Yami auf etwas anzusprechen, das ihm nicht leichtfiel: „Hey … ich habe von deiner Trennung von deinem Manager gelesen. Das tut mir echt leid.“ Es war Seto wichtig, dass Yami wusste, dass er es ihm gegönnt hatte, dass er scheinbar glücklich war. Auch wenn er selbst nicht daran beteiligt war. Seine Eifersucht auf diesen aufgeblasenen Showbiz-Guru, den Yami gedatet hatte, und die Frage, was er mit so jemandem anfangen wollte, hatte mit diesem ehrlichen Wunsch nicht das Geringste zu tun. Yami lächelte ein müdes Lächeln. Vielleicht wäre es ihm lieber gewesen, wenn Seto dieses Thema hätte linksliegenlassen, aber er antwortete ihm keineswegs unhöflich oder weniger offen als zuvor: „Ach das … danke, das ist lieb von dir. Aber es ist okay, wie es gekommen ist. Es hat einfach nicht funktioniert.“ Seto wusste zwar nicht, wie genau Yamis kryptische Aussage zu verstehen war, aber sein Herz schlug dennoch etwas höher bei dieser Diskreditierung der Verbindung und er versuchte sich selbst zu Raison zu rufen.
 

Auf der anderen Seite der Brücke ragte ein Riesenrad über die Häuser empor und als sie näherkamen, wurde nach und nach ein kleiner Rummel sichtbar. „Super!“, stieß Yami begeistert aus, „das ist ja perfekt!“ Seto verzog das Gesicht und sah wenig überzeugt aus. „Ich weiß nicht. Muss das denn sein? Hier ist es doch auch ganz schön.“ Ihm gefielen die Stille und ihre dahinplätschernde Unterhaltung hier am Ufer. Yami sah ihn kurz nachdenklich an, dann nahm er Setos Hand und zog ihn in Richtung des bunten Treibens. „Ach, komm schon. Das wird schön, ich versprech's dir! Wie kannst du nur selbst so viele Freizeitparks besitzen und nie dort mal Feldforschung betreiben? Lass uns wenigstens ein bisschen die Buden anschauen!“
 

Seto hatte eingewilligt. Er konnte es Yami einfach nicht abschlagen. Aus dem Anschauen der Buden wurden fünf Fahrten mit diversen Fahrgeschäften, die ein Ziehen durch Setos Magen jagten. Aber er musste zugeben, dass es ihm tatsächlich auch etwas Spaß machte. Keuchend hielt Yami sich nach der dritten Fahrt mit einem Fahrgeschäft, bei dem sich auf einer nach rechts und links kippenden Scheibe Sündenböcke mit Sitzen darin wild in beide Richtungen drehten, an Setos Schulter fest. „Ich kann nicht mehr“, lachte er keuchend, „ich glaube, für heute bin ich erst mal bedient.“ „Na Gott sei Dank“, grinste Seto zurück. Den Rest des Abends schlenderten sie an den Ständen vorbei, plauderten ausgelassen und Yami kaufte das ein oder andere Gewürz und Süßigkeiten. Setos Kopf hatte sich irgendwie ausgeschaltet, etwas, das ihm auch früher in Yamis Gegenwart oft passiert war.
 

„Hey, sieh mal! Ein Schokoladenstand!“, Yami fasste Seto behutsam am Arm und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das, worauf er seinen Blick geheftet hatte. Links von ihnen war ein niedlicher, kleiner Stand mit einem Schild mit altrosa Rahmen aufgetaucht, in dessen Mitte in verschnörkelter goldener Schrift „Schokoladenspezialitäten“ prangte. In der Auslage tummelten sich Pralinen und alle erdenklichen anderen Formen, die Schokolade annehmen kann, beschildert mit den exotischsten und interessantesten Namen und Füllungen. Von würziger Schokolade mit Anis und Ingwer über weihnachtliche Kreationen mit Zimt und Gewürznelken bis hin zu sommerlich-fruchtigen Varianten – es fehlte an nichts, was das Herz begehrte. „Das ist doch genau das Richtige für dich!“, sagte Yami und lächelte Seto begeistert an. Seto sah zu Boden. Natürlich war Yami während der Zeit, in der sie sich nähergekommen waren, seine Vorliebe für die süße Versuchung nicht entgangen. Dass er diese Leidenschaft, die Seto nicht gerne publik machte, nun erwähnte, ließ den Moment seltsam intim anmuten. Seto kam es vor, als tastete Yami nach dem tiefsten Grund seines Wesens, und dieses Gefühl war zugleich unangenehm und schön.
 

„Komm schon, lass uns doch mal schauen, was es so alles gibt“, ermutigte ihn der König der Spiele. Wie von selbst kam er ins Gespräch mit dem Verkäufer hinter dem Stand und so bekamen sie die ein oder andere Kostprobe und kauften letztlich zwei Tüten voll mit diversen Sorten. „Vielleicht mache ich ein Video darüber, welche am besten schmeckt“, überlegte Yami, die Arme voll mit seinen Einkäufen. Zum Abschluss gönnten sie sich noch jeweils einen großen Spieß mit Früchten im Schokoladenmantel. Sie waren nun im Zentrum des Rummelplatzes angelangt und das große Riesenrad reckte sich vor ihnen die die Höhe. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen und hinterließ nur noch einen schmalen Lichtstreif am Horizont, der wie Feuer glühte. Yami sah Seto an, aber er musste nichts sagen. „Also, los, komm, eine Fahrt zum Abschluss eines gelungenen Abends“, hörte sich Seto zu seiner Überraschung selbst sagen.
 

Der Rummel unter ihnen wurde kleiner und kleiner und bald blickten sie auf ein großes Lichtermeer hinab. Die bunten Dächer der Buden und Fahrgeschäfte gaben ein malerisches Bild ab. Sie sprachen nicht, sondern genossen die Stille in der Kabine und den unbeschreiblichen Ausblick. Vielleicht hing Yami seinen eigenen Gedanken nach, während er aus dem Fenster sah, vielleicht schweifte sein Blick weiter als bis zu dem bunten Chaos unter ihnen. Aber vielleicht war er auch ganz in diesem Augenblick verhaftet und genoss, was sich dort unten und hier oben zwischen ihnen entfaltete. Seto konnte ihn nicht lesen. Als sie zum zweiten Mal auf dem höchsten Punkt des Riesenrads angelangt waren, drehte er sich zu Seto um. Seto wollte es nicht, doch er fiel in Yamis große, mysteriöse violette Augen. Er wünschte, sie würden ihm mehr über Yamis Inneres verraten, aber zugleich reizte ihn auch die Ungewissheit, in die er fiel, wenn er sich in ihnen verlor.
 

„Wow, es ist schon echt spät. Ich sollte danach wirklich zurück zu meinem Hotel. Ich muss morgen wieder ins Studio.“ „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange aufgehalten“, sagte Seto, der einen Stich der Enttäuschung in seinem Magen wahrnahm. Yami schüttelte energisch den Kopf. „Nein, gar nicht! Ich bin froh, dass ich die Zeit so vergessen konnte. Ich hatte eine echt gute Zeit heute. Das war richtig erfrischend! Ich hoffe, du hattest auch wenigstens ein bisschen Spaß.“ Seto lächelte matt. Wenn er nicht so ein Idiot gewesen wäre, dann hätte Yami diese Worte vielleicht bereits vor vielen Jahren zu ihm gesagt. Dann hätten sie so viele dieser Tage zusammen verbringen können, in denen sie sich vom Geist des Augenblicks hätten davontragen lassen. Dann hätte er damals bereits dieses Leuchten in seinen Augen hervorbringen können.
 

Doch bevor düstere Gedanken das leichte Gefühl in seinem Inneren überschatten konnten, riss ihn Yami ins Hier und Jetzt zurück: „Hey, was hältst du von einem letzten Foto? Als kleine Erinnerung an heute?“ Er hob fragend sein Handy in die Höhe.
 

Das Foto zeigte sie beide lächelnd, im Hintergrund die Skyline der Stadt und deren zahllose nächtliche Lichter. Es tauchte nie auf Yamis Instagram-Kanal auf, Seto hatte das gründlich geprüft. Bedeutete das, dass es zu privat war, um es mit der Welt zu teilen? Eine Erinnerung, von der er wollte, dass sie nur ihm allein gehörte? Oder hatte er es schlicht und ergreifend aus Müdigkeit vergessen zu posten?
 

Dieser Tag hatte so vieles in Seto angestoßen, so viele aufgeriebene Stellen berührt, von denen er geglaubt hatte, dass sie längst verheilt waren. In seinem Kopf war vieles durcheinandergewirbelt und es dauerte einige Tage, bis er sich selbst wieder strukturiert hatte. Dennoch blieb in ihm der Wunsch, all die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Auch wenn er wusste, dass es zwischen Yami und ihm nie mehr so sein konnte wie früher, wollte er doch herausfinden, wer dieser heute war. Wollte wissen, ob sie das unbeschwerte Gefühl dieses Abends noch einmal wiederfinden konnten. An einem anderen Ort. In der Realität fern von der fantastischen Surrealität des Rummelplatzes. Ob es Yami etwas bedeutet hatte. Da war eine Hoffnung in ihm, die er versuchte niederzukämpfen, aber als schließlich die Einladung zur Teilnahme an der Rivals‘ Reunion-Show in seinem Briefkasten steckte, kratzten all diese Begehren und schlafraubenden Fragen in ihm an der Oberfläche, keimten und schlugen aus. Er ließ sich selbst keine Wahl mehr. Und er musste sichergehen, dass Yami ebenfalls teilnehmen würde. Und wenn er es nur tat, um seine Herausforderung zu einer Revanche nicht auszuschlagen.

Nebel


 

XV: Nebel

I think about you all the time

But even though I don't talk to you

That doesn't even mean that we are through

I see you as a paradigm

Of a life that seems so amused

By all the things that I refuse

Friend, can't you see I'm trying to help you out

But your mind is stuck on things

That leave you adrift with broken wings

Hey, don't ever bring me back

To where I used to be

Don't bring me down

Cause I don't have time for that anymore.

(Family Force 5)

Ryou Bakura im Interview Part II
 

Auweia, ich wusste, dass ihr dieses Thema hier irgendwann anbringen würdet (lacht verlegen).
 

Ich hab eigentlich keine Ahnung, ob Malik schon etwas über mich erzählt hat im Interview … hat er? Ich werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass er unter anderem hier teilnimmt, weil er sich irgendwas von mir erhofft. Und ich befürchte, ich muss da ein bisschen was klarstellen, aber ich habe den richtigen Moment dafür irgendwie noch nicht abgepasst.
 

Ich weiß, wie gesagt, nicht, wie viel Malik schon über mich erzählt hat, aber wir hatten ja mal so einen Moment in England … also, es war eigentlich nur ein Abend, wo wir uns irgendwie ganz gut verstanden haben. Und dann habe ich eine Dummheit begangen und gehandelt, bevor ich nachgedacht hab. Ich hab mich im Nachhinein immer wieder gefragt, was eigentlich in mich gefahren ist. Es passt nämlich so gar nicht zu mir. Ich brauche normalerweise echt lange, bis ich mit Menschen warm werde.
 

Auf jeden Fall hatte ich hinterher das vage Gefühl, dass das alles für Malik mehr bedeutet hat als für mich. Ich habe gehofft, das Ganze würde sich einfach im Nichts verlaufen, ohne dass ich groß etwas zurechtbiegen muss. Aber mir scheint es jetzt fast, als würde ich nicht drumherum kommen.
 

Es ist nämlich so: Ich hab leider keine … Gefühle für Malik. Also nicht dass ich ihn nicht gut leiden kann, so ist das nicht. Aber ihr wisst schon … ich bin nicht in ihn verliebt. An dem Abend, als wir … uns geküsst haben, da ging’s mir nicht so gut. Ich bin mit Sachen konfrontiert worden, die ich nicht handhaben konnte, und irgendwie habe ich eine Ablenkung oder einen Ausweichmechanismus oder sowas gesucht. Ein bisschen Alkohol war auch im Spiel. Und ehe ich mich versehen hab, war ich in dieser prekären Situation. Ich komme mir wirklich ein bisschen schlecht vor, als ob ich Malik irgendwie benutzt hätte. Und noch mehr jetzt, wo es auf mich den Eindruck macht, als hätte das Ganze einen anderen Stellenwert für ihn.
 

Ich würde wirklich gerne mit Malik befreundet sein. Aber ich hoffe, er kann das akzeptieren. Oh verdammt, ich bin echt nicht gut in sowas. Aber es hilft ja nichts. Ich muss es ihm auf jeden Fall sagen, bevor wir hier wieder raus sind und er dieses Interview hier sieht. Es führt kein Weg dran vorbei. Also gut … morgen. Morgen krieg ich das bestimmt hin. Hoffentlich.
 

~*~
 

Yami hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, als sie schweigsam tiefer und tiefer in den Wald stapften. Alles verlief ineinander wie nasse Farbe. Seine Gedanken waren stumpfsinnig, aber sein Körper stand nach wie vor unter Spannung. Er konnte nicht sagen, woher er die Gewissheit nahm, aber er war sich noch immer sicher, dass er Bakura finden konnte und dass sie auf dem richtigen Weg waren. Er dachte keine Sekunde daran, umzukehren, auch wenn er vermutete, dass es Seto diesbezüglich anders ging. Auch nahm er kaum wahr, dass es um sie herum stetig kälter wurde und ein eisiger, tückischer Nebel über den Wald kroch, der ihnen die Sicht mehr und mehr nahm. Als Seto ihn darauf hinwies, gab er nur ein abwesendes „Hm“ zurück. Er brauchte ohnehin seine Augen nicht, um zu Bakura zu gelangen. Schon seit einigen Minuten verließ er sich einzig auf das stetige, hypnotische Wispern, das sein Inneres leitete, und sah seinen Weg klar vor sich.
 

Endlich blieb er stehen. Sie waren am Rande einer kleinen Lichtung angekommen. Der Mond schien gespenstisch hell auf den baumlosen Waldboden. Und einige Meter vor ihnen konnte Yami vertraute Umrisse ausmachen. Bakura stand regungslos da und schien vollkommen mit dem Ort verschmolzen zu sein. Yami konnte nicht sagen, ob er bemerkt hatte, dass sie sich ihm näherten. Erst als er mit gesenkter Stimme fragte: „Bakura?“, kam die forsche und wenig überraschte Antwort: „Still! Unterbrecht mich nicht. Er ist hier.“ „Wer ist hier?“, fragte Yami, während er einige weitere Schritte auf Bakura zumachte.
 

Jetzt erst drehte Bakura sich zu ihm um und wandte ihm seine volle Aufmerksamkeit zu. „Na er, der Junge, der für all das verantwortlich ist. Genau hier ist es passiert.“ „Passiert? Aber was denn?“, fragte Yami verständnislos, „meinst du etwa diesen Jungen auf den Bildern, von dem Limono und Umko uns erzählt haben? Diesen Miko Tomayashi?“ Bakura breitete die Arme aus, ohne Yamis Fragen zu beantworten. „Hier hat er sich das Leben genommen. In der Einsamkeit dieses Waldes. Und hier nehme ich ihn in diesem Augenblick besonders stark wahr, obwohl seine Präsenz auch im Haus fast erdrückend ist.“ „Was soll das, Bakura? Bist du jetzt unter die Esoteriker gegangen? Sag mir nicht, du willst behaupten, du wärst irgend so eine Art Medium“, sagte Seto abschätzig, aber verunsichert und mit nicht ganz fester Stimme. „Blödsinn. Wenn man selbst der Geisterwelt entstammt, so wie wir, braucht man keine übersinnlichen Fähigkeiten, um es wahrzunehmen. Der Pharao kann es genauso spüren, wenn er es zulässt. Und ich verwette meinen Milleniumsring darauf, dass du selbst auch nicht gefeit bist vor dieser Fähigkeit.“ Seto warf Yami einen erstaunten Blick zu. Dieser nickte nur sachlich. „Es stimmt. Ich habe es heute früh im Fitnessraum bereits gefühlt.“ Seto sagte nichts, sah sich aber unbehaglich um.
 

Nun erst begann auch Yami, ein waches Auge für seine Umgebung zu entwickeln. Bisher hatte er sein Augenmerk ausschließlich auf Bakura gerichtet. Doch dieser ganze Ort schien von einer Anwesenheit zu glühen. Er pochte wie ein schlagendes Herz. „Aber Bakura“, fuhr er leise fort, „was soll das alles bewirken? Was genau willst du jetzt tun? Und warum gerade jetzt, mitten in der Nacht?“ „Weil er es so will“, sagte Bakura, „ach, Pharao, denk doch mal nach. Beantworte mir Folgendes: Warum bist DU hier? Warum bist du heute Nacht überhaupt aufgewacht, anstatt friedlich in deinem Bettchen zu schlummern? Sicher nicht nur, um mich zu suchen. Nein, du hast aus demselben Grund deinen Weg hierhergefunden wie ich. Er hat uns gerufen. Und ich beabsichtige, diese Sache hier heute beizulegen, egal wie.“ Ein ungutes Gefühl kroch als Gänsehaut über Yamis Rücken. Mit jedem von Bakuras Worten waren seine Sinne mehr und mehr geschärft. Jede Müdigkeit war jetzt von ihm gewichen. Mit einem Mal wusste er, dass Bakura Recht hatte. Er war nicht nur seinetwegen hergekommen. Oder vielleicht hatte er auch bereits geahnt, warum Bakura den Weg in den Wald gesucht hatte. Und trotz dieser unbewussten Ahnung hatte er nicht gezögert, Seto ebenfalls in diese Sache mit hineinzuziehen.
 

„Also gut“, sagte er, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, „wie viel weißt du über diesen Miko? Hast du etwas rausgefunden, was wir nicht wissen?“ Bakura lachte hohl auf. „Ich weiß alles, was du auch wissen könntest, wenn du nur deine Augen dafür öffnen würdest.“ Langsam wurde Yami ungeduldig. Er war es satt, dass Bakura lediglich in Rätseln sprach und ihn ein ums andere Mal von oben herab belehrte. Wut wallte in ihm auf, aber die Neugier überwog letztlich und er atmete tief ein und aus. Er gestand es sich nur ungern ein, aber er hatte den starken Verdacht, dass Bakura auch diesmal Recht behalten sollte. Also schloss er seine Augen und ließ den Ort in sein Inneres vordringen, ließ die Kälte durch seine Adern kriechen und den Nebel seine Gedanken einnehmen.
 

Zuerst hörte er eine Stimme, die aus dem Nirgendwo zu kommen schien. Es waren kaum Worte, die er vernahm, und doch wusste er, was sie ihm sagte. „Ihr seid gekommen. Ihr seid hier eingedrungen. Dafür werdet ihr bestraft werden.“ Yami öffnete seine Augen. Noch immer befand er sich auf der Lichtung, aber etwas war anders. Schichten aus Wirklichkeit von Vergangenheit und Gegenwart schienen alles mit ihrem Staub zu bedecken. Er befand sich nicht mehr nur im Hier und Jetzt. Seine Aufmerksamkeit wurde wie ferngesteuert auf einen der Bäume am Rande der Lichtung gezogen. Dort konnte er eine Regung wahrnehmen. Ein schmächtiger Junge stand dort. Ganz ruhig und bestimmt reckte er sich nach oben auf die Zehenspitzen befestigte er einen Strick an einem der höheren Äste. Dann drehte er sich um und blickte mit traurigen Augen direkt in Yamis Richtung und doch durch ihn hindurch in weite Ferne. Mit Augen, die Yami durchdrangen wie Dolche und ihn doch nicht sahen. Er legte sich den Strick um den Hals. Yamis Kehle war wie zugeschnürt, er konnte kaum atmen. Der Junge drehte sein Gesicht wieder weg und endlich löste Yami sich aus seiner Starre und schaffte es, seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen. „Nein!“, entfuhr es ihm und er wandte seinen Blick ab. Es war mehr als er ertragen konnte.
 

Im nächsten Augenblick war es vorbei. Er befand sich wieder in der Gegenwart, spürte etwas Weiches an seinen Handflächen und bemerkte, dass er auf dem Waldboden kniete, die Hände im taufeuchten Moos vergraben. Seto hatte sich neben ihn gekniet. „Alles ok? Was hast du gesehen?“, fragte er aufgewühlt. Yami schüttelte den Kopf, um die Bilder aus seinem Bewusstsein zu vertreiben. „Kein Grund, sich zu grämen“, sagte Bakura ruhig, „es ist lange vorbei. Du hättest es nicht mehr verhindern können.“ Da wusste Yami, dass alles wahr war. „Aber was will er denn jetzt noch von uns?“ Bakura schnaubte. „Es gefällt ihm nicht, dass wir ihn mit unserer Anwesenheit stören. Sie sind sehr territorial, diese verirrten Seelen. Er will uns loswerden. Uns heimsuchen, wie man so schön sagt.“ Und auch dies stimmte.
 

„Ich habe jetzt wirklich genug von diesen Schauergeschichten“, sagte Seto barsch, „Yami, bitte lass uns einfach wieder zurückgehen.“ Der Angesprochene war inzwischen wieder aufgestanden und hatte sich die Hände an seiner Hose abgeklopft. Er blickte Seto an und bemerkte, dass er seine Umrisse kaum ausmachen konnte. Alarmiert sah er nach oben. Der Nachthimmel über ihnen war nun tiefschwarz. Der Mond war verschwunden und der Nebel um sie herum wurde dichter. Yami konnte spüren, wie er an seinen Gliedmaßen heraufkroch und sich nass in seine Kleider setzte. Panik loderte mit einem Mal heiß in ihm auf. „Ich denke, er hat nicht vor, uns wieder gehenzulassen“, sagte Bakura, „aber Mumie, hör zu. Wir haben nach wie vor eine andere Magie, die wir ihm entgegensetzen können. Wir sollten es jetzt zu Ende bringen.“
 

„Nein“, Yami machte zwei weitere Schritte auf Bakura zu, obwohl er ihn kaum lokalisieren konnte. Bis er spüren konnte, dass er nah bei ihm stand. Er konnte seinen Atem hören und streckte seinen Arm nach ihm aus. Zaghaft berührte er mit seiner Bakuras Hand. „Nein, Bakura. Seto hat Recht. Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen. Das hier war ein Fehler. Wir kommen hier nicht weiter. Er hat uns in eine Falle gelockt und jetzt hat er uns genau da, wo er uns haben will.“ „Ihr könnt gern gehen, aber ich bleibe“, sagte Bakura störrisch, zuckte jedoch unter Yamis Berührung leicht zusammen. Kurzentschlossen verstärkte Yami seinen Griff und drückte Bakuras Hand fest in seiner eigenen.
 

Unwillkürlich überwältigte ihn dasselbe Gefühl, das ihn bereits in der letzten Nacht in seinem Traum heimgesucht hatte. Er fühlte sich sicher in Bakuras Gegenwart und die Berührung war vertraut für ihn. Er spürte ein Vertrauen zu ihm, aber auch, dass Bakura umgekehrt auch ihm und seiner Einschätzung vertraute. Er hatte also eine Chance. Noch immer konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob Bakura tatsächlich einmal an seiner Seite gestanden hatte, wie sein Traum es ihm suggeriert hatte. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass es die Wahrheit war. Und in diesem Augenblick wünschte er es sich sehr, wollte daran glauben.
 

„Oh nein, das wirst du nicht. Du wirst mit uns kommen!“, sagte er entschieden und war über seine eigene klare Ansage verwundert. Bakura blieb für einige Sekunden stumm. Er lachte keineswegs über Yamis übergriffiges Kommando, wie dieser es im ersten Augenblick befürchtet hatte. Dann fragte er in ernstem Tonfall: „Und … sagst du mir das als Pharao Atem? Oder ist das nur eine trotzige Reaktion von dieser Kunstfigur, die du dir geschaffen hast?“ Nun war es an Yami zu schweigen. „Erinnerst du dich denn wieder?“, fragte Bakura und die Frage ging Yami ebenso tief unter die Haut wie vor über 24 Stunden, als er sie ihm zum ersten Mal gestellt hatte. „An vieles ja. Aber leider nicht …“, brach er schuldbewusst ab und erwähnte den Traum der gestrigen Nacht dabei nicht. „Verstehe“, sagte Bakura tonlos, „dann gibt es für mich auch keinen Grund, dir Folge zu leisten.“ „Doch, den gibt es!“, brauste Yami auf, „ich weiß, dass du meinen Entscheidungen damals vertraut hast, und du tust es auch heute! Ich bin mir ganz sicher, wir können hier im Augenblick nichts ausrichten. Also werden wir jetzt alle zusammen umkehren und in aller Ruhe austüfteln, wie wir in dieser Sache weiter vorgehen!“
 

Bakura drehte sich langsam zu ihm um. Yami konnte in der fast perfekten Finsternis lediglich das Glimmen seiner braunen Augen ausmachen. Noch immer hielt er Bakuras Hand fest als ein Zeichen, dass ihm trotz seiner fehlenden Erinnerung seine Vergangenheit nicht gleichgültig war, dass sein Körper und sein Instinkt bessere Erinnerungen waren als sie sein Verstand produzieren konnte. „Na schön“, knurrte Bakura schließlich, „nimm deinen kleinen Hohepriester an die Hand und lass uns von hier verschwinden!“
 

*
 

„Sollen wir uns aufteilen?“, fragte Limono, als sie ein Stück in den Wald hineingelaufen waren und an einer Gabelung angelangt waren. Umko, der vor ihm lief, warf einen kritischen Blick zurück und zog eine Augenbraue nach oben. „Ist das dein Ernst?“, fragte er gereizt, „erst weckst du mich, damit ich mit dir hier blindlings in den Wald marschiere, und jetzt willst du mich wieder loswerden und doch alleine suchen?“ Limono verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe dich nicht gefragt, damit du als mein Bodyguard mitkommst. Ich kann ganz gut alleine auf mich aufpassen, danke“, fauchte er zurück, „ich hab dich gefragt, weil ich dachte, es könnte …“ „Es könnte was?“, bohrte Umko unbarmherzig nach. „… es könnte Spaß machen“, sagte Limono leiser. „Und, hast du Spaß?“; fragte Umko schnaubend. „Nicht, wenn du dir so viel Mühe gibst, das Gegenteil zu erreichen. Aber vergiss es einfach. Ich sag ja, es war eine dämliche Idee“, knurrte Limono genervt. Er bereute seinen unbedachten Schritt mittlerweile. Hätte er eine Sekunde länger nachgedacht, hätte er sich womöglich diese ganze unangenehme Situation erspart. Was er sich naiverweise erhofft hatte, konnte nicht eintreten. Nie mehr.
 

Ohne noch weiter darüber zu beratschlagen wählten sie den linken Weg. Das Schweigen zwischen ihnen und die Stille der Nacht legte sich auf Limonos Gemüt. Er hasste diese komplizierten Situationen und war nicht für das Ausdiskutieren von Konflikten geschaffen. Lieber beschränkte er sich auf oberflächliche Wortwechsel als zu riskieren, dass in komplizierten Auseinandersetzungen Schweigen aufkam. Aber mit Umko war immer alles anders gewesen, als er es gewohnt war. Er brachte ihn stets an die Grenzen seiner Komfortzone. Umgekehrt war es wohl kaum anders.
 

Irgendwann hielt er es nicht länger aus. Fieberhaft überlegte er, wie er das Eis brechen und dieser peinlichen Stille, in die er sie beide bugsiert hatte, ein Ende machen konnte. Gerade in diesem Moment ergriff jedoch Umko das Wort: „Limono … tut mir leid, dass ich so zickig war, ok? Die Wahrheit ist: Ich habe gemerkt, dass mich das mit uns wohl doch noch mehr belastet, als es mir lieb ist. Hier auf so engem Raum mit dir zu sein ist nicht so einfach für mich.“ Er lief nun auf Limonos Höhe und sah ihn direkt an. Limono hätte gerne den Blick gesenkt, aber er war zu überrumpelt. Wie so viele Male zuvor hatte ihn Umkos schamlose Ehrlichkeit kalt erwischt. Er scheute sich nie davor, seine eigenen Schwächen zuzugeben und fand damit immer einen Zugang zu Limonos Innerem.
 

Der Grünhaarige seufzte müde. „Nein, mir tut's leid. Ich hätte besser drüber nachdenken sollen, bevor ich mit so einer sinnlosen Idee um die Ecke komme. Ich muss zugeben, auch ich hab irgendwie vergessen, dass ich nicht einfach Zeit mit dir verbringen kann, wann immer ich es will, nachdem ich mich entschieden hab, die Sache zwischen uns zu beenden. Das war nicht fair. Wenn es dir recht ist, gehen wir einfach wieder zurück und vergessen das Ganze hier.“ „Nein“, entschied Umko, „wir sind zu weit gekommen und mich interessiert jetzt auch brennend, wohin die beiden Vögelchen ausgeflogen sind.“ Limono grinste. „Also schön … dann lass uns …“
 

Mit einem Mal stockte er mitten im Satz. Er sah sich um und auch Umko ließ seinen Blick um sich schweifen. „Siehst du das auch?“, fragte dieser trocken. „Ich seh' gar nichts“, gab Limono zurück. „Eben!“ Um sie herum hatte sich während ihrer Unterhaltung eine dichte Nebelwand gebildet. Nebel waberte als Suppe in der Luft und setzte sich eiskalt auf ihre Haut. Limono konnte seine Hand vor Augen kaum erkennen, geschweige denn den Weg vor ihren Füßen. Ohne es zugeben zu wollen war er mehr als beunruhigt. „Denkst du … das ist ein natürliches Phänomen?“, sprach Umko aus, was sie beide dachten. Limono antwortete nicht darauf. „In jedem Fall macht es keinen Sinn, weiterzugehen. Wir sollten hier warten, bis wir wieder was sehen können.“ Er ließ sich auf einen Baumstamm am Wegrand sinken, den er gerade noch so ausmachen konnte. Umko tat es ihm gleich. „Also … da wir jetzt hier festsitzen … wie läuft es so bei dir? Was macht die Arbeit?“, fragte Limono mit einem schwachen Lächeln.
 

*
 

So schweigsam wie sie zuvor gewesen waren, so gesprächig waren Limono und Umko hier im Nebel. Beinahe hatten sie vergessen, warum sie eigentlich mitten in der Nacht im Wald gestrandet waren. Da Limono selten um Worte verlegen war, waren sie bald in ein gedämpftes Gespräch über dies und das vertieft. Umko erzählte Limono von seinem Job und seinen Arbeitskollegen, die Limono noch aus früheren Anekdoten kannte. Limono sprach zum ersten Mal über die Zeit nach ihrer Trennung und darüber, wie er monatelang alleine unterwegs gewesen war. Die Offenheit seines Ex-Mannes veranlasste Umko, sich über seine Beziehung mit Ren und deren Ende zu öffnen. Limono verurteilte ihn nicht, sondern hörte ihm aufmerksam zu. Am Ende erfuhr Umko schließlich die Wahrheit über Limonos Freundschaft zu Seto Kaiba. Hier im Herzen dieses surrealen Wetterphänomens und im Schatten der Bäume und der Nacht, der alles unwirklich scheinen ließ, konnten sie fast völlig vergessen, welche Altlasten und Konflikte zwischen ihnen lagen.
 

Es mochte gut und gerne eine halbe Stunde vergangen sein, seit sie ihre Wanderung unterbrochen hatten. In ihre Unterhaltung vertieft bemerkten sie anfangs auch nicht, wie die Temperatur weiter und weiter sank. Erst als Limonos Finger weiß waren und Umko vor Kälte fröstelte, sahen sie sich alarmiert an. Für einige Sekunden verstummten sie. Es war gespenstisch. Kein Laut, vom Knacken des Geästs bis zu Geräuschen nachtaktiver Tiere, war zu vernehmen. Sie befanden sich in Mitten des Waldes und schienen doch nicht wirklich dort zu sein. „Was denkst du?“, fragte Limono seinen Ex-Mann. „Ich denke … dass heute schon einige seltsame Dinge passiert sind. Und ich frage mich, warum ich dabei immer an diesen Jungen in den Akten denken muss.“ Limono nickte und wusste nicht, ob Umko es sehen konnte. Er hatte nun Gewissheit, dass dieser Verdacht nicht nur in seinem Kopf herumspukte. „Denkst du … er nimmt es uns übel, dass wir in seinem Leben herumgeschnüffelt haben?“, fragte er und hätte sich selbst gerne ausgelacht für diesen Gedanken, den er in allen anderen Umständen als absurd abgetan hätte.
 

Erneut kam es ihnen so vor, als wäre die Temperatur abrupt um ein oder zwei Grad abgesackt. „Wenn es noch kälter wird, dann wird es für uns hier echt gefährlich“, überlegte Umko, „wenn sich in der nächsten halben Stunde nichts tut, sollten wir versuchen, den Weg trotz Nebel zurückzufinden.“ Limono stimmte zu. Als ein kalter Lufthauch ihn erneut erschaudern ließ, kauerte er sich zusammen, um dem Wind so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Er tastete nach Umkos Hand. Sie zitterte leicht und seine Finger waren kalt wie Eiszapfen. „Umko … bitte sag es ehrlich, wenn es für dich nicht mehr geht. Ich hab dir diesen Mist eingebrockt, ich bringe dich auch wieder zurück“, versprach er entschieden. „Ach … komm einfach her“, sagte Umko ohne Umschweife. Er zog Limono näher zu sich heran und legte einen Arm um dessen Schultern. Limono schlang seine Arme um Umkos Taille und legte seinen Kopf in dessen Halsbeuge. Umkos freie Hand nahm er in seine. So saßen sie ganz still da und warteten auf die wundersame Erlösung aus ihrer vertrackten Situation. Und die Kälte wurde ein wenig erträglicher.
 

*
 

Der Wald und der Nebel um sie herum schien alle Zeit von ihren Schultern zu nehmen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – welche Bedeutung hatte das alles noch? Die Gesetze der Chronologie waren ausgehebelt. Alles schien eins, alles schien nichtig. Und was sie erlebt hatten war zugleich zugegen und doch nebensächlich. Und obwohl unbeabsichtigt, war es doch ein Geschenk von demjenigen, der all das hier verursacht hatte. Dieser wirre Nexus aus Vergangenheit und Gegenwart sollte die Weichen für die Zukunft so vieler derjenigen stellen, die in seinen Sog geraten waren …

Schnee


 

XI: Schnee

You think you're better, you're better than me

You blow me off as history

To avoid conversation, you're ignoring me

When you've had enough and you need somebody to know

Well, you're looking tough but you need a way to let it go

Come on now, what's a boy s'posed to do

When I can't seem to leave you alone

Touching me, touching you

I wanna be your brother, wanna be your father too

Never make you run for cover even if they want us to

I wanna be your sister, wanna be your mother too

I wanna be, wanna be whatever else that touches you

Whatever else that touches you.

(Mika)

Tristan Taylor im Interview
 

Hi Leute! Ja, wo fange ich an? Also, echt cool von euch, dass ihr mich für ein Interview angefragt habt, obwohl ich nicht an der Show teilnehme. In der letzten Zeit wurde ich ab und an mal angesprochen von den Medien, was ich mittlerweile so mache und so, weil ich ja früher oft mit Joey, Tea und Yugi, Ryou und dem Pharao abgehangen hab. Außerdem kam häufiger auch die Bitte, ich solle doch mal ein bisschen was über die fünf erzählen, aus dem Nähkästchen plaudern und so weiter. Das mache ich natürlich nicht (lacht). Alles, was sie von sich preisgeben wollen, werden sie euch schon selbst verraten.
 

Ja, was kann ich über mich erzählen? Ich bin immer noch mit den fünfen befreundet, auch wenn ich zugeben muss, dass wir nicht mehr so viel Kontakt haben wie früher. Woran das liegt? Also … in erster Linie wohl ein bisschen an meiner eigenen Nachlässigkeit und Naivität. Also, das war so: Ich hab nach dem Abschluss ein Mädchen kennengelernt, die nicht unbedingt … einen guten Einfluss auf mich hatte. Aber das hab ich in dem Moment nicht kapiert. Ich bin dann wegen ihr weggezogen. Joey hat mich oft angerufen. Er ist so ein Typ … einfach ein richtiger Kumpel, dem Freundschaften wichtig sind und der immer dran denkt, sich zu melden. Anders als ich.
 

Er hat mir immer gesagt „Das Mädchen is nich gut für dich. Sie nutzt dich aus. Sie kontrolliert dich“. Aber wie es halt so ist, wenn man verknallt ist: Ich wollte es nicht hören und hab ihm stattdessen gesagt, dass Mai ja auch nicht unbedingt die pflegeleichteste Partnerin und keine Miss Sunshine ist und dass er sich um seinen eigenen Kram kümmern soll. Yugi hat auch manchmal versucht, das Thema anzusprechen, aber wir kennen ja alle unseren Yugi: Er will niemandes Gefühle verletzen und war nicht so direkt wie der gute Joey.
 

Naja, irgendwann hab ich dann auch gemerkt, dass die Frau mich ausnimmt. Danach war ich natürlich erst mal down. Aber dann ist was echt Witziges passiert. Unsere alte Schulfreundin Miho hat mit mir Kontakt aufgenommen. Sie war in der Oberschule weggezogen. Tja, was soll ich sagen: Jetzt sind wir verlobt. Ich bin echt happy. Wir heiraten im Sommer!
 

Hach, ihr wollt sicher wissen, ob ich noch weiterhin Serenity nachgestellt hab. Naja, also in Serenity war ich schon echt verschossen, aber das war in der Schule. Das ist ja schon ganz schön lange her und sie ist mittlerweile auch verheiratet und hat eine ganz süße Tochter.
 

Wen ich tatsächlich öfter mal sehe ist Duke. Und zwar durch meine Arbeit. Ich arbeite für eine Firma, die Spielautomaten verleiht. Die müssen regelmäßig gewartet werden. Und da Duke in seinen mittlerweile insgesamt 10 Spieleläden und Spielhallen viele Automaten von uns hat, bekomme ich den alten Gauner öfter zu Gesicht … Ist nur’n Witz, wir haben uns wirklich gern. Wir gönnen uns dann gerne mal noch ein Feierabendbier zusammen.
 

Tja, was soll ich sagen. Mir tuts auch echt leid, dass ich mit Duke mittlerweile mehr unternehme als mit meinem besten Kumpel aus der Schule. Manchmal hab ich ein bisschen Angst, dass unsere Freundschaft ein bisschen oberflächlich war und wir nur zusammen rumgehangen haben, weil wir ähnliche Interessen hatten. Ich mein, ganz ehrlich: Was Joey und Yugi verbindet, ist viel tiefer. Sie reden viel mehr miteinander, als wir es je getan haben. Das war schon immer so. Sie haben so oft ihr letztes Hemd füreinander gegeben. Trotzdem, ich fänd‘s echt schade, wenn sich der Kontakt zu Joey komplett verlieren würde.
 

Joey, Kumpel, Yugi, Tea, Pharao, Ryou ich will euch nur sagen: Ich sitze jeden Abend vor der Glotze und zieh mir eure Show rein! Zwei Mal hat Duke sogar in seinem Laden ein Publik Viewing veranstaltet. Wir feuern euch kräftig an und finden’s total mutig, was ihr euch traut! Bleibt euch treu und weiter so! Wir lieben euch! Ihr seid der Hammer!
 

~*~
 

Die Zeit heilt alle Wunden, so sagte man. Aber sind ihre Gesetze ausgehebelt, fällt man in eine Anarchie, in der alles auf Null gedreht ist, alle Narben, die lange verblasst sind, wieder aufreißen. Umko konnte es nicht glauben, dass er mit Limono nun hier saß, dass sie beide in diesem Augenblick ihre Wurzeln geschlagen hatten. Limono hörte ihm zu und seine Gedanken schienen so biegsam, so manipulierbar, empfänglich für Umkos Worte. Etwas, das er am Ende ihrer Beziehung vergeblich gesucht hatte.
 

~*~
 

Nach dem Nachmittag im Hotelzimmer in Osaka wurden die wertvollen Augenblicke zwischen Limono und Umko von Mal zu Mal seltener. Die kräftezehrenden Auseinandersetzungen gewannen an Raum. Umko spürte, dass Limono auch mit seinen Musiker-Kollegen aneinandergeriet und dass dies ebenfalls an ihm zehrte, aber er ließ ihn immer weniger daran teilhaben, was ihn bewegte, verschloss sich mehr und mehr vor ihm. Er begann, nicht nur seine Band, sondern auch Umko wegzustoßen. Mit jedem Tag wirkte er auf Umko weiter entfernt, wie hinter einer Glaswand. Und unter seine Erschöpfung, der Wut und Enttäuschung mischte sich jetzt Angst. Ein pochendes, pulsierendes Herz aus unterschwelliger Beunruhigung.
 

Wenn Limono spät von der Bandprobe nach Hause kam, war er meist schweigsam und sah abgekämpft aus. Aber Umkos Fragen danach, was ihn plagte, blieben stets unbeantwortet. Umko hatte den Eindruck, Limono steckte zu tief in seinem eigenen Labyrinth, um den Weg zu jemand anderem zu finden. Aber er schien es auch vollkommen aufgegeben zu haben. „Limono … du musst nicht alles mit dir selbst ausmachen. Du kannst mit mir sprechen. Dafür bin ich doch da“, versuchte Umko es erneut, er hatte aufgehört seine etlichen Versuche zu zählen. Er wollte Limono nicht auf die Nerven fallen und ihn noch weiter von sich forttreiben, aber er wollte ihm klar machen, dass er noch immer existierte. „Umko … ich bin einfach müde. Ich hab heute Abend keinen Nerv mehr, über irgendwas zu reden. Es war einfach ein Scheiß-Tag und er wird auch nicht besser, wenn ich ihn nochmal aufkoche. Können wir nicht einfach nur fernsehen?“ Limono lehnte sich an Umkos Seite und starrte auf den Bildschirm, aber Umko spürte, dass sie sich nur scheinbar nahe waren.
 

Dann kam der Abend, als Limono nicht nach Hause kam. Umko wartete vergebens auf ein Lebenszeichen von ihm. Er wälzte sich im Bett hin und her und überlegte, ob die Situation bereits so alarmierend war, dass er jemanden verständigen konnte. Aber ein Gefühl sagte ihm, dass es Limono gutging – zumindest körperlich. Am nächsten Morgen rief Umko seine Handynummer an. „Hey, ich bin im Studio. Es ist jetzt grade echt schlecht. Wir sind mitten in einer Aufnahme. Wir reden heute Abend, ok?“, gab sein Partner nur abwesend zur Antwort.
 

Aber am Abend war es dasselbe Spiel wie zuvor. Umko reichte es nun endgültig. Alles, was sie hatten, floss als Sand durch Umkos Finger und er konnte es nicht festhalten. „Wo warst du?!“, fuhr er Limono harsch an, der gerade seelenruhig seinen Weg in die Küche machen wollte, und versperrte ihm den Weg. „Umko, muss das echt sein? Reg dich mal wieder ab. Ich bin total k.o.“, Limono verdrehte die Augen, so als wäre Umkos Reaktion völlig unangemessen. „Ja, das muss es! Was glaubst du, wie ICH mich fühle! Ich hatte keinen blassen Schimmer, wo du dich rumtreibst. Was ist nur los mit dir?!“ Limono seufzte hörbar und offensichtlich genervt. „Erst die anderen aus der Band, jetzt du auch noch. Muss ich mich immer nur rechtfertigen, selbst zu Hause? Es ist so verdammt anstrengend.“ Umko schnaubte. „Zu Hause? Ist das für dich überhaupt ein Begriff? Du kommst abends nicht heim und wenn du da bist, bist du es auch nicht wirklich – ich will jetzt endlich wissen, was hier gespielt wird. Wo bist du gestern Nacht gewesen?“ „Es wurde spät und wir haben noch was getrunken. Ich bin eingeschlafen, ok?“, giftete Limono zurück, als wäre es müßig, überhaupt darüber zu sprechen. „Und wo? Etwa bei Riku?“, hakte Umko unnachgiebig nach. Er wollte endlich, dass Limono aussprach, was ohnehin schon unausgesprochen zwischen ihnen lag. „Oh mein Gott, hörst du dich eigentlich selbst reden? Wie kann man so eifersüchtig sein. Du bist ja paranoid.“ „Und habe ich denn nicht Recht?“, fauchte Umko, der sich sonst immer bemühte, einen ruhigen Ton an den Tag zu legen. Limono sah ihn an. „Ja, ok? Ja, du hast Recht. Bist du zufrieden? Ist es das, was du hören wolltest?“, sagte er dann ganz ruhig.
 

Umko sah ihn an, ungläubig. „Nein, das wollte ich ganz und gar nicht hören“, sagte er tonlos. „Oh doch, das wolltest du. Du wolltest das hören und sehen, was du ohnehin schon geglaubt hast.“ „Was soll ich denn sehen, wenn nicht das Offensichtliche?“, fragte Umko, resigniert. Wie schaffte es Limono, aus seinem eigenen Fehltritt plötzlich einen Vorwurf an IHN zu machen? Limono stand direkt vor ihm. Er hörte seinen Atem, er sah seine flatternden Augenlider, roch seinen vertrauten Duft. Sie waren noch nie so weit voneinander entfernt gewesen. Sein Ehemann kam ihm vor wie ein Abziehbild von der Person, mit der er hatte sein Leben verbringen wollen. „Ist nicht wichtig. Schon gut“, sagte Limono nun sehr leise. Langsam setzte er sich in Bewegung und drückte sich an Umko vorbei.
 

So oft hatte Umko sich hinterher gefragt, ob er etwas übersehen hatte. Ob es einen einfachen, einen direkten Weg in Limonos Gedanken hinein gegeben hätte. Hin zu der Crux, zu dem, was ihm von innen zu zerfressen schien. Vielleicht hätte er gerade jetzt kämpfen müssen. Vielleicht hätte Limono in diesem Moment seinen Beistand mehr gebraucht als je zuvor. Aber er konnte einfach nicht mehr weiter. Seine müden Beine schmerzten, seine Stimme versagte, seine Lungen brannten. Er hatte alles von sich gegeben, jeden Funken seiner Energie. Er hatte den Eindruck, es war nichts mehr von ihm in ihm drin übriggeblieben. Kein Stückchen Umko. Kein Wort, kein Gefühl und kein Traum. Da war nur Limono in seinem Kopf. Er konnte nicht noch mehr davon ertragen. Als sein Partner ihm drei Tage später sagte, dass er fortgehen würde, saß Umko allein auf einem riesigen Scherbenhaufen. Zuerst war er wie benommen. Er konnte nicht glauben, dass er Limono nicht mehr um sich haben konnte, dass es nie wieder einen dieser Höhenflüge geben würde, die ihn alles vergessen ließen. Dann irgendwann kam die Wut. Eine unbändige Wut darauf, dass Limono ihn aufgegabelt und in dieser wilden Fahrt mitgeschleift hatte, nur um ihn dann irgendwo auf dem Asphalt liegenzulassen und am Horizont zu verschwinden. Wozu all dieser sinnlose Schmerz? Was hatten sie beide nun davon? Für Limono ging vielleicht alles so weiter wie vor ihrer ersten Begegnung. Aber Umkos Leben war aus den Fugen geraten.
 

*
 

So hatte Umko den Überblick über sein Leben und über die Tage, die vergingen, verloren. Nachdem sein Inneres wundgescheuert und langsam wieder mit Schorf bedeckt worden war, hatte er begonnen, über Limonos Worte nachzudenken, und war zu dem Schluss gekommen, dass er nach ihnen handeln würde, egal, wie sehr ihn der Mensch, der sie ausgesprochen hatte, auch verletzt hatte. Er wollte keine Achterbahnfahrten mehr. Er wollte endlich in ruhigere Gewässer finden. Und vielleicht hatte Limono ihn aus diesem Grund so gnadenlos diesen steilen Wasserfall hinabgestoßen. Dann hatte sich Umko eines Tages vor etwa zweieinhalb Jahren an Ren erinnert. Als er einige Tage lang darüber gebrütet hatte, ob es zu vermessen sei, ihn jetzt plötzlich anzurufen, hatte er es schließlich doch gewagt.
 

„Weißt du, ich habe von deiner Trennung im Internet gelesen. Eigentlich finde ich es ziemlich schäbig von dir, dass du mich jetzt erst anrufst, nachdem es mit deinem Typen nicht mehr läuft. Ich bin nur gekommen, weil ich einfach zu neugierig war, was du zu sagen hast.“ Umko sah auf seine Füße. Er fühlte sich mies. Aber als sie sich nach einem intensiven Gespräch verabschiedet hatten, brach Ren den Kontakt nicht ab. Sie trafen sich wieder. Ren schien keinen wirklichen Groll gegen ihn zu hegen. Alles kam wie von selbst ins Rollen.
 

Mit Ren unternahm Umko völlig andere Dinge als mit Limono. Sie waren so gut wie nie in Clubs, aber fast immer unterwegs. Sie verbrachten viel Zeit draußen in der Natur, gingen spazieren, machten Picknicks oder fuhren mit dem Bus in nahegelegene Städte. Umko saß in der ersten Reihe und sah sich Rens Hockeyspiele an – und entdeckte ein echtes Interesse dafür. Sie schlenderten über Stadtfeste, Vergnügungsparks und Weihnachtsmärkte und kochten mindestens zwei Mal die Woche gemeinsam.
 

Den Jahreswechsel verbrachten sie zusammen auf einer Berghütte, abgeschieden und ruhig. Ganz nach Umkos Geschmack. Nach einem ausgedehnten, selbst zubereiteten Abendessen machten sie draußen einen Spaziergang im Schnee. Alles war ganz still. Umko fühlte sich innerlich ebenmäßig. Zum ersten Mal seit Monaten versperrten ihm keine wirren Gefühle die Sicht auf das Wesentliche. Alles in ihm hatte sich gesetzt und seine Wunden schienen verheilt. Von ihnen war nicht mehr zu spüren als ein leises Pochen. Keiner der beiden sprach viel. Sie öffneten sich innerlich ganz für den fantastischen Anblick, der sich ihnen bot. Unter ihnen sahen sie die vereinzelten Lichter des Dorfes. Über ihnen der Himmel war weit und keine Wolke war zu sehen. Der Schnee glitzerte wie in einer Märchenlandschaft.
 

„Ich bin froh, dass wir hergekommen sind“, sagte Umko und meinte es so. „Ja, es ist wirklich schön“, stimmte ihm Ren eingenommen von alldem zu. Umko sah ihn an, wie er all das so bewusst wahrzunehmen schien. Wie er so in sich ruhte. Umko hatte endlich das Gefühl, stehenbleiben und zufrieden sein zu können mit dem, was er hatte, nicht Tag um Tag irgendwelchen Hirngespinsten zu nachzujagen und nach dem flüchtigen Moment zu greifen, den er befürchtete zu verlieren. Und plötzlich kamen die Worte von ganz allein: „Ren … ich liebe dich.“ Ren wandte sich überrascht zu ihm um. Dann lächelte er und es sah sehr niedlich aus. „Umko, du bist so ein hoffnungsloser Romantiker, dass du mir das hier sagst. Aber … ich denke, ich liebe dich auch.“
 

Als sie am nächsten Tag abreisten, nahm Umko zum ersten Mal bewusst wahr, dass ein neues Jahr begonnen hatte. Er schwor sich, dass es eines sein würde, in dem er nicht zurückblicken würde. Indem er das halten und schätzen würde, was er hatte. Jetzt erst wurde ihm klar, dass er während der letzten beiden Tage nicht auch nur ein einziges Mal an Limono gedacht hatte. Er war nicht, wie sonst an jedem einzelnen Tag in seinem Leben, das ungewollte Gespenst in seinem Kopf, der ungeladene Gast in seinen Gedanken. Er war fort.
 

*
 

Viele Monate folgten, in denen Umko tatsächlich all seine Grübeleien vergessen hatte. Er hatte das Versprechen an sich selbst in diesem Jahr gehalten. Eine gewisse Sorglosigkeit hatte sich eingestellt. Mit Ren lief alles wie automatisiert. Er musste sich nicht den Kopf zerbrechen oder Angst haben und wurde auch nicht in ein Wechselbad der Gefühle geworfen. Alles war gleichmäßig und routiniert, so, wie er es gerne mochte.
 

Im Nachhinein fragte sich Umko, ob es ihm einfach nur gefallen hatte, an ein Ufer ohne böse Überraschungen gezogen zu werden, auf eine Insel, von der er jeden Quadratmeter kannte wie seine Westentasche und die wie ein monotones Wiegenlied war, das ihn all seine Probleme hatte vergessen lassen. Hatte er, indem er die Beziehung zu Ren beendet hatte, dieses in Watte gepackte Dasein wieder gegen das echte, ungeschönte Leben eingetauscht? Oder war er einfach nur auf einer Selbstmordmission und wusste nicht, was gut für ihn war? Hatte er einen Hang dazu, es sich selbst schwerzumachen? Liebte er den Kick, den ihm die Beziehung mit Limono gegeben hatte?
 

Eines Abends lief Umko von der Arbeit nach Hause. Er durchquerte gerade den Park, als ihn eine seltsame Resignation überkam. Ihm graute vor der Rückkehr in seine Wohnung, in den altbekannten Trott plötzlich so sehr, dass er stehenblieb. An diesem Abend ging er nicht geradewegs nach Hause. Er streifte durch die Stadt, um Zeit zu schinden. Wie ferngesteuert trugen ihn seine Füße zu dem Gebäude, vor dem er schließlich Halt gemacht hatte: Vor den Eingangstoren des Black Rainbow. Umko bezahlte und ging hinein, setzte sich an die Bar und bestellte ein Bier. Sein Blick streife die Anwesenden, inspizierte die Tanzfläche. Gegen 10 Uhr, als er dachte, länger könne er sein Zuspätkommen nicht vor Ren rechtfertigen, ging er nach Hause. Er wusste nicht, was oder wen er zu finden gehofft hatte. Oder vielleicht wusste er es auch nur zu genau. Nach diesem Tag war er sich sicher gewesen, dass er sein Leben nicht mit Ren verbringen wollte. Und die Erkenntnis hatte ihm Dinge über ihn selbst gelehrt, die er lieber nicht erfahren hätte.
 

Ren brach nicht in Tränen aus, als Umko ihm verkündete, dass es zwischen ihnen vorbei war. Er schrie ihn nicht an und wurde nicht ausfallend. Umko hätte sich all diese Dinge gewünscht. Hätte sich gewünscht, dass er ihm an den Kopf warf, was er verdiente. Aber alles, was Ren sich wünschte, war, den Grund zu erfahren. Einen triftigen Grund für all das. Und es war das einzige, das Umko ihm nicht gewähren konnte.
 

„Ich verstehe es nicht, bitte erklär es mir, ja?“ Ren stand vor ihm und sah ihn an mit einer Mischung aus Enttäuschung, Fassungslosigkeit und dem Bedürfnis nach Rechenschaft für sein Handeln und Denken. Umko stand an das Fenstersims gelehnt und sein Mund war trocken. Er wusste, er beging den größten Fehler in seinem bisherigen, wenig zielgerichteten Leben. Aber es gab kein Zurück mehr. Die Worte waren ausgesprochen.
 

„Hast du jemanden kennengelernt? Hab ich irgendwas falsch gemacht?“ Jedes Mal verneinte Umko. „Du hast gesagt, du liebst mich. War das alles nur gespielt? Oder hat sich daran irgendwas geändert?“ Wieder konnte Umko nur verneinen. Ren senkte den Kopf und schüttelte ihn langsam, als versuche er dadurch, die Gedanken in eine Anordnung zu bringen, die Sinn ergab. Dann entrannen abgehackte Laute seiner Kehle. Für einen kurzen Augenblick dachte Umko, dass seine Fassade nun doch bröckelte und die ersehnten Tränen nun doch flossen, aber schließlich hob Ren den Kopf und Umko begriff, dass er lachte.
 

„Ich hätte es wissen müssen“, sagte Ren, der in der Absurdität der Situation nichts anderes zu tun wusste, als ihre Ironie auf sich wirken zu lassen und ihr Ausdruck zu verleihen, „jemand wie du, der auf miese Typen wie Limono abfährt, konnte sich ja nicht auf eine normale, gesunde Beziehung einlassen. Dass ich so DÄMLICH war, das nicht vorherzusehen. Tja, daran bin ich wohl selbst schuld. Oder vielleicht wollte ich es auch nicht sehen.“ Umko konnte ihm nicht widersprechen, ihm nicht sagen, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Er wusste nicht mehr, was wahr war, wer er war und was er wollte. Er wusste nur, dass er sich in der Beziehung mit Ren mittlerweile fühlte wie ein Gefangener.
 

Das alles war nun ein Jahr her. Umko wusste, Ren war aus seinem Leben verschwunden. Ein für alle Mal. Limono hingegen … Limono würde er niemals hinter sich lassen. Ganz egal, wie sehr er es auch versuchte, wie viel Kraft er aufwendete, um aus seiner Reichweite zu gelangen. Er würde stets im Kreis laufen und am selben Punkt angelangen: direkt vor seinen Füßen. So wie heute. So wie in dem alten Arbeitszimmer unter dem erloschenen Kronleuchter. So wie hier in diesem Wald, der nur Platz für sie beide zu lassen schien. Was er Limono gesagt hatte, war gelogen gewesen. Was er sich selbst gesagt hatte war gelogen gewesen, dort oben auf dem Berg umringt von glitzerndem Schnee. Er war nicht aus seinen Gedanken verschwunden. War es nie gewesen. Würde es nie sein. Das war sein Los. Seine Folter. Seine Droge.

Bande


 

XVII: Bande

Hold on

What's the rush, what's the rush?

We're not done, are we?

'Cause I don't need to change this

Atmosphere we've made

If you can stay one more hour

Can you stay one more hour?

Hold on, I will be here

When it's all done, you know

'Cause what's the point in chasing

If I can't enjoy your face and

We can't be wrong tonight?

Can we be wrong tonight?

You know I'm gonna find a way

To let you have your way with me

You know I'm gonna find the time

To catch your hand and make you stay.

(SafetySuit)

Mokuba Kaiba im Interview Part II
 

Hi. Ich bin‘s wieder. Naja, ihr habt noch nicht allzu viel Action von mir gesehen, seit wir hier sind, befürchte ich. Ich weiß auch nicht. Ich bin eigentlich kein langweiliger Typ. Aber … es ist komisch in den letzten Tagen.
 

Am Anfang dachte ich, ich bringe diese Sache hier so schnell es geht hinter mich. Ja, ich geb‘s ganz ehrlich zu: Mir war diese Woche hier ein Dorn im Auge. Eine Woche, in der für mein komplettes Leben die Pausetaste gedrückt wurde. Ich hatte richtig ein wenig Panik. Eine Woche nicht arbeiten, keine Vorlesungen, keine Freizeitaktivitäten. Alles, woran ich denken konnte, war: Ich habe so viel Arbeit auf dem Schreibtisch, ich habe so viele Kurse, die ich nachholen muss, so viele Prüfungen, für die ich lernen muss. Und ich muss auch privat weiterkommen: Ich verpasse diese oder jene Party, ich muss eine Freundin finden. Und so weiter. Ihr wisst schon. Ich bin nur noch so mitgeschwommen und hab mir nie mal die Zeit genommen, meine Prioritäten neu zu setzen. Zu überlegen, was MIR eigentlich davon wichtig ist und was nicht.
 

Aber jetzt, wo ich zwei Tage hier bin, wirkt das alles plötzlich so weit entfernt. Ich hab einen ganz anderen Blickwinkel. Ich hab richtig gemerkt, wie eine riesige Anspannung von mir abfällt. Ich bin so viel ruhiger geworden, es ist unglaublich entschleunigend. Und was mir die ganze Zeit über so unheimlich wichtig und dringend vorkam, erscheint mir jetzt total lächerlich. Ich meine: Was ist schon eine einzige Woche? Wie viele Wochen hab ich hiervor schon sinnlos vergeudet? Warum sollte ich mir dann diese Zeit nicht auch mal nehmen, um mich einfach mit mir zu beschäftigen. Einfach mal abzuschalten. Es fühlt sich grade an, als würde mein Körper und mein Kopf innerlich heilen. Und sich erholen von alldem, was ich mir so zugemutet hab in der letzten Zeit. Gestern war ich sogar richtig erschöpft. Sowas hab ich vorher nie gekannt.
 

Ich verstehe langsam echt, was alle immer mit diesem Hamsterrad meinen, in dem man sich befindet. Und mit Hashtag Achtsamkeit und dem ganzen Scheiß. Und ich bin erst 20. Vielleicht mache ich das mal öfter. Einfach mal rauskommen, wegfahren. Mir fallen jetzt hundert Dinge ein, die ich gerne machen würde und die ich nicht machen konnte, weil ich so auf alles fixiert war, von dem ich dachte, dass es wichtig ist. Wir haben ein ganzes Leben Zeit. Aber manchmal ist dieses ganze Leben schneller vorbei als man denkt, wenn man nicht nach links und nach rechts schaut. Und wenn man nicht ein bisschen auf sich achtet.
 

Also …. Ja. Das habe ich in den letzten Tagen getrieben: Ich habe einfach nachgedacht, abgeschaltet. Sinnloses Zeug gemacht. Tatsächlich sind mir sogar einige neue Ideen für die Firma dabei gekommen. Die muss ich Seto unbedingt mal unterbreiten. Aber das hat Zeit bis nächste Woche. Ich hab eh den Eindruck, mein großer Bruder ist gerade gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt. Ich dachte mir: Vielleicht sollte ich generell mehr mit Seto reden, vielleicht sollten wir mal was zusammen machen. Bowlen gehen, Billard spielen, in ne Kneipe gehen …? Wir hatten nie so ein freundschaftliches Verhältnis, wo man über Sachen redet, ihr wisst schon. Über Freundschaft und Beziehungskram und so. Er war immer mehr wie ein Elternteil für mich. Vielleicht ist es mal an der Zeit, das zu ändern.
 

Also, Leute, ich kann euch nur empfehlen: Nehmt euch Zeit, auch wenn ihr sie nicht habt. Und wenn es nur ein, zwei Tage sind. Denkt mal an euch. Mir hats jedenfalls geholfen.
 

~*~
 

Yami hatte das Gefühl, dass sie gerade noch rechtzeitig die Lichtung hinter sich gelassen hatten. Etwas sehr Dunkles, sehr Hasserfülltes schien sich hinter ihnen aufzubäumen. Offenbar hatte Miko nicht damit gerechnet, dass sie so unvermittelt ihre Meinung ändern und die Flucht ergreifen würden. Das schien seinen Zorn nur weiter zu entfachen. „Jetzt sollten wir wirklich einen Zahn zulegen, wenn wir nicht doch in die Offensive gehen wollen“, rief Bakura ihnen zu, während er besorgt über die Schulter schaute. Yami musste sich konzentrieren, um sich gegen den Schmerz des blassen Jungen abzuschirmen, der zu Bildern in seinem Kopf werden wollte. Er erahnte ihren Weg mehr als er ihn sah, während sie zwischen den Bäumen entlanghechteten. Er lauschte auf Setos und Bakuras Atem neben sich, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückgeblieben waren.
 

Plötzlich stieß er mit seinem Fuß gegen eine Wurzel und für eine Sekunde setzte sein Herz aus. Er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, aber es gelang ihm nicht und er stürzte zu Boden. „Verdammt“, stieß er aus und Panik wallte in ihm auf. Das Adrenalin in seinen Adern veranlasste ihn, sich sofort wieder aufzurappeln, doch bei der ersten Belastung schoss ein heftiger Schmerz wie eine Nadel durch seinen Knöchel und für einen Augenblick tanzten Sterne vor seinen Augen. Er keuchte. „Was ist passiert? Alles in Ordnung?“, Bakura war als Erster bei ihm und packte ihn am Oberarm. „Ich glaube, ich hab‘ mir den Knöchel verstaucht oder so“, sagte Yami. Wut und Scham darüber, dass ausgerechnet ihm das zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt passieren musste, stieg ihm heiß in den Kopf.
 

„Kannst du laufen?“, zögerte Bakura nicht lange. Yami sah ihn an und schüttelte wortlos den Kopf. In Bakuras Gesicht zeichnete sich Sorge ab, aber auch eine Entschlossenheit, die seine Züge hart scheinen ließ. Eine Dunkelheit kroch nun über den moosigen Waldboden und tastete sich von der Lichtung her an sie heran. Sie kroch Yamis Bein hinauf wie giftige Sporen und paralysierte ihn mindestens ebenso sehr wie der Schmerz in seinem Knöchel. Die fast flüssige Schwärze berührte auch Bakura, der neben Yami kniete und sich daraufhin schmerzvoll zusammenkrümmte. „Du! Priester! komm her!“, bellte er angestrengt zu Seto hinüber, „Du stützt ihn. Ich verlass‘ mich auf dich. Überlasst den Rest mir. Na los, beeilt euch.“ „Aber du …“, wollte Yami protestieren. „Ich bin gleich hinter euch, na los jetzt!“, ließ Bakura ihn nicht zu Wort kommen. „Yami, komm schon, wir müssen hier weg“, redete auch Seto auf ihn ein. „Ok, aber du musst versprechen, dass du wieder zu uns zurückkommst“, sagte Yami dringlich an Bakura gewandt. Bakura blickte ihm fest in die Augen. Dann nickte er. „So wie immer. Jetzt mach schon!“
 

Yami stemmte sich an Setos Schulter nach oben. Dann setzten sie ihren Weg fort. Bakura war unmittelbar hinter ihnen. Doch plötzlich blieb er zurück, während Seto Yami weiterzog und dieser die Luft anhielt und die Zähne zusammenbiss. Das alles kam ihm vor wie ein böser Traum, nach dem man erwachte und sich fühlte, als sei man die ganze Nacht in eine Verfolgungsjagd verwickelt gewesen. Obwohl sie sich nicht sicher waren, vor was sie davonliefen, zweifelten sie alle drei nicht daran, dass die Bedrohung erschreckend real war.
 

Aus dem Augenwinkel nahm Yami wahr, wie Bakura nun fast vollständig von der finsteren Präsenz umhüllt war. Er stieß einen Schrei aus und ein gleißendes Licht stach plötzlich durch die Dunkelheit. Als Bakura wenige Minuten später wieder zu ihnen aufschloss, war die dunkle Masse ein wenig zurückgewichen und auch in den Nebel um sie herum schien was auch immer Bakura bewirkt hatte ein großes Loch gefressen zu haben. Der Milleniumsring um Bakuras Hals, den Yami zuvor gar nicht bemerkt hatte, glomm noch immer schwach. Für die nächsten Minuten lauschte Yami nur auf seinen eigenen Atem und dem der beiden anderen. Er war entsetzlich müde, aber er wusste, er durfte nicht darüber nachdenken, nicht nachlassen. Bakura schien zu wissen, wohin er sie führte.
 

Endlich, Yami kam es so unwirklich vor wie diese wilde Flucht selbst, erschienen die Umrisse der Villa in ihrem Blickfeld. Er war versucht, Erleichterung von sich Besitz ergreifen zu lassen, wäre ihm nicht so bewusst gewesen, dass ihr unsichtbarer Verfolger in diesem scheinbaren Rückzugsort fast ebenso mächtig war wie im Zentrum des Waldes. Erschöpft erreichten sie die Eingangstür und Seto half Yami die Treppe hinauf. Drinnen angekommen schloss Bakura die Tür hinter ihnen und Seto lockerte den Griff um Yamis Taille erst, als dieser die Eingangshalle durchquert und sich auf dem Treppenabsatz zu den oberen Stockwerken niedergelassen hatte.
 

Yami sackte in sich zusammen, aber die Anspannung fiel nicht von ihm ab. Bakura stand noch einige Sekunden da und presste seine Hand gegen die Rückseite der großen, schweren Eichentür. Dann kam er zu ihnen herüber. Er kniete sich neben Yami. Dieser sprach die Frage aus, die ihm momentan mehr als alle anderen auf der Zunge brannte: „Bakura … sind wir hier denn sicher?“ Bakuras Gesicht verdunkelte sich und er wich Yamis Blick aus. „Tja, wenn ich dir das sagen könnte, Pharao. Wenn ich tippen müsste, dann würde ich sagen, für heute Nacht haben wir erst mal nichts mehr zu befürchten, aber wer weiß das schon. Trotzdem: Mach dir keine Sorgen. In jedem Fall werde ich wach bleiben. Du solltest dich ausruhen und wieder auf die Beine kommen.“ Yami wollte protestieren, aber Bakura hob die Hand. „Hey, Langer“, sagte er an Seto gewandt, „sorg dafür, dass er in sein Zimmer kommt und sich schont.“ Seto grummelte ein wenig, aber nickte schließlich. Dann erhob sich Bakura und wollte die Treppe nach oben nehmen, aber Yami hielt ihn im Gehen am Handgelenk fest.
 

Wieder überkam ihn dieses warme Gefühl. Dankbarkeit und Vertrauen. Die Berührung löste eine verschüttete Erinnerung aus, die nur als Emotionen ihren Weg an die Oberfläche fand. Bakura sah ihn an, in seinem Blick lag nun etwas Weiches und fast Neugieriges. „Danke, Bakura. Dass du uns da rausgeholt hast. Du … bist unschlagbar.“ Er hörte sich die Worte sagen und verstand es selbst nicht ganz, aber es fühlte sich richtig an. Bakura sah zu Boden. „Red‘ keinen Blödsinn. Ich hatte gar keine Wahl und ich habe es auch nicht für dich getan, damit wir uns da verstehen!“, sagte er schroff, aber in seinen Worten klang wenig ernstgemeinter Ärger mit. „Trotzdem danke“, sagte Yami sanft. Dann ließ er Bakura los, „und gute Nacht.“
 

*
 

Als er verschwunden war, war es still in der großen Halle. Yami starrte versunken auf das Eingangstor, noch immer in der vagen Erwartung, es könne sich wie von unsichtbarer Hand öffnen. Etwas berührte leicht seine Hand. Die Berührung war überraschend und doch seltsam vertraut und holte Yami wieder ins Hier und Jetzt zurück. „Alles in Ordnung?“, fragte Seto etwas hilflos. „Ja, ich schätze schon. Zumindest soweit das momentan möglich ist“, erwiderte er mit einem schwachen Lächeln, „Und bei dir?“ „Abgesehen davon, dass ich höchstbeunruhigt bin UND außerdem für einen Abend oft genug ‚Hohepriester‘ genannt wurde, ja, ich denke schon“, gab Seto zu. „Tut mir leid, dass ich dich da mitreingezogen hab. Ich hätte es besser wissen sollen. Ich hab nicht nachgedacht“, Yami schlug die Augen nieder. „Ach … vergiss es. Du hattest ja keine bösen Absichten. Es war ehrenhaft von dir, Bakura suchen zu wollen.“
 

Sie sahen sich an. Yami hatte das Gefühl, alles, was in den letzten Tagen und Stunden zwischen ihnen gestanden hatte, war in diesem Moment wie weggewischt. In Setos Blick lag Besorgnis und Unsicherheit, aber auch Sehnsucht und Offenheit. Yami wollte diesen schwachen Moment nicht schamlos ausnutzen, aber er sehnte sich nach Nähe und er spürte, dass Seto ihn nicht zurückweisen würde. Er schaltete seinen Verstand aus und schlang seine Arme um Setos Hals. Für einen Moment fürchtete er, dieser könne ihn abweisen, aber dann legten sich auch Setos Arme um ihn. Erst jetzt spürte Yami, wie ausgekühlt sein ganzer Körper war. Die Wärme der Umarmung jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Seto strich Yami sanft über den Rücken und Yami legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab. So saßen sie einfach so da und waren völlig beieinander, ganz still und unbeweglich. Sie dachten nicht und sprachen nicht und die letzten acht Jahre verschwanden irgendwo zwischen der Nähe und den Berührungen, die sie teilten. Yami vergaß für diesen Augenblick, wer er war und was ihn von Seto fortgetrieben hatte. Dieses Gefühl schien so richtig, so unumstößlich und in Stein gemeißelt. Und vielleicht war es ein jahrtausendealtes Band, das ihn sich so fühlen ließ, und vielleicht nur die Hitze, die aus diesem eisigen Moment oder der übermächtigen Bedrohung heraus geboren war, die ihnen in den Knochen saß. Für sie beide spielte es keine Rolle.
 

Irgendwann hatte Yami aufgehört zu frieren, auch wenn seine Hände noch immer eiskalt waren. Auch ihren dunklen Verfolger hatte er ein wenig vergessen. Er löste sich von Seto. Ihre Gesichter waren sich unendlich nahe. Yami hauchte einen Kuss auf Setos Lippen. Als er in Setos Augen sah, wusste er, er hatte seine Schutzschilde durchbrochen. „Yami … ich hatte heute große Angst um dich“, Setos Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Yami griff nach seiner Hand und umschloss sie mit einer eigenen, „und ich denke, ich könnte es nicht ertragen, wenn du nicht mehr in meinem Leben wärst. Auch wenn wir in den letzten Jahren nicht sonderlich viel Kontakt hatten, war es immer beruhigend, von dir zu hören oder zu lesen. Aber … die letzten Tage haben mir gezeigt, dass es schöner ist, dich hier neben mir zu haben.“ Und während Yami sich noch fragte, warum mit Seto alles so viel einfacher war, obwohl die Voraussetzungen dafür, dass sie sich auf diese begegneten, denkbar kompliziert waren, zog Seto ihn enger an sich und in einen langen Kuss, der so viel Spannung und Erlösung, so viel Verlangen und Sehnsucht, aber auch Neugierde und Zurückhaltung in sich vereinte.
 

Yami war sich vage darüber bewusst, dass Kameras jede Regung von ihnen aufzeichneten und dass Millionen Zuschauer gebannt jede ihrer Handlungen beobachteten, aber die Geschehnisse des Abends ließen all das so unbedeutend erscheinen. Was zählte war hier bei ihnen, nicht weit weg. Und zum ersten Mal seit langer Zeit war es ihnen beiden egal, was in den Köpfen derjenigen vorging, die ihnen zusahen.
 

Als sie sich voneinander lösten, musterte Seto Yami erneut eindringlich. „Hast du starke Schmerzen?“, fragte er und holte Yami wieder in die Realität. Dieser konzentrierte sich auf seinen linken Knöchel. Seit er sich hingesetzt hatte, war das schneidende Stechen zu einem dumpfen Pochen abgeklungen. „Es geht schon. Ich hoffe, ein wenig Schlaf und ein, zwei Tage Schonen wird es wieder richten“, sagte er. Als Seto ihm die Treppe nach oben half, bemerkte Yami erst, wie müde und benommen er war. „Dann bis morgen“, murmelte er nur noch mit einem matten Lächeln in Setos Richtung, bevor er in die Stille seines Zimmers abtauchte und die Wärme seines Bettes begrüßte. Mit einer unruhigen Mischung aus Grauen, Freude, Hoffnung und Gewissensbissen übermannte ihn schließlich der Schlaf.
 

*
 

Ryou saß mit einem Mal kerzengerade in seinem Bett. Sein Blick flog zu dem kleinen Sekretär schräg gegenüber von seinem Bett, auf dem er sein ägyptisches Artefakt, den Milleniumsring, abgelegt hatte. Im Grunde wusste er selbst nicht so genau, warum er den Gegenstand stets mit sich führte. Womöglich war es der Wunsch nach Kontrolle. Solange er nichts weiter war als ein gewöhnliches Schmuckstück, hatte er die Gewissheit, dass er über den Dingen stand, dass keine fremde Macht ihn beherrschte. In diesem Moment hatte sich dies schlagartig geändert. Denn der Ring glomm bläulich-golden in der Dunkelheit und eine pulsierende Energie schien von ihm auszugehen. Ryou schälte sich aus dem Bett und näherte sich behutsam dem Tisch – doch in diesem Moment löste sich der Milleniumsgegenstand in Luft auf und verschwand. Ryou starrte finster auf die Stelle, wo er noch eben gelegen hatte. Es bestand kein Zweifel, wer hierfür verantwortlich war, und er machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst.
 

Er war nun hellwach und wusste, er würde so schnell nicht wieder friedlich einschlafen können. Eine Weile lang saß er auf einem großen Ohrensessel, der in seinem Zimmer stand, und grübelte nach. Doch plötzlich hörte er vom Erdgeschoss her ein dumpfes Knallen und Boden und Wände erzitterten leicht. Jemand musste die Eingangstür geschlossen haben.
 

Ryou konnte sich nicht recht entscheiden, ob er müde oder aufgekratzt war. Von einer Unruhe gepackt stand er auf. Als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete, erstarrte er – denn er blickte direkt in Bakuras Gesicht. Seine Augen weiteten sich, aber Bakura winkte nur müde ab. „Entspann dich, ich wollte dir nur das hier zurückbringen“, sagte er und hielt Ryou den Milleniumsring hin, der nun wieder wie ein lebloses Artefakt anmutete. „Warum behältst du ihn nicht einfach gleich?“, gab Ryou etwas ruppiger als beabsichtigt zurück, „ich wollte das Ding ohnehin nie haben.“ Bakura lächelte matt. „Er ist zu dir gekommen und du bist sein neuer Träger. Aber wir müssen auch keine große Sache draus machen. Wenn er dir so lästig ist, dann verwahre ich ihn so lange für dich.“ „So lange bis was?“, fragte Ryou ehrlich neugierig. „So lange wie ich noch hier bin“, sagte Bakura leise. „Und wie lange wird das sein?“ „Das … kommt darauf an, was es hier noch für mich zu tun gibt, schätze ich“, Bakura zuckte mit den Schultern. Ryou musterte ihn skeptisch. Er schien die Antwort darauf selbst nicht recht zu kennen. In diesem Moment erschien der Geist des Ringes Ryou sehr verloren und müde, erschöpft.
 

„Aber WARUM bist du eigentlich noch hier?“, fragte Ryou sachlich. Er musste es jetzt einfach wissen. Musste sich Klarheit darüber verschaffen, welche Rolle der Geist für ihn selbst in der Zukunft vorgesehen hatte, auf was er sich gefasst machen musste. Bakura seufzte. Dann grinste er Ryou hämisch an. „Du fragst einem ja Löcher in den Bauch, Engelsgesicht. Du brauchst dir nicht den Kopf über Dinge zu zerbrechen, von denen du nichts verstehst. Ich kann dir nur eins sagen: Ich halte dich aus allem raus, du hast nichts zu befürchten. Ich denke, ich hab deine Lebenszeit schon genug strapaziert.“ „Warum hast du mich dann überhaupt aufgesucht?“, fragte Ryou, während er seine Unterarme auf der Brüstung des Treppengeländers abstützte und sich darüber lehnte.
 

Er sog die Atmosphäre des alten Gebäudes ein und ließ dessen das kaleidoskopartige Farbenspiel, die Farben der gemusterten Teppiche, Bilder und Wandbehänge auf sich wirken. Es zog ihn hinein in seine psychedelische Faszination jenseits von Zeit. Auf der untersten Stufe saßen Seto Kaiba und Yami und schienen offenbar in einem zweisamen Moment erstarrt. Sie fügten sich erstaunlich gut in das Standbild ein, das sich Ryou bot, und doch wirkten sie wie Fremdkörper im inneren dieses atmenden Stückes Architektur. Plötzlich nahm er wahr, wie Bakura es ihm gleichtat und neben ihm an der Brüstung auftauchte. Nachdenklich blickte auch er auf die beiden Gestalten unter ihnen, die sich kaum bewegten und nur leise miteinander zu sprechen schienen, und eine Regung trat in die Augen des Ringgeistes, die Ryou nicht deuten konnte.
 

„Ich war neugierig. Ich wollte sehen, was du nach allem, was passiert ist, so treibst.“ Er machte eine lange Pause und Ryou war sich nicht sicher, ob und was er ihm antworten sollte, ob er ihm glauben konnte. Während er noch nach Worten rang, fuhr Bakura jedoch fort, „und ich schätze, ich sollte mich … naja … entschuldigen. Für die Unannehmlichkeiten.“ Ryou konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Die ‚Unannehmlichkeiten?‘“, fragte er amüsiert. „Ja, du weißt schon“, sagte Bakura etwas ungeduldig und sichtlich angefressen, „dass ich mir deinen Körper ausgeborgt hab und so. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich fühle mich trotzdem besser, wenn ich dir sage, dass das nicht wirklich ich war. Nicht ausschließlich.“ Ryou, der Bakura eben noch eingehend gemustert hatte wie ein abstraktes Gemälde, in dessen Formen er keinerlei Sinn erkennen konnte, sah nun wieder nach unten. „Ich muss gestehen, mir fällt es schwer, das zu begreifen“, gab er dann zu. Bakura wirkte anders, das konnte er nicht bestreiten. Die innere Unruhe und die immense, übermenschliche Triebkraft, die Ryou stets in ihm gespürt und die ihn selbst kaum hatte atmen lassen, schien sich verflüchtigt zu haben. Der Geist ruhte mehr in sich, aber schien auch bitterer und zielloser als vor acht Jahren.
 

„Vielleicht ist das auch zu viel verlangt. Du musst es auch nicht auf der Stelle verstehen. Aber es wäre dennoch nicht verkehrt, wenn du mit der Zeit dahinterkommst“, sagte Bakura und fast war es mehr eine Frage oder eine zaghafte Bitte als eine Feststellung. Schließlich stieß Bakura sich von der Brüstung ab und schlenderte ein Stück in Richtung seines Zimmers. „Also; es ist schon früh am Morgen. Du solltest dir noch ein paar Stündchen Schlaf gönnen. Ach ja, und noch was“, Ryou wandte sich um und sah Bakura an. In seinen Blick hatte sich nun etwas Ernstes, Besorgtes gelegt und sein Gesicht verfinsterte sich, „pass auf dich auf. Hier kann hinter jeder Ecke etwas Unvorhergesehenes lauern. Also, sei wachsam, Partner.“ Ryous Gesicht würde nun ebenfalls ernst und er spannte sich ein wenig an. Was sollten nun wieder diese kryptischen Andeutungen, die Bakura nur allzu gut zu beherrschen schien? Er wusste nicht, was er entgegnen sollte, deshalb sagte er lediglich: „Ich denke nicht, dass wir Partner sind.“ Bakura grinste schief. „Wir waren es zumindest – auch wenn es für dich unfreiwillig war.“ „Aber das warst nicht wirklich du und du hast gesagt, deine Geschäfte heute brauchen mich nicht zu kümmern, also …“ Bakura lachte laut auf. „Kleinkariert wie eh und je. Naja, wenn wir all das nicht sind, dann zumindest Partner im Look. Partnerlook, nennt man das denn nicht so?“ Offenbar amüsierte ihn sein eigener Scherz und er lachte rau auf.
 

Als der Geist des Ringes fort war, stand Ryou noch eine Zeit lang da und grübelte, zu aufgewühlt, um wieder einzuschlafen. Sicher hatte Bakura Recht, sie waren Partner gewesen, sie waren sich näher gewesen, als es ihm lieb war. Nun war all das verschwunden. Er wusste nicht mehr, was der Geist des Ringes dachte, fühlte oder nach was es ihm verlangte. Früher hatte er ihm seine Emotionen und Bedürfnisse förmlich aufgezwungen. Sie hatten zusammengewirkt, zusammen funktioniert. Aber hieß das denn, sie waren Partner auf Lebenszeit? Oder war diese Verbindung endgültig Geschichte? Konnte er Bakura einfach linksliegen und seiner Wege ziehen lassen? Und er umgekehrt Ryou? Sein Kopf pochte, als er diesen Gedankenfaden verfolgte. Yami und Seto hatten sich mittlerweile erhoben und waren im Begriff, die Treppe zu erklimmen. Das riss ihn aus seinen Grübeleien und auch Ryou suchte eilends den Weg zurück in sein Zimmer.

Zu Hause


 

XVIII: Zu Hause

Come down off your throne

And leave your body alone

Somebody must change

You are the reason I've been waiting all these years

Somebody holds the key

But I'm near the end

And I just ain't got the time

And I can't find my way home.

(Blind Faith)

Seto Kaiba im Interview Part II
 

Also. Ich will eines mal von vorn herein klarstellen. Ich hoffe, ihr seid euch darüber bewusst, dass ihr eine riesige Klage der Kaiba Corporation am Hals haben werdet, sobald ich hier raus bin. Mit dieser ganzen kranken Nummer habt ihr euch keinen Gefallen getan. Mich interessiert es nicht, welcher Natur die Ereignisse da im Wald waren. Alles, was ich sehe, ist, dass ihr absolut nichts unternommen habt, um uns in irgendeiner Weise da rauszuholen. Und das ist eindeutig vertragswidrig.
 

Was sagt ihr? Es ist auch vertragswidrig, dass wir uns nachts aus dem Haus geschlichen haben? Was spielt das für eine Rolle? Wir wollten einem der anderen Kandidaten Hilfe leisten, etwas, das ihr mutwillig unterlasen habt. Als Yami und Wheeler über eine halbe Stunde im Keller eingesperrt waren, habt ihr genauso eure Hilfe verweigert. Alles, was euch interessiert, ist die Quote nach oben zu treiben und ordentlich Geld zu scheffeln. Ihr widert mich an. Gibt es keine Geschäftsleute mehr, die auf ehrliche Weise an ihr Geld kommen?
 

Und jetzt nehmt ihr euch auch noch die Frechheit heraus, von mir zu verlangen, dass ich euch sage, wie ich mich bei diesem kleinen Ausflug gefühlt habe. Ihr seid einfach nur erbärmlich. Aber gut, ich will meinen lächerlichen Vertrag nicht brechen, also … bringen wir’s hinter uns. Was wollt ihr hören? Dass es ein Weg ins Ungewisse war? Dass ich Angst um Yami hatte? Ja, all diese Dinge treffen zu.
 

Wenn ihr es genau wissen wollt, ich habe mich machtlos gefühlt. Es war frustrierend, nicht mehr ausrichten zu können. Alles Bakura überlassen zu müssen. Ich verabscheue Bakura für seine überhebliche Art und trotzdem war ich gezwungen, ihm nicht nur meine, sondern auch Yamis Sicherheit anzuvertrauen. Und das wurmt mich, ganz gewaltig. Es gibt nur wenige Momente in meinem Leben, wo ich mit nutzlos vorkomme. Und das war einer davon. Bakura und Yami teilen irgendeine gemeinsame Vergangenheit und die beiden verbindet ein so intensives Band … und … ich schätze, ich hatte kurzzeitig Angst, Yami nicht nur an das zu verlieren, was da im Wald gelauert hat.
 

Und dann ist da noch etwas anderes. Ich kann es schlecht in Worte fassen (schnaubt verächtlich). Eigentlich ist es auch vollkommen lächerlich und wahrscheinlich bilde ich es mir nur ein. Aber … es hat mir … Angst gemacht, dass dieses Etwas in Wald mir so nahegekommen ist. Es war, als könnte ich seine Stimme in meinem Kopf hören. Wie ein aufdringliches Flüstern. Und als könnte es alle meine Gedanken lesen und aufsaugen und damit seinen Schabernack treiben. Ja, es gab Momente, wo ich das Gefühl hatte, es … ER spricht mich direkt an, redet auf mich ein.
 

Und was Yami gesehen hat … ich glaube, ich habe Teile davon ebenfalls gesehen. Ich habe versucht mich dagegen zu wehren, weil ich es einfach nicht an mich heranlassen wollte. Aber ich konnte seinen Schmerz fühlen. Und seine verstümmelte Seele sehen. Dieser Junge … sein Name geht mir seitdem durch Mark und Bein. Und das geht mir gegen den Strich. Ich hasse es, dass ich es mir nicht erklären kann. Wenn ich es Yami sagen würde, vielleicht würde er mich dann anders wahrnehmen. Vielleicht könnten wir eine tiefere Verbindung teilen, so wie er sie mit Bakura hat. Aber … es macht mir schlicht und ergreifend Angst.
 

Ich fasse es nicht, dass ich das alles gesagt habe. Diese Interviews sind wohl irgendwie therapeutisch. Und ich halte nichts von so einen Blödsinn. Ich freue mich schon auf den Moment, wo das Urteil über euer Fehlverhalten gesprochen wird und ihr bezahlen müsst. Ich werde in der ersten Reihe sitzen, so viel verspreche ich euch.
 

~*~
 

Als Zorc fort war, fühlte Bakura nichts. Nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, wie es sich wohl anfühlte, wenn etwas, das einen so lange begleitet hatte, nicht mehr da war. Es war das Gegenteil von einem Gefühl. Ja, jegliches Gefühl, das Zorc ihm gegeben hatte, war verschwunden. Jeglicher Antrieb, jeglicher Sinn, jeglicher Wille. Da war kein Gedanke in seinem Kopf, denn sämtliche Gedanken in den letzten Monaten und Jahren waren ihm eingeimpft worden. Waren nicht die seinen gewesen. Seine hölzernen Glieder waren steif und nun, da er sie aus eigenem Antrieb bewegen sollte, liefen sie nicht rund, ächzten und rebellierten. Sogar Ryous vertraute Präsenz, sein vehementes Kratzen an seinen Gedanken, sein starrsinniger Wunsch, die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen, war einfach fort.
 

Es war der erbärmlichste Zustand, in dem er sich je befunden hatte. Man hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen und er trieb apathisch auf einem völlig ruhigen Ozean dahin. Warum also war er überhaupt noch da? Wozu das alles? Warum hatte er nicht einfach auch verschwinden können? Dahin, wo seine Gedanken hin verschwunden waren. Nicht zu denken, aber zu sein – das war die trübsinnigste Form der Existenz. Ich denke, also bin ich. Ich denke nicht – warum bin ich dann noch? Woher sollte er die Kraft nehmen, sich neu zu erfinden? Er war so müde. Er war es so leid. Er hatte doch seinen Zweck erfüllt. Oder etwa nicht?
 

Viele Tage und Wochen verbrachte er so. Er hinterfragte nichts. Er wollte nichts von diesem Leben und von dieser Welt wissen, hatte keine Ansprüche und keine Erwartungen an sie. Zuerst schlief er in leerstehenden Scheunen und manchmal in Kneipen, wenn niemand davon Notiz nahm. Es war Sommer und die angenehm warmen Nächte erinnerten ihn an seine Kindheit. Der Wind, der sanft über ihn hinwegstreifte, bevor er einschlief, fühlte sich nach Heimat an. So oft hatte er abseits der belebten, geschäftigen Hauptstraßen der Hauptstadt in einem leerstehenden Gebäude oder im Freien genächtigt. Er war immer ein Außenseiter gewesen, derjenige, der nicht ganz dazugehörte, der sich nicht einmauern ließ und nirgends hinpasste. Und doch war er nie unglücklich gewesen. Doch hatte es für ihn ein zu Hause gegeben, zu dem er zurückkehren konnte. Es hatte eine Aufgabe gegeben, die ihn ausgefüllt hatte. Jetzt hatte er keine mehr und eine klaffende Leere nagte in seinem Inneren.
 

Nachts, wenn die Welt verstummt war und es unbedeutend wurde, wo er sich befand, dann legten sich diese Erinnerungen auf seine Haut. Umspannen seine Sinne und gaukelten ihm vor, er könne noch immer denken und fühlen. Er kehrte jede Nacht zu ihnen zurück, wie er damals immer wieder in den Palast zurückgekehrt war. Er war für ihn ein Dreh- und Angelpunkt gewesen, der ihn immer wieder erdete, sein Anker.
 

*
 

Er hatte sich an der Dunkelheit der Gassen sattgesehen, an all ihren versteckten Schätzen und dem verruchten Hauch, der ihn dort umwehte. Dort zu wandeln fühlte sich so passend an wie eine zweite Haut. Aber ein kleiner Teil von ihm empfand es doch als unbequem, wollte diese Haut abstreifen, passte nicht vollkommen ins Bild. Und seine Tarnung war nie vollkommen. Aber wenn spät in der Nacht die warmen Lichter der Kerzen im Palast und seine soliden Mauern vor ihm auftauchten, wusste er, wo dieser Teil von ihm hingehörte.
 

Er nahm nie den Vordereingang. Immer schlich er sich unbemerkt ins Innere. Vor Atems Gemach blieb er nachdenklich stehen. Das hier war Atems Welt. Hier schlief er friedlich, hier gehörte er vollkommen hin. Aber er, Bakura, fügte sich auch hier niemals perfekt in die Szenerie ein. Vielleicht war das sein Los: Ein Kind zweier Welten, für immer auf der Suche, nie wirklich angekommen.
 

„Du bist spät“, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich überrascht um. Er hatte sich geirrt: Atem war nicht in seinen Gemächern und er schlief auch nicht. Er war aus seinem Arbeitszimmer getreten und sah ihn mit großen, wachen Augen forschend an. „Ja“, gab Bakura zu, „tut mir leid. Aber du bist ja auch noch auf den Beinen, so mitten in der Nacht.“ Atem seufzte, „Ich hab wohl über diesen neuen Verträgen für die Pächter ein wenig die Zeit vergessen. Bis ich eben Schritte gehört hab.“ „Wir sollten uns einen anderen Rhythmus angewöhnen. Jeder andere träumt um diese Zeit selig vor sich hin“, knurrte Bakura bitter. „Tja, wir sind eben nicht jeder andere“, lächelte Atem ihn aufmunternd an und legte ihm sachte eine Hand auf den Rücken. Vielleicht hatte Bakura sich geirrt. Auch Atem schien nie ganz mit dem Hintergrund zu verblenden. Vielleicht waren sie beide anders. Schon immer gewesen. Und vielleicht war es das, was sie verband. Das einzige, das seinen Puls gleichmäßig schlagen ließ. Das ihm die Idee von etwas wie zu Hause gab.
 

*
 

Atem hatte stets dafür gesorgt, dass Bakura sich weniger einsam gefühlt hatte. Und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob es nicht wieder so sein konnte wie damals. Denn er selbst hatte nicht aufgehört zu existieren. Hieß das denn nicht, dass auch Atem noch irgendwo da draußen war? Ja, wenn er die Augen schloss, dann war er sich dessen ganz sicher. Er konnte Atems Existenz fühlen, da sie es war, die ihn mit Leben erfüllte, die ihn fest an diese Welt band. Er hörte die Frequenz dieser verwandten Seele irgendwo auf dieser wirren Welt. Und wenn er sich darauf konzentrierte, dann konnte er alles andere ausblenden und ihrem Klang, ihrem wunderschönen Klagelied lauschen und wie es mit seinem eigenen harmonierte.
 

Eines Tages dann, als er durch irgendeine belanglose Stadt streifte, sah er ihn plötzlich. Ganz unerwartet. Über einem großen Monitor flimmerte sein unverkennbares Gesicht, wie er eine dämliche Spieleshow moderierte. Bakura starrte lange auf den wundersamen Kasten und fragte sich, ob das da wirklich der Atem war, den er irgendwann einmal besser gekannt hatte als sich selbst. Und falls dies zutraf, ob er sich wohl genauso verloren fühlte wie er selbst? Ob er ebenfalls auf der Suche war, ziellos, blind? Eine ganze Weile lang stand Bakura wie versteinert und besah sich das sinnentleerte Treiben auf dem Monitor. „Du verdammter Idiot“, murmelte er dann und schüttelte den Kopf. Von einem Zeitschriftenstand klaubte er sich eines dieser bunt schillernden Magazine, in denen all die Leute waren, die die Menschen hier wie Götter verehrten, wie Götzen anbeteten und nachahmten. Darin las er alles über Atems – oder bessergesagt „Yamis“ – Karriere und was er so getrieben hatte, seit er offensichtlich in die USA ausgewandert war.
 

Wut überkam ihn darüber, dass Atem so sinnlos seine Zeit vergeudete, anstatt all die wichtigen Dinge nicht aus den Augen zu verlieren, anstatt die bedeutsamen Fragen zu stellen, anstatt nach ihm, Bakura, zu suchen. War es möglich, dass Atem einfach all das abgelegt hatte wie einen verschlissenen Mantel, dass er Bakura nicht mehr brauchte? War da überhaupt der kleinste Gedanke an ihn in seinem hübschen, TV-tauglichen Kopf? Und all die Bilder von goldenem Sand, von kolossalen Steinsäulen, vom roten Samt im Palast, all das verblasste in ihm. Wenn Atem es verleugnete, wenn er all das für sich begraben hatte, dann schien es auch Bakura nicht mehr greifbar. War das alles verrottet und tot? Vergangenheit, die keinerlei Fingerabdrücke mehr in der Gegenwart hinterlassen hatte? Sollte das wirklich der Fall sein, dann gab es für Bakura keinen Grund mehr, weiterhin hier zu verweilen. Oder doch?
 

Ein Hauch von Nostalgie überkam ihn, als er nach so langer Zeit in die Straße einbog, in der sein ehemaliger Wirt gelebt hatte. So oft war er traumwandlerisch diesen Weg von der Schule nach Hause gegangen. Vielleicht gab es doch etwas, woran er anknüpfen konnte. Es gab ein weiteres Leben, das er beeinflusst hatte, in dem er eine Rolle gespielt hatte. Das er manipuliert hatte. Und es hatte sich gut angefühlt, die Kontrolle zu haben. Aber er hatte in all den Jahren auch eine Verbindung zu Ryou aufgebaut. Seine Anwesenheit tolerieren gelernt. So sehr, dass es ihm schwergefallen war, sie nach alldem zu entbehren. Sie war zu einer Gewohnheit geworden und er hatte sich unvollständig gefühlt. Nachdem Yami zu seinem Feind geworden war, war Ryou zu dem Menschen geworden, der ihm am nächsten stand und umgekehrt – auch wenn dies für sie beide unfreiwillig eingetreten war. Vielleicht konnte er dieses vertraute Gefühl zurückholen. Er würde alles tun, um die Leere in seinem Inneren zu betäuben.
 

Er konnte nicht sagen, wie lange er auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden und die verschlossene Tür beobachtet hatte. Im Grunde wusste er nicht, was zu tun war. Und während es um ihn herum dunkelte, verließ ihn jeglicher Wille, zu handeln, und er driftete ab in eine gedankenlose Apathie. Womöglich war das hier auch völlig umsonst. Wahrscheinlich lebte Ryou längst nicht mehr hier. Endlich öffnete sich jedoch die vertraue Haustür und aus dem Schatten der Dunkelheit trat eine vertraute Gestalt. Ryou wirkte älter, aber genauso verschlossen, unsicher, vernarbt wie zuvor. Und als er ihn nun so leibhaftig vor sich hatte, den einzigen Beweis dafür, dass er selbst in dieser Welt existiert hatte, konnte er nicht umhin, sich ihm zu offenbaren.
 

Aber was er sich erhofft hatte, blieb auch diesmal aus. Natürlich. Ryou war die Leinwand gewesen, an der er sich ausgetobt hatte, und er hatte sie mit dunklen Farben gesprenkelt. Ebenso sah es nun in Ryous Seele aus. Sie war voller Angst, voller Fragen. Und voller Wut auf denjenigen, der ihm all das beschert hatte. Wie hatte er glauben können, dass Ryou die Verbindung, die sie geteilt hatten, heute wertschätzen oder zurückwollen könnte? Und doch loderte in Bakura ein großer Ärger darüber auf, dass sein ehemaliger Wirt ihn so barsch abwies. Ja, er hatte ihn gegen seinen Willen für sich beansprucht, aber dennoch waren sie einander nah gewesen. War das denn nichts wert? Und Bakura reagierte mit Hohn. Er wollte Ryou das Fürchten lehren, wollte ihn heimsuchen. Ihm denselben Schmerz fühlen lassen, wie er ihn fühlte, wenn er ihm die Tür seines Lebens vor der Nase zuschlug.
 

Dann zog er sich zurück und leckte seine Wunden. Bis ihm eines Tages wieder eines dieser Magazine in die Hand fiel. Auf der Titelseite waren sie alle zu sehen: Atem – oder zumindest seine leere Hülle –, Ryou, sogar Kaiba, diese fehlgeleitete Reinkarnation von Atems treuem Schoßhündchen. Sie alle waren so eitel, so weit abgetrieben. Wütend knallte er das Magazin in eine öffentliche Mülltonne. Es erfüllte ihn mit Ekel und er wollte diese Stadt am liebsten verlassen. Für immer.
 

Er setzte sich in Bewegung. Doch dann blieb er noch einmal stehen und sah nachdenklich dahin zurück, wo er das Heft hatte liegenlassen. Irgendetwas hielt ihn davon ab, einfach davonzugehen. Nachdenklich starrte er auf Atems Gesicht auf dem Cover. Und dann durchzuckte es ihn plötzlich unvermittelt. Eine eiskalte Klaue hielt seinen Brustkorb fest umklammert. Vor seinem geistigen Auge huschten streiflichtartig Bilder vorbei: ein altes Haus, ein Wald, eine Lichtung, ein bleiches Gesicht, ein stockfinsterer Raum. Er sah Atem, sah Ryou und sogar Kaiba und wie etwas sehr Dunkles sein Netz um sie herum spann. Und er fühlte einen bösen Willen stärker werden. Im nächsten Augenblick war es auch bereits vorbei. Er starrte auf das zerknüllte Magazin hinter dem Gitter des Mülleimers. „Ach, verdammt nochmal“, murmelte er, „es sieht ganz so aus, als bräuchtest du nach all der Zeit nun doch wieder einmal meine Hilfe.“ Vielleicht hatte er sich geirrt. Vielleicht war seine Aufgabe in dieser Zeit noch nicht erfüllt.
 

~*~
 

Als Bakura fort war, fühlte Ryou nichts. Nie zuvor hatte er darüber nachgedacht, wie es sich wohl anfühlte, wenn etwas, das einen so lange begleitet hatte, nicht mehr da war. Es war das Gegenteil von einem Gefühl. Ja, jegliches Gefühl, das Bakura ihm gegeben hatte, war verschwunden. Jeglicher Antrieb, jeglicher Sinn, jeglicher Wille. Da war kein Gedanke in seinem Kopf, denn sämtliche Gedanken in den letzten Monaten und Jahren waren ihm eingeimpft worden. Waren nicht die seinen gewesen. Seine hölzernen Glieder waren steif und nun, da er sie aus eigenem Antrieb bewegen sollte, liefen sie nicht rund, ächzten und rebellierten.
 

Er war vollkommen isoliert gewesen. Hatte eine Mauer um sich herum gezogen aus Angst, dass das, was ihn von innen heraus auffraß, sein Gift nach außen versprühen könne. Aber auch Bakura hatte ihn isoliert, hatte ihn wie ein Vehikel auf seine eigenen Bahnen und fort von jeglicher Sozialisation gelenkt. Als seine Stimme in Ryous Kopf verschwunden war, war es still. Entsetzlich still. Manchmal rechnete Ryou jeden Moment damit, sie zu hören, wie sie ihm einflüsterte, was zu tun sei. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er sich darauf verließ. Und manchmal, wie ihm diese Stützräder fehlten. Er schaffte es alleine nicht, die Mauern einzureißen, die ihn von allen und allem trennten. Er hatte vergessen, wie es ging. Und manchmal vergaß er in diesem kalten Entzug, dass alles, was Bakura getan hatte, ihn nur scheinbar stark gemacht und immer weiter isoliert hatte. Und wenn er ganz deutlich das Misstrauen in den Augen seiner Freunde sah, in Yugis, Joeys, Tristans und Teas Gesichtern, dann traute er sich selbst nicht recht über den Weg. Vielleicht wollten sie glauben, dass der böse Wille in seinem Inneren verschwunden war, so wie er selbst es glauben wollte. Aber den letzten Funken instinktive Skepsis konnten sie nicht verbergen.
 

*
 

Wer war er? Was wollte er? War er Freund oder Feind? War er Ryou oder war der nur Bakuras Hülle, Zorcs Hülle? Wut überkam ihn, weil all das ihn eigentlich nichts anging. Er war nur ein einfacher Junge gewesen. Vielleicht einer, der immer ein wenig einsamer war als alle anderen. Einer, der wegen dem Beruf seines Vaters oft hatte umziehen und sich neu akklimatisieren müssen. Einer, der viel nachdachte und etwas in sich gekehrt war. Aber wenigstens war er JEMAND gewesen. Jemand mit Werten, Emotionen und Plänen.
 

Aber dann änderte sich plötzlich alles. Es war einer dieser Tage nach dem Tod seines Vaters gewesen, an denen er sich besonders einsam gefühlt hatte. Nachdem sie Ägypten verlassen hatten, war er nun seit ein paar Monaten in einer neuen Stadt und in der Schule waren alle sehr nett und offen zu ihm. Aber richtige Freundschaften hatte er dennoch nicht geschlossen. Manchmal bildete er sich ein, dass die anderen hinter vorgehaltener Hand über ihn tuschelten.
 

An diesem Tag spürte er sie zum ersten Mal, diese Wand, die sich zwischen ihm und der Welt um ihn herum auftat. Später hatte er sich immer wieder gefragt, ob sie schon immer dagewesen war oder ob er selbst keine Schuld daran trug, sondern sein unheilvoller Parasit. Wahrscheinlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen. Sein Matheheft lag unbeachtet vor ihm auf seinem Schreibtisch. Er konnte sich nicht dazu durchringen, sich den Gleichungen darin zuzuwenden. Versunken betrachtete er das mystische Artefakt, das sein Vater ihm aus Ägypten mitgebracht hatte. Er hatte es behalten, obwohl es dessen Verhängnis gewesen war. Aber für Ryou war es dennoch ein Erinnerungsstück und er fand es genauso beängstigend wie schön. Hypnotisiert beobachtete er, wie sich die Sonne, die zum Fenster hereinschien, in seiner goldenen Oberfläche brach. Er strich über die feinen Kegel des Gegenstandes, die leicht klirrten. Fast als wären sie mit Leben erfüllt.
 

„Du musst nicht allein sein“, sagte eine Stimme, „du kannst jemand sein. Jemand anders.“ Ryou schüttelte amüsiert den Kopf. Heute war alles höchstseltsam. Er stand vom Schreibtisch auf, um sich ein Glas Wasser aus der Küche zu holen. Doch kaum hatte er sich weggedreht, hörte er hinter seinem Rücken ein helles Klirren und einen dumpfen Schlag. Er fuhr herum um – und der Milleniumsring lag vor ihm auf dem Boden. „Komisch“, murmelte er. Heute schien er irgendwie neben sich zu stehen.
 

Er bückte sich, um den Ring aufzuheben. Plötzlich bemächtigte sich ein sonderbares Gefühl seiner Fingerspitzen und etwas Seidiges, Dunkles kroch durch seine Hände und Gliedmaßen in ihn hinein. So fühlte es sich zumindest an. Etwas füllte ihn mit einem Mal vollkommen aus und eine nie gekannte Ruhe überkam ihn. Er fühlte sich anders, sah alles wie durch eine Wand aus finsteren Nebelschwaden und doch ungewohnt klar. Und er war – sicher, aufgehoben. Weniger verloren. Hätte er sich wehren sollen? Hätte er sich fragen sollen, was mit ihm geschah? Die dunkle Präsenz abstoßen und daran hindern sollen, immer weiter und weiter in seiner Seele Fuß zu fassen? Aber von diesem Moment an war alles so einfach. „Lass mich das Ruder übernehmen. Ich kann dir helfen“, flüsterte ihm die samtene Stimme zu, lullte ihn ein.
 

Manchmal war sie lauter zu hören und manchmal war sie so gut wie verschwunden. Aber Ryou wusste, dass sie niemals fern war. Seine Erinnerungen wurden von diesem Zeitpunkt an verschwommen, verliefen ineinander. Er zog wieder mit seiner Mutter um, lernte Yugi und seine Freunde kennen. Von da an änderte sich etwas. Die dunkle Präsenz in ihm drin war von diesem Moment an nun mehr als entschlossen und legte eine völlig neue Aggressivität an den Tag. Und zum ersten Mal begriff Ryou die Ausmaße ihrer Macht. Er sorgte sich um Yugi und die anderen und es war ihm seit Langem nicht mehr egal, was mit den Menschen in seinem Umfeld geschah. Aber der Geist des Ringes drängte ihn mit Gewalt in die hinterste Ecke seines Verstandes, wo er kauerte und sich vorwarf, dass er zu schwach war. „Ja, das bist du. Du bist schwach“, sagte die Stimme in seinem Kopf, untermalt von einem hämischen Lachen, „aber keine Sorge. Dafür hast du ja mich. Ich kann dir helfen, stark zu sein.“ „Aber ich will deine Hilfe nicht. Ich will stark sein, damit ich dich endlich loswerden kann. Ein für alle Mal. Und damit niemandem, den ich mag, etwas passiert!“ „Du kleiner Narr“, schmunzelte der Geist des Ringes, „das meinst du nicht wirklich so.“
 

Und er hatte Recht. Da waren diese Momente, viele kleine Momente, in denen Ryou durch die Straßen lief, ausgefroren und ziellos. Er saß nachmittags in seinem Zimmer. Allein. Dann lullte er sich in die hypnotische Gesellschaft seines unsichtbaren Begleiters. Dann waren sie eins und alles war leichter. Alles draußen fühlte er nur wie durch eine dicke Membran. Alles hier drin fühlte sich echt an, gehaltvoll. Und sie redeten. Meistens ohne Worte. Kommunizierten mit Gefühlen und Bildern. Irgendwie schlugen ihre Seelen denselben Rhythmus an und von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, verwoben sie sich fester miteinander und das Gespinst, das sie produzierten, wurde robuster und widerstandsfähiger. Bis der Geist zu einem Teil von Ryou geworden war. Er brauchte ihn, genauso wie er sich einredete, dass der Geist auch ihn brauchte, um zu überleben. Die perfekte Symbiose.
 

Aber all das war nicht wahr gewesen. Der Geist hatte ihn benutzt. Schäbig und schamlos. Und im Grunde hatte er es immer gewusst. Hatte auch gewusst, dass er der Verantwortliche für den Tod seines Vaters war. Er hatte nur die Augen davor verschlossen. Der Geist des Ringes hatte sein Ziel nie aus den Augen verloren, hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und war über Leichen gegangen, um es zu erreichen. Ryou war nur sein Werkzeug gewesen, er hatte von ihm gezehrt. Es war keine echte Symbiose gewesen, denn der Geist war und blieb parasitär. Und am Ende hatte er bekommen, was er verdient hatte.
 

Ryous Leben aber war zum Stehen gekommen. Bakura war fort und Ryou war noch hier. Vollkommen alleine. Und die erste Entscheidung, die er ohne die leitende Stimme in seinem Kopf treffen musste, war: Was anfangen mit dem Rest seines Lebens?

Nachbeben


 

XIX: Nachbeben

Time takes a cigarette, puts it in your mouth

You pull on your finger, then another finger, then the cigarette

The wall-to-wall is calling, it lingers, then you forget

Oh, you're a rock 'n' roll suicide

You're too old to lose it, too young to choose it

And the clock waits so patiently on your song

Oh no, love, you're not alone

You're watching yourself, but you're too unfair

You got your head all tangled up, but if I could only make you care

Oh no, love, you're not alone

No matter what or who you've been

No matter when or where you've seen

All the knives seem to lacerate your brain

I've had my share, I'll help you with the pain

Gimme your hands, 'cause you're wonderful.

(David Bowie)

Serenity Wheeler im Interview
 

Hi ihr Lieben. Ohje, ich bin aufgeregt. Ich war noch nie im Fernsehn. Also, ich war überrascht, als ich angefragt wurde, ob ich für diese Show ein Interview geben will. Ich war mir zuerst nicht so ganz sicher, ob ich nicht absagen soll. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe Joey davon abgeraten, bei dieser Show mitzumachen. Man hört ja immer, dass bei sowas nur Z-Promis teilnehmen und sich zum Gespött der ganzen Nation machen. Aber mein Bruder war sich seiner Sache so sicher. Schwesterherz, hat er gesagt, das ist meine Chance, zu zeigen, wer Joey Wheeler wirklich ist. Naja, ich schätze er musste es machen. Er geht immer seinen Weg, egal wie steinig er ist.
 

Also, wollt ihr zuerst was über meinen Bruder hören oder was über mich? Ich schätze mal, ich bin recht uninteressant, da mich ja auch niemand kennt. Also, ich bin Joeys jüngere Schwester und … mein Bruder und ich waren immer ein Herz und eine Seele. Auch nach der Scheidung unserer Eltern. Obwohl es nicht einfach für uns war. Ich bin mit meiner Mutter umgezogen, während Joey bei unserem Vater geblieben ist. Im Nachhinein denke ich: Wäre er doch nur mit uns gekommen.
 

Hach, ich sage es ganz ehrlich: Ich mache mir einfach Vorwürfe, weil es Joey zwischenzeitlich nicht besonders gutging. Und ich nicht so für ihn dar war, wie ich es als seine Schwester hätte sein sollen. Und wie ich es auch sein wollte. Die Sache war einfach die … ich wusste lange gar nicht, wie es um Joey steht. Er selbst hat mir nichts erzählt. Ich wusste, dass er mit Mai total glücklich war – Mai mochte ich immer richtig gern und deshalb hat es mich auch total gefreut, als ich gehört habe, dass die beiden zueinandergefunden haben. Am Telefon hat er nie durchblicken lassen, dass er Probleme hat.
 

Ich wohnte ja in Korea. Ja, genau. Also, leider nicht gerade um die Ecke. Mein Mann ist Koreaner und hat den Familienbetrieb übernommen – da bin ich dann mit ihm gegangen. Und dann war es auch so, dass in die Zeit noch die Geburt unserer Tochter gefallen ist … also, das waren alles Dinge, die mich irgendwie ziemlich auf Trab gehalten und meine volle Aufmerksamkeit gefordert haben. Was natürlich keine Entschuldigung sein soll.
 

Als ich dann auf einmal von Yugi erfahren hab, was wirklich los ist, bin ich aus allen Wolken gefallen. Ich hab erst mal den nächsten Flieger nach Japan genommen und bin dort ein paar Wochen geblieben. Meiner Mutter hab ich gar nicht viel gesagt, sie hätte sich nur unnötige Gedanken gemacht. Umso froher bin ich jetzt, dass Joey sich wieder so gut gefangen hat und dabei auch dauerhaft so gute Unterstützung hatte.
 

Als ich gesehen habe, dass Joey in guten Händen war, konnte ich dann auch beruhigter wieder abreisen. Ich konnte ja auch nicht ewig wegbleiben. Ich habe mittlerweile ein kleines Geschäft. Ich verkaufe Bio-Kosmetika und Zutaten für die Herstellung von eigenen Zero-Waste-Artikeln. Ja, das ist etwas, was mit am Herzen liegt und natürlich auch den Geist der Zeit trifft.
 

Gerade wegen all dieser Ereignisse in den letzten Monaten denke ich auch, dass es für meinen Bruder wichtig ist, in dieser Show mitzumachen. Er möchte einfach zeigen, was in ihm steckt und sich selbst und allen beweisen, dass er diesen Teil seines Lebens hinter sich gelassen hat. Vielleicht hofft er auch ein bisschen darauf, dass Mai das sieht und weiß, dass er es geschafft hat. Dass auch sie vielleicht nochmal anders über ihn denkt und sich wieder bei ihm meldet.
 

(Kichert) Achso, ihr wollt sicher auch noch was über mein Verhältnis zu Tristan und Duke hören: Naja, wir haben nicht mehr viel Kontakt, aber sehen uns immer mal wieder sporadisch, wenn ich Joey besuche. Und jetzt verrate ich euch ein Geheimnis: Die beiden waren ja echt süß, wie sie sich immer um mich gestritten haben, aber ganz ehrlich: Keiner der beiden war je wirklich mein Typ (zwinkert).
 

~*~
 

Limonos Sinne waren träge und seine Glieder fühlten sich schwer an. Er musste weggedöst sein. Als ihm dies klar wurde, schreckte er hellwach auf. Noch immer war seine Haut eiskalt, er versuchte, sich zu regen. Seine Finger schmerzten vor Kälte. „Umko, wach auf“, alarmiert rüttelte er an Umkos Schulter, auf die dessen Kopf gesunken war. Auch Umko richtete sich nun auf und rückte verwirrt seine Brille zurecht.
 

„Sieh mal, da oben!“, lenkte Limono seine Aufmerksamkeit auf etwas, das er an Nachthimmel entdeckt hatte. Eine dichte Wolkendecke war aufgerissen und sie konnten förmlich beobachten, wie sich der Nebel über ihnen lichtete, wie er langsam den Wald entpackte wie ein großes Geschenk und hinter den Baumwipfeln davonkroch. Auch die Kälte schien nachgelassen zu haben, obwohl Limono sich da nicht so sicher war, denn sie schien noch immer tief in seinen Knochen zu stecken. Sein Körper war ausgefroren und konnte keine Wärme mehr produzieren. Während sie noch immer das Schauspiel am Himmel beobachteten, überkam sie plötzlich etwas. Ein letzter eiskalter Schauer schien sie von vorn zu treffen und über die hinwegzurauschen. Limono bildete sich ein, über ihnen einen Schatten zu sehen, der den fast vollen Mond für einige Sekunden verdunkelte. So schnell, wie er gekommen war, war er jedoch wieder verschwunden – und sie waren allein.
 

Limono hätte es plötzlich klarer nicht sein können, dass das, was auch immer sie in diesem Nebel gefangen gehalten hatte, fort war. Oder zumindest seine Aufmerksamkeit nun anderen Dingen zugewandt hatte. Der düstere Zauber und der Staub der Vergangenheit schien von den Baumkronen zu rieseln und der Wald war wieder nur ein gewöhnlicher Wald. Er stand auf und bewegte seine steifen Glieder. „Komm schon, lass uns schnellstmöglich hier verschwinden“, forderte er Umko auf.
 

Schweigend und frierend liefen sie schnellen Schrittes der Villa entgegen. An die ursprünglich geplante Verfolgung verschwendete keiner mehr einen Gedanken. Sie waren schwach und fühlten sich wie ausgesaugt. Als sie den Waldrand erreichten, parkte gerade ein Produktions-Truck vor der Villa und zwei Mitglieder der Produktionscrew stießen die Türen auf uns stiegen aus. Ein weiterer Truck stand bereits am Waldrand und das Logo, das auf dessen Seitentür prangte, kam Limono seltsam bekannt vor. Aber er hatte keine Kraft und keine Muse, darüber nachzudenken, wo er es schon einmal gesehen hatte, und dieser Truck schien leer zu sein.
 

„Seid ihr in Ordnung?“, wollten die beiden Produktions-Männer von Limono und Umko wissen. „Halbwegs“, gab Limono achselzuckend zurück. Sie wurden ins Haus geführt und mussten sich einem medizinischen Check-Up unterziehen, doch außer einem heißen Bad und Schlaf fehlte ihnen nichts. „Aber wir sind die nicht einzigen von den Kandidaten, die in den Wald gegangen sind!“, erklärte Umko dem Team ernst. „Wissen wir. Aber keine Panik. Diese drei sind bereits wieder in ihren Zimmern und werden morgen durchgecheckt.“ „Drei?“, Limono und Umko warfen einander fragende Blicke zu. Dann rückte das Team wieder ab, nicht ohne sie zu verwarnen, dass sie so etwas nicht noch einmal tun sollten und dass dies ein Nachspiel für alle haben werde. Limono und Umko war es in diesem Moment herzlich egal.
 

Stille umfing sie erneut und sie standen nun wieder alleine im Korridor des ersten Stocks, wie sie es vor ihrem abenteuerlichen Ausflug getan hatten. Limono lächelte matt. „Ich bin froh, dass es gut ausgegangen ist“, sagte er, etwas um Worte verlegen, „ich hätte diesen Blödsinn nicht vorschlagen sollen.“ „Ist schon gut“, sagte Umko beschwichtigend, „eigentlich bin ich ganz froh, dass es so gekommen ist. Abgesehen von dem seltsamen Spuk in diesem verdammten Wald war es doch ganz nett.“ „Ja, das war es. Aber … ich denke, wir sollten das Ganze vergessen“, sagte Limono nachdrücklich, „wir haben gefroren und es war eine Ausnahmesituation. Klar, dass da unsere Gefühle mit uns durchgegangen sind. Aber trotzdem führt uns das nach wie vor nirgendwohin. Das wissen wir beide. Also … lassen wir‘s einfach gut sein und sprechen nicht mehr davon, ok?“
 

Vielleicht würde morgen alles sein wie zuvor. Vielleicht war diese Nacht zu surreal gewesen, um sie für bare Münze zu nehmen, um sie in die Wirklichkeit einzuflechten. Vielleicht würden sie nie wieder von alldem hier sprechen. Er drehte sich um und ging in Richtung seines Zimmers davon. Er war plötzlich so erschöpft und eine ungewohnte Traurigkeit überkam ihn heftig. „Limono …“, sagte Umkos Stimme hinter ihm. Sie klang ungewöhnlich klar und fest. Limono drehte langsam den Kopf und sah ihn an. Umko stand da, die Türklinke seiner offenen Zimmertür in der Hand, „ich will das nicht“, sagte er, „ich will nicht immer vergessen. Nicht schon wieder. Wenn das wirklich ist, was du willst, dann bitte … lass mich einfach zufrieden und halte dich aus meinem Leben raus. Aber falls da ein Teil von dir ist, der etwas anderes will … der nicht allein sein will, dann entscheide dich jetzt. Ich frage dich nicht noch einmal.“
 

Limono senkte den Kopf und sah auf seine kalte Hand. Er dachte an die Momente dieser Nacht. Wie die Kälte in seinen Adern steckte und ihn durchzog, wie sie seine Haut fahl machte, ihm gut zu Gesicht stand. Schon lange konnte er sie spüren. Dann, langsam, ohne Umko anzusehen machte er kehrt und ging den Weg wieder zurück. Er passierte Umkos Zimmertür, die mit einem leisen Klicken hinter den beiden ins Schloss fiel.
 

*
 

„Könnt ihr mir das bitte mal erklären?!“ Joey wedelte aufgebraucht und mit todernster Miene mit dem Zettel in seiner Hand vor den Gesichtern von Yami und Seto herum. Diese saßen nebeneinander auf der Couch und sahen sich kurz etwas beschämt an. Dann senkten sie die Blicke und schwiegen. „Ich meine“, fuhr Joey fort, „sieht das denn außer mit hier keiner so? Wie könnt ihr beiden einfach mitten in der Nacht aus dem Haus schleichen, ohne irgendjemandem von uns Bescheid zu geben?! Wegen eurer dämlichen Aktion müssen wir jetzt alle die Konsequenzen tragen!“ Er hatte den Zettel in seiner Hand nun zu einer Rolle geformt und piekste Yami damit mehrmals provokant auf die Brust.
 

Es war eine kurze und unruhige Nacht gewesen, in der Yami nur wenig Schlaf gefunden hatte. Zuerst war er trotz seiner Müdigkeit zu aufgekratzt gewesen und ein Gedanke hatte den nächsten gejagt. Miko hatte eine hässliche Kerbe in seinen Gedanken hinterlassen und Yami war besorgt, was alles geschehen konnte, wenn er jetzt einfach einschlief. Dann waren seine Gedanken zu Seto geschweift. Er hatte daran gedacht, wie nahe sie sich gekommen waren, sich gefragt, was er selbst eigentlich wollte – und wie Seto wohl über all das dachte. Schließlich hatte ihn auch Bakura nicht losgelassen. So hatte sich in seinem Inneren alles in einem endlosen Karussell gedreht, bis er schließlich in einen unruhigen Schlaf hinabgesunken war.
 

Am Morgen war er unausgeschlafen und völlig erschöpft aus seinem Zimmer getrottet, als er auch schon erregte Stimmen von unten hörte und wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Sein Puls schnellte auf der Stelle nach oben und sofort dachte er daran, was Miko in der Zwischenzeit alles hatte anrichten können. Ohne weitere wertvolle Sekunden zu verlieren, war er die Treppe hinabgestürmt und hatte sich, als er den Salon betreten hatte, hektisch vergewissert, dass alle anwesend und wohlauf waren. Das war der Fall, aber dennoch blickte er in ernste Gesichter. Hinter ihm betrat gerade Seto das Zimmer.
 

Ohne Umschweife hatte Joey ihnen den Zettel vor den Latz geknallt, um den sich das Gespräch nun bereits seit 15 Minuten drehte. „Liebe Kandidaten und Kandidatinnen“, stand darin, „fünf von euch haben sich gestern Nacht unbefugt aus dem Haus geschlichen. Das stellt eine grobe Verletzung der Spielregeln dar und ihr müsst die Konsequenzen dafür tragen. Zur Strafe müsst ihr alle eure Luxusartikel abgeben. Legt sie bitte auf den großen Esstisch. Die fünf Verantwortlichen werden zusätzlich bis zum Ende der Woche den Dachboden dieses Gebäudes aufräumen, ausmisten und reinigen.“
 

Yami konnte den vorwurfsvollen und enttäuschten Ausdruck in Joeys Gesicht kaum ertragen. Er war erleichtert, dass niemandem etwas passiert war, während er geschlafen hatte, aber er wusste, er hatte nicht im Sinne aller und schon gar nicht in Joeys Sinne gehandelt. Er biss sich auf die Unterlippe.
 

„Die Strafe ist mir völlig Wurscht!“, sagte Joey barsch, „Aber Yami, wenn irgendwas verdächtig war, warum hast du uns denn dann nicht geweckt? Warum hast du dir stattdessen nur Kaiba, diesen reichen Pinkel, mitgenommen, anstatt uns einzuweihen? Du weißt doch, du kannst auf uns zählen! Verdammt nochmal, wir haben doch immer alles zusammen hingekriegt!“ „Jetzt halt endlich mal die Luft an, Wheeler!“, konterte Seto, als Joey endlich mit Worten rang, „Spiel dich hier mal nicht so auf. Du bist nicht der einzige, der in der Lage ist, zu helfen. Willst du jetzt etwa die beleidigte Leberwurst spielen, weil du die ganze Action verpasst hast?“ „Das – darum geht es doch gar nicht! Arg … was verstehst du schon davon!“, brauste Joey erneut auf und auch Yami warf Seto einen eindringlichen Blick zu, der ihm bedeutete, dass diese Reaktion unangemessen war. „Ist doch wahr. Muss ich mir diese Ansprache etwa gefallen lassen?“, murmelte der Chef der Kaiba Corporation, beließ es aber dabei.
 

„Joey … es tut mir leid. Ich habe es aus dem Bauch heraus entschieden und Seto war der einzige, der noch wach war. Andernfalls wäre ich ehrlichgesagt alleine gegangen.“ Nun fing Yami sich seinerseits einen empörten Blick von Seto ein, dem es offenbar nicht gefiel, nur aus einer Laune des Zufalls heraus Yamis Begleiter gewesen zu sein.
 

„Wir alle wissen doch nur zu gut, dass Bakura gefährlich sein kann. Hast du denn in all den Jahren immer noch nichts gelernt? Ich dachte … wir wär‘n Freunde. Ich dachte, wir wär’n ein Team“, während der letzten Worte war Joey leiser geworden und seine Stimme klang matt und brüchig, als er sich auf eines der Sofas fallen ließ. Yami schwieg betreten. Er konnte dem nichts mehr entgegensetzen.
 

„Und ihr beiden“, brach Tea das angespannte Schweigen, „wieso habt ihr sie nicht davon abgehalten? Stattdessen rennt ihr ihnen einfach kopflos hinterher, ohne zu wissen, um was es eigentlich geht!“ Sie strafte Limono und Umko mit einem tadelnden Blick. Auch diese beiden sahen sich nur ratlos an. Limono zuckte mit den Achseln, während er seine Fender Stratacoustic auf den Tisch zu den anderen konfiszierten Luxusgegenständen legte. „Wir haben diese ganze Sache nicht angezettelt. Seto und sein kleiner Spielgefährte sind zuerst ausgebüxt, das sollten wir hier mal nicht vergessen. Wir wollten nur nachsehen, was sie vorhaben!“, giftete er zurück. „Ach ja?! Was geht EUCH das überhaupt an?! Und abgesehen davon, wir wollten ebenfalls nur Bakura helfen, weil der allein losgegangen ist!“, fauchte nun wiederum Yami Limono an, dann ergänzte er jedoch schnell: „Aber … Bakuras Schuld war es ebenfalls nicht und er ist auch nicht gefährlich. Er war hinter etwas anderem her, das uns allen hätte gefährlich werden können. Er wollte das Schlimmste verhindern.“
 

„Mir schwirrt echt der Kopf. Wer hat denn hier nun wen verfolgt?“, stöhnte Malik und schlug sich die Hand an die Stirn. „Wir sollten uns alle erst mal wieder beruhigen“, mischte sich nun auch Umko in das Gespräch ein und bedachte insbesondere Limono mit einem eindringlichen, tadelnden Blick. Dieser grinste seinerseits nur frech zurück, offenbar amüsiert darüber, dass Umko ihm Einhalt gebieten wollte. Dann ließ er sich neben seinen Ex-Mann aufs Sofa fallen und lehnte sich an seine Seite, während er, wie die anderen, Joey und Yami fixierte. Alle anderen sahen einander ratlos an. Manche schauten etwas unbehaglich drein, andere warteten fragend auf eine genauere Erläuterung von Seiten Yamis. „Also … wie soll ich es erklären …“, rang dieser nach Worten.
 

„Am besten gar nicht“, erklang nun Bakuras Stimme und der Geist des Ringes trat aus einer dunklen Ecke des Raumes hervor, wo ihn bisher niemand bemerkt hatte „Es ist nichts, worüber ihr alle euch den Kopf zerbrechen solltet“, fuhr er entschieden fort. „Hey, du Penner! Denkst du etwa, wir sind zu blöd, um irgendwas zu kapieren?! Wir habens’s schon mit viel Merkwürdigeren Sachen aufgenommen, das kannst du mir glauben! Und du bist eine davon!“, brauste Joey auf.
 

„Ok, Timeout, Joey“, nun erhob sich Yugi und hielt beschwichtigend beide Hände mit den Handflächen nach vorne vor seine Brust, „wir sollten jetzt mal wieder zur normalen Routine zurückkehren und in Ruhe die Aufgaben für den heutigen Tag verteilen. Ich bin mir sicher, Yami hat eine gute Erklärung dafür, wie er gehandelt hat. Wenn du dich etwas beruhigt hast, solltest du dir seine Version der Geschichte erst mal anhören. Dann kannst du immer noch entscheiden, ok?“ Joey murrte unzufrieden, aber sagte nichts mehr. Nachdem sie die täglichen Aufgaben zugeordnet hatten, verstreuten sich alle so langsam und gingen anderen Dingen nach. Doch die Stimmung blieb gedrückt und auch Joey blieb stumpfsinnig an Ort und Stelle sitzen und starrte mit finsterem Blick in die Ferne.
 

„Ich kann dich nur zu gut verstehen“, sagte plötzlich jemand neben ihm und riss ihn aus seinen Grübeleien. Joey sah auf. Yugi hatte sich neben ihm niedergelassen und sah ihn an, halb besorgt, halb offenherzig. „Ach ja?“, fragte Joey verunsichert zurück, „obwohl ich mich so dämlich aufgeführt hab? Ich wollt‘ meine Fassung nicht so verlieren. Ich hab mich ganz schön blamiert, was?“ „Ein bisschen“, sagte Yugi schmunzelnd, „aber wer hat das nicht schon während unseres Aufenthalts hier? Und abgesehen davon kann ich deinen Standpunkt nachvollziehen. Ich hätte mir auch gewünscht, dass Yami mehr Vertrauen zu uns hat. Ich wünsche mir auch, dass es wieder so sein könnte wie früher, dass wir immer noch dasselbe Team wären. Aber … wir müssen uns wohl damit abfinden, dass sich manche Dinge einfach ändern.“
 

Joey drehte sich nun zu Yugi um und sah ihn direkt an, froh, dass er ihm wenigstens jetzt beipflichtete und seine eigenen Gefühle ihm nicht mehr so völlig absurd und beschämend erschienen. „Aber … warum sieht Yami denn nicht, dass wir ihm helfen können? Warum rennt er stattdessen zu Kaiba? Ich meine, der Typ muss ihn damals doch echt enttäuscht haben. Und dann auch noch Bakura? Der zwielichtigste Kerl seit der Erfindung des Zwielichts?! Ehrlich jetzt?!“ Yugi kicherte ein wenig. „Aber Joey, versuch nicht so hart mit ihm zu sein. Ich bin mir sicher, es gibt auch eine Kehrseite der Medaille. Ich für meinen Teil bin froh, dass Yami wieder den Kontakt zu uns gesucht hat. Vielleicht sollten wir nicht zu viel auf einmal wollen und dankbar sein für das, was wir haben. Du musst auch sehen, dass es für Yami sicher nicht leicht war, seinen Platz in dieser Welt zu finden.“ „Aber dabei hätten wir ihm doch helfen können! So wie wir ihm auch damals geholfen haben, seine Erinnerungen wiederzuerlangen und in seiner Erinnerungswelt zu bestehen!“, sagte Joey halbherzig, resigniert. „Vielleicht ist das etwas, wobei ihm niemand wirklich helfen kann. Vielleicht muss er es diesmal alleine mit sich ausmachen. Ich bin mir sicher, wenn er bereit dazu ist, wird er sich uns noch weiter nähern. Er hat den ersten Schritt getan, wir sollten ihn nicht wieder von uns wegtreiben, indem wir ihn bedrängen und einengen. Ich denke, wir sollten ihm noch etwas mehr Zeit geben. Oder was denkst du?“
 

Joey sah auf seine Zehenspitzen. Dann lächelte er müde. „Ich denke, du hast wie immer Recht. Ich bin wohl etwas übers Ziel rausgeschossen. Ich schätze, ich schulde Yami eine Entschuldigung.“ „Und er dir“, lachte Yugi. Einfühlsam legte er Joey eine Hand auf den Unterarm. „Hey; mach dich nicht selbst fertig. Es ist immer in Ordnung, offen zu sagen, wie man sich fühlt. Für das, was man fühlt, sollte man sich nicht schämen müssen. Ich denke, es ist gut, dass Yami weiß, dass es dich verletzt hat.“
 

Joey lachte hohl auf. „Ich wünschte, ich wäre so ein schlaues Köpfchen wie du. Du weißt immer, was das Richtige ist. Ich – ich bin immer nur wie eine wandelnde Abrissbirne. Alles, was ich hab, mach ich kaputt.“ „Joey … wenn du damit Mai meinst … ich bin mir sicher, was auch immer euch auseinandergebracht hat, war nicht alleine dein Verschulden. Ich hatte den Eindruck, Mai war sehr viel glücklicher mit dir in ihrem Leben. Du hast sie doch auf Händen getragen. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber ich will dich auf keinen Fall drängen. Du weißt, ich bin immer für dich da, wenn du bereit bist, darüber zu sprechen …“
 

Joey sah Yugi an. Seine Augen strahlten eine Ruhe aus, die ihn immer auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte, ihn geankert hatte. Ohne Yugi sähe sein Leben heute sehr viel anders aus. Er wusste, was er seinem besten Freund zu verdanken hatte und er war jemand, der solche selbstlosen Gesten niemals vergaß. Durch all das, was geschehen war, war er für immer mit Yugi Muto verbunden. Und er würde nie zögern, ihm diese Freundlichkeit zurückzugeben, wann immer er konnte. „Ich will es ja“, sagte er kaum hörbar, „ich will es wirklich versuchen.“ Yugi nickte ermutigend.
 

Und schließlich erzählte Joey. Erzählte Yugi leise und so gefasst er konnte all das, was passiert war, nachdem er und Mai sich einander genähert hatten. Wie letztlich alles aus dem Ruder gelaufen und ihm die Kontrolle entglitten war. Und Yugi hörte zu. Er urteilte nicht. In seinem Blick lag nicht auch nur die geringste Ablehnung, nur Offenheit und Verständnis. Das ließ Joey Mut fassen, immer weiterzusprechen. Bis sich der giftige, aufgeriebene Schorf, der sein Herz so lange bedeckt hatte, ablöste und als Worte seinen Weg nach draußen fand. Bis er nach langer Zeit wieder etwas leichter atmen konnte. Und ihm war plötzlich klar: Yugi würde immer zuhören, egal was ihn beschäftigte. Er würde ihn nie wegschicken. Wie er ihn auch damals nicht verurteilt oder weggestoßen hatte. Und er fühlte sich nicht mehr ganz so wertlos.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Bitte nicht wundern, warum Bakura hier eine Mutter hat und keinen Vater. Ich habe mir hier etwas künstlerische Freiheit rausgenommen. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Animegirl1224
2024-03-15T18:57:56+00:00 15.03.2024 19:57
Noch kein kommentar für diese geschicht??? Das kann ich gar nicht glauben. Ich bin zufällig hier drüber gestolpert und ich muss sagen deine story hat mich von anfang an gefesselt.
Die idee ist klasse. Ich mag die interviews am anfang der kapitel sehr. Auch die vielen hintergrund geschichten und die unterscheidlichen beziehungen der figuren untereinander sind toll. Ich mag deinen schreibstil. Lässt sich sehr gut lesen. Auch die mischung aus humor und mystery trifft genau meinen geschmack. Bin sehr gespannt wie es weitergeht.
Antwort von:  MizunaStardust
19.03.2024 19:00
Hallo :) Oh, danke! Das freut mich sehr. Die Geschichte ist schon ein bisschen älter. Ich wollte sie hier nochmal hochladen, da auf Fanfiktion.de aktuell wenig los ist im Fandom :) Freut mich, dass man sie immer noch lesen kann. Ich hoffe, du bleibst dabei! Liebe Grüße, Mizu
Von:  DonnaHayley
2022-04-29T22:54:37+00:00 30.04.2022 00:54
Halli hallo :D

Ich habe mir mal die Bilder angeschaut, die du zu deinen Geschichten reingestellt hast. Auf FF.de geht das ja leider nicht. Jedenfalls finde ich sie total schön und es toll die Charas mal auf einem Bild zu sehen. :)

Antwort von:  DonnaHayley
30.04.2022 00:54
Liebe Grüße
Hayley ^^°


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