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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Das Geschenk"

Andara-House - Mein letztes Jahr
 

Teil I - London
 

Heute war er, dieser eine Tag. Und wie immer verbrachte ich ihn recht still und für mich alleine – naja fast. Seit das mit mir und Singh begonnen hatte, war ich nicht mehr so alleine mit meiner Trauer. Ich konnte sie zumindest rauslassen. Zwar hätte ich das so oder so gekonnt, aber vor den Augen der anderen auf der Nautilus konnte ich meinen Gefühlen einfach keinen freien Lauf lassen. Bei Singh war das vollkommen anders; bei ihm konnte ich weinen und schluchzen, bis ich mich so ausgetrocknet fühlte wie die Wüste Gobi.

Und doch war ich nicht ganz ehrlich zu ihm. Ich log ihn zwar nicht direkt an, aber er wusste nicht die ganze Wahrheit darüber, warum mich der Tod meines besten Freundes so mitnahm.

Paul Winterfeld war nun schon seit drei Jahren tot und jedes Jahr an diesem Tag überrollen mich die Trauer und Wut über sein sinnloses Ableben erneut. Ebenso die Sehnsucht nach unserer gemeinsamen Zeit – und besonders die Erinnerungen an das letzte Jahr auf Andara-House ließ mir immer wieder ein Lächeln auf den Lippen erscheinen.
 

„Hey, aufwachen“, hörte ich eine gedämpfte Stimme dicht neben meinem Ohr, beschloss jedoch, dass es mir viel zu früh war und drehte mich grummelnd von der störenden Geräuschquelle weg. Paul jedoch schien das nicht wirklich zu beeindrucken, denn er war weiter bemüht, mich wach zu bekommen. Vermutlich hätte er damit auch schneller Erfolg gehabt, aber da außer uns noch ein weiterer Junge in dem Zimmer schlief, konnte er es sich nicht erlauben, lauter mit mir zu sprechen.

„Mike, wach auf! Heute ist dein Geburtstag.“

„Hmmm“, machte ich und zog mir die Decke über den Kopf. „Schön, dass du mich weckst und mir das sagst“, nuschelte ich und hatte absolut nicht vor, eher als nötig aufzustehen. Da heute Donnerstag war und damit ein normaler Schultag, würde es eh früher losgehen, als mir lieb war. Ausgerechnet an meinem 16ten Geburtstag beschloss Paul dann, mich um nicht ganz halb fünf zu wecken?!

Was sollte das?

Es war eine Frage, auf die ich nicht wirklich eine Antwort wollte, aber Paul gab sie mir doch.

„Ich will dir aber jetzt dein Geburtstagsgeschenk geben! Komm, es geht nur jetzt!“

Paul war so aufgeregt, dass er die letzten Worte recht laut gesprochen hatte und drehte sich erschrocken zu Jeffrey herum, der jedoch noch tief und fest schlief. Erleichtert atmete er auf, als er das feststellte und wandte sich wieder mir zu.

„Warum kann das nicht bis später warten?“, fragte ich und hatte mich aufgesetzt, da Paul leider Erfolg hatte und ich nun wach war. Verschwörerisch beugte er sich zu mir herüber und grinste mich an, sodass ich lieber etwas von ihm zurückwich. Mein bester Freund benahm sich heute Morgen wirklich merkwürdig.

Anstatt meine Frage zu beantworten – auf diese wollte ich schon eine Antwort – sprang er auf, rannte zu seinem Bett zurück und begann wie ein Irrer, das Laken herunterzureißen. Eine Weile beobachtete ich ihn dabei, überlegte dann sogar kurz, mich wieder hinzulegen und weiterzuschlafen. Das war alles so komisch, dass die Vermutung nahelag, ich würde tatsächlich noch schlafen und hätte einen verdammt irren Traum.

„Ah, du schenkst mir dein Bettlaken. Äh, danke?“, kommentierte ich seine Aktion mit hochgezogener Augenbraue. Paul schüttelte energisch den Kopf, öffnete an einer kleinen Stelle die Naht seiner Matratze und förderte einen Stapel Spielkarten hervor. Nachdem er sein Bett provisorisch wieder bezogen hatte, lief er freudestrahlen zu mir zurück und hielt mir die Karten hin.

„Spielkarten?“, fragte ich, als ich automatisch danach griff und sah ihn zweifelnd an. „Warum versteckst du Spielkarten in deiner Matratze?“

Paul grinste nun noch breiter.

„Jetzt sieh sie dir schon an!“, drängte er mich feixend und langsam glitt mein Blick zu dem Stapel in meiner Hand. Seufzend öffnete ich den Pappkarton und ließ die Karten auf meine Hand gleiten, die mit der Rückseite nach oben aus der Schachtel fielen. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Karten, die Rückseite war in einem roten Karomuster gehalten und ich erkannte absolut keinen Grund, warum man die Karten verstecken musste. Wenn sie nun golden gewesen wären, okay. Aber so?

„Danke?“, machte ich erneut und wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Paul wusste doch, dass ich Kartenspiele hasste. Warum schenkte er mir die dann?

„Du sollst sie dir ansehen!“, sagte Paul schon wieder und rutschte grinsend hin und her. Fragend sah ich ihn an, aber er würde mir wohl nicht sagen, was so besonders an den Karten war, daher nahm ich eine vom Stapel und drehte sie um.

Entgeistert sah ich auf die Karte; sie zeigte eine leicht bekleidete Frau in eindeutiger Pose. Ich schluckte schwer, nahm weitere Karten und auch hier blickten mir Frauen entgegen, die kaum Kleidung trugen und wohl nur das Eine im Sinn hatten.

„Und? Wie findest du es? Ich konnte es dir nicht so geben, du weißt ja wie die hier sind. Wenn die meinem Vater das erzählen, dann ist was los. Du musst sie auf jeden Fall auch verstecken!“, sprudelte Paul nur so los, während ich wortlos die Karten wieder in die Packung steckte und nun wirklich keine Ahnung hatte, was ich ihm sagen sollte.

„Wow“, entfuhr es mir. „Das ist… wow… Sowas habe ich noch nie … geschenkt bekommen.“ Was ich eigentlich sagen wollte war, dass ich sowas eigentlich gar nicht haben wollte. Aber Paul freute sich so sehr, dass ich ihm nicht wehtun wollte. Die Frage war nur: Was sollte ich nun damit machen?

Auf der anderen Seite wollte ich meinen besten Freund auch nicht anlügen.

„Also weißt du Paul…“, begann ich daher und dieser sah mich so voller freudiger Erwartung an, dass ich den Rest lieber herunterschluckte. Stattdessen hörte ich mich sagen: „Du hast Recht, das sollte man hier im Internat nicht so herumliegen lassen und ich habe noch nicht so ein tolles Versteck wie du. Könntest du die vielleicht für mich verstecken?“

Paul nickte eifrig, nahm mir die Karten wieder ab und stopfte sie in seine Matratze zurück. „Klar, kein Problem!“

„Was ist kein Problem?“, kam es müde aus dem dritten Bett, während sich Jeffreys verstrubbelter Kopf unter der Decke hervorarbeitete. „Seid ihr jetzt unter die Frühaufsteher gegangen?“

Ich beschloss, Jeffreys letzte Frage zu ignorieren, zuckte mit den Achseln und schwang die Beine aus dem Bett.

„Ach nichts“, sagte ich, während ich meine Kleidung und meine Waschsachen zusammensuchte. „Ich gehe mal duschen, bevor es im Waschsaal zu voll ist. Wir sehen uns später im Unterricht.“

„Kann ich verstehen!“, rief Paul mir grinsend hinterher, während Jeffrey ihn fragend ansah und ich ihm ein schiefes Lächeln zuwarf.

Seufzend stand ich unter der Dusche und da der Saal zu dieser Morgenstunde wirklich so gut wie leer war, nahm ich mir sogar etwas Zeit. Was ich sonst nie tat, da es mir einfach zu unangenehm war, von jedem, der hereinkam, nackt gesehen zu werden und auch die anderen so zu sehen.

Wieder einmal fragte ich mich, ob ich einfach prüde war. Aber irgendwie machten mich die nackten Körper der anderen Jungen nervös, auch wenn sie ja nichts hatten, was ich nicht auch hatte. Ich verstand es selbst nicht, hatte aber beschlossen, mir nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Mein Plan war, einfach alles zu meiden, was ein komisches Gefühl in mir auslöste – was auch auf Pauls Spielkarten zutraf.

Wobei, das war etwas anderes, wurde mir klar. Es war mir nicht nur unangenehm, die Karten anzusehen; ich konnte absolut nichts damit anfangen und war auch sicher nicht aus dem Grund duschen gegangen, den Paul vermutete.

Verdammt. Warum hatte Paul das gemacht? Ich würde den ganzen Tag das schlechte Gewissen nicht loswerden, dass ich mich absolut nicht über dieses Geburtstagsgeschenk freute und ihn angelogen hatte. Seufzend lehnte ich mich gegen die Wand, während das heiße Wasser weiter über meinen Körper lief und schloss die Augen.

„Du hättest lieber noch was schlafen sollen, anstatt den Morgen tuschelnd mit dem Kohlkopf zu verschwenden“, hörte ich Jeffreys Stimme hinter mir, stellte hastig das Wasser ab und schlang das Handtuch um meine Hüfte. Vorsichtig wagte ich einen Blick über meine Schulter und stellte fest, dass Jeffrey ebenso nackt war wie ich. Was nicht verwunderlich war, wenn man sich in der Dusche befand, mich aber absolut nervös machte.

„Er heißt Paul!“, stellte ich eine Spur zu schroff fest und bereute meinen Tonfall direkt wieder. Aber warum musste Jeffrey gerade jetzt hier aufkreuzen? Er wusste doch, dass ich duschen wollte?!

Gemeinschaftsdusche, kam es mir wieder in den Sinn und schämte mich für meinen Egoismus, zu denken, dass Jeffrey sich nicht hier aufhalten sollte, wenn ich es tat. Immerhin hatte er mir etwas Zeit gelassen und ich war so gut wie fertig.

„Dann eben Paul“, seufzte Jeffrey in einem resignieren Tonfall, der klarmachte, dass es ihm total egal war. „Aber was gab‘s denn so Spannendes?“

Ich verdrehte die Augen und begann, mich abzutrocknen. Eigentlich hatte ich gar keine Lust auf ein Gespräch. Das lag nicht unbedingt an Jeffrey, sondern an dem Ort, an dem wir uns befanden. Auch wenn ich wahrscheinlich kein Problem gehabt hätte, wenn, anstatt von Jeffrey, Paul ein Gespräch in der Dusche aufbauen wollte.

Doch – es lag an Jeffrey. Immer wenn ich ihn sah, fragte ich mich, ob die Gerüchte um ihn wahr waren. Jeffrey Harris war nun seit vier Monaten auf Andara-House, dem angesehensten Jungeninternat in London und soweit ich gehört hatte, hatte sein Vater ihn als Strafe hierhergeschickt. Jeffrey war der Sohn eines erfolgreichen Geschäftsmannes in Amerika und man erzählte sich, er habe mit der Tochter eines wichtigen Kunden geschlafen und so einen Skandal ohnegleichen ausgelöst.

Ob ich den Erzählungen glauben sollte, wusste ich nicht. Immerhin war Jeffrey gerade mal ein Jahr älter als ich und ich konnte mir das absolut nicht vorstellen.

„Nichts“, murmelte ich, als mir klar wurde, dass Jeffrey mich fragend ansah. Kurz erwiderte ich seinen Blick im Spiegel und schlug dann peinlich berührt die Augen nieder. Der junge Amerikaner war das komplette Gegenteil von mir und das galt auch für seine Position beim Duschen. Während ich mich zur Wand hinstellte, damit nicht gleich jeder alles von mir sah, stand Jeffrey breitbeinig da und streckte munter nach vorne, was er hatte.

Ich schüttelte den Kopf, ließ Jeffrey einfach stehen und machte mich auf den Weg in den Vorraum, um mir meine Schuluniform anzuziehen. Es war schon recht spät und wenn ich noch etwas Frühstücken wollte, musste ich mich beeilen.

Pauls Aktion von heute Morgen rächte sich auch, als ich schließlich im Unterricht saß und das, obwohl noch gar nicht viel passiert war.

Mr. Wilson hatte gerade den Klassenraum betreten und auch er schien eine ziemlich schlimme Nacht gehabt zu haben. Denn der eigentlich recht geduldige Lehrer – und davon gab es auf Andara-House nur sehr wenige – wirkte äußerst gereizt, als er seine lederne Tasche mit einem Knall auf das Pult fallen ließ. Missmutig kramte er darin herum und holte schließlich die Klassenliste mit all ihren Namen hervor, räusperte sich und begann, die Namen darin vorzulesen.

„Benjamin Brown“, hörte ich ihn sagen und sah abwesend, wie Ben aufstand und ein knappes „Hier“ von sich gab.

Egal, wie ich mich bemühte, meine Gedanken drifteten immer wieder zu Jeffrey und den Geschehnissen von heute Morgen ab. Warum hatte mich sein Anblick so nervös gemacht und warum fühlte ich absolut nichts bei diesen Bildchen, für die jeder der Jungen hier wohl sein rechtes Bein gegeben hätte? Was zum Teufel war falsch mit mir? War ich etwa das, was man einen Spätzünder nannte?

„Juan del Gato.“ – „Hier!“

„Michael Kamala.“

Was aber am schlimmsten war, ist, dass ich mir ausgerechnet an meinem Geburtstag darüber den Kopf zerbrechen musste. Oh, Paul; er hatte es nur gut gemeint und damit aber das totale Chaos bei mir ausgelöst.

„Michael Kamala!“

Verwundert sah ich hoch und blickte direkt in beinahe alle Gesichter meiner Mitschüler, die mich zum Teil geschockt und andere mit einem Grinsen im Gesicht ansahen.

„Ja?“, fragte ich abwesend und hätte mir am liebsten in der gleichen Sekunde eine runtergehauen. Mr. Wilson sah mich mit einem Ausdruck an, der zwischen vollkommender Fassungslosigkeit und schwer unterdrücktem Zorn aussah. Ich war mir sicher, er würde mich im nächsten Moment nach vorne bitten, um mir dann den Rohrstock zum Fühlen zu geben.

Gerade, als der Lehrer den Mund öffnete, fing Jeffrey schallend an zu lachen und beruhigte sich auch nicht, als Mr. Wilson ihn anherrschte, den Mund zu halten.

„Mr. Harris, könnten Sie mir erklären, was so lustig ist?!“

Mit offenem Mund starrte ich Jeffrey an, der vollkommen irre erschien, bis mir klar wurde, dass Mr. Wilson mich nun vollkommen vergessen hatte. Jedoch geriet er immer mehr in Rage über den jungen Amerikaner und ich fragte mich kurz, ob Jeffrey das so beabsichtigt hatte. Allerdings verwarf ich den Gedanken dann aber wieder. Es war verrückt, zu glauben, einer der Jungen würde sich freiwillig die Strafe eines anderen aufbürden.

„Mr. Harris, kommen Sie nach vorne!“, sagte Mr. Wilson mit vor Zorn zitternden Stimme. Ich schluckte schwer, als Jeffrey augenblicklich verstummte und sich ohne Widerwort vor der Tafel aufstellte. Fast mit Bewunderung stellte ich fest, wie unerschrocken Jeffrey seine Hände ausstreckte, als der Lehrer es verlangte und für einen kurzen Moment sah es aus, als würde er mich direkt ansehen.

In seinen Augen sah ich jedoch keine Angst, oder gar Zorn auf mich, stattdessen erschien ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen, als sich unsere Blicke trafen.

Bevor Mr. Wilson es jedoch sehen konnte, wurde Jeffrey wieder vollkommen ernst und kassierte die ersten Schläge. Bei den ersten zwei verzog er kaum das Gesicht und ich hatte Angst, das Mr. Wilson noch mehr in Rage geraten würde, wenn er glaubte, dass Jeffrey die Strafe nicht ernst nahm. Bei den folgenden dreien biss er sich jedoch zusehends auf die Lippe und konnte schwer einen Schmerzenslaut unterdrücken. Ich konnte kaum hinsehen, aber irgendwie fühlte ich mich schuldig, wenn ich wegsah und Jeffrey mit der Strafe, die er wegen mir kassierte, alleine ließ.

Zum Glück reichten Mr. Wilson die fünf Schläge und nachdem Jeffrey sich für sein ungebührliches Verhalten entschuldigt hatte, durfte er sich wieder setzen.

„Mr. Kamala, Mr. Harris, als abschließende Disziplinarmaßnahme werden Sie beide heute Nachmittag den Klassenraum putzen“, verkündete der Lehrer.

„Jawohl, Mr. Wilson!“, riefen Jeffrey und ich synchron.

Der Rest des Vormittags verlief ohne große Vorkommnisse, aber für mich war der Tag – und damit mein Geburtstag – so gut wie gelaufen. Ich war zumindest nach den ersten zwei Stunden Unterricht wacher geworden und handelte mir auch keine neuen Strafen ein; was aber auch daran lag, dass ich mit dem Großteil der Fächer kein Problem hatte und daher die Lehrer in den meisten Fällen zufrieden stellen konnte.

Aber ich hatte sonst wirklich absolut keine Lust mehr auf den Tag und es würde auch nicht besser werden. Anstatt nach den nächsten fünf Minuten Freizeit zu haben, musste ich den Nachmittag mit Jeffrey im Klassenzimmer verbringen. Böden fegen und schrubben, die Tafel auf Hochglanz polieren und hoffen, dass Mr. Wilson dann zufrieden war.

Als die Schulglocke ertönte, sprangen die Jungen auf und drängten sich lachend und in anregenden Gesprächen zum Ausgang. Genervt stand ich auf und packte schon einmal meine Bücher zusammen, als jemand mich von hinten anstieß und ich etwas unsanft von meinem Tisch gebremst wurde.

„Tut mir leid!“, hörte ich Ben feixen, der sich an mir vorbeigedrängt hatte. „So ein Verlierer wie du ist leider leicht zu übersehen!“

Wütend funkelte ich an und hätte ihm sicher ein paar Takte dazu gesagt, aber eine Hand auf meiner Schulter hielt mich davon ab. Darauf gefasst, dem nächsten, der meinte, mich beleidigen zu müssen, ins Gesicht zu sehen, drehte ich mich herum und sah Paul vor mir stehen.

„Scheiße Mike, es tut mir voll leid!“, sagte Paul Winterfeld derart bedrückt, dass ich es als Pflicht ansah, ihm ein entspanntes Lächeln zu schenken.

„Schon gut“, sagte ich. „Du kannst ja nichts dafür.“

„Aber es ist dein Geburtstag!“, protestierte Paul und fuchtelte wild mit den Armen. „Das ist nicht fair! Weißt du was? Ich helfe euch!“

„Nein. Kommt gar nicht in Frage!“, lehnte ich bestimmt ab. Nicht etwa, weil ich seine Hilfe nicht wollte, aber wenn Mr. Wilson sah, dass Paul uns half, würde er es so auslegen, dass wir uns vor unserer Arbeit drückten. Das ergab zwar absolut keinen Sinn, aber das tat vieles nicht, was an einem Jungeninternat um 1912 passierte.

„Schwirr ab, Kohlkopf! Wir machen das hier schon“, mischte sich nun auch Jeffrey in das Gespräch ein. Paul sah ihn irritiert an, öffnete dann den Mund, schloss ihn sofort wieder und verließ fast fluchtartig den Raum.

Nun waren wir alleine, wurde mir bewusst und ich stellte überfordert fest, dass es mir irgendwie Unbehagen bereitete. Vielleicht ja, weil Jeffrey Schläge wegen meiner Unachtsamkeit kassiert hatte.

„Ähm, deine Hände…“, begann ich stocken und sah ihn fast schüchtern an. „Ist es sehr schlimm?“

„Nicht der Rede wert“, antwortete Jeffrey mit einem Grinsen und lief zur Tafel.

Ich schüttelte den Kopf und lief ihm hinterher.

„Aber es ist ja irgendwie meine Schuld. Wenn ich nicht vor mich hingeträumt hätte, dann…“

„Dann war es immer noch meine Entscheidung, deswegen einen Lachanfall zu bekommen“, unterbrach Jeffrey mich ernst, doch im nächsten Moment grinste er mich wieder an. „Und du siehst mir nicht aus, als ob du so ein paar Schläge aushalten würdest.“

Mit offenem Mund sah ich ihn an, immerhin war es ja fast eine Beleidigung, aber die Antwort blieb mir im Hals stecken, als er vollkommen ernst fortfuhr. „Ich dagegen habe so viele kassiert, dass es fast schon wieder anregend ist.“

Ich konnte fühlen, wie mir das Blut in den Kopf schoss und mein Gesichtsausdruck musste vollkommen dämlich aussehen. Das wurde mir noch bestätigt, als Jeffrey erneut in schallendes Gelächter ausbrach. Überhaupt schien er stets so gut gelaunt und selbstsicher zu sein, dass ich tief in mir Eifersucht wachsen spürte.

„Jetzt komm, lass uns anfangen, damit du noch etwas von deinem Geburtstag hast“, riss Jeffrey mich aus meinen Gedanken und griff enthusiastisch nach dem nassen Schwamm. Nur um in der nächsten Sekunde schmerzerfüllt aufzustöhnen, als das kalkige Wasser auf den Striemen in seiner Hand brannte.

„Mist! Lass mal sehen!“, entfuhr es mir, griff ohne zu zögern nach seiner Hand und betrachtete die roten Striche. An kleinen Stellen war die Haut verletzt und ich konnte mir kaum vorstellen, welche Schmerzen Jeffrey den ganzen Tag beim Schreiben gehabt haben musste. Die eigentlich ich hätte haben sollen, dachte ich schuldbewusst. „Wasch dir die Kreide aus. Ich mache die Tafel und vielleicht geht es, wenn du den Besen übernimmst.“

Jeffrey nickte, lief dann zu dem kleinen Becken neben der Tafel und ließ das Wasser mit zusammengebissenen Zähnen über seine Hände laufen. Während ich den Schwamm gründlich über die Tafel gleiten ließ, konnte ich kaum den Blick von ihm abwenden und wünschte, es gäbe irgendwie einen Weg, ihm seine Schmerzen zu nehmen.

Er hatte die Schläge tatsächlich für mich eingesteckt, auch wenn mich seine Begründung, ich würde es nicht aushalten, etwas kränkte. Aber vermutlich hatte Jeffrey recht, während er, ohne sich zu beklagen, das Klassenzimmer fegte – obwohl seine Hände höllisch schmerzen mussten. Ich hätte ich wohl das eine oder andere Wimmern nicht unterdrücken können.

Jeffrey hob den Kopf und lächelte mich an, wodurch mir bewusstwurde, dass ich ihn anstarrte und mich schnell wieder der Tafel zuwandte.

„Ich glaube das reicht“, sagte Jeffrey, stellte den Besen weg und lehnte sich locker gegen das Lehrerpult.

„Meinst du?“, fragte ich und betrachtete kritisch die Tafel. Jeden Kreiderest würde man uns anlasten und ich wollte nicht schon wieder eine Strafe bekommen.

„Hmm“, machte Jeffrey. „Ich glaube, links oben musst du noch mal ran.“

„Ja?“, fragte ich. Ich konnte da absolut nichts erkennen, streckte mich aber trotzdem an das äußere Ende der Tafel und wischte was das Zeug hielt. „Besser?“

„Hmm“, hörte ich Jeffrey erneut. „Nee, also oben rechts ist auch nicht wirklich sauber.“

Prüfend sah ich die Tafel an und runzelte die Stirn. „Ich seh da nix“, sagte ich, tat dann aber doch mein Bestes und drehte den Kopf zu Jeffrey, der mit einem dümmlichen Grinsen vor sich hinstarrte. Ich fragte mich, was er so anstarrte, bis mir klar war, dass es aus seiner Position nur mich und die Tafel zu sehen gab.

„Idiot!“, blaffte ich ihn gespielt sauer an und warf ihm den Schwamm ins Gesicht.

„Du hast es herausgefordert“, lachte Jeffrey, worauf ich ihm einen säuerlichen Blick zuwarf.

„Einen Scheiß habe ich! Das kannst du deiner Mutter erzählen!“

Ein Schatten huschte über Jeffreys Gesicht und das erste Mal, seit er auf Andara-House war, sah er bedrückt aus.

„Meine Mom ist tot“, hörte ich ihn murmeln und hätte mich sehr gerne wieder selbst geschlagen. Natürlich konnte ich das nicht wissen, aber in diesem Moment fühlte ich mich wie das größte Arschloch auf der Welt.

„Meine auch“, vertraute ich ihm daher an. Wobei ich nicht wusste, ob es deswegen war, aber es fühlte sich einfach richtig an, ihm das zu sagen. „Es ist wirklich nicht leicht, aber immerhin hast du noch deinen Vater.“

„Mhm, das ist echt ein Glück“, sagte Jeffrey sarkastisch.

Ich war in einen weiteren Fettnapf getreten und spürte immer mehr, wie die Stimmung kippte. Angestrengt überlegte ich, was ich tun könnte, bis mir in den Sinn kam, warum mir das so wichtig war. Es war ja nicht so, dass ich für Jeffreys Wohlbefinden zuständig war und unsere Strafarbeit war erledigt.

Warum ging ich dann nicht einfach?

Wie Jeffrey schon sagte, ich hatte ihn zu nichts gezwungen und musste mich nicht schuldig fühlen. Schweigend standen wir da und ich war regelrecht froh, als ich Mr. Wilson sah. Prüfend begutachtete er das Klassenzimmer, wobei er sich jede noch so kleine Ecke ansah und mit dem Zeigefinger über die Tafel fuhr. Es quietschte regelrecht – so sauber war sie.

Zufrieden nickte der Lehrer, nicht ohne uns noch einen warnenden Blick zuzuwerfen.

„Sie haben Ihre Arbeit gut gemacht“, sagte er sachlich. „Ich erwarte in Zukunft mehr Aufmerksamkeit von Ihnen Mr. Kamala und von Ihnen Mr. Harris ein respektvolleres Verhalten. Haben Sie beide mich verstanden?!“

„Jawohl, Mr. Wilson!“, sagten wir erneut im Chor, woraufhin er uns entließ. Nachdem Mr. Wilson gegangen war, drehte Jeffrey sich um und lief mit strammen Schritten den Flur entlang. Ich musste fast rennen, um ihn einzuholen und konnte kaum glauben, dass ich es war, der ihm die nächste Frage stellte.

„Hättest du Lust noch etwas um den See zu spazieren?“

Jeffrey blieb abrupt stehen, drehte sich zu mir um und sah mich mit einem so finsteren Blick an, dass ich zusammenzuckte. Doch im nächsten Moment stahl sich wieder das selbstsichere Lächeln auf Jeffreys Gesicht.

„Vielleicht ein anderes Mal“, sagte er ausweichend und ließ mich auf dem Gang stehen.

"Fight or flight?"

Ich hatte schlecht geschlafen – nicht wie Paul wieder falsch vermutete, weil ich mich auf den Nachmittag, den wir mit seinem Vater verbringen würden, freute – sondern, weil ich mir Sorgen machte. Tatsächlich hatte ich die halbe Nacht wachgelegen, weil ich mir Gedanken um Jeffrey gemacht hatte. Nachdem dieser mich überhastet auf dem Gang stehen gelassen hatte, nahm ich an, dass er zu unserem Zimmer ging und wollte ihm daher etwas Ruhe gönnen.

Kurz überlegte ich, wo ich stattdessen hinkönnte und der Gedanke, in den Gemeinschaftsraum zu gehen, wo die Jungen den Nachmittag mit Schach oder Tischtennis verbrachten, erzeugte starken Widerwillen in mir. Ich entschied, dass ein kleiner Spaziergang wohl das Richtige war und mir helfen würde, den Kopf freizubekommen. Es war zwar schon ungewöhnlich kalt für den frühen Herbst, aber der Anblick der bunten Baumwipfel, die nach und nach ihre Blätter abwarfen, entschädigte einen dafür; außerdem machte die Kälte mir nichts aus.

Kurz vor dem Abendessen traf ich wieder in unserem Zimmer ein, wo ein aufgeregter Paul mich empfing und mich sorgenvoll ausfragte, wo ich denn die ganze Zeit gewesen war. Aber ich hatte nicht sonderlich viel Lust, zu reden und auch später beim Essen war ich ziemlich in mich gekehrt.

Besorgt versuchte Paul immer wieder, mich in ein Gespräch zu verwickeln, doch ich antwortete ihm nur einsilbig und blockte ihn schließlich ganz ab. Resigniert seufzte Paul und sah ein, dass er wohl warten musste, bis ich von mir aus meine Sorgen mit ihm teilte. Ich wusste, dass ich Paul alles anvertrauen konnte, aber eigentlich verstand ich gar nicht, was mit mir los war.

Als wir gegen sieben Uhr abends wieder in unserem Zimmer eintrafen und uns gemeinsam an die Schularbeiten für den nächsten Tag machten, war Jeffrey immer noch nicht zurück und ich hatte ihn auch beim Essen nicht gesehen. Ich erwischte mich immer wieder dabei, zur Tür zu sehen und mich zu fragen, wann er wiederkommen würde.

Die Stunden vergingen und schließlich waren es nur noch 20 Minuten, bis wir das Licht löschen und schlafen mussten. Jeffrey war noch immer nicht da und ich machte mir wirklich Sorgen, dass ihm etwas passiert sein könnte. Ich überlegte sogar, ob ich einem der Lehrer Bescheid sagen musste, für den Fall, dass Jeffrey etwas zugestoßen war. Aber wenn er sich einfach nur vor der Sperrzeit drückte, würde ich ihn somit in Schwierigkeiten bringen und ich wollte nicht, dass er noch mehr Prügel wegen mir einstecken musste.

Um 22 Uhr legten wir uns schließlich schlafen und schon nach wenigen Minuten hörte ich Paul gleichmäßig atmen, aber ich bekam einfach kein Auge zu. Noch immer war Jeffrey nicht aufgetaucht und ich machte mir unglaubliche Vorwürfe, weil ich das mit seinen Eltern gesagt hatte. Offensichtlich hatte ich einen wunden Punkt bei ihm getroffen und nun würde er wegen mir wieder Stress bekommen, wenn man ihn um diese Zeit auf dem Gang oder gar draußen antraf.

Nervös setzte ich mich auf und überlegte mir, wo er sein könnte. Schließlich beschloss ich, nach ihm zu suchen. Zwar lief ich damit Gefahr selbst Ärger zu bekommen, aber Jeffrey hatte etwas gut bei mir. Entschlossen stand ich auf, zog den Morgenmantel über und schlüpfte in meine Hausschuhe. Nach einem kurzen, prüfenden Blick zu Paul schlich ich mich zur Tür und drückte so vorsichtig wie möglich die Klinke herunter. Ich zwängte mich durch einen kleinen Spalt, da ich Angst hatte, die Tür könnte ein verräterisches Geräusch machen, wenn ich sie weiter öffnete.

Mit angehaltenem Atem lief ich den Gang hinab und eigentlich wusste ich gar nicht, wo ich hinwollte. Resigniert seufzte ich innerlich und beschloss, lieber umzukehren, als plötzlich Jeffrey vor mir stand. Mit großen Augen starrte ich ihn an.

„Wo bist du gew…“, entfuhr es mir und hatte plötzlich seine Hand auf meinem Mund. Was aber schlimmer war, war, dass ich plötzlich Schritte am Ende des Ganges hörte und mir klar wurde, dies konnte nur einer der Lehrer sein, die kontrollierten, dass sich alle an die Nachtruhe hielten.

Ohne ein Wort drehte Jeffrey mich um und schob mich so schnell er konnte zu unserem Zimmer. Wir hatten kaum die Tür hinter uns geschlossen und uns so, wie wir waren, in unsere Betten gelegt – die Decken dabei bis über die Ohren gezogen, als die Zimmertür aufging und jemand einen prüfenden Blick hereinwarf. Nach wenigen Sekunden schloss sich die Tür wieder, als der Lehrer glaubte, dass wir alle schliefen. Trotzdem warteten wir noch einige Minuten mit angehaltenem Atem, bevor sich auch nur einer von uns traute, den Kopf aus der Decke zu strecken.

Als Jeffrey sich sicher war, dass die Luft rein war, sprang er auf, lief mir entgegen und bevor ich etwas sagen konnte, drückte er mich zurück auf das Bett und fauchte mich an.

„Was sollte das? Wolltest du mich verpetzten?!“

Mit geweiteten Augen sah ich ihm entgegen und versuchte, mich gegen seinen Griff zu stemmen, aber Jeffrey war um einiges stärker als ich, sodass ich es aufgab und ihn nur wütend anfunkelte.

„Nein!“, sagte ich gepresst und konnte den Zorn in meiner Stimme nicht zurückhalten. „Ich habe mir Sorgen gemacht wegen heute Nachmittag und wollte dich suchen!“

Zwar lockerte sich der Griff, mit dem er mich auf dem Bett niederhielt, sah mich aber weiter zweifelnd an. Ich versuchte ihm ebenso selbstsicher entgegen zu sehen, fühlte mich aber mit jeder Sekunde, die verstrich, unwohler und doch war ich froh, ihn zu sehen.

Ich musste im Laufe des Tages komplett den Verstand verloren haben.

„Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst!“, grummelte Jeffrey. Er ließ mich los, ging ohne mich weiter zu beachten Zähneputzen und ließ sich schließlich ausgezogen bis auf die Unterhose auf sein Bett fallen. Während all der Zeit konnte ich den Blick nicht von ihm abwenden und spürte mein Herz bis zum Hals klopfen.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, hörte ich Paul empört fragen und blinzelte ihn verwundert an. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er mit mir gesprochen hatte.

„Was? Was hast du gesagt?“

Erschöpft fuhr ich mir mit der Hand durch das Gesicht und ließ die Gabel im mein Mittagessen fallen, das ich kaum angerührt hatte. Verstohlen ließ ich den Blick ein paar Tische weiter gleiten und blieb an dem hängen, wo Jeffrey alleine saß und mit missmutigem Gesichtsausdruck sein Essen in sich hineinschaufelte.

Sie teilten sich zwar zu dritt ein Zimmer, aber sonst hielt Jeffrey sich von ihnen fern und auch von so gut wie jedem anderen hier. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es leicht war, so den Alltag in einem Internat zu bewältigen und erinnerte mich an meine Anfangszeit, als ich mich furchtbar alleine fühlte. Einmal hatte ich ihm angeboten, sich beim Essen zu uns zu setzen, aber er lehnte mit knappen Worten ab und ausgerechnet gestern, als ich das Gefühl hatte, ihm etwas näher zu kommen, hatte ich es so vermasselt.

„Was wollen wir machen, wenn mein Vater hier ist? Wollen wir in eines der neuen Café-Häuser gehen? Ich habe gehört, da gibt es richtig guten Apfelkuchen!“, fragte Paul enthusiastisch.

„Hmm“, machte ich vollkommen desinteressiert. „Ist mir eigentlich egal. Können wir aber gerne machen.“

Paul plusterte die Wangen auf, sah mich entnervt an und schob nun seinen Teller von sich weg.

„Was ist eigentlich mit dir los? Du weißt doch, dass mein Vater nur wegen deinem Geburtstag kommt; du könntest dich ruhig etwas freuen.“

Und wieder bescherte Paul mir ein schlechtes Gewissen, auch wenn er ja irgendwo Recht hatte. Ich mochte Pauls Vater wirklich sehr. Denn obwohl er es nicht musste, versuchte er, mir immer eine Freude zu machen. Auch, wenn er eigentlich wegen Paul herkam. Als wäre das nicht genug, kam er sogar extra zu meinem Geburtstag, dass man denken könnte, ich wäre sein eigener Sohn und nicht nur ein fremder Junge, der reinzufällig mit seinem Sohn befreundet war.

„Tut mir leid; du hast ja Recht“, sagte ich daher schuldbewusst. Doch Paul sah nicht wirklich zufrieden aus, daher fuhr ich schnell fort. „Ich freue mich wirklich sehr auf deinen Vater. Das ist so ziemlich das Highlight der Woche für mich.“ Ich stockte kurz, denn irgendwie hatte ich den Drang, ihm noch mehr zu erzählen, aber ich konnte einfach nicht in Worte fassen, was in mir vorging. „Ich… ich weiß gar nicht, warum ich neuerdings so schlecht drauf bin. Es… es ist irgendwie als… als würde ich mich gar nicht kennen.“

An Pauls Gesicht sah ich, dass er aus meinen gestammelten Worten auch nicht wirklich schlau wurde, aber er sah mich nun zumindest verständnisvoller an und ihm schien zu reichen, was ich gesagt hatte.

„Ich bin fertig“, sagte Paul lächelnd und vor Energie strotzend, stand auf und nahm sein Tablett. „Lass uns gehen. Die letzte Stunde schaffen wir auch noch und dann machen wir uns einen schönen Nachmittag.“

Wieder einmal bewunderte ich Pauls Fähigkeit, immer wieder etwas Positives in allem zu sehen und wünschte, ich könnte auch so denken. Sicher hätte ich dann nicht so viele Probleme mit mir selbst und die Sache mit Jeffrey würde mich nicht so herunterziehen.

Mich zu einem Lächeln zwingend, tat ich es Paul nach und nahm mein Tablett. Als ich mich jedoch umdrehte, um es zur Tablettrückgabe zu bringen, stieß jemand gegen mich und das Geschirr fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden.

„Hey, was soll das?!“, rief ich wütend, fuhr herum und sah Ben und Juan entgegen, die mich hämisch angrinsten.

„Pass doch auf, wo du hinläufst!“, sagte Juan und sah mich von oben herab an. Wütend ballte ich die Fäuste; ich konnte den jungen Spanier einfach nicht leiden. Wie so einige auf diesem Internat, war auch er der Ansicht, dass er aufgrund seiner adeligen Herkunft etwas Besseres war und ließ es sich auch nicht nehmen, den nicht-adligen Schülern das klarzumachen. Immer im Schlepptau hatte er den Engländer Ben, der auch nicht viel besser war als Juan und ich wusste absolut nicht, warum, aber auf mich hatten sie es seit einiger Zeit abgesehen.

„Hier trödelt man nicht so herum, wie in deinem Kuhdorf in Indien!“

Eine passende Antwort lag mir bereits auf der Zunge, aber dann war mir bewusst, dass es das nicht wert war. Ich hatte absolut keine Lust auf die Konfrontation mit den beiden, daher machte ich mich daran, das zerbrochene Geschirr aufzuheben und ihnen besser aus dem Weg zu gehen.

Gerade als ich dazu in die Knie gehen wollte, spürte ich eine Hand an meinem Oberarm, die mich direkt wieder auf die Füße zog. In Erwartung Ben oder Juan entgegenzusehen, drehte ich den Kopf und zog überrascht die Luft ein, als ich in Jeffreys wutverzerrtes Gesicht sah.

„Das machst du nicht!“, sagte er bestimmt zu mir und ich sah ihm fragend entgegen. Doch Jeffrey hatte sich bereits zu Juan gedreht und herrschte ihn an, er solle das Geschirr aufheben.

„Sehe ich aus wie ein Dienstmädchen?“, lachte Juan und auch Ben fiel in das Gelächter mit ein.

„Nein!“, entgegnete Jeffrey schroff. „Du siehst aus, wie ein arrogantes Arschloch, das gerne andere zu seiner Belustigung malträtiert! Vermutlich kompensierst du damit deinen kleinen Schwanz!“

Entsetzt tauschte ich einen Blick mit Paul, der die ganze Situation in jedem Moment eskalieren sah und faste Jeffrey am Arm.

„Hör auf“, raunte ich ihm zu. „Das ist es doch nicht wert.“

„So?“, blaffte er mich an. „Lässt du dich etwa gerne von denen herumschubsen?!“

Vermutlich hätte ich ihm geantwortet, aber ich kam gar nicht erst dazu, denn Juan schob sich zwischen uns und stellte sich drohen vor Jeffrey auf.

„Was hast du gesagt?!“

„Du hast mich schon richtig verstanden!“, entgegnete Jeffrey unerschrocken oder vielleicht war er einfach nur dumm – ich wusste es in diesem Moment wirklich nicht. Dann ging alles so schnell, dass ich nicht genau wusste, wer angefangen hatte. Jeffrey und Juan stürzten sich wütend brüllend aufeinander und selbst Ben sah in diesem Moment geschockt aus.

„Verdammt, aufhören!“, schrie ich die beiden an, aber entweder sie hörten mich nicht oder es was ihnen einfach egal. Als Juan ausholte und mit seiner Faust heftig Jeffreys Gesicht traf, stürzte dieser zu Boden, jedoch hielt ihn das nicht davon ab, nach Juan zu treten.

Nach den ersten Schocksekunden stürzten einige der Jungen – darunter auch Ben – nach vorne und zerrten Juan von Jeffrey herunter, der ebenfalls von mir und Paul festgehalten werden musste.

„Was ist hier los?!“, donnerte eine zornige Stimme und der Tumult im Raum verstummte augenblicklich. Es wurde so still, dass man eine Stecknadel fallen hören können.

Mr. McIntire, der Leiter des Internats persönlich, stand unter der Tür und starrte mit wutverzerrter Miene zu uns herüber. Ich schluckte hart, als er mit ausgreifenden Schritten zu uns lief und krallte mich regelrecht in Jeffreys Arme.

Aber nicht nur Mr. McIntire war sauer, ich war es auch, denn anders als Jeffrey hatte ich versucht, dem Ärger aus dem Weg zu gehen und nun war ich wieder in eine prekäre Situation verwickelt. Wäre Mr. McIntire nicht gewesen, hätte ich Jeffrey wohl so einiges an den Kopf geworfen, aber ich hielt es für klüger, den Mund zu halten.

„Also! Ich erwarte eine Erklärung!“, schrie Mr. McIntire und der Einzige, der nicht zusammenzuckte war Jeffrey.

„Er hat angefangen!“, blaffte Juan außer sich und deutete auf Jeffrey, der sich die schmerzende Wange hielt. „Er hat mich beleidigt und dann ist er auf mich losgegangen!“

„Du hast nur gekriegt, was du verdienst! Außerdem warst du es, der zuerst Streit gesucht hat. Ich habe gesehen, wie du Mike mit Absicht gestoßen hast!“

Mr. McIntire schwieg bedrohlich, musterte dann einen nach dem andern und nickte schließlich grimmig.

„Gut, meine Herren, ich schlage vor, wir klären das in meinem Büro. Mr. Del Gato, Mr. Harris und Mr. Kamala, darf ich bitten?!”

Entgeistert sah ich ihm entgegen. „Was? Warum ich?“

„Er hat gar nichts getan!“, warf nun auch Paul ein und handelte sich einen missbilligenden Blick des Schulleiters ein.

„Am besten überlassen Sie es mir, diese Angelegenheit aufzuklären, Mr. Winterfeld.“
 

Ich konnte es nicht fassen, wieder war mein Nachmittag gelaufen und wieder hing ich mit Jeffrey fest. Der Unterschied diesmal war nur, dass ich mich nicht schuldig fühlte, sondern regelrecht sauer auf den Amerikaner war. Er hatte sich nicht nur eingemischt, sondern diese kleine Sache, aus der ich relativ unbeschadet herausgekommen wäre, zu einem riesen Desaster gemacht.

Nun saß ich nicht in einem Café, sondern im Vorraum von Mr. McIntires Büro und wartete darauf, die Gardinenpredigt des Jahres zu bekommen, obwohl ich nichts getan hatte. Wütend starrte ich Jeffrey an, der zerknirscht neben mir saß und sich die geschwollene Wange hielt.

Juan war bereits im Büro des Direktors, man vernahm nur McIntires laute Stimme und wenn selbst Juan lieber die Klappe hielt, wollte ich nachher nicht in meiner Haut stecken.

„Vielen Dank auch!“, raunte ich Jeffrey wütend zu.

„Was? Dass ich dich verteidigt habe? Gern geschehen“, nuschelte er und ich schüttelte entgeistert den Kopf.

„Mich verteidigt?!“, entfuhr es mir. „Du hast mich in den größten Schlamassel seit Monaten verwickelt!“

Statt mir Reue zu zeigen, grinste Jeffrey mich auch noch an und wäre Miss McCrooder, McIntires Sekretärin, in diesem Moment nicht zur Tür hereingekommen, dann hätte ich ihm sicher noch die andere Seite blau geschlagen.

Wie immer hatte die junge Frau ein Lächeln auf den Lippen und stöckelte uns auf den neumodischen Schuhen, denen mit den hohen Absätzen, entgegen. Das sah so abenteuerlich für mich aus, dass ich augenblicklich aufsprang und ihr entgegenkam, um den Eisbeutel entgegenzunehmen.

„Danke“, sagte Miss McCrooder lächelnd und setzte sich erleichtert hinter ihren Schreibtisch. Ich verstand absolut nicht, warum man sich Schuhe anzog, in denen man Schmerzen hatte. Das musste wohl so ein Frauending sein.

Als ich zu Jeffrey zurücklief, sah dieser hoch und sah mich mit leuchtenden Augen an.

„Danke“, nuschelte er, als er den Eisbeutel in meiner Hand sah. Grimmig blickte ich ihn an und drückte ihm dann nicht gerade sanft den Beutel ins Gesicht.

„Au!“, machte Jeffrey und sah mich beleidigt an.

„Das hast du verdient!“, zischte ich ihn an. Doch obwohl ich stinksauer war, konnte ich ihm nicht länger böse sein, als er mich plötzlich verschmitzt anlächelte. „Was ist so lustig?“, fragte ich irritiert.

„Du kannst ja doch bestimmend sein“, erklärte er lächelnd. „Ich hatte bisher den Eindruck, du duckst dich nur unter jedem bisschen Gegenwind, den du bekommst, aber du hast ja doch einen Arsch in der Hose. Obwohl ich genau hingesehen hatte, war ich mir da gestern nicht so sicher.“

Entgeistert sah ich ihn an und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss, während Jeffreys Grinsen immer breiter wurde. Die restliche Wartezeit zog ich es dann vor, lieber den Mund zu halten und Jeffrey so gut es ging zu ignorieren.

"Unter Arrest"

Die Standpauke, die ich erhielt, war wohl die weniger schlimme von uns dreien. Was leider nichts am Endergebnis veränderte. Wir bekamen alle drei Zimmerarrest für das gesamte Wochenende! Ich konnte es nicht glauben und doch hing ich nun ganze zwei Tage mit Jeffrey auf dem Zimmer fest, während mein bester Freund mit seinem Vater durch die Stadt zog.

Kapitän Winterfeld hatte versucht, mit McIntire zu reden und eine Ausnahme für mich zu erwirken, worauf der Direktor sich jedoch nicht eingelassen hatte. Eigentlich war ich ganz froh darüber, auch wenn ich gleichzeitig traurig war, nichts mit Paul und seinem Vater unternehmen zu können. Aber wenn ich nach der ganzen Sache als Einziger eine Ausnahme erhalten hätte, wäre alles für mich nur noch schlimmer geworden. Juan, Ben und einige der anderen Jungen würden mich gar nicht mehr in Ruhe lassen und das wollte ich nun überhaupt nicht.

Resigniert seufzte ich, nahm mir ein Buch aus dem Regal über mir und versuchte, zu lesen. Doch meine Gedanken glitten immer wieder ab und als ich begriff, dass ich den Satz vor mir nun schon zum zehnten Mal lass, schlug ich es genervt zu.

„Na? Bekommst du schon den Zimmerkoller?“, fragte Jeffrey mich mit hochgezogener Augenbraue. Wütend starrte ich den Amerikaner an, der vollkommen entspannt, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen, auf dem Bett lag. „Ich mein ja nur, es ist gerade mal zehn Uhr morgens, nicht das du gleich auf mich losgehst, weil du den Verstand verloren hast.“

„Weißt du, ich hatte eigentlich anderes vor und du hast mir schon meinen Geburtstag versaut!“

Jeffrey stieß ein humorloses Lachen aus.

„Dafür war ich nicht verantwortlich und wie du weißt, hab ich dir den Arsch gerettet. Weiß der Teufel, warum du an dem Tag so am Träumen warst. Du hast mir übrigens immer noch nicht gesagt, warum der Kohlkopf und du so früh am Tuscheln wart.“

Eigentlich war ich der Meinung, dass Jeffrey das absolut nichts anging, aber aus irgendeinem Grund sprang ich auf, durchwühlte Pauls Matratze und warf Jeffrey die Packung mit den Karten zu. Stirnrunzelnd fing Jeffrey sie auf, das heißt, er versuchte es. Er war ein miserabler Fänger und die Packung knallte in sein Gesicht, was ich mit Genugtuung feststellte.

„Aua; was soll das?“, grunzte er. „Spielkarten? Willst du jetzt Pokern?“

Genervt ließ ich mich wieder auf mein Bett fallen.

„Die hat Paul mir gestern Morgen geschenkt“, erklärte ich. „Aber ich glaube, das ist eher was für dich!“

Mit tausend Fragezeichen in den Augen sah er mich an, blickte ratlos auf die Packung in seiner Hand und öffnete sie ganz langsam, als hätte ich eine Sprengfalle darin versteckt. Vorsichtig holte er eine Karte heraus und zog die Luft ein.

„Scheiße, warum?“, entfuhr es ihm und schob die Karte schnell zurück, als hätte er sich daran verbrannt. „Und deswegen warst du den ganzen Tag so durcheinander? Wegen nem doofen Geschenk?“

„Nein!“, fuhr ich auf. „Es ist nicht wegen dem Geschenk, sondern… Ach verdammt, das geht dich gar nichts an! Vergiss es einfach! Wenn du willst, behalte sie.“

Zweifelnd sah Jeffrey auf die Spielkarten und dann wieder zu mir.

„Warum glaubst du, dass ich die haben will?“

„Na, weil du…“, begann ich, brach dann aber ab, weil ich mich langsam echt doof fühlte und gar nicht wusste, warum ich damit angefangen hatte. Aber Jeffrey schien zu wissen, worauf ich hinauswollte, kaute überlegend auf seiner Unterlippe und schlug immer wieder gedankenverloren die Karten in seine Hand.

„Wegen der Gerüchte über mich“, sagte er, was ich nicht aussprechen wollte und seufzte. „Weißt du was, du scheinst mir kein übler Typ zu sein. Ich erzähl dir, was wirklich dran ist.“

Das plötzliche Vertrauensgeständnis überraschte mich und irgendwie freute ich mich richtig darüber, sodass ich nur nickte, aus Angst, er könne es sich anders überlegen.

„Die Sache ist die“, begann Jeffrey. „Den Kunden meines Vaters und dessen Tochter gibt es wirklich, aber ich habe nicht mit ihr geschlafen, wie alle denken. Sie war furchtbar aufdringlich, aber ich wollte nichts von ihr und als ich ihre Avancen abgelehnt habe, hat sie allen erzählt, ich hätte es getan. Mein Vater glaubte ihr natürlich mehr als mir und hier bin ich. Ende der Geschichte.“

Er zuckte mit den Schultern und hielt die Karten hoch. „Ich kann damit nix anfangen.“

Dieses klare Geständnis überraschte mich und ich war neidisch, dass er das so klar und selbstsicher sagen konnte und anscheinend absolut nichts seltsam an sich fand. Ich hingegen hatte mir wegen der doofen Dinger meinen gesamten Geburtstag versaut und wurde einfach den Gedanken nicht los, dass etwas mit mir nicht stimmte.

Seufzend nahm ich wieder mein Buch in die Hand, suchte die Stelle, an der ich aufgehört hatte, zu lesen und versuchte, mich darauf zu konzentrieren. Dabei schielte mein Blick immer wieder zu Jeffrey, der sich wieder lang auf dem Bett ausgestreckt hatte und Löcher in die Decke über sich starrte. Ihm schien es wirklich nichts auszumachen, die nächsten zwei Tage in diesem Zimmer eingesperrt zu sein und nur zum Duschen raus zu dürfen.

„Und dein Vater hat dich zur Strafe hinterhergeschickt?“, fragte ich wie aus dem Nichts. Jeffrey drehte langsam den Kopf zu mir und sah mich mit einem Blick an, der klarmachte, dass es auf diese Frage keine Antwort bedurfte. „Aber was ich nicht verstehe, ist, seit du hier bist suchst du ständig Streit“, fuhr ich fort. Ich konnte es einfach nicht verstehen; wenn Jeffrey so viel Ärger mit seinem Vater hatte, warum bemühte er sich hier auf Andara-House nicht etwas mehr? Egal, wo es in den letzten vier Monaten Stress gab, man konnte davon ausgehen, dass Jeffrey darin verwickelt war. Es war gerade so, als würde er es darauf anlegen, um dann…

„Du willst, dass man dich von der Schule wirft!“, entfuhr es mir und ich sprang so schnell auf, dass ich kurz Sternchen sah. Vollkommen entrüstet sah ich zu Jeffrey hinüber, aber dieser entgegnete meinen Blick kühl und zuckte nur mit den Achseln.

„Aber was glaubst du, was du damit erreichst? Willst du es deinem Vater damit heimzahlen? Und dann?“ Wild fuchtelte ich mit den Armen in der Luft und redete mich immer weiter in Rage. Aber Jeffrey lag einfach nur da und starrte mich vollkommen ausdruckslos an. Anscheinend war ihm seine Zukunft vollkommen egal und er warf die Chance, die sich ihm hier bot, einfach weg, nur, um sich an seinem Vater zu rächen. Sicher verstand ich, dass er gekränkt war, denn auch wenn ich meinen Vater nie kennengelernt hatte: Die Vorstellung, dass er nicht zu mir stehen würde, war hart. Aber deswegen freiwillig von der besten Schule des Landes zu fliegen und sich jede Möglichkeit für die Zukunft verbauen? Nein, das war töricht.

„Mir ist das egal“, sagte Jeffrey und ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen.

„Aber…“

Ich verstummte und ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Es war geradezu, als würde es mir den Hals zuschnüren. So wie Jeffrey sich derzeit benahm, würde sein Wunsch schnell in Erfüllung gehen und obwohl ich ihn kaum kannte, tat die Vorstellung mir weh. Noch dazu schien es ihm wirklich vollkommen egal zu sein.

„Was glaubst du denn, was dich erwartet, wenn du deine Ausbildung auf Andara-House abgeschlossen hast?“, hörte ich ihn fragen und sah langsam auf, die Hände zu Fäusten geballt. Jeffrey hatte sich aufgesetzt und sah mir aufmerksam entgegen. Immerhin eine Reaktion von ihm, auch wenn ich nicht verstand, worauf er hinauswollte.

„Ich… ich werde mir wohl eine gute Arbeit suchen und dann…Naja, ich kann dann ja machen, was ich will.“

„Ach ja, kannst du das?“, entgegnete Jeffrey. „Ich glaube ja eher, dass du immer das machst, was andere dir sagen. Auch diese Schule ist mehr ein Gefängnis, aber anstatt für euch einzustehen, lasst ihr euch lieber alles gefallen!“

Mir war klar, dass er von Paul und mir sprach. Aber er lag vollkommen falsch, nur weil ich nicht jedem der gemein zu mir war ins Gesicht schlug, hieß das nicht, dass ich mir alles gefallen ließ. Ich hielt nun mal nichts von Gewalt und wie ich in Jeffreys Fall sah, brachte es wirklich nur Ärger. Nein, ich war mir sicher, dass ich die richtige Taktik hatte, um den Internatsalltag zu bewältigen.

„Du wirst wohl dein Leben lang vor anderen katzbuckeln und dann suchst du dir eine Frau und ihr macht zehn Kinder, um schön angepasst zu sein! Weißt du was?! Du belügst dich selbst.“

Mit offenem Mund stand ich da und starrte ihm entgegen. Jeffrey schien vollkommen außer sich zu sein und ich verstand absolut nicht, was er von mir wollte.

„Du spinnst doch!“, schüttelte ich langsam den Kopf, ließ mich auf mein Bett fallen und drehte mich so, dass er nur meine Kehrseite sah. Ich hatte es für heute satt, mich mit ihm zu unterhalten und ich hasste es jetzt schon, dass ich ihm für die nächsten zwei Tage absolut nicht aus dem Weg gehen konnte.

Außerdem war ich verletzt. Nur wusste ich nicht, warum, aber dass er mich auf solch negative Art sah, tat mir unglaublich weh. Dabei konnte es mir egal sein, weil ich ihn ja gar nicht richtig kannte. Jeffrey lebte nun seit vier Monaten mit uns auf dem Zimmer und die Unterhaltungen, die wir hatten, konnte ich an meinen Fingern abzählen. Er war mehr damit beschäftigt, uns aus dem Weg zu gehen oder andere Mitschüler aufzumischen. Vermutlich würde es mir gar nicht auffallen, wenn er nicht mehr da war.

Ich vergrub den Kopf in mein Kissen und schloss genervt die Augen. Doch, es würde mir auffallen, auch wenn ich absolut nicht verstand, warum. Fröstelnd nahm ich meine Decke, zog sie mir bis über die Schultern und sinnierte noch eine Weile über meinen seltsamen Mitbewohner. Irgendwann begannen meine Augen schwer zu werden und die Wärme unter meiner Decke zog mich in einen erholsamen Schlaf.

Als ich aufwachte, war es düster im Zimmer und ich erschrak kurz, wie lange ich denn geschlafen hatte. Es fühlte sich nicht an, als wäre es besonders lange gewesen, denn ich war nach wie vor noch heftig müde. Benommen drehte ich den Kopf und suchte nach der Uhr an der Wand. Kurz vor vier, las ich ab und ließ den Blick zum Fenster gleiten.

Jemand – vermutlich Jeffrey, denn Paul konnte ich nirgends entdecken – hatte die Vorhänge zugezogen, was das Zimmer bei Tage jedoch nicht so dunkel gemacht hätte. Aber hinter der Scheibe ging ein heftiger Regen nieder und der Himmel war so grau, dass man meinen konnte, die Nacht bricht herein. Kurz dachte ich sorgenvoll an Paul, der sicher noch unterwegs war, kam dann aber zu dem Schluss, dass ich mir um ihn keine Sorgen machen musste. Sicher verbrachte er den Sturm bei Kuchen und Kakao in einem gemütlich beheizten Café, der Glückliche.

Seufzend wickelte ich mich wieder in meine Decke; ich hatte absolut keine Lust, aufzustehen und das Licht einzuschalten. Jedoch war an Schlafen auch nicht mehr zu denken, selbst, wenn ich mich noch etwas erschöpft fühlte, aber ohne Licht würde ich nicht lesen können. Gerade als ich mich dazu anschickte, die Decke von mir herunterzuschieben, um leise aufzustehen, vernahm ich ein seltsames Geräusch und erstarrte.

Suchend glitt mein Blick durch den Raum und blieb schließlich an Jeffreys Bett hängen, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Viel erkannte ich von ihm nicht. Er hatte die Decke fast bis über seinen Kopf gezogen und nur ein paar braune Haarbüschel schauten hervor. Aber die Geräusche, die ich hörte, stammten eindeutig von ihm und ich vernahm immer wieder zaghafte Bewegungen unter der Decke.

Zuerst dachte ich, er würde schluchzen oder hätte vielleicht Schmerzen. Immerhin war es möglich, dass er sich mehr verletzt hatte, als er es zugeben würde und ich traute ihm zu, dass er lieber still vor sich hin litt, als sich helfen zu lassen. Oder es war noch wegen der Sache gestern, als ich so blöd war und diesen Scherz über seine Mutter gemacht hatte.

Ich konnte es durchaus nachfühlen, denn sehr oft in der Vergangenheit hatte ich mich abgeschirmt, von allem unter meiner Decke versteckt und geweint. Hatte darüber getrauert, wie unfair es war, dass ich meine Eltern nie kennenlernen durfte. Niemals wissen würde, wie es war, von ihnen in den Arm genommen zu werden, wenn ich mich verletzt oder gar ausgeschimpft zu werden, falls ich mich blöd benommen hatte.

Selbst danach sehnte ich mich oft; Hauptsache, sie waren bei mir.

Aber das waren sie nicht und das würden sie nie sein; und das Schlimmste war, dass ich nicht einmal wusste, wie sie aussahen. Ich hatte meinen Vormund oft gefragt, aber er hatte keine Fotografie, die er mir zeigen konnte. Alles, was ich von ihnen besaß, waren ein Amulett und ein Stapel Briefe, die ich erst an meinem 21ten Geburtstag bekommen würde.

Prüfend sah ich wieder zu Jeffrey und egal, wie mies der Morgen gelaufen war, ich wollte ihn in seinem Schmerz nicht alleine lassen. Langsam schob ich die Decke weg und wollte gerade die Beine aus dem Bett schwingen, als ich ein gedämpftes, langgezogenes Stöhnen hörte.

Ich erstarrte und wagte es kaum zu atmen. Das klang absolut nicht danach, dass Jeffrey Schmerzen litt, fand ich. Es klang eher, nach vollkommener Zufriedenheit. Die Geräusche wurden langsam leiser und seine Atmung, die ich durch das Heben und Senken der Decke sah, wurde ruhiger.

Wie erstarrt saß ich da und langsam begann mein Po zu schmerzen, da ich minutenlang in der gleichen Haltung dasaß. Als ich es gar nicht mehr aushielt veränderte ich meine Position minimal, jedoch reagierte mein Bett mit einem verräterischen Quietschen.

Erschrocken sah ich zu Jeffrey hinüber, der vollkommen erstarrt dalag und dann langsam den Kopf aus der Decke herausstreckte. Alles in mir schrie danach mich schnell auf das Bett zu werfen, mich unter der Decke zu verstecken und so zu tun, als würde ich schlafen. Aber Jeffrey hatte ja bereits gemerkt, dass ich wach war und dass ich ihn anstarrte – und sicher konnte er sich denken, dass ich alles mitbekommen hatte. Sein Blick bohrte sich in meinem fest und kurz hatte ich Angst, wie er reagieren würde, denn immerhin hatte ich etwas sehr Privates mitbekommen. Aber warum tat er es auch während ich im Zimmer war?

Ihm musste doch klar sein, dass ich jeden Moment aufwachen könnte! Meine Gedanken überschlugen sich und ich wusste absolut nicht, was ich tun oder sagen sollte. Am besten wäre es gewesen, den Blick abzuwenden, aber ich konnte es nicht und auch er starrte mich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. Etwas in mir musste vollkommen aus den Fugen geraten sein, denn ich spürte ein sanftes Kribbeln in meinem Bauch, besonders als ich Jeffreys gerötete Wangen und seinen verklärten Blick wahrnahm.

„Ich… ähm…Ich…“ Ich hatte das Gefühl etwas sagen zu müssen, da die Spannung zwischen uns immer unangenehmer zu werden schien. Doch außer ein paar gestotterten Silben brachte ich nichts Vernünftiges heraus, brach ab und sah schließlich peinlich berührt auf meine Füße hinab.

Leise hörte ich Jeffreys Decke rascheln, vernahm dann tapsende Schritte und schließlich das verzweifelte Quietschen des Wasserhahns. Vorsichtig lugte ich unter meinen Wimpern hervor und sah ihm zu, wie er in aller Ruhe und gründlich seine Hände wusch.

Jeffrey trug nur Hemd und Unterhose und ich bewunderte die Muskeln seiner Beine. Besonders seine Waden ließen mich schwer schlucken. Er sah wirklich gut aus und war so ganz anders als ich; ich war schon immer schlank gewesen und dabei jedoch nicht zu dünn, aber von solchen Muskeln konnte ich nur träumen.

Ohne mich zu beachten, trocknete er sich ab, lief dann zu seinem Schrank und suchte sich neue Kleidung heraus. Spätestens jetzt hätte ich eigentlich wegsehen müssen, aber irgendwie wollte ich nicht. Doch im nächsten Moment wünschte ich, ich hätte es getan, denn Jeffrey zog sich ohne zu zögern das Hemd aus und direkt danach folgte die Unterhose.

Mein Herz wäre mir am liebsten aus dem Hals gehüpft und ich merkte deutlich, dass meine Ohren glühten, aber das Peinlichste war, dass meine untere Körperregion ebenfalls der Meinung war, darauf reagieren zu müssen.

„Scheiße!“, dachte ich verzweifelt und starrte auf meine Füße. Das konnte doch nicht sein?! Was zum Teufel war falsch mit mir?

Jeffrey schien es vollkommen egal zu sein, dass er nackt vor mir stand und das, nachdem er sich gerade selbst befriedigt hatte. Denn er zog sich so gemächlich an, als wäre er vollkommen alleine. Ich hörte eine Gürtelschnalle klicken und das Rascheln von Stoff, dann einen Stuhl, der geräuschvoll zurückgezogen wurde.

Ganz langsam sah ich wieder auf. Jeffrey saß an dem großen Schreibtisch, den wir zu dritt nutzten und blätterte durch ein Buch, machte sich hin und wieder Notizen und beachtete mich absolut nicht. Ernsthaft?! Was war mit diesem Typen los?

Erst holte er sich praktisch vor mir einen runter, stiefelte im Anschluss nackt durch das Zimmer und nun saß er da, als wäre nichts gewesen? Mit offenem Mund sah ich ihn an und mir war egal, dass ich total bescheuert aussehen musste, aber die Ereignisse der letzten Minuten wollten mir einfach nicht in den Kopf. Jeffrey blätterte um, schrieb ein paar Zeilen und legte stirnrunzelnd den Stift weg. Als er den Kopf hob und mich fragend ansah, rutschte mir das Herz in die Hose. Ich wusste nicht, wie es ausgehen würde, aber sicher mussten wir darüber sprechen, was passiert war und anscheinend war Jeffrey das jetzt auch klar.

„Du hast das Mittagessen verschlafen“, stellte er trocken fest und deutete auf das Tablett auf der anderen Seite des großen Tisches. „Isst du das noch?“

Ich fühlte mich so vor den Kopf gestoßen, dass ich, ohne darüber nachdachte, aufstand und mich Jeffrey gegenübersetzte, obwohl ich nicht wusste, ob ich ihm gerade so nahe sein wollte. Um der peinlichen Stille zu entkommen, nahm ich die Haube vom Teller und sah mir an, was es gab. Außerdem meldete sich mein Magen mit einem lauten Knurren und ich hatte nicht vor zu verhungern, nur, weil Jeffrey vor meinen Augen Sex mit sich selbst hatte. Die Genugtuung gab ich ihm sicher nicht.

Es gab Kartoffelauflauf und auch, wenn er schon kalt war, schmeckte er wahnsinnig gut und mein Hunger tat den Rest. Also stürzte ich mich regelrecht darauf und hatte Jeffrey schon fast vergessen, jedoch nur so lange bis er plötzlich über seine Tischhälfte nach meinem Nachtisch griff.

„Hey! Was soll das?“, nuschelte ich mit vollem Mund und schlug nach seinen Fingern.

„Das ist meine Entschädigung fürs Spannen.“ Unbeeindruckt von meinem kleinen Versuch, meinen Nachtisch vor ihm zu retten, nahm er die Schale mit Vanillepudding und schob sich lächelnd den ersten Löffel in den Mund. Dabei machte er so einen kindlichen zufriedenen Eindruck, dass meine Verstimmung beinahe augenblicklich verflog und für einen kurzen Augenblick meinte ich sogar, ein verschmitztes Glitzern in seinen Augen zu sehen, als er mich ansah.

"Kakao und andere Vorhersagen"

Die Woche verging tatsächlich ohne größere Vorkommnisse, was auch daran lag, dass Juan sich deutlich zurückhielt. Ben und die anderen Jungen hatten nach dem Ärger, den der junge Spanier bekommen hatte, auch nicht sonderlich Lust, sich mit Jeffrey oder mir anzulegen und somit Gefahr zu laufen, ebenfalls bei McIntire vorsprechen zu müssen. Ich genoss zwar die Ruhe, aber ich gönnte Jeffrey keinesfalls den Triumph, denn anders als der Amerikaner war ich trotzdem nicht der Meinung, dass eine Schlägerei die richtige Lösung sei.

Was mir dennoch mit großem Erstaunen aufgefallen war, war, dass Jeffrey sich sogar im Unterricht mehr bemühte. Er war zwar nicht direkt zum Musterschüler mutiert, dennoch war er mehr bei der Sache und suchte nicht mehr so oft die Konfrontation.

„Hatte es etwas mit dem Streit zwischen Jeffrey und mir zu tun?“, fragte ich mich im Stillen, aber Jeffrey wirkte an diesem Tag weder einsichtig, noch hatte ich den Eindruck, dass er darüber nachdenken würde. Ich errötete und ohne, dass ich es steuern konnte, glitten meine Gedanken zu den Ereignissen an diesem Nachmittag zurück. Sofort sah ich ihn wieder vor mir und schlimmer noch, ich hörte die Geräusche, die er von sich gegeben hatte, während er…

Nein! Stopp!

Nicht darüber nachdenken, rief ich mich zur Vernunft und nahm schnell wieder das Buch in die Hand, das ich Minuten zuvor achtlos auf den Nachttisch geknallt hatte. Seufzend sah ich den Einband an und musste der Tatsache ins Auge sehen, dass die Mitglieder der Familie Winterfeld seltsame Geschenke machten. Ich hatte das Buch von Pauls Vater, Hieronymus Winterfeld, der Kapitän der kaiserlichen Kriegsmarine war, bekommen und auch wie Pauls Geschenk rief es mulmige Gefühle in mir hervor. Auch wenn diese etwas anderer Natur waren.

„Leitfaden für den tugendhaften jungen Mann“, las ich die deutsche Überschrift des Buches und ein erneutes tiefes Seufzen verließ meine Brust. Zaghaft schlug ich es auf, überblätterte dabei immer wieder einige Seiten und überflog den Inhalt nur grob. Es war ein Sammelsurium von Ratschlägen, Verhaltensrichtlinie und wichtigen Tugenden, die ein Mann vorweisen sollte, um auch als solcher zu gelten. Ehrlich gesagt wurde mir schlecht vom Inhalt des Buches, denn ich stellte einmal wieder fest, dass ich so ganz und gar nicht in das Bild passen wollte, dass man mir hier vorgab. Warum sollte ich mich in irgendwelche Muster pressen lassen? Konnte ich nicht einfach ich sein?

Wobei ich irgendwie nicht wusste, wer ich war.

Hm, na immerhin würde ich mit dem Buch meine Deutschkenntnisse verbessern können.

Die Zimmertür wurde geöffnet und ich sah einen voll und ganz entspannten Paul hereinkommen, dessen Haare noch nass und zerzaust waren. Ich lächelte ihm zu und war froh, von dem Buch und meinen Gedanken abgelenkt zu werden. Auch wenn es mit Paul in letzter Zeit auch nicht einfach war, besonders seit letztem Wochenende.

Paul war kurz nach der Sache mit Jeffrey zurückgekommen und ich musste wohl noch einen recht verwirrten Eindruck gemacht haben, denn er fragte mich sofort aus, was denn gewesen sei. Da es mir einfach zu peinlich war, ihm davon zu erzählen und ich ja selbst komplett von meinen Empfindungen überrollt war, war ich ihm so gut es ging ausgewichen. Dies führte schließlich dazu, dass Paul dachte, ich sei sauer auf ihn, weil er alleine mit seinem Vater in das Café gegangen war. Ich versicherte ihm immer wieder, dass das nicht der Fall war, aber da ich ihm keinen zufriedenstellenden Grund für mein Verhalten geben konnte, entstand doch eine ziemliche Anspannung zwischen uns.

„Hey“, grüßte er mich beinahe schüchtern, als ich ihm aber weiter freundlich zulächelte, schien er mutiger geworden und grinste zurück. „Was liest du da?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern und zeigte ihm wortlos den Einband, wobei ich nicht verhindern konnte, dass meine Augenbrauen nach oben wanderten. Paul stieß ein glucksendes Lachen aus, als er mein bedröppeltes Gesicht sah.

„Willkommen in der Familie“, sagte er lachend. „Tut mir leid, Mike. Aber wenn dich das tröstet, ich habe es auch zu meinem 16ten bekommen. Vater sagte, und ich zitiere: Es sei ein wichtiger Leitfaden, um ein ehrenwertes Mitglied der Familie Winterfeld zu werden.“

Paul stand da, stramm wie ein deutscher Soldat mit erhobenem Zeigefinger und nur die Pickelhaube hätte noch gefehlt. Ich brach in schallendes Gelächter aus, sodass mir sogar die Tränen kamen und mir wurde bewusst, wie angespannt ich gewesen war. Es war unglaublich befreiend.

„Was kommt als nächstes?“ Ich wischte mir lachend die Tränen von den Wangen und hielt mir den Bauch. „Adoptiert er mich demnächst?“

Paul grinste, wahrscheinlich erschien ihm die Idee gar nicht so mies oder er heckte schon heimlich Pläne aus. Immerhin waren wir fast schon so etwas wie Brüder. Jedenfalls wollte ich ihn nie missen und konnte mir nicht vorstellen, jemals ohne ihn durch die Welt zu gehen.

„Das ist eine gute Idee. Ich spreche gleich beim nächsten Mal mit meinem Vater, dann müssen wir nur noch deinen Vormund in Indien überzeugen. Ich wollte ja schon immer mal nach Indien.“ Paul sprudelte nur so über von tollkühnen Plänen, aber natürlich war ihm und mir bewusst, dass es eben nur das war – lustige Hirngespinste, die wir uns machten. Ich lebte gerne bei meinem Vormund in Indien, der ein enger Bekannter meines Vaters gewesen war und durch den ich das Gefühl bekam, nicht ganz meine Wurzeln verloren zu haben. Auch, wenn ich mich wirklich nicht als Inder fühlte. Zwar war diese Nationalität auf meinem Pass eingetragen, aber ich sah überhaupt nicht so aus und fühlte mich diesem Volk auch kaum zugehörig. Ich hatte schwarzes Haar und braune Augen, aber meine Haut war viel zu hell; wenn überhaupt, dann war ich minimal dunkler als meine englischen Mitschüler.

Die gelöste Stimmung tat mir wirklich gut, aber leider hielt sie nur an, bis die Tür erneut aufging und Jeffrey hereinkam. Verkrampft sah ich in eine andere Richtung und ich war froh, dass Paul sich seinen Schularbeiten zugewandt hatte und so meinen Stimmungswechsel nicht allzu deutlich wahrnahm. Ich spürte Jeffreys Blick auf mir und ebenso, dass er versuchte, meine Aufmerksamkeit zu bekommen, aber nicht genau wusste, wie er es anstellen sollte. Aber etwas in mir sperrte sich davor, ihm etwas entgegenzukommen, also tat ich so, als würde ich es nicht bemerken.

Zum Glück gab er relativ schnell auf und tat es Paul gleich, setzte sich an den Schreibtisch und begann, sich Notizen aus einem Buch zu machen. Ich hatte meine Schularbeiten schon längst erledigt und entschied mich, einfach einmal gar nichts zu tun, also saß ich nur da und beobachtete ihn unauffällig. Nach relativ kurzer Zeit riss er einen Zettel aus seinem Notizbuch, legte ihn in das Buch und klappte es schwungvoll zu. Ich nahm an, dass er es einfach als Lesezeichen benutzte und maß dem keine Bedeutung zu. Erst als er aufstand und mir das Buch hinhielt. sah ich ihn fragend an.

„Danke, dass du mir das Buch ausgeliehen hast.“, sagte er knapp und warf mir einen beschwörenden Blick zu. Verwirrt nahm ich das Buch entgegen und sah es zweifelnd an. Ich hatte Jeffrey gar nichts ausgeliehen und das Buch war mir ebenso völlig unbekannt.

„Kein Problem“, erwiderte ich stirnrunzelnd. Jeffrey nickte knapp und setzte sich wieder an den Schreibtisch, aber ich bemerkte, dass er mich heimlich musterte. Einige Minuten hielt ich das Buch einfach nur in der Hand und starrte auf den Einband hinab, während Jeffrey unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.

Neugierig schlug ich es an der Stelle auf, an der Jeffrey den Zettel hineingelegt hatte und erstarrte. Kurz blickte ich zu ihm auf und dann wieder zu dem knappen Text. Ich las ihn mindestens drei Mal, wusste aber trotzdem nicht, was ich davon halten sollte.

„Tut mir leid mit deinem Geburtstag. Ich schulde dir Apfelkuchen. Morgen Nachmittag?“, las ich still. Unschlüssig schloss ich das Buch und legte es auf den Nachttisch ab, wo sich schon einige andere Bücher stapelten. Ich musste dringend einen klaren Kopf fassen und da bald Nachtruhe sein würde, beschloss ich, duschen zu gehen.
 

Ich lag noch eine ganze Weile wach und starrte immer wieder auf das Buch, welches nach wie vor unangerührt auf meinem Nachtschränkchen lag. Paul und Jeffrey schliefen schon seit einer ganzen Weile, wobei Paul hin und wieder ein kleines Grunzen ausstieß, das mir pausenlos ein Grinsen aufs Gesicht brachte. Prüfend glitt mein Blick weiter zu Jeffrey, der vollkommen ruhig schlief und einen so entspannten Gesichtsausdruck hatte, dass ich mich fragte, wie er sich im wachen Zustand ständig in Ärger reiten konnte.

Mit seinem Anblick gingen meine Gedanken zurück zu seiner Nachricht und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Immerhin hatte er mich ziemlich beleidigt, als wir uns das letzte Mal so richtig unterhalten hatten und dann die Sache, die danach passiert war. Ich wusste daher nicht, wie ich mit seiner Einladung umgehen sollte.

Tat es ihm wirklich leid oder würde er mich bei der erstbesten Gelegenheit wieder kritisieren oder einfach stehenlassen, wenn ich etwas Falsches sagte oder tat?

Aber er hatte so bedrückt ausgesehen, als ich seine Nachricht ignoriert und stattdessen das Zimmer verlassen hatte. Und wer weiß, vielleicht war es das ja wert, ihm eine Chance zu geben?

In der Dunkelheit langte ich nach dem Buch und tastete so leise wie möglich den Schreibtisch, auf der Suche nach einem Bleistift, ab. Beinahe blind schrieb ich ein einfaches ‚Ja‘ auf den Zettel, klappte das Buch geräuschlos zu und legte es auf Jeffreys Nachttisch.

Komplett müde tapste ich zu meinem Bett zurück, das mich mit einer wohligen Wärme empfing und schlief fast augenblicklich ein, nachdem ich mich in meine Decke gewickelt hatte.
 

Ich traf Jeffrey zum vereinbarten Zeitpunkt am Tor des Andara-House Anwesens. Als er mich kommen sah, hob er kurz die Hand zum Gruß und auf seinen Lippen erschien ein leichtes Lächeln. Unsicher vergrub ich die Hände tiefer in meiner pelzgefütterten Jacke. Es war wirklich eisig kalt und erste Schneeflocken tanzten bereits vom Himmel. Aber die Luft war angenehm klar und auch, wenn ich eine tiefe Nervosität in meinem Bauch fühlte, war ich froh über diese Gelegenheit, den Schlossmauern von Andara-House zu entkommen. Außerdem war ich auch erleichtert gewesen, dass Paul heute bereits mit einigen anderen Jungen verabredet war und er mich daher nicht nach meinen Plänen für den Tag gefragt hatte. Ich wusste nicht, warum, aber es wäre mir schwergefallen, ihm zu sagen, dass ich mit Jeffrey auf einen Besuch im Café verabredet war.

Eine ganze Weile liefen wir schweigend und jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend durch die Straßen und ich fragte mich, wie das aussehen würde, wenn wir erst einmal im Café waren. Würden wir uns gegenübersitzen, still unseren Kuchen essen und den Kakao oder Tee trinken und dann gehen? Wie zwei Fremde, die nur rein zufällig an einem Tisch saßen?

Warum lud Jeffrey mich ein und sagte dann die ganze Zeit nichts?

Unruhig sah ich zu Jeffrey, der in diesem Moment ebenfalls aufblickte und dann aber etwas absolut Spannendes auf dem Weg gefunden haben musste. Jedenfalls heftete er seinen Blick auf das Kopfsteinpflaster, als hinge sein Leben davon ab, jede Rille zu zählen.

„Lassen die eigentlich zwei Jugendliche ohne Erwachsenen in so ein Café?“, fand ich schließlich eine Frage, die ich ihm stellen konnte und es war nicht nur so daher gesagt. Ich begann wirklich, mir darüber Sorgen zu machen, denn immerhin waren diese Caféhäuser der neueste Schrei und man traf zuweilen nur die Wohlhabendsten dort an, die sich wahrscheinlich von zwei Sechzehnjährigen ohne Erziehungsberechtigten gestört fühlten.

Das erste Mal seit zwanzig Minuten hob Jeffrey den Kopf und lächelte mich selbstsicher an.

„In diesem ist das kein Problem“, erklärte er. „Es gehört meinem Onkel und ich bin relativ oft dort, vor allem dann, wenn es mir nicht so gut geht.“

„Du hast einen Onkel hier?“, fragte ich erstaunt und freute mich gleichzeitig, mehr von ihm zu erfahren.

„Ja, er ist der Bruder meiner Mom. Sie stammte aus London.“

Und wieder eine Gemeinsamkeit; seine Mutter war nicht nur tot, wie meine, sie hatten auch die gleiche Herkunft. Was mich aber am meisten rührte, wurde mir bewusst, war, dass Jeffrey mir seinen persönlichen Rückzugsort offenbart hatte und mich sogar mit dahin nahm.

Nach weiteren fünf Minuten Gehweg, der sich nun nicht mehr so unangenehm gestaltete, erreichten wir unser Ziel und Jeffrey öffnete mir lächelnd die Tür.

Das Klingeln kleiner Glöckchen und eine wohltuende Wärme begrüßten uns. Ich merkte erst jetzt, wie durchgefroren ich war. Mit einem zufriedenen Seufzer atmete ich die süße Luft ein, welche allmöglichen Leckereien versprach. Lächelnd nahm Jeffrey mir die Jacke ab und brachte sie, zusammen mit seiner eigenen, zur Garderobe, dann gab er mir einen Wink, ihm zu folgen und lief zum Verkaufstresen.

„Jeffrey!“, begrüßte ihn ein hochgewachsener Mann, etwa Mitte 40 mit dunklem, braunen Haar, der hinter dem Tresen stand. Sein Lächeln war das erste, das mir auf Anhieb gefiel, denn es wirkte absolut ehrlich und war definitiv ansteckend.

„Hallo, Onkel Stan“, grüßte Jeffrey zurück und lehnte sich gegen den Tresen. Er wirkte dabei so entspannt, wie ich ihn nur gesehen hatte, wenn er schlief.

„Wen hast du denn da mitgebracht?“, fragte Jeffreys Onkel und musterte mich neugierig. Bei jedem anderen wäre mir das unangenehm gewesen, jedoch nicht bei ihm. Ich konnte von Jeffrey denken, was ich wollte, aber sein Onkel war mir auf Anhieb sympathisch.

„Das ist mein Freund Mike. Wir teilen uns ein Zimmer.“

Hatte ich mich verhört? Hatte Jeffrey mich gerade als seinen Freund bezeichnet? Auch wenn ich bis vor wenigen Stunden noch so sauer auf ihn gewesen war, ich freute mich darüber, nur war mir nicht bewusst gewesen, dass Jeffrey mich so sah.

„Freut mich sehr, Mike. Ich bin Stan Harris, Jeffreys Onkel“, schüttelte er mir die Hand und lächelte mich weiter mit diesem unergründlichen Lächeln an. „Sucht euch einen schönen Platz, ich schicke gleich Sally für eure Bestellung.“

Jeffrey ging zu einer kleinen, gemütlichen Sitzecke im hinteren Teil des Lokals, die aus einer ledernen Eckbank, einem runden Tisch und zwei dazu passenden Stühlen bestand. Es sah mit dem dunkelbraunen Leder und den samtenen Vorhängen vor dem Fenster wirklich einladend aus; und als ich mich setzte, bemerkte ich, dass es auch unglaublich gemütlich war.

Mit einem entspannten Seufzen ließ Jeffrey sich ebenfalls auf das Möbelstück nieder, lehnte sich an und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, knöpfte er sein Jackett auf, zog die Jacke aus und warf sie achtlos zwischen uns in die Mitte der Bank. Seine Krawatte folgte sogleich und Jeffrey wirkte direkt wie ein anderer Mensch.

„Schon besser“, seufzte er.

Interessiert musterte ich ihn; Jeffrey hatte bisher nie den Eindruck gemacht, dass ihm der Kontakt zu mir etwas bedeutete. Nach der vergangenen Woche, in der ich ihn überwiegend gemieden hatte, schien es aber so, dass es ihm auch nicht passte, wenn ich mich von ihm fernhielt. Ich war verwirrt und wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich mich nun verhalten sollte.

„Wir sind also Freunde?“, fragte ich gerade hinaus und wieder reagierte Jeffrey so, wie ich es nicht von ihm gewohnt war. Seine Wangen bekamen einen leichten roten Schimmer und er sah betreten auf die Tischplatte.

„Nun ja, also...“ Jeffrey stammelte vor sich hin und nahm sich dann die Speisekarte, da seine Finger verzweifelt nach einer Beschäftigung suchten. „Wenn du... Wenn du es denn willst.“

Ich nahm mir ebenfalls eine Karte und studierte sie eingehend, bevor ich Jeffrey antwortete. Zum einen wollte ich ihn etwas zappeln lassen und auf der anderen Seite brauchte ich wirkliche ein paar Minuten, um mir zu überlegen, was ich sagen sollte.

„Und ich bin dir nicht zu angepasst, um dein Freund zu sein?“ Die Frage stellte ich in einem sanfteren Tonfall, als ich es beabsichtigt hatte und doch sah ich Jeffrey leicht zusammenzucken. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder als eine junge Frau, etwa Anfang 20, nach unseren Wünschen fragte.

Es musste sich um Sally handeln, von der Stan gesprochen hatte. Obwohl sie in dem schlichten grauen Kleid mit der weißen Schürze und dem streng zurückgebundenen roten Haar wie ein Mauerblümchen aussah, glitzerte es verschmitzt in ihren Augen, als sie Jeffrey und mich ansah.

Mich musterte sie besonders neugierig, was mich dazu veranlasste, erneut die Speisekarte zu begutachten, obwohl ich schon wusste, was ich wollte.

„Habt ihr euch schon entschieden?“, fragte sie und zückte Block und Bleistift.

„Wie immer“, sagte Jeffrey knapp. Sally nickte und sah mich dann freundlich lächelnd an. Mein Gesicht verzog sich zu einem missglückten Lächeln, als ich mir Apfelkuchen und heiße Schokolade bestellte. Eigentlich war ich ja Teetrinker, aber der hereinbrechende Winter hatte dafür gesorgt, dass es mir eher nach etwas Süßem verlangte.

Fleißig eilte Sally wieder davon und wir waren wieder alleine, was in meinem Sinne war, Jeffrey jedoch sichtlich Unbehagen bereitete. Nun war er es einmal, der dieses Gefühl verspürte; auch wenn ich mich schon etwas schlecht dabei fühlte, bemerkte ich eine gewisse Genugtuung bei mir.

Jeffrey sah mir in die Augen und ich bereute alles, was ich zuvor gedacht hatte. Wie machte er das nur?

Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass er mich verhext hatte.

„Also, ich würden mich freuen, wenn du mein Freund wärst und es tut mir leid, was ich über dich gesagt habe.“

Er machte eine Pause und schien nach Worten zu suchen, aber ich spürte auch, dass das, was er bisher gesagt hatte, die Wahrheit war.

Dennoch war ich nicht unbedingt enthusiastisch über seine Entschuldigung. Denn das, was er mir während unseres Zimmerarrestes an den Kopf geworfen hatte, war ebenso nicht nur so daher gesagt gewesen. Ich spürte es einfach.

„Warum hast du es dann erst gesagt, wenn dir doch so viel daran liegt, mit mir befreundet zu sein?“

Bevor Jeffrey mir antworten konnte, kam Sally mit unserer Bestellung und so langsam nervten mich die ständigen Unterbrechungen. Aber zumindest hielt Sally sich nicht lange an unserem Tisch auf, denn die Türglocke kündigte einen neuen Gast an.

Vorsichtig nippte ich an meiner heißen Schokolade, die ungelogen die beste seit Jahren war, und sah Jeffrey auffordernd an.

Als wäre Kakao etwas, womit man sich Mut antrinken könnte, stürzte Jeffrey die halbe Tasse herunter. Klirrend stellte er sie auf die Untertasse zurück und räusperte sich.

„Das ist nicht so einfach zu erklären“, meinte er und errötete erneut. „Ich war so sauer darüber, wie Juan mit dir umgegangen war und dass du es dir einfach so gefallen lässt. Aber das war nicht der Grund, warum ich es gesagt hatte. Es... Ich glaube wir sind uns in einigen Punkten sehr ähnlich und ich hatte das Gefühl, dass du manchmal nicht der bist, der du sein willst und ich... Ach verdammt, ich wäre einfach gerne dein Freund!“

Jeffrey überschlug sich fast in seinem Monolog und sah immer wieder verzweifelt zu mir. Von seiner Selbstsicherheit war nichts mehr zu sehen und ich war mir nicht ganz sicher, ob dieser Jeffrey der Wahre war.

„Ich verzeihe dir“, sagte ich daher schnell. Jeffrey wollte gerade zu einer erneuten Beteuerung seiner Reue ansetzen, als er begriff, was ich gesagt hatte.

„Ja?“

„Ja“, versicherte ich ihm, lächelte ihm zu und machte mich freudig über meinen Apfelkuchen her. Auch Jeffrey wirkte deutlich gelöster und wir unterhielten uns angeregt, besonders über das neueste winterfeld‘sche Geschenk.

„Ich bin wirklich froh, dass du mir verziehen hast“, sagte Jeffrey plötzlich, obwohl ich dachte, wir hätten das Thema seit Stunden durch. „Ich bin mir ja nicht sicher, ob du mit deinem Stalker unter einer Decke steckst. Wer weiß, was der mit mir macht, wenn du dich bei ihm ausheulst.“

Jeffrey grinste, aber ich verstand seinen seltsamen Scherz absolut nicht.

„Hä?“, machte ich verständnislos. „Was für ein Stalker?“

Verschwörerisch beugte Jeffrey sich zu mir herüber.

„Dreh dich jetzt nicht gleich um. Der Typ da hinten mit der Zeitung, ich könnte schwören, dass der vorhin die ganze Zeit hinter uns herlief.“

Zweifelnd sah ich ihn an, war aber doch neugierig. Nur einfach hinsehen ging wirklich nicht. Kurz dachte ich nach und ließ dann einfach meine Gabel fallen, um mich beim Aufheben so zudrehen, dass ich in die beschriebene Richtung sah.

Erkennen tat ich nicht viel, eigentlich sah ich nur eine Zeitung, die von zwei dunklen Händen gehalten wurde.

„Du spinnst doch!“, grinste ich Jeffrey an, der eindeutig eine seltsame Art von Humor hatte, doch in Jeffreys Gesicht fand ich nicht das verräterische Grinsen, das ich da erwartete.

„Na, alles in Ordnung bei euch?“, hörte ich jemanden fragen, sah auf und erkannte Jeffreys Onkel, der uns freundlich anlächelte. Er balancierte ein Tablett in der Hand, zog mit der anderen einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf, während er das Tablett abstellte.

„Was hast du da? Hast du schon wieder etwas 'ausprobiert'?“, fragte Jeffrey mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht und sah zweifelnd auf die Gebäckstücke vor uns. Stan schien seinen zweifelnden Blick vollkommen zu ignorieren und grinste uns stolz entgegen. Neugierig sah ich mir die kleinen Küchlein an, erkannte aber nicht, was daran so besonders sein sollte. Sie waren nicht sonderlich groß, bestanden aus einem hellen Teig, der recht fluffig aussah und waren auch nicht übermäßig dekoriert. Aber da Stan so geheimnisvoll vor sich hin grinste, hatte er meine Neugier geweckt.

Wortlos stellte er je einen Teller vor uns ab und sah dabei aus wie ein kleiner Junge zu Weihnachten, der es kaum erwarten konnte, seine Geschenke auszupacken.

„Jetzt sei nicht so negativ“, maßregelte er Jeffrey gespielt beleidigt. „Das wird ganz sicher ein Erfolg! Du könntest deinem Onkel ruhig mal etwas zutrauen, undankbarer Bengel.“

Ich grinste, Jeffreys Onkel wurde mir immer sympathischer und ich wollte jetzt wirklich wissen, was es damit auf sich hatte.

„Was ist so besonders daran?“, fragte ich und schnupperte an dem Küchlein, das wirklich köstlich roch, jedoch glaubte ich nicht, das Stan deswegen so von seinem Gebäck überzeugt war.

„Siehst du!“, sagte Stan an Jeffrey gewandt und zeigte dabei auf mich. „Er versteht mich!“ Noch immer vollkommen geheimnisvoll nahm er seinen Kuchen in die Hand und brach ihn in zwei Teile. Überrascht sah ich, dass ein kleines Zettelchen daraus hervorkam und runzelte die Stirn.

„Was soll das denn?“, fragte Jeffrey entrüstet. „Beschäftigst du Sklaven in der Backstube, die so nach Hilfe suchen, damit sie deiner Sklavenherrschaft entkommen können?“

Stan brach in lautes Gelächter aus, sodass sich einige der Gäste fragend zu ihnen umdrehten und schüttelte dann den Kopf.

„Nein, in jedem Kuchen befindet sich eine kleine Botschaft, die dem Kunden die Zukunft voraussagen soll. Na los, jetzt probiert schon. Aber brecht sie vorher in zwei, sonst esst ihr den Zettel mit und ihr erfahrt nie, was die Zukunft für euch bereithält.“

Ich fand die Idee total lustig und Jeffreys Onkel schien sich so über seine neueste Kreation zu freuen, dass ich nun auch total euphorisch war. Fast gleichzeitig brachen wir unsere Kuchen durch; ich steckte mir eine Hälfte in den Mund, bevor ich mir den Zettel nahm, um seine versteckte Botschaft zu lesen.

„Was soll das denn?!“, fragte Jeffrey erneut, diesmal mit überschnappender Stimme. „'Nimm dich in Acht vor Wasser'?! Was soll denn das für eine Botschaft sein? Hast du dir das ausgedacht?“

Stan zuckte mit den Achseln, konnte aber ein Grinsen nicht unterdrücken. „Nicht alle. Einige hat Sally geschrieben.“

„Was soll mir das denn jetzt über meine Zukunft sagen? Soll ich nie wieder duschen oder wie?“

Ich rümpfte die Nase, konnte nun aber selbst ein Lachen kaum noch unterdrücken und irgendwie fand ich es süß, wie Jeffrey sich aufregte.

„Dann suchst du dir aber bitte ein anderes Zimmer“, brachte ich prusten hervor.

„Ha ha!“, machte Jeffrey beleidigt. „Jetzt sag schon; Was steht bei dir? Sollst du dich vor Kleidung in Acht nehmen?“

Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ja noch gar nicht auf meinen Zettel gesehen hatte und nahm mir das kleine Stück Papier in die Hand. Mein Lachen blieb mir augenblicklich im Hals stecken, als ich las, was darauf stand.

'Du wirst Liebe finden'

„Und?“, drängte Jeffrey. „Jetzt sag schon! Was steht da?“

Mit hochrotem Gesicht sah ich ihm entgegen und schüttelte langsam den Kopf, dabei faltete ich den Zettel so zusammen, dass keiner aus Versehen den Text darauf lesen konnte.

„Ach, das ist doch nicht so wichtig“, meinte ich herunterspielend, doch Jeffrey sah das leider ganz anders.

„Doch, ich will es wissen!“ Auch wenn Jeffrey jammerte wie ein Kind, ich hatte nicht vor, ihm das zu zeigen. Warum genau, wusste ich selber nicht. Aber besonders Jeffrey sollte das nicht sehen, also schüttelte ich den Kopf.

„Komm, gib her!“, jaulte er auf und versuchte, mir das Papier aus der Hand zu nehmen. Schnell zog ich sie zurück und brachte die geheime Botschaft so in Sicherheit, aber ich hatte nicht mit Jeffreys Hartnäckigkeit gerechnet. Immer wieder griff er danach, sodass ich den Zettel von der einen in die andere Hand nehmen und sogar aufstehen musste. Irgendwann wurde mir das Spiel jedoch zu blöd.

„Na gut! Du hast gewonnen!“, sagte ich resigniert und Jeffrey lächelte zufrieden. Wäre er ein Hund, hätte er sicher mit der Rute gewedelt, schoss es mir durch den Kopf. „Da hast du‘s“, sagte ich seufzend und warf das kleine Zettelchen in Jeffreys Kakao, in dem es sich sofort mit der Flüssigkeit vollsog.

Ich lächelte gequält, während Stan eine Augenbraue hochzog und Jeffrey ein Gesicht machte, als hätte ich gerade sein gesamtes Vermögen in Brand gesetzt.

"Die Geister, die ich (nicht) rief"

Noch nie hatte ich mich so auf das neue Jahr und damit auf das Ende der Weihnachtsferien gefreut, wie in diesem Jahr. Obwohl ich dem Internatsleben eigentlich gerne entkam und die Freiheiten auf dem Anwesen meines Vormunds in Indien sehr genoss, war ich regelrecht glücklich, wieder in England zu sein.

Das lag nicht etwa daran, weil es mir in Indien zu heiß war oder ich mich als hellhäutiger Inder wie ein Außenseiter fühlte, sondern, dass ich es kaum erwarten konnte, Jeffrey wiederzusehen. Neben Paul war er einer meiner engsten Freunde auf Andara-House geworden und wir verbrachten fast jede freie Minute zu dritt. Jedoch spürte ich auch, dass es dieses Jahr anders war als sonst. Natürlich hatte ich mich sonst auch immer gefreut, Paul nach den Ferien wiederzusehen, doch dieses Mal war es so, dass ich am liebsten gar nicht erst nach Indien gefahren wäre. Ich wusste, dass Jeffrey die Weihnachtstage und das Neujahr bei seinem Onkel verbracht hatte und am liebsten hätte ich das auch getan. Die Erkenntnis verwirrte mich ungemein.

Auch mein Vormund wirkte äußerst besorgt und fragte mich immer wieder, was denn los sei, doch so sehr er sich auch bemühte, mir mit diversen Ausflügen zu einer besseren Stimmung zu verhelfen, es half einfach nichts. Erst, als die letzte Woche sich dem Ende zuneigte, begann ich, mich zusehends besser zu fühlen und hatte beinahe ein schlechtes Gewissen.

Denn nun war es mein Vormund, der bedrückt wirkte. Immerhin musste ich ihm das Gefühl gegeben haben, dass sein Ziehsohn seiner Gesellschaft überdrüssig war.

Wir saßen alle zusammen beim Frühstück und im gesamten Saal herrschte noch eine ausgelassene Stimmung, denn der eigentliche Schulalltag würde erst morgen beginnen. Die meisten Schüler waren gestern eingetroffen, doch einige würden heute erst ankommen und so war dieser Tag dazu da, sich wieder an England und den strengen Regeln im Internat zu gewöhnen.

„Weißt du, was mich wundert?“, fragte Jeffrey, stopfte sich einen riesigen Löffel Porridge in den Mund und sprach nuschelnd weiter, als Paul und ich ihn fragend ansahen. „Mike hat gar nicht diesen niedlichen Akzent, wie man ihn immer bei Indern hört.“

Stirnrunzelnd sah ich ihn an und ließ den Löffel sinken, den ich gerade zum Mund führen wollte. „Wie kommst du da denn jetzt drauf?“ Ich wurde einfach nicht schlau aus Jeffrey; er hatte die Angewohnheit, die seltsamsten Dinge zu sagen und das völlig aus dem Nichts. Selbst bei den simpelsten Sachen, die er von sich gab, spürte ich ein Kribbeln in mir, als läge eine versteckte Botschaft darin und ich müsste nur richtig zuhören, um sie zu verstehen. Aber leider schienen wir nicht die gleiche Sprache zu sprechen.

„Och, ist mir nur so aufgefallen“, sagte Jeffrey und kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich dachte nur, nach ein paar Wochen da würdest du dich so anhören. Ich hätte es süß gefunden.“

Ich errötete noch mehr und fragte mich, warum Jeffrey wollte, dass ich mich süß anhörte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Paul mit einem fragenden Blick zwischen uns hin und her sah. Dann zuckte er mit den Achseln und ich war ihm so dankbar, dass er diesen seltsamen Moment aufbrach und unser Tischgespräch in eine andere Bahn lenkte.

„Habt ihr schon das mit dem Westflügel gehört?“, raunte Paul und beugte sich verschwörerisch über den Tisch.

„Du meinst, das mit den Bauarbeiten?“, fragte ich und hob wegen Pauls seltsamen Tonfalls eine Augenbraue. Anscheinend war Jeffrey ansteckend und nun benahm sich auch Paul sonderbar. Oder aber es war so, dass ich die seltsame Variable war und mir daher alle so erschienen.

„Bauarbeiten?“, echote Paul mit leuchtenden Augen. „Ich glaube, das erzählen sie uns nur, damit sie einen plausiblen Grund haben, uns den Zutritt zum Westflügel zu verbieten.“

Zweifelnd sah ich Paul an und zu meinem Leidwesen hatte auch Jeffrey Interesse an dieser Spukgeschichte gefunden. Zu seiner Verteidigung konnte ich jedoch sagen, dass Jeffrey nicht wusste, auf welche Art von Geschichte er sich da einließ. Da ich schon länger das Zimmer mit Paul bewohnte, hatte ich da so eine Ahnung.

„Oh Paul“, seufzte ich. „Wird das wieder so eine Geschichte?“

Beinahe beleidigt sah Paul mich an. „Ich bin mir sicher, dass diesmal etwas dran ist“, sagte er selbstsicher. „Gestern Abend, als ich angekommen bin, habe ich ein interessantes Gespräch von Miss McCrooder mitbekommen.“

Paul beugte sich noch ein Stück weiter über den Tisch, sodass er fast auf seinem leeren Frühstücksteller lag und senkte die Stimme. „Es sollen sich seltsamste Dinge im Westflügel ereignet haben und selbst die Lehrer trauen sich da nicht mehr hin!“

Jeffrey hing gebannt an Pauls Lippen, aber ich stieß nur verächtlich die Luft zwischen meinen Zähnen aus, sodass es zischte. Ich verstand noch nie, was Paul so an diesen übernatürlichen Dingen fand. Mit Begeisterung las er jede Gruselgeschichte, die er finden konnte und nahm es vollkommen ernst, wenn man über Geister oder ähnliches sprach. Ich konnte das absolut nicht verstehen und war der Meinung, dass es hinter jeder dieser Geschichten eine wissenschaftliche Erklärung gab. In den meisten Fällen steckten wohl irgendwelche Spinner dahinter, die das alles nur erfanden und vortäuschten. Jahrmarktgaukler, die mit Licht und Spiegeln Illusionen schufen, welche mit der Realität nichts zu tun hatten.

„Du meinst, es spukt da?“, hörte ich Jeffrey begeistert fragen und stöhnte innerlich auf. Nun hatte ich zwei von dieser Sorte auf dem Zimmer. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und sah die beiden ernst an.

„Das glaubt ihr zwei doch nicht wirklich, oder? Der Westflügel ist gesperrt, weil dies ein altes Schloss ist und mit der Zeit nun mal einiges an Renovierungsarbeiten getan werden muss. Mehr steckt da sicher nicht hinter.“

Paul öffnete den Mund, um mir zu widersprechen, obwohl wir schon einige dieser Gespräche hinter uns hatten. Egal, wie oft, er versuchte mich davon zu überzeugen, dass es Geister und dergleichen gab. Ich wich nicht von meiner Meinung ab, dass dies total unwahrscheinlich war. Und im Fall von Andara-House waren Pauls Geister eher der Wind, der sich an den Erkern brach oder das Knacken von alten Holzvertäfelungen. So etwas war in solchen alten Gebäuden vollkommen normal und zeugte nicht von übernatürlicher Aktivität, auch wenn es einem ab und zu Angst machen konnte. Gerade als ich im Alter von zehn Jahren auf das alte Schlossinternat kam, verbrachte ich viele Nächste vor Angst zitternd in meinem Bett.

Jedoch lernte ich schnell, dass es hier nichts gab, das mir gefährlich werden konnte – außer vielleicht einige der anderen Jungen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, mir das Leben schwer zu machen.

Zu meiner Verwunderung war es jedoch nicht Paul, sondern Jeffrey, der mich von den Gerüchten um den Westflügel überzeugen wollte.

„Bist du dir da sicher?“, fragte Jeffrey provokativ zurück und lächelte mich verschmitzt an. „Ich halte es für nicht unwahrscheinlich und dass selbst die Lehrer da nicht hinwollen, ist doch verdächtig.“

„Genau!“, pflichtete Paul ihm bei und war sichtlich froh, jemanden auf seiner Seite zu wissen. „Du hättest sehen müssen, wie verängstigt Miss McCrooder aussah, als sie über den Westflügel sprach, Mike. Wegen Bauarbeiten kriegt doch keiner so eine Angst!“

Ich zuckte mit den Schultern und konnte das Ganze nach wie vor nicht ernst nehmen. Sicher war Miss McCrooders Verhalten sonderbar, aber sie war bekannt dafür, nicht gerade die mutigste Zeitgenossin zu sein. „Sicher hat sie nur Angst, dass es dort Ratten geben könnte“, gab ich daher ungerührt zurück. Ratten, auch noch eine gute Erklärung für Pauls Spukgeschichten.

„Ratten?“, sagte Jeffrey zweifelnd. „Du glaubst, die machen so ein Aufhebens wegen ein paar Ratten?“

„Nein, weil da gebaut wird.“, wiederholte ich nun schon etwas genervter.

Paul sah regelrecht enttäuscht aus, dass ich seinen Enthusiasmus nicht teilte, doch Jeffrey lehnte sich nur locker in seinem Stuhl zurück und grinste mich an. Ich ahnte bereits, dass das nichts Gutes versprach und rieb mir entnervt die Stirn.

„Ich habe eine Idee“, sagte Jeffrey und senkte die Stimme, wodurch wir uns näher zu ihm beugen mussten, um ihn überhaupt noch zu verstehen. „Lasst uns einfach nachsehen, was da los ist.“

Genervt schob ich mein Tablett weg; Appetit hatte ich nun sowieso keinen mehr und eigentlich hätte ich einfach aufstehen und gehen sollen, aber da die beiden meine besten Freunde auf dem Internat waren, wollte ich sie nicht einfach so sitzen lassen.

„Aber du weißt schon, dass es verboten ist?“, gab ich giftig zurück. Mittlerweile hatten Pauls Augen zu leuchten begonnen und er schien von Jeffreys Idee sehr angetan zu sein. Es machte mich in diesem Moment schlicht sauer und ich wollte nicht, dass Paul sich in Schwierigkeiten begab. Er war nicht der beste Schüler und hatte daher des Öfteren Stress mit einigen der Lehrer; sich über klare Regeln hinwegzusetzen, war daher etwas, das er sich nicht leisten konnte.

„Komm schon, Mike. Die werden uns schon nicht erwischen! Wir gehen einfach hin, wenn es dunkel wird und das noch vor der Ruhezeit.“

„Also gut“, seufzte ich. Paul strahlte mich regelrecht an und wäre mir fast um den Hals gesprungen, doch ich brachte ihn mit einer kurzen Handbewegung wieder zur Ruhe. „Unter einer Bedingung.“

Erwartungsvoll sah Paul mich an und nickte schließlich, als er meinem Blick nicht mehr standhalten konnte.

„Jeffrey und ich gehen alleine deine Geister suchen und du hältst dich fern von diesem Ärger“, fuhr ich fort und ich sah deutlich Pauls Unmut. Kurz sah dieser zu Jeffrey, erhielt jedoch diesmal keinerlei Unterstützung von ihm und ich war einfach nur froh, nicht auch noch mit Jeffrey diskutieren zu müssen. Als Paul sah, dass es wohl Zwei gegen Einen stand, gab er grummelnd auf und stimmte schließlich zu.
 

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr das ohne mich machen wollt!“, jammerte Paul nun schon zum gefühlt tausendsten Mal und ich beschloss, einfach nicht mehr darauf einzugehen. Es war nun kurz vor neun Uhr abends. Jeffrey und ich wollten uns jeden Moment auf den Weg machen. Paul sah schon seit einer Stunde im Minutentakt auf die Uhr und je mehr wir uns 21 Uhr annäherten, desto mehr nahm sein Jammern zu. Am Anfang hatte ich ihm noch erklärt, dass ich dies nicht tat, um ihn zu ärgern, sondern nur wollte, dass er Stress mit McIntire vermied. Denn leider war es nicht unbekannt, dass Pauls Leistungen derart in den Keller gegangen waren, sodass er es nur noch dem Einfluss seines Vaters verdankte, nicht schon vor Monaten nett zur Tür herausgebeten worden zu sein. Dennoch ließ Paul es sich nicht nehmen, ihnen immer wieder zu sagen, wie unfair er es fand, von diesem Abenteuer ausgeschlossen zu werden.

„Sieh es doch mal so“, versuchte nun Jeffrey, Paul zu beschwichtigen. „Wenn Mike und ich nicht zurückkommen, dann hast du den Beweis für deine Theorie und dich nicht mal selbst in Gefahr gebracht.“

Jeffrey grinste in meine Richtung, aber mir war nun absolut nicht nach Lachen zumute. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich nur zu gerne auf diesen kleinen Ausflug verzichtet.

„Was ist los?“, fragte Jeffrey in meine Richtung und grinste breit. „Du bist ja ganz blass geworden. Hast du nun doch Angst vor den Gespenstern?“

„Du spinnst doch!“, zischte ich zurück, öffnete den Schrank und kramte nach der kleinen Öllampe, die wir brauchen würden. Es war immerhin noch Winter und mittlerweile schon tiefe Nacht draußen. Zwar brannte im bewohnten Teil von Andara-House noch das elektrische Licht, im Westflügel würde das jedoch mit Sicherheit nicht so sein und ich hatte keine Lust, in vollkommener Dunkelheit durch einen unbekannten Teil des Schlosses zu wandern.

„Lass uns endlich gehen, damit ihr mir mit dem Blödsinn nicht mehr auf die Nerven geht“, sagte ich genervt und warf mein Handtuch über die Lampe, um unangenehme Fragen darüber zu vermeiden. So würde es aussehen, als wäre ich unterwegs zur Dusche und niemand würde die Lampe sehen.

„War schön, dich gekannt zu haben“, scherzte Jeffrey in Pauls Richtung, als er mit mir das Zimmer verließ und ich verdrehte die Augen.

Wir liefen den Gang hinab in Richtung der Gemeinschaftsdusche und als wir den Flur vollkommen ruhig vorfanden, bogen wir nach den Duschen nach links ab. Damit verließen wir den belebten Teil von Andara-House.

Normalerweise war vor der wuchtigen Eichentür Schluss für die Schüler des Internats und es begann ein Teil, der seit Ewigkeiten von keinem mehr genutzt wurde. Angeblich war dieser Bereich des Schlosses so baufällig, dass es daher zu gefährlich war, ihn zu betreten und ich verfluchte mich selbst dafür, diesem Irrsinn zugestimmt zu haben. Wenn wir Glück hatten, würden wir von einem der Lehrer erwischt werden. Sollte es aber eher zum Pech tendieren, dann brachen wir vielleicht durch den Boden und brachen uns alle Knochen.

„Ich finde nicht, dass wir das tun sollten“, flüsterte ich Jeffrey zu, doch dieser stieß ein leises Lachen aus, das mir aufgrund des dämmrigen Lichts hier eine Gänsehaut einbrachte.

„Ich wusste es; du hast Angst. Ich dachte, du glaubst nicht an Geister?“

„Das tue ich auch nicht, aber die Vorstellung von mehreren Tonnen Bauschutt begraben zu werden, ist nicht gerade beflügelnd“, zischte ich zurück.

Jeffrey nahm mir die Öllampe ab und legte sich mein Handtuch um den Hals. Er sah damit vollkommen bescheuert aus, aber immerhin musste ich es nicht mehr die ganze Zeit tragen. Jeffrey machte noch ein paar Schritte in den dunkler werdenden Gang hinein und mein Herz begann, gegen meine Brust zu hämmern. Denn schon nach wenigen Schritten erahnte ich ihn mehr, als dass ich ihn wirklich sah. Es erschreckte mich einfach, wie dunkel es hier wirklich war und irgendwie beschlich mich das seltsame Gefühl, dass das nicht nur am fehlenden Licht lag. Vielmehr war es, als würde die Dunkelheit aus den Wänden und dem Boden direkt in mein Herz kriechen und brachte mich innerlich zum Frösteln. Aber nein, das war Quatsch; ich glaubte nach wie vor nicht an Pauls Geister und die Angst, die ich verspürte, war vollkommen normal. Es war natürlich, sich Dinge in den Schatten einzubilden und ich war sicher nicht der Einzige, der sich in der Dunkelheit fürchtete.

Gerade, als es drohte, wirklich unangenehm zu werden, entzündete Jeffrey die Lampe und ich sah, dass er gar nicht so weit von mir entfernt stand. Wir standen in einem Lichtkreis, der mir ein trügerisches Gefühl von Sicherheit gab und ich war unglaublich froh über Jeffreys Anwesenheit.

Natürlich hätte ich ihm das nie gesagt und schon, als er mich hämisch angrinste, wünschte ich mir auch, ich hätte es nie gedacht.

„Das sieht doch gar nicht so schlimm aus“, sagte Jeffrey und seine Stimme brach sich seltsam an den Wänden, dass sich mir schon wieder die Härchen im Nacken aufstellten. Aber er hatte Recht. Nach den Erzählungen über den Westflügel hatte ich mir vorgestellt, dass es hier aussehen musste, als seien Dschingis Kahn und seine Horde hier durchgelaufen, aber eigentlich sah alles recht intakt aus. Es roch zwar recht muffig und sicher hatte hier seit Jahren keiner mehr gelüftet, aber die unglaublich hässlichen Tapeten und der weiche Teppichboden waren vollkommen intakt.

Renovierungsbedürftig war das schon, da alles so eine Düsternis ausstrahlte – aber lebensgefährlich war sicher etwas anderes.

Vielleicht verstand ich aber einfach nichts davon und mahnte Jeffrey daher, aufzupassen, wo er hintrat.

„Du kannst ruhig zugeben, dass du Angst hast“, stichelte er wieder, aber ich ging nicht darauf ein und beschloss, lieber zu schweigen.

Wir setzten unseren Weg fort, das hieß, eigentlich irrten wir ziellos durch die Gänge und ich hoffte inständig, dass wir uns nicht hoffnungslos verirrten. Dabei blieb das Bild relativ gleich. Alles, was dieser Teil des Schlosses zu benötigen schien, waren ein paar offene Fenster und eine Truppe Freiwilliger, die sich der Mammutaufgabe annahmen, den Staub hier zu beseitigen.

Ich wollte es nicht zugeben, aber je weiter wir in die unzähligen Zimmer und Gänge vorstießen, desto mulmiger wurde mir. Mir gruselte es wirklich vor diesem Flügel des Schlosses, denn mehr als einmal glaubte ich, Schritte hinter mir zu hören und ein Blick in Jeffreys Gesicht machte mir klar, dass ich da nicht der Einzige war.

Vielleicht hatte es Paul doch nicht eingesehen, alleine auf dem Zimmer zurückzubleiben und war uns gefolgt. Für ein paar Minuten starrte ich angestrengt in die Dunkelheit hinter uns und erwartete, Paul jeden Moment zu sehen, doch der Gang blieb vollkommen leer. Wir zuckten mit den Schultern und liefen weiter, als ich plötzlich eine Berührung an der Hand verspürte.

„Was soll das?! Findest du das lustig?“, blaffte ich Jeffrey an, der zu meiner Überraschung zusammenzuckte.

„Was soll ich lustig finden?“

Natürlich stellte Jeffrey sich dumm, sonst würde ja sein blöder Scherz nicht funktionieren, aber er brauchte nicht glauben, dass ich darauf anspringen würde.

„Lass den Mist mit meiner Hand! Du kannst es vergessen, dass ich dir diesen Spuk abkaufe!“, klärte ich ihn daher auf und hoffte, er würde in Zukunft solche Scherze unterlassen. Außerdem hatte ich beschlossen, dass ich genug vom Westflügel gesehen hatte. Die Ruhezeit würde bald anbrechen und ich wollte dann wirklich nicht mehr in den Gängen des Schlosses unterwegs sein. Es reichte aus, dass ich das Verbot bezüglich des Westflügels gebrochen hatte.

„Lass uns zurückgehen“, sagte ich und drehte mich, ohne auf Jeffrey zu achten, um. Schon nach wenigen Metern bemerkte ich, dass ich aus dem Lichtkreis herausgetreten war und wandte mich zu Jeffrey um, um ihn zu fragen, warum er stehengeblieben war, doch ich konnte ihn nirgends entdecken.

„Jeffrey?“

Meine Stimme hallte von den Wänden wider, doch ich erhielt keine Antwort.

„Jeffrey! Hör auf mit dem Mist!“, rief ich zornig und konnte doch das leichte Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken. „Verdammt! Wo bist du? Lass den Scheiß!“

Das Blut begann, in meinen Ohren zu rauschen, als ich erneut keine Reaktion erhielt und nun machte ich mir doch Sorgen. Aber er konnte ja nicht verschwunden sein; Jeffrey war direkt hinter mir gewesen und ich war doch nur ein paar Schritte vorausgegangen. Was sollte ich tun, falls ihm etwas zugestoßen war? Würde ich überhaupt alleine hier herausfinden, um Hilfe zu holen?

„Jeffrey!“, rief ich nun schon etwas verzweifelter seinen Namen und lief zurück in die Richtung, in der er noch vor wenigen Minuten gestanden hatte. Ich fand die Öllampe auf dem Boden, die nur noch ein leichtes Glimmen von sich gab, aber von Jeffrey fehlte jede Spur. Die Gedanken in meinem Kopf rasten und ich beschloss, noch ein kleines Stück weiter zu gehen, vielleicht fand ich Jeffrey nach ein paar Metern.

Vor Entsetzen schrie ich auf, als etwas mein Handgelenk packte, riss mich los und stürzte durch die Wucht dieser Bewegung zu Boden. Ich sah einen großen Umriss, der langsam auf mich zukam und konnte einen weiteren, angsterfüllten Schrei nicht unterdrücken.

Dann hörte ich es: Lachen. Und ich kannte auch die Stimme.

Jeffrey stand nun direkt vor mir, sodass ich erkannte, wie er sich vor Lachen den Bauch hielt und immer wieder japsend nach Luft schnappte. Das war der Moment, in dem ich rotsah. Ich sprang auf die Füße und rannte Jeffrey einfach um, sodass wir beide das Gleichgewicht verloren und zu Boden stürzten.

„Du findest das also lustig!“, schrie ich ihn an und versuchte, nach ihm zu schlagen, aber er fing meine Faust einfach auf und durch die Wucht meines eigenen Angriffs landete ich neben ihm auf dem Rücken. Bevor ich auch nur irgendetwas tun konnte, spürte ich sein Gewicht auf mir und erwarte, jeden Moment seinen Schlag zu spüren. Doch der Schmerz, den ich erwartete, kam nicht und so öffnete ich langsam wieder die Augen, die ich fest zusammengepresst hatte.

Schwer atmend sah ich zu ihm hoch und konnte mich nicht von seinen Augen lösen, die sich geradezu in meinen verfangen hatten. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, doch ich verspürte keine Angst mehr. Dieses Gefühl wurde durch etwas anderes ersetzt, aber ich wusste nicht, was; ich wusste nur, dass ich nicht wollte, dass dieser Moment endete.

Kurz tauchte der Gedanke auf, dass es mir hätte unangenehm sein müssen, so hilflos auf dem Boden zu liegen und ihn so nahe an meinem Körper zu spüren. Doch er verschwand so schnell, wie er gekommen war und ich leckte mir über die Lippen, da mein Mund plötzlich unglaublich trocken war. Jeffrey schluckte schwer, dann begann sich sein Gesicht meinem zu nähern und ich spürte eine nie gekannte Hitze in meinem Gesicht aufsteigen; oder ging sie von Jeffrey aus, der nun nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt war?

Ich hätte nur den Kopf etwas anheben müssen und unsere Nasenspitzen hätten sich berührt. Noch immer sah Jeffrey mir in die Augen. Was ich darin sah, gefiel mir und ließ einen Teil von mir vor Freude hüpfen. Ohne jeden Zweifel wusste ich, dass ich wissen wollte, wie sich seine Haut anfühlte und schreckte daher nicht zurück, als seine Lippen kurz vor meinen verharrten und ich so seinen warmen Atem spüren konnte.

Beinahe quälend langsam legte sich sein Mund auf meinen und das Gefühl war um einiges schöner, als ich es mir vorgestellt hatte. Sinnlich ließ er meine Unterlippe durch seine Lippen gleiten, nur um sie direkt wieder gefangen zu nehmen. Ohne dass ich groß darüber nachdenken musste, öffnete sich mein Mund einen kleinen Spalt weit und ich fühlte Jeffreys Zungenspitze, die sanft meine Unterlippe entlangfuhr und sich dann den Weg in meinen Mund bahnte. Zuerst war es seltsam, aber ich wollte mehr von ihm, als gut für mich sein konnte und bevor ich begriff, was geschah, stieß meine Zunge gegen seine.

Ein gedämpftes Seufzen verließ Jeffrey und meine Gefühlswelt schwankte für eine Sekunde zwischen Erschütterung und Stolz, bis ich mir wieder erlauben konnte, mich komplett in diesen Kuss fallen zu lassen. Ich konnte schwer sagen, wie lange wir so auf dem Boden lagen und nichts taten, außer uns zu küssen, aber irgendwann löste Jeffrey sich von mir und brachte wieder Abstand zwischen uns.

Mit vor Schrecken geweiteten Augen sah Jeffrey mich an und ich war verwirrt, denn ich spürte genau, dass mein Gesichtsausdruck ein ganz anderer war und ich es eigentlich sein sollte, der ihn so ansah, wie er mich. Was wir getan hatten, war schön und mich beschlich auch nicht der Gedanke, dass es vielleicht falsch gewesen war.

Ganz anders schien das bei Jeffrey zu sein. Als ich mich schwer atmend aufrichtete, sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen. Dann sprang er so heftig auf die Füße, dass ich erschrocken zurückprallte und ihm vollkommen sprachlos hinterher sah.

Es dauerte eine Weile bis mir in mein vernebeltes Hirn sickerte, dass Jeffrey mich nun tatsächlich alleine hier zurückgelassen hatte und das Verlangen nach ihm, welches ich noch vor Minuten gefühlt hatte, verwandelte sich wieder in Zorn. Mit Genugtuung stellte ich jedoch fest, dass er zumindest die Lampe zurückgelassen hatte.
 

Auf dem Rückweg, den ich alleine gehen musste, bemerkte ich, dass wir gar nicht so weit in den Westflügel gelaufen waren, wie ich es gedacht hatte. Aber ich war auf jeden Fall sehr froh darüber, denn schon der kurze Weg mit der Lampe hatte mir alleine eine höllische Angst eingejagt. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es für Jeffrey gewesen sein musste, der den ganzen Weg ja im Dunkeln gegangen war.

„Der ist selbst schuld!“, sagte ich mir selbst und beschloss, kein Mitleid mit ihm zu haben. Wie konnte er das nur tun? Erst sein blöder Streich, dann der Kuss und danach ließ er mich einfach sitzen. Gehörte vielleicht auch der Kuss zu seinem Streich und er bemerkte erst danach, dass er damit zu weit gegangen war?

Aber es hatte sich so echt angefühlt und nicht wie etwas, was man dem anderen nur vorspielte. Oder konnte Jeffrey das so einfach? Mich glauben lassen, dass mehr dahintersteckte, nur, um mich dann mit meinem Gefühlschaos sitzen zu lassen?

Egal, was es war; ich war so verletzt wie noch nie in meinem Leben und eigentlich ging es mir gar nicht um den Kuss.

Es ging darum, was er mir gezeigt hatte: Ich war kein Spätzünder und durchaus in der Lage, Liebe und Lust zu verspüren, aber eben nur nicht für Frauen. Wahrscheinlich hatte Jeffrey erkannt, wie sehr ich es genossen hatte und damit, wie anders ich war. Ich wusste nicht, woher die nüchterne Erkenntnis kam, aber ein schales Gefühl blieb. Es musste ihn erschreckt haben, dass sich sein dämlicher Scherz in so etwas Absonderliches verwandelt hatte. Zu sehen, wer ich wirklich war und was ich wirklich wollte, musste ihn verstört haben.

Jetzt wo Jeffrey es wusste, wie würde es jetzt weitergehen? Je näher ich meinem Zimmer kam, desto mehr beschlich mich die Angst, wie jetzt mein Leben auf Andara-House aussehen würde. Was sollte ich tun, wenn er es jemandem erzählte? Vermutlich noch einem der Jungen, die es eh schon auf mich abgesehen hatten oder, schlimmer noch, einem der Lehrer. Man würde mich von der Schule werfen und wenn ich Pech hatte, würde ich in einer dieser schrecklichen Heilanstalten landen.

Jeffrey hatte es nun in der Hand mein gesamtes Leben zu zerstören und ich konnte absolut nicht abschätzen, was er tun würde.

Da stand ich nun, vor meinem Zimmer und wusste absolut nicht welches Gefühl die Oberhand bekommen würde. Die Angst, alles zu verlieren, oder der Zorn, von Jeffrey so benutzt worden zu sein.

Die Uhr schlug zehn Uhr abends, als ich entschlossen die Klinke herunterdrückte und eintrat.

„Mike! Was ist denn passiert?!“, stürmte Paul mir entgegen und er sah eindeutig mehr als besorgt aus. Ich ignorierte seinen Redeschwall und suchte mit abschätzigem Blick Jeffrey, der auf seinem Bett saß und mir direkt auswich.

„Verdammt Mike! Jeffrey wollte mir auch nichts sagen. Was ist denn los?“ Paul verstummte plötzlich und wurde blass, dann sah er Jeffrey und mich durchdringend an. „Oh nein, ich hab's geahnt“, murmelte er dann und gewann damit doch meine Aufmerksamkeit.

„So?“, fragte ich lauernd. War es so offensichtlich, was zwischen uns passiert war? Auch Jeffrey sah betroffen zu Paul, schien dann aber etwas Interessantes auf seiner Bettdecke gefunden zu haben, als er meinen Blick kreuzte. Es war befremdlich, ihn so defensiv zu sehen, aber ich konnte trotzdem nichts anderes, außer blanke Wut auf ihn zu fühlen.

„Es spukt wirklich im Westflügel und ihr habt einen gesehen oder? Ihr habt einen Geist gesehen.“

Ich schnaubte wütend, ging mir schnell die Zähne putzen und warf mich auf mein Bett.

„Ich will nicht drüber reden“, nuschelte ich und war froh, dass Paul mich tatsächlich in Ruhe ließ.

"Im Eis erstarrt"

Der Februar näherte sich dem Ende und da der Winter dieses Jahr sehr früh ins Land gezogen war, schien er seine Arbeit als getan zu betrachten. Der Schnee hatte vor etwa einer Woche begonnen, zu schmelzen, was jedoch nicht auf mein Verhältnis zu Jeffrey zutraf. Wenn es darum ging, schien eine neue Eiszeit angebrochen zu sein und nichts würde die Mauern um mein Herz so schnell wieder einreißen können.

Jeffrey hatte in den letzten zwei Monaten immer wieder versucht, das Gespräch mit mir zu suchen, aber ich hatte nicht vor, ihm eine Chance zu geben. Er hatte sie bereits gehabt und mich arg enttäuscht.

„Hey“, hörte ich eine geflüsterte Stimme hinter mir und versuchte, sie zu ignorieren. Bereits zum dritten Mal versuchte Paul, mir eines der kleinen Zettelchen zuzustecken, die Jeffrey mir andauernd schrieb. Zwei davon hatte ich bereits zerknüllt in meine Hosentasche gestopft. Ich hatte nicht gelesen, was darauf stand. Es interessierte mich nicht und es war mir auch zu riskant. Es war schon genug, wenn Mr. Wilson bemerkte, dass diese durch das Klassenzimmer wanderten und sie womöglich noch las. Inständig hoffte ich, dass Jeffrey so schlau war und nichts darauf schrieb, dass klarwerden ließ, was vor zwei Monaten im Westflügel passiert war. Andernfalls hätte er sich auch direkt auf das Lehrerpult stellen können, um es der ganzen Klasse zu erzählen.

Wann würde er mich endlich in Ruhe lassen? Es war doch schon genug gewesen, dass er mich so bloßgestellt hatte. Allein die Erinnerung daran ließ mir die Schamesröte ins Gesicht steigen und ich wollte nichts, außer es bald zu vergessen. Leider aber erinnerte Jeffrey mich fast täglich daran. Er hatte es anscheinend nicht ernst gemeint und der Kuss schien ihn abgeschreckt zu haben. Warum also ließ er es nicht endlich sein?

„Hey Mike“, versuchte Paul es erneut, aber diesmal war es dir Schulglocke, die mich rettete.

Verbissen raffte ich meine Bücher zusammen und achtete darauf, dass kein verräterisches Zettelchen zurückblieb. Dann sprang ich auf, als sei eine Horde Paviane hinter mir her und lief, ohne auf Paul oder Jeffrey zu achten, zur Tür.

„Na? Stress im Paradies?“, grinste Juan mich an, doch ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu und der Spanier verstummte sofort. Einen guten Aspekt schien die Sache mit Jeffrey jedoch zu haben. Ich strahlte wohl solchen Zorn aus, dass die meisten Schlägertypen mir lieber aus dem Weg gingen. Dafür stürzten sie sich nun zu gerne auf Jeffrey, der anscheinend meinen Platz eingenommen hatte und es stillschweigend erduldete.

Ich wurde einfach nicht schlau aus seinem Verhalten und es ärgerte mich, dass ich mich immer wieder damit befasste.

So schnell ich konnte, lief ich in unser Zimmer zurück, ließ mich auf das Bett fallen und überlegte, was ich mit den Zetteln in meiner Hosentasche tun sollte. Missmutig kramte ich sie hervor und ließ sie neben mir auf das Bett fallen. Lange starrte ich sie an, nahm immer wieder einen in die Hand und war einmal sogar drauf und dran, eines der Zettelchen aufzufalten. Mitten in der Bewegung hielt ich inne und dann wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte.

Mit mehr Energie, als ich mir nach all dem zugetraut hätte, sprang ich auf, nahm mir die Zettel und lief zum Waschbecken. Auf dem Weg dahin schnappte ich mir Kerze und Streichhölzer aus Pauls Regal und entzündete sie entschlossen. Da ich nicht vorhatte, das alte Schloss niederzubrennen, öffnete ich den Wasserhahn und faltete den ersten Zettel so auf, dass ich dessen Inhalt nicht sehen konnte. Es war beinahe befreiend, zu sehen, wie die Flamme der Kerze gierig danach griff und so die möglichen Beweise dieses Vorfalls vernichtete. Ich tat dies auch mit dem zweiten und schließlich mit dem dritten Zettel, bis alle nichts weiter waren als Asche.

Seufzend stellte ich das Wasser ab, löschte die Kerze und stellte sie behutsam zurück. Dabei versuchte ich, den Kloß, den ich im Hals spürte, zu ignorieren, aber es gelang mir kaum. Was ich getan hatte, war richtig. Warum fühlte ich mich dann jetzt so leer?

Wie in Trance lief ich erneut zum Waschbecken und betrachtete die Überreste der Nachrichten, in denen Jeffrey mir vermutlich sein Herz ausgeschüttet hatte. Ich würde es nie erfahren, schoss es mir durch den Kopf.

Frische Luft! Ich brauchte dringend frische Luft und mir wurde der beißende Brandgeruch in unserem Zimmer erst jetzt bewusst. Mit zittrigen Fingern entriegelte ich das Fenster und stieß es auf. Eiskalte Luft schlug mir entgegen und wie das Chaos in meinem Herzen, schien auch der Winter noch nicht aufgegeben zu haben.

Tief atmete ich ein und wieder aus, bis meine Gedanken wieder aufhörten, sich zu drehen. Ich kam zu dem Schluss, dass ich richtig gehandelt hatte und mich der Inhalt von Jeffreys Botschaften vermutlich noch verletzter zurückgelassen hätte. Es war in Ordnung, mich selbst zu beschützen und Jeffrey hatte seine Wahl getroffen, als er sich nach dem Kuss aus dem Staub gemacht hatte.

Noch einmal holte ich tief Luft, verschloss dann das Fenster und nahm mir, vor duschen zu gehen. Das warme Wasser würde mir helfen, zu entspannen und meine Gedanken wieder zu ordnen.
 

Schon als ich den Vorraum der Duschen betrat, wurde mir klar, dass ich mich da leider getäuscht hatte. Ich war nicht der Einzige, der eine Dusche um diese Zeit für eine gute Idee hielt und der Geräuschpegel versprach mir alles andere als Entspannung. Lautes Gelächter und Gespräche zeugten davon, dass so einiges hier los war und kurz überlegte ich, einfach wieder zu gehen. Doch ich hatte es wirklich dringend nötig und absolut keine Lust, ungewaschen ins Bett zu gehen.

Mit einem mulmigen Gefühl, aber trotzdem entschlossen, öffnete ich die ersten Knöpfe meines Hemdes und schob es mir von den Schultern. Als ich es gewissenhaft auf der Bank neben mir zusammenfaltete, verließ eine Gruppe Jungs, nur mit Handtüchern bekleidet, den Duschraum. Ich hatte wohl doch Glück, denn nachdem diese angezogen den Raum verließen, war es deutlich ruhiger.

Guten Mutes entledigte ich mich auch von Hose und Unterhose, wickelte mir das Handtuch um die Hüfte und betrat den Duschraum.

Tatsächlich befanden sich nur noch zwei andere Jungen hier, was ich durchaus als annehmbar empfand. Ich wählte eine der Duschen weiter hinten im Raum und ließ mich von den beiden anderen gar nicht stören. So wie ich stand konnten sie mich auch nicht anstarren und ich fühlte mich sicher.

Der eine stellte nun das Wasser ab und schien so gut wie fertig zu sein und der andere war so damit beschäftigt, sich den Kopf einzuseifen, dass er meine Anwesenheit gar nicht bemerkt zu haben schien. Selbst ich konnte aufgrund des vielen Schaums kaum etwas von ihm erkennen.

Nun doch entspannt legte ich das Handtuch auf einen Absatz, wo es nicht nass werden würde und stellte das Wasser an. Für ein paar Minuten genoss ich das heiße Wasser, schloss die Augen und streckte die Muskeln. Dann stellte ich die Dusche ab und seifte mich gründlich ein. Ich war damit so beschäftigt, dass ich erst sehr spät das seltsame Kribbeln auf meiner Haut wahrnahm und begriff, dass jemand mich anstarrte. Anscheinend hatte ich einen sechsten Sinn dafür.

Suchend glitt mein Blick zur Seite und ich erstarrte. Der Junge mit den eingeseiften Haaren war Jeffrey und er starrte mich permanent an. Außerdem waren wir alleine, wurde mir schmerzlich bewusst.

Demonstrativ starrte ich die Wand vor mir an und hoffte, dass Jeffrey die Botschaft verstand. Nämlich, dass mir nicht danach war, mit ihm zu reden.

„Mike?“, hörte ich seine Stimme und seufzte innerlich. Er hatte es nicht nur nicht verstanden, er stand anscheinend auch näher, als mir lieb war. Vielleicht würde er einfach aufgeben, wenn ich nicht reagierte?

„Mike, bitte. Ich muss dringend mit dir reden.“

Seine Stimme klang so flehend, dass es mir fast leidtat, ihn erneut abzuweisen und wenn er nicht den wohl schlechtesten Ort für ein Gespräch gewählt hätte, wäre mir das wohl nicht gelungen. Ich schüttelte nur den Kopf und hoffte, er würde es endlich verstehen.

„Ich verstehe“, murmelte Jeffrey und ich war froh, dass er es endlich eingesehen hatte und mich nun in Ruhe lassen würde. Vor allem hier, wo ich nackt in der Dusche stand und er auch. Nach dem was zwischen uns passiert war, war das wohl die schlechteste Grundlage, die Jeffrey für ein Gespräch suchen konnte. Das musste nun selbst ihm aufgefallen sein.

„Mike, ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist, aber ich kann dir das wirklich erklären.“

Ich zuckte innerlich zusammen, versuchte mich aber dennoch, darauf zu konzentrieren, fertig zu werden. Jeffrey hatte mir die Entspannung, die ich hier suchte, nun endgültig zerstört. Gerade als ich mir die letzten Seifenreste vom Körper spülte, bemerkte ich seine Hand an meinem Arm.

„Mike, bitte!“

Wütend riss ich mich von ihm los, drehte mich fast in der selben Bewegung zu ihm um und blitzte ihn zornig an. Was dachte er sich nur dabei, mich hier auch noch anzufassen?!

Das Gespräch, welches er führen wollte, konnte schon viel Schaden anrichten und nun kam er auch noch auf die Idee, mich in der Dusche anzufassen!

„Ich will aber nicht mit dir reden! Kapierst du das nicht?!“, schrie ich ihn an. Jeffrey zuckte zurück und der Ausdruck in seinen Augen tat mir weh, obwohl ich mir sicher war, dass ich eigentlich Triumph spüren sollte. Denn was ich in Jeffreys Augen gesehen hatte, machte mir klar, dass er dabei war, aufzugeben.

Unsicher glitt mein Blick über Jeffreys Gesicht und dann über seinen Körper. Er war wie ich vollkommen nackt und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich ein Handtuch um die Hüfte zu wickeln. Stumm standen wir uns gegenüber und ich bemerkte, wie meine Wut immer mehr verrauchte. Mir tat es nun leid, ihn so angeschrien zu haben, aber ich konnte ihm auch nicht einfach so verzeihen.

Der Kuss im Westflügel hatte etwas in mir berührt und als er mich danach einfach stehengelassen hatte, war es, als wäre etwas in mir zerbrochen. Vielleicht hätte ich mich selbst akzeptieren können, wenn er nicht gegangen wäre. Denn für einen kurzen Moment war es so gewesen. Alles, was wichtig war, war das Gefühl, das wir teilten und ich fragte mich nicht länger, ob ich normal war.

Als er ging, verschwand diese Akzeptanz und mein Anderssein wurde mir mit einem Schlag bewusst.

Ich sollte also verdammt sauer auf ihn sein und er hatte meine Ablehnung verdient. Warum also verspürte ich jetzt diesen Drang, ihn in die Arme zu nehmen, nur, damit dieser traurige Blick verschwand?

Mir wurde bewusst, dass ich sofort gehen sollte, aber stattdessen spürte ich, wie mir das Blut ins Gesicht stieg und Jeffrey schien das als Aufforderung zu sehen, sich mir wieder zu nähern. Wenn ich nur einen Schritt gehen würde, dann könnte ich vielleicht diesen Groll hinter mir lassen und alles wäre wieder wie vorher. Wir wären wieder Freunde.

Aber waren wir je Freunde gewesen oder eigentlich schon länger mehr als das? Die wichtigste Frage war aber: Wollte ich, dass es mehr war?

Jeffrey lächelte mich an und ich konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren, auch wenn er nackt war. Vielleicht aber gerade deswegen. Sein Duft nahm mich gefangen. Es wäre ein Leichtes, ihn in die Arme zu schließen und seine Haut zu fühlen. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft uns zueinander hinziehen. Doch bevor die letzten Zentimeter überwunden waren, gewann die Realität wieder die Oberhand und mir wurde klar, welch seltsames Bild wir für jemanden abgaben, der gerade den Duschraum betrat.

Schnell griff ich nach meinem Handtuch, wickelte es um meinen Körper und verließ fluchtartig den Raum. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das Wasser abgestellt hatte und teilweise klebte meine Kleidung an der Haut, weil ich mir kaum Zeit zum Abtrocknen gab.
 

Der Winter hatte nicht vor, so schnell sein Refugium aufzugeben und so hatte es in den letzten zwei Tagen wieder zu schneien begonnen. Die grauen Wolken, die dabei über das Land zogen und den Schnee vor sich hertrieben, schienen dabei widerzuspiegeln was ich fühlte. Denn innerlich war ich wie erstarrt und wusste nicht, was ich tun sollte. Zu gerne wollte ich Jeffrey verzeihen und wieder mit ihm befreundet sein, denn die Stimmung, die in unserem Zimmer herrschte, war mittlerweile unerträglich. Aber da ich noch immer nicht akzeptieren konnte welche Gefühle mich in seiner Nähe überkamen, hielt ich es für das Beste, ihn auf Abstand zu halten. Auch wenn es mir weh tat, denn das hatte ich mittlerweile begriffen: Es tat mir unglaublich weh, wenn ich nicht an seinem Alltag teilhaben konnte.

Ich mochte ihn wirklich sehr, dachte ich und kurz kam mir das Zettelchen aus Stans Kuchen wieder in den Sinn. „Du wirst Liebe finden“ hatte darauf gestanden.

Liebte ich Jeffrey etwa?

Nein, das konnte ich nicht glauben. Konnte man als Mann einen anderen Mann lieben? Nein, wir waren Freunde und nicht mehr. Und das letztens war einfach...

Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was es bedeuten sollte.

Es klopfte an der Tür und wenige Sekunden später steckte Paul seinen Kopf herein. Etwas verwirrt sah ich ihn an. Seit einiger Zeit klopfte Paul immer an, bevor er unser Zimmer betrat. Ich verstand nicht was das sollte, denn immerhin war es ja auch sein Zimmer. Warum also vor seiner eigenen Tür anklopfen?

„Hey Mike“, grüßte er mich gut gelaunt. Er trug seinen dicken Wintermantel, seine Wangen waren gerötet und um seine Schuhe herum bildete sich eine kleine Pfütze. Ich nickte ihm nur kurz zu und drehte mich dann zur Wand. Nur ungern wollte ich ihm seine Stimmung mit meinem miesepetrigen Gesicht kaputt machen und ich hing lieber weiter meinen Gedanken nach.

Es vergingen einige Minuten und ich wurde stutzig, dass ich gar keine Schritte hörte. Außerdem verspürte ich wieder dieses Kribbeln im Nacken.

Irritiert drehte ich mich herum und sah Paul nach wie vor an der Tür stehen.

„Lass uns spazieren gehen“, sagte Paul, als wäre die Situation eben total normal. Ich fand es eher befremdlich, dass er minutenlang dagestanden und mich angestarrt hatte.

„Hab keine Lust“, gab ich knapp zurück und wollte mich wieder meiner Wand zuwenden.

„Das war keine Bitte!“

Pauls Stimme war so scharf, dass ich tatsächlich zusammenzuckte und mir vor Überraschung der Mund offen stehen blieb. War das wirklich der flapsige Paul Winterfeld, der da vor mir stand?

Meinem Gesicht musste man wohl genau diese Verwirrung angesehen haben, jedenfalls ließen Pauls nächsten Worte darauf schließen.

„Du hast mich schon richtig verstanden, Mike. Ich habe es satt, dass du dich seit Wochen in unserem Zimmer vergräbst und Trübsal bläst. Wir gehen jetzt ein Stück und dann sagst du mir was los ist.“

Kurz überschlug ich meine Optionen und überlegte sogar, Paul zu ignorieren, aber mir wurde bewusst, dass ich so meinen besten Freund verlieren würde. In den letzten Wochen hatte ich auch ihn eher gemieden, wodurch Paul eher Kontakt zu Jeffrey, als zu mir hatte.

Wortlos stand ich auf, zog mir Stiefel und Winterjacke an und folgte Paul dann. Auf dem ganzen Weg durch das Schloss überlegte ich, was ich ihm sagen sollte. Ich hatte mich zunächst sehr überrumpelt gefühlt, doch je weiter wir gingen, umso mehr spürte ich, dass ich sehr gerne mit jemandem reden würde.

Paul war mein bester Freund, sollte ich dann nicht mit ihm reden können? Aber was, wenn ich ihn deswegen verlieren würde? Was, wenn er nicht akzeptieren konnte, wie ich war?

Wenn ich jedoch nichts tat, würde ich ihn auch verlieren.

Wir traten auf den Hof hinaus und eiskalte Luft schlug mir entgegen.

„Was meinst du, eine Runde um den See?“, fragte Paul und für einen kurzen Moment erschien mir alles so normal, als hätte es diese Verwirrung in mir nie gegeben.

„Gerne“, antwortete ich und auf meinen Lippen erschien zum ersten Mal seit Wochen ein Lächeln.

Wir bogen nach rechts ab und betraten den schmalen Schotterweg, der direkt in ein kleines Waldgebiet führte, welches Andara-House umgab. Es war wirklich nicht groß, brachte aber die nötige Erholung, die man nach tagelangem Pauken benötigte. In der Mitte des kleinen Mischwaldes befand sich ein See, welcher im Sommer Abkühlung versprach und im Winter zum Schlittschuhlaufen einlud.

Ich bezweifelte jedoch, dass die wenigen kalten Tage gereicht hatten, um die Eisdecke wieder so fest werden zu lassen, dass man sich gefahrenlos darauf bewegen konnte. Auch wenn der Wald aussah, als hätte jemand Puderzucker darüber gestreut: Der Winter neigte sich dem Ende zu.

„Sind wir noch Freunde, Mike?“, fragte Paul, nachdem wir schon ein weites Stück gegangen waren und niemand uns hören konnte.

„Aber natürlich!“, stieß ich aus und blieb abrupt stehen. „Wie... wie kommst du darauf, dass wir es nicht mehr sein könnten?“

Verwirrt sah ich Paul nach, der noch etwas weitergelaufen war und sich dann zu mir umdrehte, als er bemerkte, dass ich ihm nicht mehr folgte.

„Weil du mir nicht erzählst, was mit dir los ist“, erklärte Paul. Ich erkannte keinen Vorwurf in der Stimme meines besten Freundes, sondern nur eine tiefe Traurigkeit. „Früher, da haben wir immer jede Sorge geteilt. Warum redest du dann jetzt nicht mit mir?“

Unsicher trat ich von einem Fuß auf den anderen. Ich hatte mit so etwas gerechnet, denn mir war durchaus klar gewesen, dass ich Paul in den letzten Wochen sehr verletzt hatte. Aber ich wusste absolut nicht, was ich ihm jetzt sagen sollte.

Meine Probleme hatten nichts mit ihm zu tun und vielleicht nicht einmal mit Jeffrey. Wenn ich ehrlich war, dann hatte ich ein Problem mit mir selbst. Womöglich war es das Beste, Paul die Wahrheit zu sagen.

„Es tut mir leid“, sagte ich daher. „Ich würde gerne mit dir über meine Probleme reden, es ist nur...“ Ich stockte und Paul sah mich auffordernd an. Mich überfiel eine furchtbare Angst, dass Paul mich nicht mehr in seinem Leben wollte, wenn er wusste, was in mir vorging.

Die Wahrheit, schoss es mir durch den Kopf. „Es ist nur, ich habe Angst, was du über mich denkst, wenn ich dir sage was los ist.“

„Angst?“, wiederholte Paul. „Warum?“

„Weil ich anders bin, als die meisten Jungen auf Andara-House.“

Paul sah mich durchdringend an und in seinen Augen erschien ein Lächeln, schließlich zuckte er mit den Achseln. „Das weiß ich doch.“

Es vergingen ein paar Sekunden, bis wirklich zu mir durchdrang, was Paul gesagt hatte.

„Du weißt davon?“, entfuhr es mir entgeistert.

„Ja“, antwortete Paul trocken.

All die Zeit hatte ich mir Gedanken gemacht wie Paul reagieren würde und nun wusste er es bereits? Aber ich wusste ja gar nicht, was Paul glaubte, zu wissen.

„Du weißt was?“, fragte ich in der Hoffnung gleich schlauer zu sein.

„Na, dass du anders bist und Jeffrey übrigens auch. Aber ich denke, das weißt du ja schon. Er hat mir auch nicht erzählt, was wirklich im Westflügel passiert ist, aber ich denke, es hat etwas damit zu tun. Ich hoffe aber wirklich, dass ihr beide euch endlich versöhnen könnt. Was glaubst du, warum ich seit Tagen an meiner eigenen Zimmertür anklopfe? Jedenfalls wollte ich nicht plötzlich in der Tür stehen, wenn ihr gerade dabei seid, euch zu versöhnen.“

Mir war bewusst, wie dämlich ich aussehen musste, aber ich bekam einfach den Mund nicht mehr zu.

„Woher?“, stammelte ich.

Paul lachte und setzte sich wieder in Bewegung. Es war ein Lachen, das mir klarmachte, dass alles in Ordnung zwischen uns war und wir uns immer noch so nahe standen wie Brüder.

„Naja, ich bin nicht direkt darauf gekommen, falls dir das Sorgen bereitet. Aber es begann mit deinem Geburtstag. Zuerst dachte ich ja, deine Reaktion war nur so verhalten, weil du verklemmt bist. Dann jedoch ist mir aufgefallen, wie du Jeffrey ansiehst und er dich. Da wurde mir klar, dass du dich mehr für ihn interessierst, als für mein Geburtstagsgeschenk.“

„Oh.“ Mein Kopf hatte komplett ausgesetzt, mehr brachte ich irgendwie nicht heraus und auch Paul wirkte nun etwas verlegen.

„Ich gebe zu, die Vorstellung, dass mein bester Freund sich für Jungs interessiert, war zunächst etwas befremdlich, aber mir ist egal, wen du liebst. Hauptsache, dir geht es damit gut.“

Paul hatte mir mit diesen wenigen Worten eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen und zum ersten Mal seit Monaten konnte ich wieder richtig atmen. Ich war nicht mehr alleine mit meinen Gedanken und Gefühlen. Das war alles, was mir durch den Kopf ging. Was auch immer mit Jeffrey werden würde, ich stand nicht mehr allein damit und konnte Paul jederzeit mein Herz ausschütten.

„Danke“, brachte ich kaum verständlich hervor und musste mich zusammennehmen, nicht direkt in Tränen auszubrechen. Ich hatte gerade so viel von mir preisgegeben, dass ich mich schutzlos und nackt fühlte, wie eine Schnecke ohne Haus. Ich wollte mir lieber nicht die Blöße geben und vor Paul weinen wie ein kleines Kind.

„Magst du mir jetzt vielleicht erzählen, was Jeffrey im Westflügel angestellt hat?“, grinste Paul mich an. Ich wollte ihn gerade fragen, wie er darauf kam, dass es Jeffrey war, der etwas angestellt hatte, als ich eine Bewegung auf der anderen Seite des Sees sah.

Der See war an dieser Stelle nicht sehr breit und ich erkannte Jeffrey sofort. Leider hatte er mich auch erkannt und schien immer noch entschlossen, die Aussprache mit mir zu führen. Daher riss er die Arme in die Höhe und rief immer wieder nach uns. Mir stockte der Atem. Zwar wusste Paul nun, wie es in mir aussah, aber ich wusste nicht, ob ich schon bereit war, mit Jeffrey zu reden. Es war mir einfach zu viel; erst Paul und nun direkt Jeffrey. Also tat ich, was ich am besten konnte. Ich lief und versuchte, so schnell wie möglich den Abstand zu ihm zu vergrößern.

„Nein! Bleib stehen!“, hörte ich Paul rufen und dachte zunächst, er würde mich meinen. Aber etwas stimmte absolut nicht. Seine Stimme klang derart panisch, dass ich mich alarmiert umdrehte und erstarrte.

Jeffrey war in dem Versuch mich einzuholen mitten auf den See gelaufen! Er hätte auch um den See laufen können, hätte so aber länger gebraucht, als auf dem direkten Weg zu mir.

„Bist du verrückt geworden?!“, schrie ich vollkommen außer mir. Das Eis würde ihn nicht tragen und er konnte jeden Moment einbrechen, wurde mir eiskalt bewusst. „Jeffrey, geh zurück! Du wirst einbrechen!“

„Nein, dann gehst du wieder weg!“

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich zum Ufer lief und mich selbst wenige Schritte auf das Eis wagte. Aber Jeffrey dachte überhaupt nicht daran, umzudrehen und hielt weiter auf mich zu. Meine Knie wurden weich, als ich es unter meinen Stiefeln gefährlich knacken hörte und ich hoffte, dass der See an der Stelle nicht sehr tief war. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich Jeffrey, den nun nur noch wenige Meter von mir trennten und betete beinahe, dass er nicht einbrechen würde.

Entweder gab es keinen Gott oder er beachtete mich einfach nicht, aber ich hörte das Knirschen und Krachen, als das Eis unter Jeffrey brach. Sein überraschtes und mein entsetztes Schreien vermischten sich, als ich ohne Rücksicht nach vorne sprang und nach seiner Hand griff. Ich landete hart auf dem Bauch, hielt seine Hand umklammert und versuchte, ihn herauszuziehen. Jedoch konnte ich mich kaum bewegen und rutschte ihm eher entgegen. Der Riss im Eis vergrößerte sich, sodass ich jeden Moment drohte, ebenfalls im eisigen See zu versinken.

Jeffrey versuchte seinerseits, sich aus dem Wasser zu stemmen, doch das Eis brach einfach weg und seine Kräfte verließen ihn schnell.

„Lass los“, murmelte er mir schwach zu. Das kalte Wasser hatte bereits nach meiner Jacke gegriffen und gab mir einen Vorgeschmack, was mich erwarten würde.

„Vergiss es!“, gab ich trotzig zurück und klammerte mich noch stärker an ihn. Gerade, als ich glaubte, meine Kräfte würden mich verlassen, zog man mich an den Beinen zurück und jemand griff nach Jeffrey, um ihn endgültig aus dem kalten Loch zu ziehen.

Schwer atmend kam ich auf dem Ufer zum Liegen und beobachtete verschwommen, wie Paul Jeffrey in seine Jacke wickelte. Ich verstand nicht ganz, was passiert war, aber ich hätte Paul nie zugetraut, dass er so viel Kraft hatte, gleichzeitig Jeffrey und mich vom See zu ziehen. Der Gedanke zog aber sofort vorbei, als ich bemerkte, dass Jeffrey anscheinend bewusstlos war.

„Jeffrey! Geht es ihm gut?“, rief ich, doch Paul reagierte nicht auf mich, sondern sah an einen Punkt neben mir. Da ich es nicht auf die Füße schaffte, kroch ich auf allen Vieren zu ihm hin und zog ihn in meine Arme. „Jeffrey!“, rüttelte ich an seinen Schultern, doch er reagierte nicht und alles um mich herum begann sich zu drehen. Ich registrierte kaum, wie meine Zähne vor Zittern aufeinanderschlugen, bis jemand etwas Warmes und Weiches um mich legte.

„Versucht, ihn warm zu halten!“, sagte eine unbekannte Stimme zu mir und ich hob verwirrt den Kopf. Das Bild vor meinen Augen verschwamm immer wieder, aber ich erkannte ein dunkles Gesicht über mir und mir ging durch den Kopf, dass der Mann nur im Pullover unglaublich frieren musste. Warum trug er keine Jacke?

Mein Kopf sackte nach vorne und blieb auf Jeffreys Stirn liegen, alles drehte sich und ich wollte nur schlafen.

„Halte ihn wach!“, hörte ich den Mann wieder sagen und ich dachte mir, was er da von sich gab. Jeffrey war doch bereits bewusstlos, aber Pauls Rütteln an mir ließ mich vermuten, dass ich gemeint war.

„Ich gehe Hilfe holen!“

"Der Mann im Pullover"

Die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens; genau das fühlte ich, als ich wieder zu mir kam. Verwundert sah ich mich um und erkannte, dass ich in meinem Bett lag. Vollkommen verwirrt versuchte ich, zu rekonstruieren, was passiert war. Ich erinnerte mich, dass ich mit Paul am See spazieren war und Jeffrey war auch dort gewesen. Er war auf dem Eis und dann...

Keuchend fuhr ich hoch und wäre fast mit Paul zusammengestoßen, der halb über mir gebeugt an meinem Bett saß.

„Miss McCrooder, Mike ist wach!“, rief er überflüssigerweise in den Raum hinein. Wimmernd sank ich zurück, denn zu den Kopfschmerzen gesellte sich, durch meine schnelle Bewegung, nun auch eine schreckliche Übelkeit. Im nächsten Moment tauchte das Gesicht der Sekretärin des Rektors über mir auf. Sie war blasser als sonst und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Auch Paul sah aus, als hätte er tagelang nicht mehr geschlafen.

„Ein Glück!“, murmelte sie und legte mir die Hand auf die Stirn. „Das Fieber ist weg.“ Sie lächelte, doch recht schnell legte sich wieder ein besorgter Blick auf ihr Gesicht. „Wenigstens bei einem.“

„Was ist passiert?“, murmelte ich schlapp, während ich mich nun vorsichtiger aufsetzte. Trotzdem musste Paul mir helfen und erst, als er das Kissen fest in meinen Rücken stopfte, hatte ich sicheren Halt.

„Ihr Jungs wart sehr leichtsinnig; das ist passiert!“, antwortete Miss McCrooder schnippisch, biss sich jedoch sofort auf die Unterlippe und schien ihren Ausbruch zu bereuen. „Wie seid ihr nur auf die Idee gekommen, auf den See zu gehen? Ihr seid doch alt genug, um zu wissen, wie gefährlich das ist.“

Schuldbewusst sah ich sie an. Zwar war Jeffrey zuerst auf den See gegangen, aber ich gab mir die Schuld daran, denn immerhin hatte er es wegen mir getan. Hätte ich gewartet, dann hätte Jeffrey sich nicht gezwungen gefühlt, so ein Risiko einzugehen.

„Hier, trink das“, sagte Paul, der kurz aufgestanden war, um eine Tasse mit heißem, dampfenden Tee zu füllen. Ich nahm sie entgegen, brachte es aber nicht über mich, davon zu trinken. Zwar war mir eiskalt, aber das interessierte mich gerade nicht.

„Was ist ... mit Jeffrey?“, fragte ich stockend und hatte Angst vor der Antwort. Dunkel erinnerte ich mich, dass man uns aus dem See gezogen hatte und an einen Mann ohne Jacke, aber danach war alles dunkel.

Ohne meine Frage zu beantworten stand Miss McCrooder auf und lief zur anderen Seite des Raumes. Ich folgte ihr stumm mit meinen Blicken und erkannte, dass sie zu Jeffreys Bett lief, neben dem sie sich seufzend auf einen Stuhl sinken ließ. Beim Wachwerden hatte ich bereits in die Richtung gesehen, aber nur ein wirres Sammelsurium von Decken erkannt.

Jetzt aber sah ich, dass Jeffrey sich darunter befand. Er sah blass aus, war bewusstlos und zitterte immer wieder unkontrolliert.

„Jeffrey hat es schlimmer erwischt, als dich“, erklärte Paul. „Er hat seit zwei Tagen hohes Fieber, bei dir ist es immerhin zwischendurch mal runtergegangen.“

Vorsichtig nippte ich an dem Tee und hätte mich fast daran verschluckt. „Soll das heißen, ich war zwei Tage lang bewusstlos?“

Bevor Paul mir antworten konnte, musste er herzhaft gähnen und rieb sich dann die tränenden Augen. Er sah aus, als würde er jeden Moment auf mein Bett fallen und tief und fest schlafen.

„Mhm“, machte er und gähnte noch einmal. „Miss McCrooder und ich waren fast die ganze Zeit auf, um uns um euch zu kümmern. Mr. McIntire hat mir sogar frei gegeben dafür, aber glaub mir, der kocht innerlich. Sobald es dir und Jeffrey bessergeht, bekommt ihr so richtig Stress.“

Ich nickte einfach nur und sah ihn dankbar an. Zwar war mir vor McIntires Strafe recht mulmig, aber ich war froh, dass ich sie erleben konnte. Es hätte nicht viel gefehlt und Jeffrey und ich wären im See ertrunken, beziehungsweise vorher erfroren. Mir fröstelte es und das nicht nur, weil ich schrecklich fror, sondern weil mir klar wurde, dass ich nun genauso gut tot sein könnte.

Vorsichtig nippte ich an meinem Tee, genoss, wie die heiße Flüssigkeit mich von innen wärmte und umklammerte meine Tasse.

„Danke“, sprach ich jetzt aus, was ich dachte. Denn was Paul geleistet hatte, war nicht unbedingt selbstverständlich und da es in letzter Zeit nicht so gut mit uns lief, wollte ich, dass er es wusste. „Wie hast du das eigentlich geschafft?“, fragte ich ihn schließlich. Ich konnte mich gar nicht erinnern, wie Jeffrey und ich zurück zum Internat kamen und selbst die Minuten, nachdem wir eingebrochen waren, ließen sich kaum noch fassen.

Verschlafen blinzelte Paul mich an. „Was meinst du?“

„Na, wie hast du mich und Jeffrey aus dem See gezogen und zurückgebracht?“

„Erinnerst du dich gar nicht?“ Paul sah mich fassungslos an und als ich langsam den Kopf schüttelte, begann er zu erzählen. „Als Jeffrey im See eingebrochen war und du ihm hinterher bist, da war ich absolut verzweifelt und wusste nicht was ich tun sollte. Ich dachte, ich sehe euch beide da sterben und dann war da plötzlich dieser Mann. Ich hatte ihn vorher noch nie gesehen und hatte keinen Schimmer, wo der plötzlich herkam, aber ohne ihn wäre es das für euch gewesen. Alles was ich getan hatte, war, dich an den Beinen festzuhalten, bevor du noch weiter einbrichst und er hat euch dann herausgezogen. Glaub mir, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so stark war.“

Natürlich, der Mann ohne Jacke.

„Ist er noch hier?“, fragte ich Paul. Ich hoffte, ihm persönlich dafür danken zu können und ich erinnerte mich bruchstückhaft an ein dunkles Gesicht und war interessiert, wer er war. Mein Blick glitt durch den Raum, aber außer Miss McCrooder und dem bewusstlosen Jeffrey erkannte ich keine weitere Person. Dennoch sah ich etwas anderes, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Über meinem Schreibtischstuhl hing eine Jacke, die mir gänzlich unbekannt und außerdem ein paar Nummern zu groß war. Der Mann ohne Jacke, schoss es mir wieder durch den Kopf. Natürlich war er nicht nur im Pullover durch den Wald gelaufen; er hatte mir seine Jacke um die Schultern gelegt, nachdem er mich gerettet hatte.

„Nein“, erklärte Paul und ich seufzte innerlich. „Er hatte McIntire und die anderen Lehrer informiert, die dann sofort gekommen sind und uns geholt haben, aber der Mann war nicht mehr dabei.“

„Hmm“, machte ich und in meinem Kopf ratterte es. „Hat er gesagt, wer er ist? Hat er dir einen Namen gesagt?“

Wieder verneinte Paul. Kurz schwieg ich, dann schlug ich mit einer plötzlichen Bewegung die Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Vor Überraschung war Paul aufgesprungen und auch Miss McCrooder sah alarmiert zu mir herüber. Als meine Füße den Boden berührten und ich Anstalten machte aufzustehen, lief sie zu uns herüber.

„Was soll das?“, rief sie erschrocken und beförderte meine Beine wieder in das Bett. „Du solltest noch nicht aufstehen, Mike. Du bist noch viel zu schwach und solltest dich lieber ausruhen. Wenn du morgen noch fieberfrei bist, dann können wir da gerne noch einmal drüber sprechen. Nun bleibst du aber im Bett, junger Mann!“

Ich fand, dass sie absolut übertrieb, aber ihr Tonfall war so ungewohnt scharf, dass ich lieber nicht widersprach. Sie nahm mir die leere Tasse ab, füllte sie erneut und forderte mich auf, zu trinken. Tatsächlich hatte ich auch einen heftigen Durst und nippte davon, aber wichtiger, als zu trinken, war mir in diesem Moment immer noch die Jacke.

„Könntest du mir die Jacke bringen, Paul?“

Eifrig nickte dieser und lief zum Schreibtisch, während Miss McCrooder ihm stirnrunzelnd nachsah.

„Was willst du denn jetzt mit deiner Winterjacke?“, fragte sie verwirrt und auch eine Spur lauernd.

„Es ist nicht meine Jacke“, erklärte ich, nachdem ich sie Paul dankend abgenommen hatte. Dann kam mir jedoch noch eine andere Idee: Wenn Paul nicht wusste, wer der Mann war, vielleicht wussten es die Lehrer; möglicherweise hatte er ihnen seinen Namen genannt. Ich stellte eine entsprechende Frage an Miss McCrooder, doch diese war genauso ratlos wie Paul. Wieder eine Sackgasse, dachte ich enttäuscht und nun war die Jacke meine letzte Hoffnung, etwas über meinen Retter zu erfahren. Während ich von den beiden mit tausend Fragezeichen in den Augen beobachtet wurde, starrte ich die Jacke auf meinem Schoß an, als würde sie dadurch anfangen, mit mir zu reden.

Sie bestand aus dunkelbraunem Wildleder und war wundervoll weich unter meinen Fingern; sicher war sie nicht billig gewesen, so viel stand fest. Vorsichtig strich ich mit den Fingerspitzen darüber, atmete tief ein und blinzelte verwundert über die Dinge, die mir daran auffielen. Ich schnüffelte noch einmal unauffällig daran, aber der Gedanke blieb; sie roch unglaublich gut. Verwirrt schüttelte ich den Kopf, drehte sie nach allen Seiten und suchte nach Taschen. Es gab zwei an der Vorderseite, die sogar recht groß waren, eine kleine Tasche auf der linken Seite in Höhe der Brust und eine kleine, sehr unscheinbare innen.

Da musste doch irgendetwas zu finden sein, das mir helfen konnte, die Identität unseres Retters in Erfahrung zu bringen, dachte ich. Wie ein Irrer durchwühlte ich die Taschen, dass Miss McCrooder und Paul sich mit hochgezogenen Augenbrauen ansahen. „Bist du sicher, dass er sich nicht auch den Kopf angestoßen hat?“, hörte ich die junge Sekretärin fragen, ignorierte ihre wenig schmeichelhafte Bemerkung jedoch.

Zuerst nahm ich mir die Innentasche vor. Vermutlich würde man persönliche Papiere eher da verstauen und ich war ziemlich enttäuscht, als ich das Futter komplett leer herauszog. Dann vielleicht die Brusttasche?

Auch hier: Fehlanzeige! Aber ich hatte ja noch zwei vor mir, alles gut. Ich würde schon noch herausfinden, wer der geheimnisvolle Mann war. Motiviert stopfte ich meine Hand in die Rechte der beiden großen Taschen und meine Fingerspitzen stießen tatsächlich auf etwas.

Triumphierend holte ich das kleine zerknüllte Etwas hervor und musste innerlich lächeln, mein Retter bekam wohl auch ungeliebte Zettelchen. Jedenfalls sah der Zettel ziemlich malträtiert aus und ich konnte erkennen, das etwas darauf geschrieben stand und so wie das Stück Papier aussah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Retter der Autor des Geschriebenen war.

Vorsichtig faltete ich es auseinander und erkannte, das auch die Rückseite bedruckt war – nein, die Rückseite war eigentlich die Vorderseite und es war kein simpler Schmierzettel, sondern eine Eintrittskarte eines Lichtspieltheaters.

„Die Reise zum Mond“, las ich still und etwas belustigt. Mein Retter schien eine interessante Person zu sein und nur zu gerne hätte ich ihn gefragt, ob sich die fünfzehn Minuten lohnten. Dann erinnerte ich mich, dass die Rückseite ja beschrieben war und drehte den Zettel um.

Nur mit sehr viel Mühe gelang es mir, dass mir nicht die Gesichtszüge entgleisten und vermutlich war die Nachricht der Grund, warum mein Retter diesen Zettel wohl so verunstaltet hatte. Mit krakeliger Handschrift stand darauf: „Warum fickst du dann nicht ihn?!“

Schnell und bevor Miss McCrooder den Inhalt lesen sowie mir den Zettel wegnehmen würde, zerknüllte ich ihn wieder und stopfte ihn in die Tasche zurück. Das war nun höchst seltsam, aber noch immer wusste ich absolut nichts über meinen Retter. Jedoch, gab es ja noch eine letzte Tasche, auf die ich meine Hoffnung setzte. Ich schob also meine Hand in diese und holte sie absolut leer wieder hervor. Am liebsten hätte ich enttäuscht aufgestöhnt, es musste doch irgendeinen Hinweis in dieser Jacke geben. Irgendetwas!

Vielleicht war ja irgendwo ein Name eingestickt?

„Was genau suchst du denn?“, fragte Miss McCrooder kopfschüttelnd, als ich die Jacke mit fliegenden Fingern auf links drehte und sie schließlich enttäuscht vor meinem Bett ausschüttelte.

„Ich will wissen, wer der Mann war!“, stellte ich etwas genervt fest. Das musste ihr doch klar sein!

„Aber ist das denn so wichtig? Hauptsache, dir ist nichts passiert. Komm, gib mir das Ding. Ich räume sie für dich weg und vielleicht will dein Retter sie ja wiederhaben.“

Miss McCrooder griff nach der Jacke, aber ich zog sie ihr panisch weg und schüttelte den Kopf, dass mir wieder schwindelig wurde.

„Nein! Ich behalte sie und wenn er kommt, dann soll er sie bei mir abholen!“

„Also gut“, sagte Miss McCrooder seufzend. „Dir scheint es ja wieder recht gut zu gehen und Jeffreys Temperatur ist stabil. Ich werde mich jetzt für ein paar Stunden hinlegen gehen.“ Besorgt sah sie Paul an. „Ich schlage vor, dass du auch etwas schläfst.“

Damit verließ sie das Zimmer, aber Paul sah nicht so aus, als würde er ihren Rat befolgen, sondern setzte sich wieder neben mich auf den Stuhl. Ich hoffte inständig, dass er mir nicht noch einen dritten Tee aufdrängen würde, denn so langsam aber sicher würde ich dann bald auf die Toilette müssen. Und so wie er und Miss McCrooder drauf waren, wusste ich nicht, ob er mich gehen lassen würde.

„Warum willst du unbedingt wissen, wem die gehört?“, fragte Paul, nachdem wir ein paar Minuten schweigend nebeneinandergesessen hatten. Ich konnte nicht glauben, dass auch Paul mir diese Frage stellte, schaffte es aber diesmal, ruhig zu antworten.

„Ich würde ihm gerne danken“, erklärte ich, was eigentlich selbstverständlich war und als Erklärung reichte. Ein anderer Grund, den ich jedoch nicht nannte, war, dass der Geruch der Jacke mir seltsam bekannt vorkam und ich mich ganz schwach an ein dunkles Gesicht erinnerte. Möglicherweise war der Mann Inder, wie ich auch, und mir gefiel der Gedanke, hier nicht allein zu sein. Aber etwas in mir sagte mir, dass da noch mehr war und ich hätte nur zu gerne dieses Puzzle zusammengesetzt.

So wie es aussah, war das jedoch aussichtslos und alles, was ich nun tun konnte, war, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

„Leg dich ruhig hin“, ermutigte ich Paul. „Du hast das bitter nötig, außerdem kann ich auch ein paar Stunden auf Jeffrey aufpassen. Immerhin hab ich jetzt genug geschlafen.“

Zweifelnd, aber todmüde sah er mich an und versuchte, zu protestieren, aber ich würgte ihn mit einer entschiedenen Handbewegung ab. Paul hatte genug auf mich aufgepasst, nun wollte ich ihn entlasten. Dankbar nahm er schließlich an, bestand aber darauf, mich zu dem Stuhl, der neben Jeffreys Bett stand, zu begleiten und dass ich ihn sofort wecken sollte, wenn ich auch nur ein seltsames Kribbeln im Zeh spürte.

Ich musste über seine Fürsorge lächeln, aber ich freute mich sehr darüber und es zeigte mir, dass wir nach all den schwierigen Monaten immer noch füreinander da waren. Schon nach kurzer Zeit hörte ich Paul ruhig und gleichmäßig atmen und richtete meine Aufmerksamkeit voll auf Jeffrey.

Sein Gesicht war blass, aber seine Wangen hatten eine rötliche Färbung angenommen und als ich die Hand auf seine Stirn legte, erkannte ich, dass er wieder fieberte. Da das Tuch auf seiner Stirn vollkommen trocken war, legte ich es in die Schale mit kühlem Wasser auf Jeffreys Nachttisch, wrang es aus und betupfte sein Gesicht damit, bevor ich es erneut auf seine Stirn legte.

Dabei zuckte immer wieder ein Muskel in seinem Gesicht, wenn ich über seine Haut fuhr und ich war mir nicht sicher, ob er vielleicht Schmerzen hatte. Aufmerksam betrachtete ich ihn und eigentlich dachte ich, dass ich sauer auf ihn sein musste. Immerhin war ich nach all dem Schlamassel mit ihm nun auch noch in einen zugefrorenen See eingebrochen und um ein Haar gestorben. Aber ich fühlte nichts in der Richtung. Stattdessen zog sich mein Herz vor Sorge zusammen und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass er die Augen aufmachen und mit mir reden würde.

Ich war furchtbar egoistisch gewesen, wurde mir klar und womöglich hätten wir alle in den letzten Monaten weniger Stress gehabt, wenn ich ihm schon beim ersten Mal zugehört hätte. Ganz sicher wären wir dann auch nicht im Eis eingebrochen – auch das konnte ich nicht Jeffrey in die Schuhe schieben.

„Es tut mir leid“, murmelte ich mit erstickter Stimme, obwohl ich nicht wusste, ob er mich hören konnte. Oder vielleicht gerade deswegen? „Es ist alles meine Schuld! Wäre ich nicht so ein Idiot gewesen, dann wärst du jetzt nicht...“

Schulterzuckend brach ich ab; ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte und stützte seufzend das Gesicht in meine Hände. Ich fühlte mich nun furchtbar müde und erschöpft. Kurz überlegte ich, Paul zu wecken, so wie wir es abgemacht hatten, aber ich wollte ihn schlafen lassen. Immerhin hatte er in den letzten Tagen auch viel durchgemacht. Da wollte ich ihn nun nicht aus seinem wohlverdienten Schlaf reißen.

„Ich war der Idiot“, hörte ich eine dünne Stimme und fühlte eine Hand auf meinem Kopf, die mir durch die Haare wuschelte. Erstaunt sah ich auf und direkt in Jeffreys Gesicht, der mich – immer wieder bebend vom Schüttelfrost – matt anlächelte. „Ich hätte nicht einfach abhauen sollen und wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, dann hätte ich mir auch nicht mehr zugehört.“

„Das sagst du nur, damit ich mich besser fühle“, stellte ich trocken fest. Aber Jeffrey schüttelte heftig den Kopf, nur, um kurz darauf aufzustöhnen und sich schmerzverzerrt den Kopf zu halten.

„Aua, verdammt!“, fluchte er und ich wusste genau, wie er sich fühlte, denn der Zwerg in meinem Kopf hatte ebenfalls seine Arbeit wiederaufgenommen. Seufzend rieb ich mir die Schläfen und spürte Jeffreys durchdringenden Blick auf mir liegen. „Ich glaube, du solltest auch eher im Bett liegen“, flüsterte er zitternd.

Ja, das sollte ich wohl, ging es mir durch den Kopf. Aber ich hatte das Gefühl, wenn ich die Sache mit Jeffrey klären wollte, dann jetzt. Außerdem wollte ich Paul nicht wecken und wenn ich ehrlich war, dann traute ich mich nicht den kurzen Weg zu meinem Bett alleine zu schaffen. Ich hatte ihm nichts gesagt, aber als Paul mich hierher begleitet hatte, war mir ziemlich schwindelig geworden.

Kurz überlegte ich, was ich tun sollte, als ein erneutes kräftiges Frösteln von Jeffrey mir die Entscheidung abnahm.

Ohne weiter darüber nachzudenken, hob ich seine Decken an, kroch darunter und presste Jeffrey an mich. Erstaunt sah er zu mir hoch, aber ich hatte durchaus das Lächeln in seinen Augen gesehen und zuckte nur mit den Schultern. „Du hast doch gesagt, ich soll im Bett liegen.“

Ein helles Lachen, in welches ich schnell mit einstimmte, verließ seine Brust und schon nach kurzer Zeit krümmten wir beide uns vor Husten. Als wir endlich wieder in der Lage waren, normal zu atmen, sahen wir uns fest in die Augen und brachen erneut in einen Lach-/Hustenanfall aus. Gerade so, als würde sich dadurch die Anspannung der letzten Monate entladen und wirklich, ich fühlte mich besser – auch wenn mir die Lunge brannte und der Kopf schmerzhaft hämmerte.

Jeffrey presste seinen Kopf gegen meine Brust und strich immer wieder gedankenverloren über meinen Bauch, dass ich mir wünschte, ich hätte vorher das Hemd ausgezogen.

„Bist du mir noch böse?“, fragte er dann beinahe schüchtern. Kurz musste ich über seine Frage nachdenken, aber dann wurde mir klar, dass ich es nicht war. Ich war froh, dass er noch lebte und hoffte, er würde sich schnell wieder erholen.

„Nein. Bin ich nicht.“

Bevor ich Jeffreys Blick richtig deuten konnte, robbte er zu mir hoch und küsste mich. „Ich werde dich anstecken“, sagte er dann schuldbewusst und zog den Kopf wieder weg. Aber die Ausrede ließ ich ihm nicht durchgehen und küsste ihn erneut. „Ich bin doch schon krank, also ist das doch egal“, meinte ich, während wir beiden nach Luft schnappten.

„Ich mag dich sehr, Mike“, sagte Jeffrey plötzlich nachdem wir minutenlang aneinander gekuschelt dagelegen hatte. „Deswegen bin ich weggelaufen.“

„Ich habe da nicht viel Erfahrung drin, aber bleibt man dann nicht eigentlich bei der Person?“ Ich konnte mir den Spott in meiner Stimme nicht verkneifen. Auch wenn ich Jeffrey verziehen hatte, etwas aufziehen wollte ich ihn dann doch. Wie es aussah, hatten mir die Ereignisse der letzten Zeit einiges an Selbstvertrauen gegeben.

„Vermutlich schon“, meinte Jeffrey. „Aber es hatte mich erschreckt, weil ich doch eigentlich nicht hierbleiben wollte.“ Mit ernstem Gesichtsausdruck sah er zu mir hoch. „Du hattest Recht, Mike. Ich wollte von der Schule fliegen und dann fing das mit dir an. Als ich dich geküsst hatte, wurde mir klar, dass ich bleiben muss und das hat mir in dem Moment eine heftige Angst gemacht.“

Sein Geständnis rührte mich und ich überspielte den Anfall von Gefühlsduselei – nämlich die Tränen, die mir in die Augen stiegen – indem ich mein Gesicht in seinen Haaren vergrub.

„Soll das heißen, du willst bleiben und strengst dich nun mehr an?“, fragte ich vorsichtig. Mit einem verschmitzten Grinsen sah Jeffrey mir in die Augen.

„Wie wäre es, wenn wir zusammen durchbrennen?“

Ich wusste nicht ganz, ob die Frage ernst gemeint war oder nicht und entschied mich, eher mit Belustigung darauf zu reagieren.

„Hmmm“, machte ich. „Das ist genauso eine gute Idee wie die mit dem See.“

„Hmmm“, brummte Jeffrey beleidigt. „Dann bleib ich eben.“

"Divari"

„Mike. Mike!“, hörte ich Pauls aufgeregte Stimme und immer wieder rüttelte er heftig an mir.

„Lssmchschlafn“, nuschelte ich und war richtig sauer auf ihn. Denn ich hatte gerade einen echt spannenden Traum gehabt. Darin waren Jeffrey und ich in einen See eingebrochen, doch bevor wir beide einen eisigen Tod erleiden konnten, erschien ein geheimnisvoller Held und rettete uns beide daraus. Und gerade, als es richtig spannend wurde – im Traum waren Jeffrey und ich im Bett gelandet – kam Paul auf die Idee, mich wieder viel zu früh zu wecken.

„Aber Miss McCrooder wird gleich hier sein. Wenn sie euch so sieht, dann habt ihr andere Probleme als vier Wochen Hausarrest!“

Uns so sehen?

„Warum sollte es schlimm sein, im Bett zu liegen und zu schlafen?“, fragte ich mich, aber Paul rüttelte weiter an mir und das mit einer Inbrunst, als würde mein Leben davon abhängen. Genervt drehte ich mich um, aber nicht nur ich bewegte mich unter der Decke, sondern auch etwas anderes und plötzlich schlang sich ein Arm um meine Brust. Verwirrt öffnete ich ein Auge, blickte auf den Arm hinab und schloss es dann wieder. Aber das Gefühl blieb; ich schlief wohl wirklich nicht mehr und schlug nun endgültig die Augen auf.

Paul sah mich panisch an, während ich mich langsam und mit einem Ächzen aufsetzte. Mein Kopf schmerzte höllisch und es kratzte furchtbar in meinem Hals. Nein, ich hatte nichts davon geträumt und war schon gestern mit einem heftigen Brummschädel aufgewacht. Außerdem lag ich nicht in meinem Bett, denn das grinste mich leer von der anderen Seite des Zimmers an, sondern, ich war tatsächlich bei Jeffrey, der noch fest schlief und nun grummelnd den Arm um meine Hüfte legte.

Oh ja, das würde wirklich massiven Ärger geben.

Geschockt sahen Paul und ich uns an, als wir plötzlich die klackenden Schritte draußen auf dem Gang hörten. Aber noch nie war ich so froh gewesen, dass Miss McCrooder immer diese neumodischen, aber unbequemen und derart lauten Schuhe trug.

Hastig versuchte ich, mich aus dem Bett zu arbeiten, wurde aber sofort von einer heftigen Schwindelattacke erfasst. Ich würde nie rechtzeitig aus dem Bett kommen, bevor Miss McCrooder das Zimmer stürmen würde.

Kurzerhand sprang Paul auf, nahm sich den Stuhl neben meinem Bett und klemmte ihn unter die Türklinke. Rannte dann zu mir zurück und zerrte mich mehr zu meinem Bett, als dass ich lief.

Es rüttelte an der Tür und kurz danach drang Miss McCrooders gedämpfte Stimme durch diese.

„Mr. Winterfeld? Paul, was ist mit eurer Tür los?“

Nachdem Paul mich ins Bett gestopft hatte, lief er hastig zur Zimmertür zurück. „Sie klemmt leider oft! Ähm, warten Sie...“ Paul schnappte sich den Stuhl, ließ sich damit neben mir nieder und fischte sich ein Buch von meinem Nachttisch.

„Versuchen Sie es jetzt noch einmal!“, rief Paul und keine zwei Sekunden später polterte Miss McCrooder regelrecht in das Zimmer herein.

„Oh, das ging jetzt leichter, als ich dachte“, murmelte sie verwirrt. „Ich schicke euch später den Hausmeister, das kann ja nicht so bleiben.“

„Vielen Dank“, sagte Paul höflich und ich musste mir die Decke über den Kopf ziehen, sonst wäre ich wohl in schallendes Gelächter ausgebrochen.

„Konntest du etwas Schlaf bekommen?“, fragte sie und fuhr direkt fort. „Du siehst jedenfalls deutlich besser aus.“ Seufzend langte Miss McCrooder an Pauls Seite an und sie musste wohl glauben, dass ich wie Jeffrey ebenfalls noch schlief.

„Wie geht es den beiden?“

Ich nahm das als mein Stichwort, schlug langsam die Augen auf und streckte mich übertrieben. Sie sollte ja auf keinen Fall auf die Idee kommen, dass ich die ganze Nacht bei Jeffrey im Bett geschlafen hatte. Vermutlich deutete darauf sowieso nichts hin, aber durch meine kleine schauspielerische Einlage fühlte ich mich deutlich sicherer.

„Oh, Miss McCrooder. Seit wann sind Sie denn hier?“, fragte ich unschuldig und konnte ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken.

Statt einer Antwort legte sie mir ihre flache Hand auf die Stirn und stellte mir eine Gegenfrage. „Wie fühlst du dich heute?“

„Fantastisch!“, kam es von mir, wie aus der Pistole geschossen und sie warf mir einen Blick zu, der klarmachte, was sie von meiner Antwort hielt. „Naja, vielleicht etwas schlapp und es kratzt im Hals.“

Miss McCrooder nickte und schien nun weniger beunruhigt zu sein.

„Du siehst auch erholter aus und zum Glück hast du kein Fieber mehr.“

Was man von Jeffrey leider nicht behaupten konnte, wie Pauls Blick klarmachte. Nachdem Miss McCrooder angefangen hatte, mich auszufragen, war Paul zu Jeffrey gegangen und hatte die Kompresse auf seiner Stirn gewechselt.

„Er hat immer noch Fieber, aber ich glaube, es ist nicht mehr so hoch“, verkündete Paul. Er klang dabei aber sehr angespannt, vor allem, als Jeffrey sich im nächsten Moment vor Husten schüttelte. Besorgt warf ich ihm einen Blick zu und mir stellten sich bei den pfeifenden Geräuschen die Nackenhaare auf.

„Sollte da nicht mal ein Arzt drauf sehen?“, fragte ich besorgt in den Raum hinein.

Unsicher sah Miss McCrooder zu Jeffrey und dann zu mir. „Mr. McIntire hatte am ersten Tag einen Arzt gerufen. Er sagte, ihr braucht Ruhe und Wärme.“ Nervös knetete sie ihre Finger und zuckte dann zusammen, als Jeffrey wieder hustete. „Wir sehen, wie es bis morgen ist, dann rede ich noch einmal mit Mr. McIntire.“

Entgeistert sah ich sie an. Ich wusste nicht, ob es eine gute Idee war, bis morgen zu warten. Jeffrey hörte sich absolut nicht gut an.

Es klopfte an der Tür und ich fühlte die groteske innere Hoffnung, dass es McIntire war. Ich hätte mir nie gedacht, dass ich mir freiwillig wünschen würde, den Kinder hassenden Direktor zu sehen. Aber jetzt war es so, denn ich war mir sicher, dass Jeffrey heute noch einen Arzt brauchte.

„Das ist sicher das Küchenmädchen mit dem Frühstück“, verkündete Miss McCrooder und rief die Bedienstete herein. Als der Besuch eintrat, erlebte ich eine der seltenen Gelegenheiten Miss McCrooder sprachlos und vollkommen verlegen zu sehen.

„Verzeiht“, sagte der Mann, noch im Türstock stehend. „Wie mir scheint, haben Sie jemand anderes erwartet, Madame.“

„Oh... Also... ich...“, stotterte Miss McCrooder und ich drehte mich neugierig zur Tür.

„Chacha! [Onkel]“, rief ich freudig, aber auch vollkommen ungläubig, aus, als ich meinen Vormund erkannte. Kerzengerade saß ich im Bett und versuchte sogar, aufzustehen, um ihm voller Freude entgegenzulaufen.

„Nein, nein“, mit einer beschwichtigenden Handbewegung kam Shankar Divari, der ein enger Vertrauter meines Vaters und mein Vormund war, mir entgegen. „Bleib liegen, Kumara.“

Ich lächelte aufgrund der liebevollen Anrede, mit der er mich immer bedachte, obwohl ich nicht sein leibliches Kind war und uns nur die Freundschaft, die er zu meinem Vater gehabt hatte, verband. Zwar gab es auch Momente, wo es mir einfach nur peinlich war. Denn „Kumara“ war ein Sanskritwort, das nicht nur „Sohn“, sondern auch „Prinz“ bedeutete und ich fand es komisch, so genannt zu werden. Aber es zeigte mir die väterliche Liebe, die er für mich fühlte und das bedeutete mir viel.

„Ich wusste gar nicht, dass du in England bist. Warum hast du nicht geschrieben?“, entfuhr es mir verwundert und ich verlor mich in einem Hustenanfall.

Während Divari mir sorgenvoll über den Rücken rubbelte, bis ich mich wieder beruhigt hatte, ging mir durch den Kopf, dass die Reise nach Europa ja nichts war, was man mal so spontan machen konnte.

„Kurz nach deiner Abreise hab ich einen wichtigen Brief erhalten und musste geschäftlich nach London“, erklärte er, während er von Paul und Miss McCrooder neugierig gemustert wurde. „Ich bin tatsächlich nur eine Woche nach dir abgereist. Der Brief, den ich dir geschrieben habe, ist sicherlich noch nicht angekommen. Du weißt ja, wie das ist.“

Entschuldigend zuckte Divari mit den Schultern und sah dann irritiert auf, als er die Blicke auf sich spürte.

„Oh, bei den Göttern! Wo sind nur meine Manieren?“, sagte er, sprang auf und verbeugte sich vor Miss McCrooder und Paul. „Mein Name ist Shankar Divari, ich bin Mikes Vormund.“

Miss McCrooder sah sichtlich angetan aus, als er sich vor ihr verbeugte und respektvoll einen Handkuss andeutete.

„Oh... ich... Es freut mich sehr, sie kennen zu lernen, Mr. Divari“, stotterte sie, während sie sichtlich nach Fassung rang.

Paul grinste mir zu, während ich gespielt genervt die Augen verdrehte. Mein Vormund nannte es Höflichkeit, aber ich glaubte ja, dass er es genoss vor allem jungen Engländerinnen den Kopf zu verdrehen. Aber natürlich hätte er sich mit keiner dieser Frauen eingelassen, denn er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und unter den Briten sehr angesehen.

Nachdem Miss McCrooder und Paul sich vorgestellt hatten, sah er sie ernst an.

„Ich habe gehört, was passiert ist und bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich um meinen Schützling gekümmert haben.“ Mit einem sorgenvollen Blick bedachte er das Bett, in dem Jeffrey lag und immer noch fieberte. Dann kam er zu mir, als ich erneut qualvoll hustete und Jeffrey mir auf die gleiche Art antwortete.

„Wie geht es dir, Kumara?“

Er tastete meine Stirn ab und sah dann etwas erleichtert aus.

„Es ist nicht so schlimm, aber Jeffrey...“, würgte ich hervor und deutete zu meinem Freund. Divari nickte, lief zu ihm und besah ihn eine Weile kritisch. Dann stand er auf, strich seinen tadellosen Anzug glatt und warf mir einen ernsten Blick zu.

„Ich kenne einen sehr guten Arzt hier in der Stadt. Ich werde ihm ein Telegramm schicken, damit er heute noch zu euch kommt.“

„Das wird nicht nötig sein, Mr. Divari.“, lehnte Miss McCrooder dankend ab. „Mr. McIntire wird morgen unseren Arzt rufen, wenn keine Besserung eingetreten ist.“

Mein Vormund schüttelte lächelnd den Kopf, aber seine Augen duldeten keine Widerworte. „Ich bestehe darauf“, insistierte er. „Und ich übernehme auch die vollen Kosten.“ Damit wandte er sich wieder an mich. „Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, aber ich komme dich heute Nachmittag besuchen.“

Ich nickte und fühlte mich nun auch unglaublich müde, daher war mir das ganz recht. Gerade als Divari zur Tür gehen wollte, erstarrte er mitten in der Bewegung und sah zum Schreibtisch. Genau genommen zu meinem Schreibtischstuhl, auf dem wieder die Jacke hing.

„Woher hast du diese Jacke?“, fragte er und ich wunderte mich über den nervösen Unterton in seiner Stimme.

„Die ist von dem Mann, der Jeffrey und mich aus dem See gezogen hat.“

Beinahe in Trance nickte mein Vormund. „Hast du ihn gesehen? Hat er gesagt, wer er ist?“

Ich schüttelte den Kopf und wunderte mich, warum er plötzlich so angespannt aussah.

„Nein, ich weiß leider nicht, wer er ist. Ich habe die Jacke schon untersucht, aber absolut keinen Hinweis gefunden.“

„Schade“, stieß Divari aus, aber ich fand, dass es erleichtert klang. „Was hältst du davon, wenn ich sie mitnehme? Vielleicht finde ich ja etwas heraus.“

Das klang für mich überhaupt nicht sinnvoll und außerdem war da ja noch der geheimnisvolle Zettel.

„Nein, lass sie hier“, protestierte ich fast erschrocken. Mit beinahe gequältem Gesichtsausdruck sah Divari mich an.

„Aber er will sie sicher wieder haben...“

„Ja, deswegen ja! Du bist doch bald wieder in Indien, aber ich bin hier. Ich denke, hier findet er sie leichter, als wenn er dafür nach Indien fahren muss.“

In meinem Kopf bildete sich gerade der ominöse Gedanke, wie mein Retter bei seiner Ankunft gefragt wird, warum er das Land besucht. Nur um dann zu antworten, dass er seine Winterjacke abholen will. Am besten noch, wenn das Thermometer 40°Celsius oder mehr erreichte.

„Nun, wahrscheinlich hast du Recht“, antwortete mein Vormund, legte die Jacke wieder über die Stuhllehne und zwirbelte sich nervös den Schnurrbart. „Also gut, ich muss dann los. Ich sage Dr. Mason, dass es dringend ist und wir sehen uns dann später.“
 

Obwohl ich mich absolut schlapp fühlte und direkt wieder eingeschlafen war, als mein Vormund noch nicht einmal die Türklinke in der Hand hatte, hätte ich auf jeden Fall abgestritten, dass ich krank war. Denn was ich bei Jeffrey sah, war viel schlimmer und ich bekam kaum die Suppe herunter, die man mir gebracht hatte. Mein Hals war vor Sorge wie zugeschnürt.

„Mike, du musst jetzt wirklich etwas essen“, drängte Miss McCrooder und ich konnte sie geradeso davon abhalten, mich wie ein Kleinkind zu füttern. Vorsichtig probierte ich einen Löffel und verschluckte mich an der heißen, dampfenden Flüssigkeit. Beim zweiten Versuch war ich deutlich vorsichtiger und tatsächlich fühlte ich mich nach einigen wenigen Löffeln besser. Ich merkte erst während des Essens, welchen Hunger ich hatte.

Es klopfte energisch an der Tür und ohne auf eine Antwort zu warten, wurde diese geöffnet. Ein großer, schlanker Mann mit dunkelblondem Haar, welches sorgsam kurzgehalten war, trat ein und stellte seine Arzttasche auf unserem Schreibtisch ab. Er ignorierte Miss McCrooders missbilligenden Blick und lächelte mich offen an. „Wie ich sehe, hast du Appetit; das ist ein gutes Zeichen“, offenbarte er. „Du musst Mike sein, dein Vormund schickt mich. Ich bin Dr. Henry Mason.“ Damit streckte er mir die Hand entgegen, die ich lächelnd schüttelte und er ignorierte Miss McCrooder, der langsam die Zornesröte in das Gesicht stieg, weiter.

„Woher wissen sie, dass ich Mike bin?“, fragte ich. Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen und fand es daher verwunderlich, dass er direkt annahm, dass ich Divaris Schützling war. Man hätte mein Nachfragen auch durchaus mit Misstrauen verwechseln können, denn ich war etwas forscher geworden, als ich es beabsichtigt hatte. Aber in den Augen des Doktors glitzerte es amüsiert. „Das war nicht schwer. Du siehst deinem Vater wirklich sehr ähnlich.“

Kerzengerade saß ich im Bett und starrte ihn erstaunt an. „Sie haben meinen Vater gekannt?“ Diese Information erstaunte und versetzte mich in helle Aufregung zur gleichen Zeit. Da ich kaum etwas über den Mann wusste, der mein Vater gewesen war, außer dass er ein vermögender und hochangesehener Inder im britischen Dienst war und bei einem Unfall zusammen mit meiner Mutter verstorben war, freute ich mich jemanden zu treffen, der ihn kannte. Ich hoffte so, mehr über ihn zu erfahren und vielleicht gab es sogar Bilder, die ich mir ansehen konnte.

„Ich … Also ich, ja“, stotterte Dr. Mason und er sah dabei aus, wie jemand, der erkannte, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Irritiert sah ich ihn an, während er mit den Achseln zuckte. „Ich habe ihn ein-, vielleicht zweimal kurz gesehen. Wir hatten aber nicht viel miteinander zu tun.“

„Ach so“, murmelte ich enttäuscht. Er musterte mich auf sonderbarer Weise und vielleicht hätte er doch noch etwas gesagt, wenn Miss McCrooder nicht dazwischengefahren wäre.

„Ich darf ja wohl bitten!“, entfuhr es ihr, als sie den Mangel an Etikette, den Dr. Mason an den Tag legte, nicht mehr aushielt.

Trotz des seltsamen Gesprächs war mir der Doktor sofort sympathisch und wie ich, mit einem Blick in Pauls Richtung feststellte, ihm auch.

Entwaffnend lächelte Dr. Mason die junge Frau an. „Entschuldigen Sie mein unhöfliches Auftreten, aber da ich dem hippokratischen Eid unterstehe, gilt meine volle Aufmerksamkeit meinen Patienten.“ Wieder lächelte er und als Miss McCrooder gerade nicht hinsah, zwinkerte er mir sogar zu.

„Wärst du einverstanden, wenn ich mich erst um deinen Freund kümmere?“, sagte Dr. Mason, als Jeffrey ein Husten von sich gab, das nach einer Mischung aus Keuchen und Pfeifen klang.

Ich nickte eifrig, wenn es nach mir ginge, dann brauchte Dr. Mason mich gar nicht untersuchen. Zwar fühlte ich mich schlapp und müde, aber ich glaubte nicht, mehr zu haben, als eine simple Erkältung.

Dr. Mason ging zu seiner Tasche, holte ein Stethoskop hervor und setzte sich dann zu Jeffrey an die Bettkante. Während er ihn eingehend untersuchte, beobachtete ich ihn dabei genau und versuchte, an seiner Körperhaltung oder seiner Mimik zu erkennen, wie ernst die Lage wirklich war. Aber Dr. Mason ließ sich nichts anmerken, was mich aber nicht im Geringsten beruhigte. Eher im Gegenteil.

Schließlich drehte er sich um und warf Miss McCrooder einen ersten Blick zu.

„Der Junge muss sofort ins Krankenhaus“, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Dann kam er zu mir und untersuchte mich ebenfalls gründlich. „Er besser auch.“

„Was, aber das …?“, stammelte Miss McCrooder. „Ist es wirklich so schlimm?“ Ihre Stimme klang erstickt. Auch Paul und ich waren geschockt. Mir war es egal, dass auch ich ins Krankenhaus sollte, aber um Jeffrey hatte ich wahnsinnige Angst. Er sah absolut schlecht aus und wenn mein Vormund nicht plötzlich aufgetaucht wäre, dann …

Nein, an so etwas wollte ich gar nicht denken.

„Ja.“ Dr. Mason deutete auf Jeffrey und dann auf mich. „Er hat eine Lungenentzündung und auch seine Lunge, auch wenn er deutlich mehr Glück gehabt hatte, gefällt mir nicht.“

„Ich werde sofort zu Mr. McIntire gehen, damit die beiden noch heute ins Städtische Krankenhaus gebracht werden.“ Sie hatte die Tür schon erreicht, als der Arzt sie aufhielt.

„Ich bestehe darauf, dass die beiden zu mir ins Krankenhaus gebracht werden. Wir sind zwar eine kleine private Einrichtung, aber glauben Sie mir, bei uns sind sie besser aufgehoben.“

Zögerlich nickte Miss McCrooder und lief dann los, um alles Nötige zu veranlassen.

"Atemlos"

Ich war mir sicher, dass ich schon längst wieder fit wäre und laufen könnte, wenn man mich nicht ans Bett gefesselt hätte. Missmutig sah ich vor mich hin und grummelte nur, als die Schwester mir ein weiteres Kissen brachte und es mir voller Enthusiasmus in den Rücken stopfte. Wie konnte man nur so gute Laune haben, ging es mir pessimistisch durch den Kopf. Hier? In einem Krankenhaus, wo man tagtäglich von Tod und Krankheit umgeben war?

Auch wenn dieses Krankenhaus anders war, als andere – obwohl ich zum Glück noch nicht so viele gesehen hatte in meinem Leben. Aber dieses hier ähnelte fast schon einem Hotel. Ich lag nicht, wie es üblich war in einem überfüllten Gemeinschaftsraum oder einem Zimmer, das trotzdem noch vier Betten beherbergte. Nein, ich hatte ein Einzelzimmer mit schicker Holzvertäfelung an den Wänden und weißen Vorhängen vor dem Fenster, die sich sanft im Wind bewegten. Aber genau das war mein Problem.

Ich war hier allein! Ich hing an dieser blöden Infusion, die für mich nichts anderes war, als eine Kette an der Wand und keiner erlaubte mir aufzustehen. Dabei wollte ich nichts anderes, als zu Jeffrey gehen, um zu sehen wie es ihm ging.

„Sei doch bitte etwas netter, Kumara.“, hörte ich meinen Vormund, der neben mir in einem schicken Ledersessel saß, seufzen. „Die Schwestern sind alle so freundlich hier und du ...“

Schnaubend verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah demonstrativ in die andere Richtung. Auch wenn Divari nichts für meine schlechte Laune konnte und es mir leid tat, aber ich wusste einfach nicht wohin mit meinen Gefühlen. Ich war sauer. Sauer das es Jeffrey wegen mir jetzt so schlecht ging, dass wir sogar im Krankenhaus waren und ich jetzt nicht einmal bei ihm sein konnte. Anstatt neben seinem Bett auf ihn aufzupassen, gammelte ich im Raum nebenan vor mich hin.

„Kumara, was ist nur in letzter Zeit los mit dir?“

„Jetzt hör endlich auf damit! Mein Name ist Mike.“, blaffte ich ihn an, doch so schnell, wie mir die Röte ins Gesicht gestiegen und die Worte aus mir heraus gesprudelt waren, tat es mir auch wieder leid. Schuldbewusst sah ich Divari an, der wirklich verletzt aussah und spielte nervös mit meiner Bettdecke. „Es ... tut mir leid.“, murmelte ich mit erstickter Stimme. „Ich ...“ Ich brach ab, sah ihn hilfesuchend an und blickte schnell wieder auf die Decke, als ich das verräterische Brennen in meinen Augen fühlte. Warum konnte ich mich in letzter Zeit nur wie ein Arschloch benehmen? Ich hatte Paul von mir gestoßen, Jeffrey fast umgebracht und nun behandelte ich den Mann, der alles für mich tat, wie ein Stück Dreck. Wann hatte es nur Angefangen, dass alles in meinem Leben so schrecklich kompliziert war. Wenn Divari nun aufstehen und gehen würde, ich könnte es ihm nicht verübel und hätte vollstes Verständnis dafür. Ich erwartete es sogar, umso überraschter war ich, als ich mich plötzlich in seiner Umarmung wiederfand.

„Es ist alles meine Schuld!“, hörte ich mich plötzlich selbst schluchzen, als wäre durch die Berührung ein Damm gebrochen. „Ich war selbstsüchtig und ungerecht und deswegen ist Jeffrey ...“ Ich weinte wie ein kleines Kind, während er mir trösten über den Kopf strich und mir ohne Unterlass zuflüsterte, dass eben nicht meine Schuld war. Aber ich fühlte mich dadurch nicht besser und die Wut die ich fühlte wuchs weiter. Nur weil ich solche kranken Gefühle hatte, kämpfte Jeffrey jetzt um sein Leben. „Woher wisst du das wissen?! Warst du dabei?“, schrie ich blind meinen Zorn hinaus und fand mich Sekunden später in einem Hustenkrampf wieder, der mich schwer nach Luft ringen ließ. Zwar brannte bereits meine Lunge, als sei sie mit siedendem Öl gefüllt, aber ich erlaubte mir nicht einzusehen, dass ich ebenfalls Hilfe brauchte. „Etwas mit … mir ...ist einfach … falsch.“, brachte ich unter qualvollen Atemzügen hervor.

„Nein, hör auf so zu reden.“, sagte Divari entschieden und drückte mich auf das Bett zurück. „Wenn jemand sich Vorwürfe machen sollte, dann bin ich das. Du befindest dich in einer schwierigen Lebensphase und ich habe das verkannt.“ Er lächelte beinahe bitter. „Es fällt mir manchmal schwer, nicht mehr das Kind in dir zu sehen, das ich großgezogen habe und zu begreifen, dass du langsam erwachsen wirst.“

Divari winkte der Schwester, die gerade wieder herein kam und auf sein Geheiß wieder davon hetzte. Vermutlich um Dr. Mason zu holen, stellte mein Hirn ganz analytisch fest, während ein anderer Teil meines Kopfes begriff, dass ich gerade echt schwer Luft bekam. Und dieser Teil sorgte für ordentlich Panik.

Ich fragte mich, wie Divari so ruhig bleiben konnte, während ich wohl gerade erstickte? Der Husten tat unglaublich weh und ich wollte es einfach nicht mehr, aber ich konnte auch nicht aufhören. Meiner Brust wurde das langsam echt zu viel. Warum brach denn sonst keiner in Panik aus?

Immer wieder versuchte ich Divaris Hände wegzuschlagen, die mich auf dem Bett hielten, während er mir sagte, es sei wichtig ruhig zu bleiben. Ja, spinnte er denn?

Dann hörte ich ein Klacken und wie jemand eine Anweisung rief, mir schwindelte, deswegen verstand ich es nicht ganz. Nun drückte mir eine unbarmherzige Hand auch noch etwas auf mein Gesicht, sodass die wenige Luft, die ich bekam, nach Leder und Gummi roch. Mir wurde übel und ich versuchte verzweifelt, die Hand wegzudrücken.

„Ganz ruhig, Mike. Es wird gleich besser werden.“ Es war Dr. Masons Stimme, aber sein Gesicht über mir verschwamm immer wieder. „Du atmest jetzt ein und dann wieder aus; und dann fängst du wieder von vorne an.“

Ich fand seine Anweisungen einfach nur lächerlich. Wie sollte ich atmen, wenn man mir ein Stück Leder auf das Gesicht gedrückt hatte? Aber seine Stimme hatte einen solchen suggestiven Klang, dass ich tat, was er von mir verlangte. Schnell bemerkte ich die seltsam schmeckende Luft, welche sich den Weg zu meinen Lungen bahnte. Ich konnte atmen und man versuchte nicht, mich umzubringen, wie ich in meinem Sauerstoffmangel für einige Augenblicke gedacht hatte.

Als sich der Dunstschleier vor meinen Augen gelichtet hatte, erkannte ich nun auch den Arzt und die Schwester, die mit professioneller Gelassenheit zu mir herabsahen.

„Verstehst du nun, dass auch du krank bist und genauso Hilfe brauchst wie dein Freund?“, fragte Dr. Mason ruhig, aber ohne Vorwurf in der Stimme. Ich nickte bloß und das nicht nur, weil ich unter der dicken Sauerstoffmaske nichts sagen konnte, sondern auch, weil ich absolut nicht wusste, was. Vor ein paar Tagen war ich wegen Jeffreys Zustand so geschockt gewesen, dass ich alles, was in mir vorging, ignorierte und den Husten, die Schwäche und das Brennen in meiner Lunge nicht wahrhaben wollte. All das existierte für mich nicht, denn ich wollte Jeffrey die Hilfe, die er brauchte, nicht durch mich verwehren. Immerhin hatte ich ihm das eingebrockt. Daher dachte ich wohl, ich hätte es nicht verdient. Aber die Wahrheit war, dass es mir mies ging. Wenn ich auf Jeffrey aufpassen wollte, dann musste ich erst einmal selbst wieder zu Kräften kommen.

„Was haben Sie ihm gespritzt?“, hörte ich meinen Vormund fragen und sah skeptisch zu der gläsernen Infusionsflasche hoch, die über einen Gummischlauch zu einer metallenen Nadel führte, welche unangenehm piksend in meinem Handrücken steckte. Die ganze Zeit hatte ich gehofft, dass sie mir das Ding endlich abnehmen würden, aber nun war es mir gleich. Sollte die Nadel ruhig bleiben. Alles, was ich gerade wollte, war Schlaf.

„Ein leichtes Beruhigungsmittel“, erklärte Dr. Mason, aber selbst der Zorn, den ich darüber fühlte, dass man mich einfach betäubt hatte, verflog schnell. Schlaf; nichts anderes interessierte mich gerade. „Der Anfall eben war nicht allein der angeschlagenen Lunge zuzuschreiben. Vielmehr hat seine Psyche ihn begünstigt. Etwas Schlaf wird ihm guttun.“

Ich driftete derart schnell ins Reich der Träume ab, dass ich nicht hörte, was Divari erwiderte, aber für den Gedanken, was für ein Zeug einen so schnell aus den Schuhen hauen konnte, reichte es dann doch noch.
 

Wie auf einem schwankenden Schiff fühlte ich mich, als ich aufwachte. Träge drehte ich den Kopf und erkannte Divari. Er saß in seinem Sessel und war in eine Zeitung vertieft. So sehr, dass er mich nicht einmal bemerkte und sicher hätte ich auf mich aufmerksam gemacht, wenn meine Augenlider nicht so schwer gewesen wären. Sich dagegen zu wehren, hätte nichts gebracht und so schlief ich weiter.
 

Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, aber erneut kämpfte ich mich ein Stück weit aus dem Schlaf, der wie klebriger Sirup an mir haftete. Nur diesmal bekam ich die Augen nicht auf, so oft ich es auch versuchte, es ging nicht. Schließlich gab ich auf, auch wenn es mich frustrierte. Jedoch hatte etwas anderes meine Aufmerksamkeit geweckt. Ich hörte meinen Vormund reden.

Zunächst dachte ich, er hätte mitbekommen, dass ich wach war und würde mit mir sprechen. Aber dann hörte ich eine weitere Stimme, die mir unbekannt war. „Ich habe versagt! Es tut mir leid.“

„Schon gut; du hast getan, was du konntest“, hörte ich meinen Vormund und dann ein schweres Seufzen. „Warum redet ihr alle neuerdings so negativ von euch?“ Es folgte eine längere Pause, in der der Angesprochene wohl angestrengt nach einer passenden Antwort suchte, aber es war Divari, welcher weitersprach. „Es ist unmöglich, überall zu sein, du weißt?“

„Natürlich, aber es ist meine Aufgabe.“

Mein Herz schlug schneller. Es war seine Aufgabe, überall zu sein? Wer konnte so etwas schon? Und warum sollte man eine solche Anstrengung auf sich nehmen? Ich wollte jetzt unbedingt wissen, wer bei meinem Vormund war und versuchte angestrengt, die Augen zu öffnen. Leider schaffte ich es nur einen Spalt breit und das Bild war unscharf – sprich: Ich erkannte nichts.

„Wird er sich erholen?“, fragte der Mann und ich hörte, wie eine Türklinge heruntergedrückt wurde.

„Er ist genauso stur wie sein Vater. Mach dir keine Gedanken“, sagte Divari, nun von weiter weg. „Du solltest jetzt gehen. Es ist nicht gut, wenn man dich hier sieht.“ Es wurde wieder still und ich dachte, dass die beiden nun gegangen waren, bis ich meinen Vormund wieder seufzen hörte. „Ich wollte dir eigentlich deine Jacke mitbringen, aber Mike ist überzeugt davon, dass du sie bei ihm abholen wirst.“

Hätte ich es gekonnt, dann wäre ich vor Überraschung aus dem Bett gesprungen. Die Jacke? Konnte es sein, dass er hier war? Aber das würde ja bedeuten, dass Divari schon beim ersten Blick auf die Jacke gewusst hatte, wer für seine Rettung verantwortlich war. Und auch, dass er ihn angelogen oder zumindest die Wahrheit verschwiegen hatte. Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

„Ist nicht so schlimm. Er kann sie behalten und vielleicht bekomme ich sie in ein paar Jahren wieder.“

Ich musste jetzt die Augen aufmachen! Aber alles, was ich erreichte, war, das letzte Bisschen Energie zu verlieren und driftete schon wieder weg.
 

Als ich erwachte, war der Himmel vor dem Fenster in glühendes Rot getaucht. Vorsichtig setzte ich mich auf. Es gelang mir sogar ohne einen Schwindelanfall und auch meine Brust fühlte sich viel freier an. Der kleine gemeine Zwerg, welcher sie mir immerzu zuschnürte und dafür sorgte, dass ich qualvoll husten musste, schien nicht mehr da zu sein. Nicht mehr so ganz voller bleierner Müdigkeit rieb ich mir die Augen und ließ dann den Blick durch den dämmrigen Raum gleiten.

Ging die Sonne jetzt unter oder ging sie auf? Ich konnte es beim besten Willen nicht sagen. Warum gab es eigentlich keine Uhr in diesem Zimmer?

Ein leises Schnaufen neben mir ließ mich zusammenfahren und mir blieb vor Überraschung der Mund offenstehen. Obwohl Shankar Divari sicher kein schlechtes Hotelzimmer hier in London hatte, saß er in einer unbequemen Position zusammengesunken auf dem Ledersessel und schlief. Mit Sicherheit würde er furchtbare Nackenschmerzen haben, wenn er aufwachte und der nicht gerade billige Anzug würde hoffnungslos zerknittert sein.

Ich schlug die Decke zurück, wobei mir erst jetzt auffiel, dass ich nicht länger an die Infusion gefesselt war und auch das permanente Stechen in meiner Hand war endlich weg. So langsam ich konnte setzte ich die nackten Füße auf die Holzdielen, welche unerwartet angenehm warm waren, und überwand den einen Meter zu Divari, indem ich mich an der Bettkante festhielt. Zwar fühlte ich mich schlapp, aber es war durchaus machbar.

„Chacha?“, vorsichtig berührte ich ihn an der Schulter, worauf er nur mit einem unwirschen Grunzen reagierte. „Onkel!“, rief ich etwas lauter aus, diesmal rüttelte ich an ihm.

„Was? Ich bin wach!“

Divaris Blick zeigte erst vollkommene Überraschung. Anscheinend musste er sich auch erst orientieren, wo er war. Dann schlug dieser Ausdruck in Sorge um. „Mike, wie geht es dir?“ Ächzend arbeitete er sich in die Höhe und stützte mich, obwohl er gerade selbst aussah, als bräuchte er eine Stütze. Kurzerhand ließ ich mich auf die Bettkante sinken und lächelte ihm zuversichtlich zu.

„Viel besser“, antwortete ich wahrheitsgemäß und tatsächlich; ich hatte keine Kopfschmerzen, konnte freier Atmen und je länger ich hier so saß, desto mehr fühlte ich die Kraft in meine Glieder zurückkehren. Nickend strich er sich seinen Anzug glatt, ließ es aber mit einem Stirnrunzeln sein, als er begriff, wie sinnlos das war. Fragend machte ich eine Kopfbewegung zum Fenster und hob eine Augenbraue.

„Ist das jetzt Sonnenauf- oder Sonnenuntergang?“

Divari folgte meinem Blick und rieb sich dabei den Nacken. „Aufgang“, sagte er, wobei er ein Gähnen unterdrückte.

„Du hast die ganze Nacht hier geschlafen? Hast du vergessen, dir ein Hotelzimmer zu nehmen? Oder bist du pleite, weil das ganze Geld für die Krankenhausrechnung draufgeht?“, stieß ich aus, dann fiel mir aber etwas ganz anderes ein. „Ich habe schon wieder einen ganzen Tag verschlafen!“

„Ja, aber du hattest es auch bitter nötig und es hat dir ja nicht geschadet, im Gegenteil. Pack dich wieder ins Bett; ich lasse etwas frische Luft hinein. Und mach dir mal keine Sorge um die Rechnung; ich habe einen Gefallen bei Dr. Mason gut.“ Während er zu Fenster lief und energisch daran zog, bevor es sich öffnen ließ – was ich bei der teuren Einrichtung nicht vermutete hätte, erzählte er mir, dass er tatsächlich die ganze Nacht neben meinem Bett über mich gewacht hatte. Eine Vorstellung, die mich frösteln ließ, denn verdeutlichte mir, wie ernst meine Lage gewesen war. Ich hatte noch einen guten Weg vor mir, um restlos gesund zu werden.

Kurz klopfte die Frage in meinem Kopf, wie es Jeffrey wohl ging, doch ich schob sie erst einmal beiseite. Während ich hier so eingewickelt mit meiner Bettdecke bis zum Kinn dalag, fiel mir etwas ganz anderes ein. Zwar war ich mir nicht sicher, ob ich es tatsächlich erlebt hatte, aber ich musste Divari diesbezüglich unbedingt befragen.

„Sag mal; war gestern noch jemand hier? Ich meine, außer der Schwester und Dr. Mason?“

Erschrocken sah Divari, der sich wieder in den Ledersessel fallen lassen hatte, hoch. Doch beinahe sofort wurde sein Blick wieder neutral und er schüttelte den Kopf.

„Nein. Wie kommst du darauf?“, sagte mein Vormund und ich fand, dass seine Stimme nicht so fest klang wie sonst. Misstrauisch verengte ich die Augen und musterte ihn einige Augenblicke, doch er hielt meinen Blick ohne mit der Wimper zu zucken stand. Schließlich musste ich wegsehen, da mir unangenehm wurde, wie ich ihn anstarrte.

„Ich dachte, ich hätte dich mit jemandem reden gehört, aber ich bin mir nicht mal sicher, ob ich wirklich wach war.“ Ich zuckte mit den Schultern und die Möglichkeit, dass sich nur einige Erlebnisse in meinem Schlaf zu einem verrückten Traum zusammengebraut hatten, wurde mir immer wahrscheinlicher. Womöglich war ich so besessen davon, meinen Retter zu finden, dass ich geträumt hatte, Divari würde ihn kennen.

„Dr. Mason war nur kurz hier, um nach dir zu sehen und ich hatte mit ihm ein längeres Gespräch geführt“, erzählte mein Vormund und man musste mir meine Enttäuschung wohl sehr ansehen, denn er fügte schnell hinzu: „Unter anderem, wie es deinem Freund geht.“ Jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit. „Er ist auf dem Weg der Besserung und seit gestern fieberfrei. Er springt, wie du, gut auf die Sauerstofftherapie an. Zwar wird er länger hierbleiben müssen, aber er hat das Schlimmste überstanden.“

Voller Energie stieß ich die Decke weg und stand halb im Bett, sodass Divari hastig aufsprang und das Fenster wieder schloss. Zwar hatte der Frühling den Winter nun endgültig besiegt, aber die morgendliche Luft war immer noch sehr eisig. Aber selbst von meinem Bett aus, konnte ich die zarten Knospen an den Bäumen sehen und ich freute mich schon darauf, wenn sie bald erblühen würden.

„Kann ich dann jetzt zu ihm?“, rief ich freudig. Mein Vormund lachte und schüttelte belustigt den Kopf.

„Ihr zwei seid ziemlich gute Freunde, hm? Dr. Mason erzählte mir, dass er auch ständig nach dir fragt und sogar schon zweimal aus dem Bett geflüchtet ist.“

Ich grinste schief. Ja, das war etwas, was ich Jeffrey zutraute und es bereitete mir Sorge, erfüllte mich mit Ärger und ließ gleichzeitig mein Herz vor Freude hüpfen. Auch, wenn dieser Cocktail an Gefühlen mich unter anderem mit Angst zurückließ und ich nicht wusste, ob es richtig war. Es reizte mich, dem nachzugehen.

Wie konnte sich etwas gleichzeitig so falsch und doch so richtig anfühlen? Manchmal fühlte ich mich, als gäbe es zwei Versionen von mir und sie prallten unablässig aufeinander. Vermischten sich mal und belauerten sich ein anderes Mal aus großer Distanz. Dabei wechselten sie sich zu gerne ab, wer groß und wer klein war und selten waren sie von gleicher Größe. Wer würde wohl siegen? Mein Verlangen und Streben nach Glück oder die Seite, die mir nach anerzogenen Werten sagte, was richtig war. Konnte sich eine ganze Gesellschaft täuschen, darin, was der Norm entsprach und war ich gar normal? Verstanden sie mich einfach nur nicht?

Der Gedanke erfüllte mich mit Trost, denn er sagte mir: Alles ist gut.

„Lass uns erst frühstücken, danach bringe ich dich zu ihm“, lächelte Divari und ich wäre ihm fast um den Hals gefallen.

"Die Sache mit der Selbstakzeptanz"

„So, wie versprochen; da bin ich wieder“, lächelte Divari, als er meine Zimmertür öffnete, nachdem er den Schwestern etwas Arbeit abgenommen und das Frühstücksgeschirr rausgebracht hatte. Dies war etwas, das ich an ihm bewunderte. Er war sehr wohlhabend und bewegte sich nur in den besten Kreisen, aber er war sich nie zu verlegen, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn er anderen damit helfen konnte. Wenn alle nur ein Stückchen so wären, wie er, dachte ich versonnen, dann wäre diese Welt sicher ein ganz anderer Ort.

Freudig warf ich die Decke an das Bettende, wo sie fast nach hinten rausfiel und schwang etwas zu enthusiastisch die Beine über die Bettkante. Mir wurde zwar schwindelig, aber ich ignorierte es, denn ich würde endlich Jeffrey wiedersehen. „Können wir jetzt los?“ Ich war schon halb aus dem Bett, als mein Vormund mich mit einer raschen Handbewegung aufhielt. „Aber du hast gesagt, wir gehen nach dem Frühstück zu ihm!“, empörte ich mich. Böse und enttäuscht funkelte ich ihn an. Wie lange wollte man mich noch hier festhalten? Oder ging es Jeffrey etwa wieder schlechter?

„Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht“, beschwichtigte Divari mich. „Wir gehen doch, aber eben nicht so.“ Er öffnete die Tür nun ganz und ich erkannte einen Rollstuhl, der vor dem Zimmer stand. „Sondern so.“

Skeptisch sah ich das unliebsame Gefährt an und zog ablehnend die Stirn kraus. „Muss das sein?“, fragte ich, während ich meinen schwankenden Körper an der Bettkante balancierte. Ich hätte genauso gut auf einem Drahtseil stehen können, aber trotzdem war mir das da einfach zu peinlich. „Aber ich kann doch laufen.“

„Ja?“, machte Divari zweifelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann kannst du mir ja entgegenlaufen.“

Selbstsicher blickte ich ihm entgegen, nur um in den nächsten Sekunden hilflos den Boden zu betrachten. Denn auf den gut fünf Metern, die den Abstand zu meinem Vormund bildeten, gab es nichts, woran ich mich festhalten konnte. Stumm ließ ich mich wieder auf die Bettkante sinken und vermied es, ihn anzusehen, aber ich hörte ihn seufzen und das Scharren der Reifen auf dem Boden, als er zu mir kam.

„Du bist genauso stur, wie dein Vater und du siehst ihm immer ähnlicher. Weißt du?“ Er machte eine auffordernde Geste, woraufhin ich mich langsam in den Rollstuhl gleiten ließ. Nachdem ich meine Füße auf die Stützen gestellt hatte, wendete Divari den Stuhl. Es war mir unangenehm, so von ihm durch die Gegend geschoben zu werden, aber das wäre es wohl bei jedem gewesen. Ich machte mich nicht gerne abhängig, aber anscheinend gab es zurzeit eine Person, bei der es mir nichts ausgemacht hätte.

Im Gegenteil sehnte ich mich sogar danach, mich bei ihm fallen zu lassen. Jedoch würde keiner das verstehen und es war auch gefährlich. Meine Wünsche und Gedanken waren in der Lage, mich in große Schwierigkeiten zu bringen. Ich wusste nicht, wo mein Vormund stand und ob er zu mir halten würde, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Aber ich bezweifelte, dass er mich vor dem Gefängnis oder einer dieser Heilanstalten bewahren konnte. Eventuell würde er mich sogar persönlich dahinbringen, damit man seinen fehlgeleiteten Sprössling wieder geradebog.

„Nein, das weiß ich nicht“, antwortete ich geistesabwesend und erinnerte mich daran, wie er dies in meinem Traum auch zu dem Fremden gesagt hatte. „Ich weiß eigentlich gar nicht viel von meinem Vater. Warum erzählst du kaum von ihm?“

Divari schwieg, was ungewöhnlich für ihn war, denn eigentlich redete er gerne und in letzter Zeit bekam ich immer wieder das Gefühl, er könne etwas vor mir verbergen. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ging es mir durch den Kopf. Er würde mich sicher vom Gegenteil überzeugen und ich konnte wieder beruhigt sein, denn eigentlich war der Gedanke absurd. Seit ich zwei Jahre alt war, lebte ich bei ihm und er war immer ein fairer und ehrlicher Erziehungsberechtigter für mich gewesen. Daher glaubte ich nicht, dass Divari mich bei etwas anlügen konnte.

„Es tut einfach zu sehr weh. Außerdem weiß ich auch nicht, was das bringen soll.“

Von Schuldgefühlen erfüllt biss mir auf die Unterlippe. Ich hatte noch vor wenigen Minuten so schlecht über ihn gedacht und dabei litt er genauso sehr unter dem Tod meines Vaters wie ich. Wobei er eigentlich mehr leiden musste, denn er hatte ihn gekannt. Wogegen ich einfach zu klein gewesen war und mich kaum an ihn erinnern konnte. Fast beneidete ich Divari für seine Erinnerungen und den Schmerz.

„Du hast wirklich kein Foto von ihm? Ich würde gerne wissen, wie er aussah. Und was ist mit den Briefen? Warum bekomme ich sie erst, wenn ich 21 bin und können wir nicht jetzt schon zu dem Anwesen fahren, das er mir vererbt hat?“

Die Worte sprudelten einfach so aus mir heraus und ich konnte selbst nicht sagen, wie ich den Sprung von meiner verkorksten Gefühlswelt zu meinem mysteriösen Vater gemacht hatte. Vermutlich war es der Traum, der mich komplett in die Irre trieb.

„Mike.“ Divari seufzte meinen Namen mehr, als dass er ihn sagte. „Wir haben doch schon einmal darüber gesprochen. Die Briefe gehören zu deinem Erbe und dein Vater wollte, dass du sie erst mit 21 bekommst. Ich werde mich ganz sicher nicht über seinen letzten Willen hinwegsetzen und wenn du wissen willst, wie er aussah, guck in den Spiegel.“

„Und das Anwesen?“, grummelte ich genervt. In den Spiegel blicken, toller Tipp! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich eine detailgetreue Kopie meines Vaters war. Was sollte mir das also bringen? Deswegen kam ich ihm auch nicht näher. Das würde ich nie, seufzte eine Stimme tief in mir.

„Die Reise ist zu weit und auch viel zu anstrengend, das weißt du doch.“

Ja, das hatte er mir schon gesagt, aber das war die Reise nach Indien auch und die machte ich, seit ich 14 war, alleine. Wo also sollte sich dieses ominöse Anwesen befinden? Auf dem Mond?

Wieder einmal fühlte ich diese ruhelose Wut in mir, bei der ich nicht genau wusste, auf was oder wen sie sich bezog. Da ich niemanden – außer vielleicht mich selbst – verletzten wollte, zog ich es vor zu schweigen und war froh, als Divari vor Jeffreys Zimmertür anhielt.

Er lächelte mir zu und zuckte mit den Schultern, als ich seinem Blick auswich und klopfte schließlich an. Es dauerte wenige Minuten, aber dann hörte ich Jeffreys gedämpfte Stimme durch die Tür und mein Puls beschleunigte sich automatisch.

Quälend langsam öffnete mein Vormund die Tür und ich musste mir ein Grinsen unterdrücken, als ich Jeffrey erblickte. Er schien sich tatsächlich bereits gut erholt zu haben und thronte, eingebettet von unzähligen Kissen, in seinem Bett, während er sich mit Pralinen vollstopfte. In seinen Augen glitzerte es, als er mich sah.

„Na, du lässt es dir ja ziemlich gut gehen“, stichelte ich, aber innerlich platze ich vor Freude, dass er so einen guten Eindruck machte. Ich hatte immer noch das Bild von einem mehr bewusstlosen, als lebenden und fiebernden Jeffrey vor Augen und hatte mich darauf eingestellt, ihn so ähnlich jetzt auch zu sehen.

„Das musst du gerade sagen.“ Seine Stimme hatte den gleichen spöttischen Ton wie sonst auch, aber man hörte ihr deutlich an, dass er geradeso dem Tod entronnen war.

Genervt blies ich die Wangen auf. Warum musste er nun auch noch kommentieren, dass mein Vormund darauf bestanden hatte, mich im Rollstuhl durch die Gegend zu kutschieren?

„Halt bloß deine Klappe“, hunzte ich ihn an. Nun konnte ich nicht mehr zurückhalten und grinste über das ganze Gesicht, womit ich Jeffrey ansteckte. Genüsslich schob er sich noch ein Stück Schokolade in den Mund und ich konnte seine nächsten Worte nur erahnen, als er mit vollem Mund sprach.

„Und was machst du, wenn ich' s nicht tue? Schmeißt du wieder mit Eisbeuteln um dich?“

Mein Vormund, der mich bis zu Jeffreys Bett gefahren und mich daneben abgestellt hatte, runzelte die Stirn.

„Ich dachte, ihr seid Freunde?“, fragte er verwirrt, über den ruppigen Ton, der zwischen uns herrschte und ich musste aufpassen, nicht gleich in schallendes Gelächter auszubrechen. „Naja, wie auch immer; ich bin ja nicht eure Anstandsdame. Wenn ihr mich dann entschuldigt. Ich habe noch einige Dinge zu erledigen.“

Er tippte sich mit der Hand an die nicht vorhandene Hutkrempe und ließ uns dann alleine. Zuerst wusste ich nicht, ob ich darüber froh war oder ob ich mir eher gewünscht hätte, dass Divari bei uns blieb. Denn jetzt, wo ich alleine mit Jeffrey war, schlugen meine Sticheleien in komplette Nervosität um und ich wusste nicht mehr, wie ich mich verhalten sollte.

Und dass, obwohl wir uns bereits so nahegekommen waren. Wir hatten in einem Bett gelegen, uns geküsst und Jeffrey hatte mir erzählt, dass er wegen mir am Internat bleiben wollte, auch wenn er es hasste. Und doch wusste ich nicht, wo ich stand und was wir nun waren. Mir ging einfach alles viel zu schnell. Erst der See und die Todesangst, die ich um ihn hatte und dann der Kuss ohne jede weitere Erklärung. Wie würde es nun für uns weitergehen?

„Was machst du denn für ein Gesicht? Ist jemand gestorben?“, hörte ich Jeffreys Stimme und fühlte seinen durchdringenden Blick auf mir. Als ich den Kopf hob, sah ich direkt in seine Augen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun grün oder blau sein wollten und mich immer wieder faszinierten. Sofort schlug mein Herz wieder schneller und ich kramte verzweifelt nach den richtigen Worten, als ich plötzlich seine Lippen auf meinen spürte. Mein erster Impuls war, den Kopf zurückzuziehen, doch beinahe automatisch erwiderte ich den leichten Druck auf meinen Lippen und seufzte, als ich seine Hand in meinem Nacken spürte. Jeffrey nutzte dies direkt aus und ließ seine Zunge zwischen meine geöffneten Lippen gleiten. Es fühlte sich zunächst ziemlich seltsam an. Aber es löste auch ein angenehmes Kribbeln in meiner Leistengegend aus und ich kam ihm schüchtern mit meiner Zunge entgegen.

Was wir hier taten, war jedoch riskant. Es konnte in jeder Sekunde eine der Schwestern oder Dr. Mason selbst hereinkommen und wir brauchten ihnen dann nicht erklären, was hier geschah, denn das war offensichtlich. Trotzdem schaffte ich es erst nach einigen Minuten, mich von Jeffrey zu lösen. Schwer atmend und mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an, aber er zuckte nur schief lächelnd mit dem Achseln.

„Ich habe gelernt, dass man mit Worten bei dir wenig erreicht und lieber Taten sprechen lassen sollte“, erklärte er vollkommen ernst. Schuldbewusst sah ich ihn an. Es stimmte, er hatte so oft versucht, mit mir zu reden, doch ich hatte einfach nicht zugehört.

„Tut mir leid“, murmelte ich, aber er schüttelte den Kopf.

„Das hatten wir doch schon.“ Er hielt mir die Schachtel mit der Schokolade hin, doch ich ignorierte sie und stemmte mich stattdessen aus dem Rollstuhl. Ich wollte ihm näher sein und wenn ich in diesem Stuhl saß, fühlte ich eine imaginäre Barriere zwischen uns. Daher setze ich mich zu ihm auf die Bettkante. Das gab vielleicht auch ein seltsames Bild ab, aber keiner würde sich groß Gedanken darüber machen.

„Ich bin froh, dass es dir besser geht“, murmelte ich schüchtern und griff nach seiner Hand, die sich warm in meiner anfühlte. Ohne dass ich es bemerkte, begannen meine Finger, ihn zu streicheln und ich sah überrascht auf, als ich Jeffreys Hand auf meinem Knie fühlte. Meine Wangen röteten sich und ich war mir sicher, dass auch meine Ohren in gleicher Farbe zu glühen begannen.

„Sieht so aus, als ob ich den Zettel aus dem Glückskuchen hätte ernst nehmen sollen. Ich hätte mich wirklich vor Wasser in Acht nehmen sollen. Vielleicht fange ich damit nun an?“

Ich musste lachen und lehnte mich in seine Hand, die nun meine Wange streichelte. Dann wurde mir jedoch bewusst, was ich hier tat und ich rutschte mit erschrockenem Gesichtsausdruck von ihm weg. Wie konnte es mir nur passieren, dass ich mich so gehen ließ und dabei total vergaß, was wir beide waren? Er war, wie ich, ein Junge und was wir taten, war einfach verrückt. Wir würden uns selbst ins Verderben stoßen und welche Zukunft sollte das haben? Ich fühlte mich schlecht, weil ich Jeffrey mit hineinzog. Reichte es nicht, dass ich so seltsame Sachen fühlte?

„Was ist los?“, fragte Jeffrey leise.

Überrascht blickte ich ihn an. Es war doch offensichtlich, was hier los war?

„Ich ...“ Ich brauchte noch einige Anläufe, bis ich in Worten formulieren konnte, was mir durch den Kopf ging. Trotzdem schien nur unverständliches Gestammel aus meinem Mund zu kommen, von dem ich hoffte, dass Jeffrey dessen Sinn verstand. „Findest du … Also denkst du, es ist richtig?“

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Jeffrey mich an und ich hätte mir am liebsten die Haare gerauft. Sollte ich noch näher ausführen, was ich meinte? Er musste es doch verstehen! Die Frage brannte so klar in meinem Kopf, aber alles in mir sträubte sich, sie auszusprechen. War es richtig, jemanden des eigenen Geschlechts zu lieben?

Bittend – nein, flehend – sah ich ihn an und suchte nach Verständnis in seinen Augen oder nach einem Hinweis, dass auch er zweifelte. Aber alles, was ich sah, war eine Sicherheit, von der ich nur träumen konnte.

„Du hast Angst“, stellte er fest, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. Beinahe hätte ich sofort genickt, doch ich wusste nicht, ob es so einfach war. Hatte ich Angst? War es nur das? Klar, mir graute es vor den Folgen, die uns heimsuchen könnten, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das diese Angst überwog und für mich schlimmer war, weil es viel tiefer in mich griff.

Ich brachte es fertig, gleichzeitig mit den Schultern zu zucken, zu nicken und den Kopf zu schütteln. Außerdem hatte ich meine Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohrten.

„Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann“, brachte ich mit erstickter Stimme hervor und ich schämte mich, als ich meine Augen brennen fühlte. „Und das Schlimme ist, dass ich die Zeit mit dir dennoch nicht missen will. Aber ich kann nicht sagen, ob ich mich wirklich so annehmen möchte.“ Nun weinte ich doch und ich wäre am liebsten im Boden versunken. Vor ihm wollte ich das eigentlich nicht, denn ich wollte nicht schwach wirken.

„Du kannst dich nicht akzeptieren“, stellte Jeffrey noch einmal klar, was ich gerade gesagt hatte und ich fühlte nun seine Hand auf meiner. Sodass sich meine Fäuste entkrampften und die Fingernägel die Haut schmerzhaft freiließen. Als ich hochblickte, erwartete ich, Verachtung oder Spott in seinem Gesicht zu sehen, aber nichts dergleichen las ich dort ab. Stattdessen musterten seine Augen mich mit solch einer Wärme und Stärke, dass es mich von innen heraus zu wärmen schien. „Ich verstehe das“, sagte er mit fester Stimme. Warum war ich nicht schon vorher auf die Idee gekommen, Jeffrey könnte einst so gedacht haben, wie ich jetzt?

Ich wusste ja gar nichts über ihn, was das betraf. Verlegen drehte ich den Kopf weg, doch sofort legte sich seine Hand wieder sanft an meine Wange und drehte ihn zurück.

„Wenn du dich jetzt noch nicht akzeptieren kannst, darf ich es für dich tun? So wie du bist“, fragte er und blickte mich liebevoll an. Sicher hatte ich mit allem gerechnet, aber damit nicht. Obwohl ich schlicht nicht wusste, was ich wollte, mich von meinen Gefühlen zerrissen fühlte und weit weg von emotionaler Stabilität war, würde Jeffrey mich nicht an seiner Seite missen wollen.

Er faszinierte mich immer mehr. Bisher hatte ich nur den Jeffrey gesehen, der sich lauthals in jeden Streit warf oder über alles und jeden dumme Scherze machte. Aber der, der mir jetzt gegenübersaß, war ernsthafter und erwachsener, als ich es je für möglich gehalten hatte.

Ich war froh, ihn getroffen zu haben und ich wollte mehr von ihm wissen. Nein, ich wollte alles von ihm in Erfahrung bringen. Vermutlich war es dieser Gedanke, der mir den Mut gab und mich nach vorne sinken ließ, wo mich bereits seine Lippen erwarteten.

Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, aber diesmal nicht, weil ich unsicher war, sondern weil es hier nach wie vor nicht sicher für uns war. Aber zu meinem Zweifel hatte sich ein kleines Körnchen von Zuversicht gesellt. Nur, weil zwei Personen mich annehmen konnten, wie ich war, auch wenn mir das noch misslang.

„Danke“, flüsterte ich gegen seine Lippen und ließ mich wieder von der Bettkante in den Rollstuhl gleiten. Ich brauchte diesen Abstand jetzt, damit der Sturm in mir wieder zur Ruhe kam und es war keine Minute zu früh, wie sich zeigte. Jeffrey verzog das Gesicht, wie ein Kind, dem man das Spielzeug weggenommen hatte, als es an der Tür klopfte und kurz darauf die Klinke heruntergedrückt wurde. Erschrocken sah ich die Tür an, die uns demonstrierte, auf welch dünnem Eis wir uns bewegten und mir fröstelte. Dann sah ich jedoch, wer hereinkam und sowohl ich, als auch Jeffrey, begannen vor Freude zu strahlen.

„Oh Mann“, sagte Stan Harris, der einen Korb in der Hand balancierte. „Wenn du hier entlassen wirst, muss ich wohl mein Café verkaufen.“ Er sah sich staunend um und schluckte schwer. „Wie soll das denn bezahlt werden, ohne deinen Vater miteinzubeziehen? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der das nötige Geld aufbringen kann.“

Hinter ihm stolperte Sally in das Zimmer, auch sie war beladen mit einem riesigen Korb. Es duftete verdächtig nach frischem Gebäck. Unsicher sah die junge Frau sich im Zimmer um, woraufhin Stan ihr den Korb abnahm und beide auf Jeffrey ablud. Sein dumpfes „Umpf“ brachte mich halb zum Kichern und sein Blick war göttlich. Ohne zu zögern, zog Stan einen kleinen Tisch sowie Stühle heran und forderte Sally auf, sich zu setzen, bevor er ebenfalls Platz nahm.

Die junge Frau lächelte mir und Jeffrey schüchtern zu, während ich sie neugierig musterte. Sie war mir vor einigen Wochen in Stans Café viel älter vorgekommen. Nun erkannte ich, dass sie höchstens zwei bis drei Jahre älter sein konnte als ich. Vermutlich lag es an dem grauen Kleid und dem streng zurückgebundenen Haar, welches sie an diesem Tag getragen hatte. In diesem Himmelblauen und strahlend weißen Halstuch, welches sie sich um den Hals gebunden hatte, wirkte sie wie das junge Mädchen, das sie eigentlich war. Ich konnte nicht umhin, zu bemerken, wie gut die Farbe ihres Kleides zu ihrem roten Haar passte, das ihr nun offen über die Schultern floss.

„Was habt ihr uns denn da mitgebracht?“, fragte Jeffrey neugierig und versuchte, unter das Tuch zu schauen, welches ihm die Sicht auf die Leckereien versperrte.

„Jetzt sei nicht so ungeduldig“, sagte Sally, die nun gar nicht mehr so zurückhaltend wirkte und die Körbe vor Jeffrey rettete, indem sie diese auf den Tisch stellte. „Es ist nicht alles für dich, weißt du? Ich habe es für deinen Freund gebacken.“

Ich errötete vor Scham, während Jeffrey sich offensichtlich für seine nächste Zankerei bereitmachte. Nervös glitt mein Blick zu Stan, der mit blassem Gesicht immer noch die Zimmereinrichtung studierte. Als er sich seufzend neben mir auf den Stuhl setzte, legte ich ihm eine Hand auf den Arm, worauf er mich mit einem leicht verlegenen Ausdruck ansah.

„Keine Sorge“, beruhigte ich ihn. „Mein Vormund hat gesagt, dass die Rechnung bereits beglichen ist.“

Stan wirkte jedoch noch immer besorgt. „Aber, hat er denn so viel Geld?“ Irritiert sahen wir beide zu Jeffrey und Sally, die unsere Unterhaltung gar nicht mitbekamen und sich stattdessen stritten, ob Jeffrey nun ein Vielfraß war oder nicht. Ich zuckte mit den Schultern. Ehrlich gesagt wusste ich nicht genau über die Vermögensverhältnisse meines Vormunds Bescheid. Alles, was ich wusste, war, dass es ihm an nichts fehlte.

„Naja, er hat gesagt, Dr. Mason würde ihm einen Gefallen schulden. Und damit sei dieser nun beglichen.“

„Hmm“, machte Stan, öffnete einen der Körbe und reichte mir ein Gebäckstück daraus. „Das muss ja ein verdammt großer Gefallen gewesen sein.“ Nachdenklich sah er mich an, dann nickte er. „Ich werde dir das nie zurückgeben können.“

„Aber das müssen Sie gar nicht, Mr. Harris“, warf ich ein, doch Stan fiel mir sofort ins Wort und schüttelte den Kopf.

„Sag bitte 'Du' oder 'Stan'. Außerdem bekommst du auf Lebzeiten gratis Kuchen und Kakao bei mir.“

Wahrscheinlich war ich puterrot angelaufen, aber dies bekam zum Glück keiner mit, da sich Jeffrey gerate lauthals beschwerte, dass er auch ein Stück Kuchen wollte.

„Du bist doch fast jeden Tag bei uns und futterst dich durch das Verkaufsregal“, warf Sally ein und grinste breit, während Stan nun die restlichen Leckereien aus dem Korb verteilte. Jeffreys maulende Antwort ging in dem Kuchenstück unter, welches er im Mund hatte und nun fingen alle an zu lachen – außer einer.

Auch ich musste grinsen. Ich konnte nicht anders, als an seinen Körper zu denken und mich zu fragen, wie er es machte, so auszusehen, wenn er immer so viel aß. Nachdem wir alle so viel gegessen hatten, dass beim besten Willen nichts mehr hineinpasste, stand Stan auf und griff sich den zweiten Korb.

„Wie konnte ich das nur vergessen?“, sagte er verlegen. „Die Schwestern und Dr. Mason freuen sich sicherlich auch über Kuchen.“ Er war schon halb zur Tür gegangen, als er sich noch einmal zu uns umdrehte. „Was haltet ihr von einem schönen Picknick, wenn ihr entlassen seid?“

Das war eine fantastische Idee und mein Blick ging direkt zum Fenster, hinter dem das Leben nur so zu erblühen schien.

"Kalte Nächte"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

"Man kann ja nie wissen ..."

„Soll ich lieber das blaue oder das weiße Hemd anziehen?“ Schon etwas genervt sah ich Paul hinterher. Er lief nun zum gefühlt zehnten Mal zu seinem Schrank und riss den gesamten Inhalt heraus. Mit gequältem Gesichtsausdruck hielt er mir die beiden Kleidungsstücke hin und ich deutete wahllos auf eines davon.

„Bist du sicher?“, fragte er angewidert. „Sieht das nicht zu sehr nach 'braver Junge' aus?“

„Paul, es ist ein Picknick und keine Heiratsvermittlung“, stellte ich seufzend fest, aber sein Gesicht machte mir klar, wie ernst ihm das war. „Dann nimm eben das Blaue. Warum machst du so einen Aufstand deswegen?“ Während er sich vor mir das weiße Hemd wieder auszog und einige Sekunden mit nacktem Oberkörper dastand, stellte ich erleichtert fest, dass mein Körper nicht auf ihn reagierte. Seit ich wusste, dass ich mich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte, hatte ich die Befürchtung, nun bei jedem Jungen, den ich halb nackt sah, gewisse Gefühle zu entwickeln. Aber zum Glück schien das so nicht zu funktionieren.

„Du hast gesagt, Jeffreys Cousine würde auch da sein und sie sei sehr hübsch“, erklärte Paul und ich brauchte einen kurzen Moment, um von den Gedanken über meine Sexualität zu unserem Gespräch zurückzufinden. Hatte ich erwähnt, wie hübsch Sally war?

Ich erinnerte mich, nur gesagt zu haben, sie würde auch da sein. Darüber, dass sie wirklich gut aussah, hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Für mich war das einfach nicht wichtig, aber ich ließ Paul die Freude darüber. Nach allem, was er geleistet hatte, gönnte ich ihm die Schwärmerei und hoffte auch, er könne fühlen, was ich fühlte.

„Und? Wie sehe ich aus?“, fragte Paul, nachdem er sich komplett angezogen hatte. Lächelnd blickte ich auf und biss mir gleichzeitig auf die Unterlippe. Das blaue Hemd passte perfekt zu seinen Augen und bildete einen sanften Kontrast zu seinem blonden Haar.

„Sie wird sich direkt in dich verlieben“, stellte ich sofort klar und grinste ihn verschmitzt an. Seltsamerweise reagierte Paul nicht so, wie ich es von ihm gewohnt war, indem er ebenfalls mit mir scherzte. Verlegen klebte sein Blick an seinen Schuhspitzen fest und immer, wenn er dachte, ich würde es nicht sehen, musterte er mich. „Ist … alles in Ordnung?“, fragte ich ihn stockend.

„Ja.“ Er nickte, nur um dann direkt den Kopf zu schütteln. „Nein. Naja, eigentlich schon.“

Verwirrt hob ich eine Augenbraue.

„Es ist alles gut, aber eigentlich nicht und dann aber doch?“, fasste ich zusammen, was er mir gerade gesagt hatte. Auf Pauls Gesicht erschien ein verlegener Ausdruck, dann zuckte er mit den Achseln und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken.

„Mir gingen ein paar Dinge durch den Kopf“, begann Paul und seine blasse Hautfarbe ging leicht ins Rötliche. Ich zog es vor, zu schweigen und zu warten, bis er von sich aus weitersprechen würde. Da es ihm anscheinend unangenehm war, würde ich ihn sonst nur verschrecken. „Kann ich dich vielleicht was fragen, auch, wenn du dann vielleicht sauer auf mich bist?“

Beinahe geschockt sah ich zu ihm herüber. Warum sollte ich sauer auf ihn sein? Nach allem, was passiert war, würde ich es eher verstehen, wenn er wütend auf mich war.

„Aber sicher“, beteuerte ich und setzte mich neben ihn. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er aufspringen, um Abstand zwischen uns zu bringen. Betroffen senkte ich den Blick. Hatte Paul etwa doch ein Problem damit, dass ich mich zu Männern hingezogen fühlte?

Der Gedanke erfüllte mich mit tiefer Traurigkeit. Ich würde es vielleicht ertragen, von Fremden verurteilt zu werden, aber nicht, wenn mein bester Freund es tat. Als ich wieder zu ihm aufsah, konnte ich die Tränen, die in meine Augen stiegen, nicht zurückhalten.

„Du hast doch ein Problem damit oder?“, fragte ich, wobei meine Stimme zu einem heiseren Wispern wurde. Mit Unbehagen erinnerte ich mich an meine erste sexuelle Erfahrung, die ich zusammen mit Jeffrey vor ein paar Tagen erlebt hatte und deren unfreiwilliger Zeuge Paul war. Dabei hatte ich wirklich gedacht, dass er schlief! „Ist es wegen der Nacht letztens? Es tut mir so leid! Wir dachten wirklich du schläfst und ich wollte auf keinen Fall, dass du es mitbekommst. Ich hätte es besser wissen müssen, stattdessen habe ich dir etwas zugemutet, das du vielleicht abstoßend findest.“

„Nein!“, rief Paul und hob abwehrend die Hände. „Nein, das ist es nicht. Zugegeben, es war erst mal ein Schock, aber ich komme damit klar.“ Wieder blickte er mich schüchtern an, während seine Finger nervös an einem Blatt Papier nestelten. „Ich wollte wissen, wann du es gewusst hast. Also, wann dir klargeworden ist, was mit dir los ist.“

Vor Erleichterung, aber auch Überraschung, hätte ich beinahe laut aufgelacht. Außerdem war mir nicht klar, warum Paul so lange um den heißen Brei herumgeredet hatte. An seiner Frage war überhaupt nichts Schlimmes. Trotzdem musste ich kurz überlegen.

„Das etwas anders mit mir war, hatte ich schon länger im Verdacht“, murmelte ich nachdenklich. „Aber wissen – ich denke, als Jeffrey mich im Westflügel geküsst hat. Warum fragst du?“ Bei meinen letzten Worten lief Paul rot an wie eine Tomate, sprang auf und rannte wie angestochen zum Fenster. „Paul, was ist los?“, sagte ich leicht gereizt und konnte nun im Ansatz verstehen, wie die letzten Monate mit mir gewesen sein mussten. „Raus damit!“

Mein strenger Ton schien zu fruchten, denn er schloss die Augen und sprach so schnell aus, was ihm durch das Hirn geisterte, dass ich kurz brauchte, um es wirken zu lassen.

„Ich habe mich einfach gefragt, ob ich vielleicht auch so bin wie Jeffrey und du! Bitte sei nicht böse! Ihr seid meine besten Freunde. Aber … ich sehe es jeden Tag bei euch und ich habe mir gedacht, was wenn … wenn ich es irgendwann auch will?“

„Du meinst, du fragst dich, ob wir ansteckend sind?“, fragte ich, während ich nur mit aller Mühe ein Lachen unterdrücken konnte. Wobei ich wohl beleidigt gewesen wäre, wenn ich Paul nicht so gut gekannt hätte. Er wollte mich damit nicht verletzen, sondern hatte einfach angefangen, über sich selbst nachzudenken. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass dies ein Thema bei ihm sei. So wie er sich über die Nachricht, dass Sally beim Picknick sein würde, gefreut hatte und dass, obwohl er sie noch nicht einmal kannte.

„Wenn du es so sagst, fühle ich mich noch schlechter“, murmelte Paul schuldbewusst und ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass zwischen uns alles in Ordnung war. Doch er war nach wie vor angespannt.

„Ich denke nicht, dass du dich darum sorgen musst“, beruhigte ich ihn daher und grinste dann breit. „Denk doch nur an Sally.“

Tatsächlich hellte sich seine Miene kurz auf, aber eben nur kurz. „Ich würde es trotzdem gerne herausfinden.“ Ich zuckte mit den Schultern und konnte mir keinen Reim daraus machen, wie er es herausfinden wollte. Nachdenklich nahm ich meine Teetasse und trank einen Schluck, da mein Hals plötzlich furchtbar trocken war. „Würdest du vielleicht ...“, begann Paul, brach aber gleich wieder ab und ich sah ihn fragend an, während ich wieder an meinem Tee nippte. „Würdest du mich küssen?“

Fassungslos spie ich den Tee aus. Die, zum Glück nicht mehr so heiße, Flüssigkeit verteilte sich ungehindert auf meiner Hose und dem Fußboden.

„Was?“

Meine Stimme hatte einen Ton angenommen, den ich noch nie zuvor gehört hatte und schaffte, es innerhalb der drei Buchstaben, die dieses Wort hatte, zu kippen. Paul war knallrot, trat von einem Fuß auf den anderen. Und hätte unser Zimmer ein Loch gehabt, dann hätte er sich wohl darin verkrochen.

„Meinst du … das ernst?“, brachte ich krächzend hervor und schluckte schwer, als er nickte, ohne mich dabei anzusehen.

„Ich weiß, die Idee ist blöd. Aber ich dachte, so könnte ich sicher merken, ob ich was fühle oder nicht.“ Seufzend ließ er sich wieder auf den Stuhl neben mir fallen und begann erneut, mit dem Papier zu spielen. Ich hatte mir übrigens ein Beispiel an ihm genommen. „Die Vorstellung ist wirklich komisch, wenn ich ehrlich bin, aber man weiß ja nie“, redete er gegen die peinliche Stille an, die sich zwischen uns gebildet hatte. Ich nickte nur und versuchte angestrengt, zu einem Ergebnis zu kommen, bevor unser Schreibtisch von Papierschiffchen überflutet wurde.

„Verdammt, was soll's!“, stieß ich aus und beachtete Pauls fragenden Blick nicht weiter, als ich sein Gesicht in meine Hände nahm. Seine Augen sprühten vor Panik, während ich ihm immer näherkam und eigentlich sollte das schon Gewissheit genug gewesen sein, weshalb ich zögerte. „Bist du sicher?“

„Ja, mach!“

„Nein, ich kann das nicht“, jammerte ich und mir stellten sich die Nackenhaare auf, als ich unsere Zimmertür hörte. Entsetzt drehte ich den Kopf und hielt dabei Pauls noch immer in meinen Händen. Nach wie vor trennten uns nur wenige Zentimeter. Mir war klar, wie bescheuert das aussehen musste, aber ich war zu geschockt, um mich von ihm zu lösen.

Grinsend stand Jeffrey an der Tür und sah uns mit unverhohlenem Interesse an. „Darf ich fragen, was ihr da macht?“

„Paul wollte wissen, ob er Jungs mag und ich sollte ihn küssen“, erklärte ich und blinzelte darüber, wie klar ich ihm das erzählte, obwohl alles in meinem Kopf auf konfus stand. Dann wurde mir bewusst, was das für Jeffrey bedeuten musste, wo er doch mein Freund war. „Es war wirklich nur das! Glaub mir, da ist sonst nichts!“

Geschockt ließ ich die Hände sinken, während Paul meine Unschuld beteuerte. Ich erwartete, im nächsten Moment angeschrien oder zumindest mit Vorwürfen überschüttet zu werden. Doch alles, was passierte, war, dass Jeffrey in schallendes Gelächter ausbrach.

„Und? Tut er?“

Ich zuckte mit den Schultern; immerhin wusste ich es nicht.

„Du hast dich nicht getraut“, stellte Jeffrey fest und ich verzog beleidigt das Gesicht. Auch wenn ich es nie zugeben würde, reagierte ich empfindlich, wenn er mich für feige hielt. Bevor ich jedoch etwas tun konnte, langte er neben mir an, beugte sich zu uns herunter und drückte Paul einen Kuss auf die Lippen, der mich beinahe neidisch machte.

„Und?“, fragte er erneut.

„Mach das nie wieder!“, grollte Paul bedrohlich und ich war froh, dass der Kuss nicht von mir kam.

Stirnrunzelnd sah Jeffrey ihn an, bevor sein Grinsen noch breiter wurde. „Vielleicht bin ich nur nicht dein Typ?“, warf er dann ein. „Küss du ihn, Mike.“

„Nein!“, kreischte ich, während Paul gleichzeitig den Kopf schüttelte.

„Nicht nötig. Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte.“

Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu und ignorierte Jeffrey, der absolut enttäuscht aussah. Wobei ich mir nicht sicher war, ob er das ernst meinte und tatsächlich Gefallen daran fand, zu sehen, wie ich einen anderen küsste. Die Vorstellung war mehr, als ich ertragen wollte, aber ich war auch froh, dass er nicht vor Eifersucht platzte.

„Also gut. Wenn das jetzt geklärt ist, können wir ja los“, wechselte Jeffrey gekonnt das Thema, schnappte sich die Picknickdecke und lief zur Tür. Ich war drauf und dran, ihm zu folgen, als mir auffiel, wie meine Hose aussah. Schnell teilte ich den beiden mit, dass sie draußen auf mich warten sollten, während ich mich noch umziehen würde. Paul folgte der Einladung nur zu gerne und verschwand direkt, während Jeffrey die Decke wieder auf sein Bett fallen ließ.

Zwar fühlte ich Unbehagen darüber, dass wir nun alleine waren. Da ich Paul aber nicht so lange warten lassen wollte, zog ich mir schnell die Hose aus. Die Wahl der neuen Hose fiel mir recht leicht, denn mir war nicht so wichtig, was ich trug, wie es bei Paul der Fall war. Gerade, als ich mich nach vorne beugte, um in die Hosenbeine zu schlüpfen, zog Jeffrey mich an sich. Schamlos ließ er die Hände in meine Unterhose gleiten, wo er sie besitzergreifend auf meine Pobacken legte.

Die Berührung ließ meinen Körper kribbeln und gleichzeitig wurde ich schrecklich nervös, bis sich unsere Lippen endlich trafen. Wir hatten schon oft intensive Küsse geteilt, aber dieser ließ mich mit absolut weichen Knien und klopfendem Herzen zurück.

„Damit du weißt, dass ich nur dich will und nicht auf die Idee kommst, noch andere küssen zu wollen“, erklärte er lächelnd, als er meinen fassungslosen und verklärten Blick erwiderte. „Und jetzt zieh dich an, bevor Paul langweilig wird und er vielleicht doch Sehnsucht nach mir bekommt.“
 

Das kleine Waldstück um Andara-House eignete sich perfekt für unser Picknick und das Positive daran war die Gelegenheit, den See wieder mit etwas Gutem zu verknüpfen. Trotzdem bekam ich ein flaues Gefühl im Magen, als wir aufbrachen und wusste, wohin uns unser Weg bringen würde. Ich hatte jedoch nicht viel Zeit, mir darum Gedanken zu machen. Kaum war ich hinter Jeffrey aus der Tür gestolpert, sah ich auch schon Paul, der sich angeregt mit meinem Vormund unterhielt und ich stürmte ihnen aufgeregt entgegen. Divari würde morgen wieder abreisen und ich ihn dann für eine lange Zeit nicht mehr sehen. Daher wollte ich die Zeit mit ihm nutzen, so gut es nur ging.

„Langsam, Kumara!“, ermahnte er mich und fuchtelte lachend mit der Zeitung, die er in der Hand hielt, in der Luft herum. Ich ließ es mir nicht nehmen, ihm trotzdem um den Hals zu fallen und einen spöttischen Kommentar darüber abzugeben, dass er selbst bei einem Picknick nicht ohne seine Zeitungen auskam.

„Das könnte dir auch guttun! Jeder Mann, der etwas auf sich hält, sollte das Weltgeschehen im Auge behalten. Besonders in diesen Zeiten“, setzte er zu einem langen Vortrag an, während ich genervt die Augen verdrehte. „Aber ihr Jugendlichen lest ja immer nur eure fantastischen Romane. Wie die von diesem seltsamen Typen. Wie hieß der noch gleich?“

„Jules Verne“, seufzte ich und bereute meinen Kommentar über die Zeitung schon wieder. Ich mochte Vernes Romane, weil sie eine so unglaubliche Welt aufzeigten, von der ich hoffte, sie eines Tages zu erleben. Besonders „20000 Meilen unter dem Meer“ hatte es mir angetan und ich konnte es kaum aus der Hand legen, seit ich es damals von einem Landsmann geschenkt bekommen hatte. Ich war zu dieser Zeit zehn Jahre alt gewesen und gerade erst am Internat angekommen. Nachdem ich bis dahin recht behütet in Indien aufgewachsen war, stellten England und das Internat einen großen Schock für mich dar. Fast täglich saß ich im Freien auf der Treppe, versteckte mich dabei so gut es ging und weinte. Bis dieser Mann – er war Inder, wie ich selbst – sich eines Tages zu mir setzte und mir erklärte, alles würde gut werden. Und bis das so sei, solle ich lesen und er gab mir das atemberaubende Buch über Kapitän Nemo und seine Nautilus.

Diese Erinnerung brachte mich immer zum Lächeln, daher liebte ich das Buch wohl auch so. Mehrfach versuchte ich, meinen Vormund davon zu überzeugen, aber so oft ich es ihm auch empfahl, er hatte nicht mehr als ein müdes Kopfschütteln dafür übrig.

„Wo sind dein Onkel und Sally?“, fragte ich Jeffrey, um so das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich wollte die Zeit mit meinem Vormund nicht mit Diskutieren oder, schlimmer noch, mit Streiten verbringen. Manchmal kam es dazu, wenn wir auf dieses Thema kamen. Auch wenn es mir jedes Mal verrückt vorkam, dass ein einfaches Buch für Divari ein Grund war, sich derartig aufzuregen.

„Wie ich die beiden kenne, sind sie schon da und bereiten alles vor, als würde großer Staatsbesuch anstehen“, lachte Jeffrey und ich seufzte erleichtert, als nun auch Divari und Paul zustimmten, aufzubrechen. In Zukunft würde ich aufpassen, was ich sagte, bevor die Stimmung wirklich kippen konnte. Außerdem wollte ich ja auch noch etwas von meinem Vormund und wenn ich ihn verärgerte, konnte ich das vergessen.

Verschwörerisch nickte ich Jeffrey zu. Ich hatte seinen Vorschlag nicht vergessen, denn ich konnte die ganze Woche lang an nichts anderes mehr denken. Ich wollte unbedingt die Osterferien bei ihm und seinem Onkel verbringen, aber ohne Divaris Erlaubnis ging das nicht.

Mit klopfendem Herzen lief ich hinter Jeffrey her, während Paul und Divari, sich munter unterhaltend, vorausgingen. Der Kies unter meinen Schuhen knirschte auffällig und für ein paar Sekunden erinnerte ich mich an den Schnee, gefolgt von der Erinnerung an das eisige Wasser des Sees. Mir fröstelte, obwohl es dieses Jahr für April schon recht warm war. Ich zog mir sogar nach einigen Schritten meine nicht zu dicke Uniformjacke aus und öffnete den oberen Knopf meines Hemdes.

Bald folgten auch Jeffrey und Paul meinem Vorbild. Lediglich Divari schien zu frieren, während er uns zweifelnde Blicke zuwarf. Aber er war auch ganz andere Temperaturen gewöhnt. Die letzten Wintertage in Europa musste ihm vorgekommen sein, als würde er sich in einem Eisschrank aufhalten.

„Jeffrey!“ Sallys rufen riss mich aus meinen Gedanken und ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als ich sie aufgeregt winken sah und bemerkte, wie Paul entzückt in ihre Richtung blickte. Schnell ließ er sich zurückfallen, sodass er neben mir anlangte und Jeffrey, zusammen mit meinem Vormund, zuerst bei der jungen Frau ankamen.

„Stellst du mich ihr gleich vor?“, fragte Paul aufgeregt und auf seinen Wangen zeichnete sich eine leichte Röte ab. Wenn ich jetzt daran dachte, dass er mich vorhin fast genötigt hatte, ihn zu küssen, fiel es mir schwer, nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Ich biss mir daher auf die Lippe, aber ganz konnte ich das Grinsen nicht unterdrücken.

„Warum grinst du so?“ Irritiert, aber mit einem deutlichen Glitzern in den Augen, wartete er auf eine Antwort von mir. Weil er mich vorhin jedoch in solch eine seltsame Situation gebracht hatte, ließ ich ihn noch einige Minuten zappeln, bis er, aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten, um mich herumsprang. „Und?“

„Aber klar“, versicherte ich ihm und auf seinem Gesicht machte sich ein Strahlen breit, als würde er mit der Sonne konkurrieren wollen. „Unter einer Bedingung.“ Sein Lächeln gefror, während ich nun zu kichern begann. „Du lädst mich zu deiner Hochzeit ein und benennst dein erstes Kind nach mir!“

„Mein erstes?“, rief Paul freudig aus. „Wenn du willst, alle!“

"Das Picknick"

Ich fand es schon immer spannend, wie sich die Welt veränderte, wenn die Sicht auf sie eine andere war. Wobei das in diesem Moment hieß, dass ich mit geschlossenen Augen dalag und sich meine Umgebung in ein Kaleidoskop aus roten, tanzenden Schatten verwandelte hatte. Ich genoss dieses Gefühl, wenn das Sonnenlicht durch die geschlossenen Lider drang und es sich anfühlte, als würde die Welt in rotes Gold getaucht sein.

Die Geräusche, die ich vernahm, reihten sich in diese friedliche Stimmung ein. Sie klangen harmonischer, als wenn ich sie mit offenen Augen verfolgt hätte und selbst mein Herzschlag war ruhiger. Das Gezwitscher der Vögel und die Gespräche der anderen verbanden sich zu so einem angenehmen Rauschen, dass es mir widerstrebte, die Augen zu öffnen. Mehr als einmal fiel mein Kopf zu einer Seite weg und ich würde einschlafen, wenn ich mich nicht gleich aufsetzte. Nur noch ein paar Minuten, beschloss ich, bis ich feststellte, dass ich diesen Gedanken schon zum fünften Mal hatte.

Was soll's, ging es mir durch den Kopf. Warum nicht ein wenig schlafen?

Vermutlich würde Jeffrey mich nachher damit aufziehen, aber das war mir egal. Zur Not konnte ich ihm immer noch drohen, unser kleines Abenteuer von neulich nicht zu wiederholen. Dann würde er sicher wieder brav sein. Dass ich selbst diese Drohung nie einhalten könnte, musste ich ihm ja nicht sagen und dies würde auf jeden Fall mein Geheimnis bleiben. Mit diesen Überlegungen an meiner Seite gab ich mich der Leichtigkeit des Schlafes hin, als plötzlich ein Schatten über mich fiel.

Verwirrt über diese Störung blinzelte ich und blickte meinem Vormund vorwurfsvoll entgegen. Selbst wenn ich schlafen wollte, machten mir seine Tageszeitungen mit Inhalten, die stets von Hass, Geld und Krieg berichteten, einen Strich durch die Rechnung.

„Kannst du die nicht in eine andere Richtung halten?“, nuschelte ich maulend, vorauf er nur eine Augenbraue hob. „Ich brauch das Licht.“

„Nun, zum Lesen benötige ich ebenfalls welches“, stellte er pikiert fest, aber ich erkannte dennoch den gutmütigen Spott in seinen Augen. „Wie kommt es, dass du so müde bist? Schläfst du nachts nicht gut?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jeffrey zu grinsen anfing, während Paul beinahe sein Gesicht in das Kuchenstück drückte, welches er soeben verspeiste. Möglichst unauffällig warf ich den beiden einen missbilligenden Blick zu. Wie wäre es, wenn sie sich noch auffälliger verhalten würden?

Aber wie es schien, hatten weder Divari, noch Stan oder Sally etwas von unserem stummen Austausch mitbekommen.

„Nun, ich ...“, stammelte ich und überlegte, was ich ihm sagen sollte. Denn es wäre ziemlich unhöflich gewesen, seine Frage nicht zu beantworten. „Es geht. Aber ich habe in letzter Zeit wirklich etwas Probleme damit.“

Ich musste ja nicht sagen, was wirklich los war, aber wenn ich nahe bei der Wahrheit blieb, war das am wenigsten auffällig.

„So? Wie kommt das?“, fragte mein Vormund besorgt und musterte mich eindringlich. „Hast du noch Probleme wegen der Lungenentzündung? Soll ich Dr. Mason noch einmal herbestellen?“

„Nein, nein!“, wehrte ich fast erschrocken hab. Vielleicht hätte ich einfach nichts sagen sollen... „Es ist wegen Jeffrey.“ Jetzt registrierte ich, wie Jeffrey blass wurde und mich geschockt ansah. Ja, das geschah ihm erst mal recht! Das kommt davon, wenn man andere küsst und mich ständig aufzieht. „Er schnarcht manchmal so heftig, dass er mich fast die ganze Nacht nicht schlafen lässt.“

Fassungslos blickte Jeffrey mir entgegen, während Stan hemmungslos zu lachen anfing und mein Vormund sich nun auf meinen Freund stürzte, um ihn mit Fragen zu seiner Gesundheit zu löchern. Gut, ein bisschen tat er mir leid und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht genau, warum ich das gemacht hatte. Aber ich musste ewig an dieses Bild denken, das sich regelrecht in meinen Kopf gebrannt hatte. Dabei wusste ich genau – und er hatte es mir ja auch gesagt – dass der Kuss mit Paul nur ein Spaß gewesen ist. Wenn ich jedoch daran dachte, versetzte es mir einen Stich ins Herz.

Ich seufzte tief und sah mich in unserer kleinen gemütlichen Runde um. Alle schienen beschäftigt zu sein. Stan und Divari redeten auf Jeffrey ein, er solle seine Gesundheit nicht auf die leichte Schulter nehmen und das Schnarchen lieber abklären lassen. Besonders nach der durchgemachten Lungenentzündung. Nur mit Mühe konnte Jeffrey dabei meinen Vormund davon abhalten, gleich aufzuspringen und mit dem nächsten Telegrafen nach Dr. Mason zu schreien.

Ohja, das würde später wirklich Stress mit ihm geben. Vielleicht überlegte ich mir schon mal eine gute Entschädigung. Aber über was würde er sich wohl freuen und viel wichtiger, was konnte ich in dieser kurzen Zeit, bis das Picknick zu Ende war, organisieren? Das Einzige, was mir einfiel, war vielleicht, das zu tun, was er in jener Nacht bei mir getan hatte. Aber würde ich das wirklich schaffen?

Dass Paul alles zwischen uns mitbekommen hatte, war mir noch derart peinlich, dass ich es in den letzten Nächten vermieden hatte, zu Jeffrey ins Bett zu gehen. Jedoch vermisste ich seine körperliche Nähe schmerzlich. Dennoch wusste ich nicht, ob ich das konnte.

Seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Paul. Jedoch war auch er in seiner eigenen Welt versunken und unterhielt sich angeregt mit Sally. Da wollte ich ungern dazwischenfunken. Zumal Paul so glücklich aussah und Sally von ihm wirklich angetan schien.

Ich würde mich wohl mit mir selbst beschäftigen müssen. Nachdenklich betrachtete ich den wahnsinnig leckeren Kuchen, aber ich hatte bereits so viel davon gegessen, dass sicherlich kein Krümel mehr in meinen Bauch passen würde. Also was tun? Es war niemand 'frei' für eine Unterhaltung, auf Schlafen hatte ich keine Lust mehr und ich würde bald platzen, so voll war ich.

Nun, vielleicht hörte ich einmal auf Divari und sah mir an, was so in der Welt passierte. Lustlos durchblätterte ich das Tagesblatt, bis mir klar wurde, dass es gar nicht von heute war. Seltsam, warum schleppte mein Vormund eine mehrere Wochen alte Tageszeitung mit sich herum?

Nachdem ich dies festgestellt hatte, sah ich mir die Seiten ein zweites Mal und diesmal genauer an. Aber ich entdeckte absolut nichts Besonderes an der Zeitung. Mir kam der Gedanke, ob sie vielleicht einen Artikel enthielt, der auf etwas Bezug nahm, was Divari wichtig war, jedoch fand ich nichts in der Art. Alles, über das ich las, waren politische Spannungen und die Angst vor einem Krieg – man sprach sogar von Weltkrieg. Allein die Vorstellung war für mich verrückt und ich glaubte nicht, dass Menschen sich so sehr hassen und eine ganze Welt in Krieg stürzen konnten. Sicher wollte man den Bürgern damit nur Angst machen. Mehr konnte nicht dahinterstecken, jedenfalls hoffte ich das. Wenn ich es aber genauer betrachtete, wirkten die Erwachsenen von Woche zu Woche angespannter.

Nein, ich war eindeutig zu jung, um mir über das Ende der Welt Gedanken zu machen. Außerdem hatte ich ganz andere Probleme. Wenn ich nicht aufpasste, dann endete die Welt für mich ganz schnell.

Gerade als ich die Zeitung wieder weglegen wollte, fiel mir doch ein Artikel ins Auge. Nicht jedoch, weil ich ihn in Verbindung mit Divari bringen konnte, sondern weil mir der Inhalt total grotesk erschien.

Allein die Überschrift veranlasste mich, die Stirn in Falten zu legen und den Kopf zu schütteln. „'Bankräuber lassen Millionen liegen und stehlen alte Briefe'“, las ich still und wunderte mich, was jemand mit einem Stapel alten Papiers will, wenn er doch gerade die Möglichkeit hatte, Millionär zu werden.

„Wie ich sehe, hast du doch endlich dein Interesse für das Weltgeschehen entdeckt. Das erfreut mich wirklich“, richtete mein Vormund seine Aufmerksamkeit nun wieder auf mich. Irritiert blickte ich zu ihm auf und blinzelte, als das Sonnenlicht direkt in meine Augen fiel.

„Also eigentlich wundere ich mich nur gerade, wie du das jeden Tag lesen kannst? Da wird man doch trübsinnig von. Gibt es denn gar nichts Positives zu berichten? Immer nur Hass und Leid. Oder so was Komisches, wie das da“, beendete ich meinen Monolog und hielt Divari die Seite mit dem seltsamen Bankraub vor die Nase. Ich erwartete, dass er den Artikel lesen und mir dann zustimmen würde, aber etwas ganz anderes geschah.

Er blickte so kurz auf die Seite, dass ich die Hand dafür ins Feuer gelegt hätte, er hätte weder die Überschrift, noch den Artikel selbst gelesen haben können. Doch er erblasste augenblicklich, als wüsste er sehr genau, was ich ihm da zeigte. Und anders als mich, schien es ihn zu erschrecken. Was bitte war daran erschreckend, wenn eine Handvoll Idioten in eine Bank einbrachen und Briefe stahlen? Womöglich noch alte, schnulzige Liebesbriefe.

„Was ist?“, fragte ich verwundert und dies steigerte sich noch, als er mir fast schon grob die Zeitung aus der Hand riss.

„Nichts. Nichts“, versicherte er mir. Doch dadurch, dass er dieses eine Wort wiederholte, wurde seine Aussage nicht glaubwürdiger. Gerade wollte ich ihm widersprechen, aber er schnitt mir sofort mit einer harschen Handbewegung das Wort ab. „Es ist wohl besser, wenn jemand in deinem Alter sich nicht mit solchen Informationen belastet“, erklärte er und ließ die Zeitung in seiner Jacke verschwinden.

Nun war ich absolut sicher, dass hier etwas faul war. Seit Jahren predigte er mir, wie wichtig es sei, auch für einen Jugendlichen, über das Weltgeschehen informiert zu sein. Und nun, wo ich einen Blick riskiert hatte, redete er es mir sogar aktiv aus? So kannte ich meinen Vormund gar nicht. Etwas musste mit ihm geschehen sein, seit er in London war.

„Was ist hier eigentlich los?“, sprach ich nun aus, was mir schon lange durch den Kopf ging. „Du verschweigst mir doch etwas. Ich will endlich wissen, was es ist!“

Mein Vormund holte tief Luft und ich sah, wie er innerlich damit kämpfte, die Fassung nicht zu verlieren. Als er sprach, war seine Stimme so ruhig und klar wie immer, aber ich merkte deutlich, dass ich etwas angerührt hatte, das ihm unangenehm war.

„Was soll schon los sein?“

„Warum bist du wirklich in London?“, platzte es so wütend aus mir heraus, dass die anderen mich verwundert ansahen.

„Das habe ich dir doch bereits erklärt“, seufzte Divari und ihm schien die plötzliche Aufmerksamkeit mehr als unangenehm zu sein. „Es gab ein Problem mit einem wichtigen Geschäftskunden und das erforderte meine Anwesenheit hier. So ist das eben manchmal.“

„Was? War ein Kunde nicht zufrieden mit einem Seidenstoff, den du ihm geliefert hast und da musstest du direkt das nächste Schiff nach Europa nehmen?“ Ich hörte sehr wohl den Hohn in meiner Stimme und wusste, ich würde mir dadurch eine saftige Ohrfeige durch meinen Vormund einhandeln können. Aber das war mir gerade egal.

„Mike“, seufzte mein Vormund und die Art, wie er meinen Namen aussprach, ließ mich aufhorchen. „Die Dinge sind etwas komplizierter, als du es dir vorstellst und fordern eben einen gewissen Einsatz. Wenn du älter bist, können wir gerne noch einmal darüber sprechen, aber nun solltest du mich meine Arbeit machen lassen und aufhören, Fragen zu stellen. Immerhin sichert dir mein Verdienst auch deine Schulbildung.“

Überrascht blinzelte ich ihn an. Das war nicht nur falsch, sondern schlichtweg gelogen. Divari bezahlte mit keinem Penny meinen Aufenthalt auf dem Internat. Das tat ein Teil der Erbschaft meines Vaters, der extra für diesen Zweck zur Verfügung stand. Also bezahlte mein verstorbener Vater meine Schulbildung und nicht Divari. Natürlich tat dieser sehr viel in anderen Bereichen: Die Überfahrten nach Europa bzw. Indien fuhr ich immer in der ersten Klasse, ich hatte genug Kleidung und wenn ich etwas wollte, dann brauchte ich es nur sagen. Das ging so weit, dass es mir beinahe schon peinlich war.

Ich war sprachlos und Divari schien wohl zu glauben, ich hätte eingesehen, dass mein Verhalten falsch gewesen war. Zumindest schien er das Thema für beendet zu erachten und sein Gesicht wirkte wieder genauso entspannt, wie sonst auch. Betreten beobachtete ich eine Ameise, die soeben einen Kuchenkrümel für sich beanspruchte und dennoch fühlte ich die unangenehmen Blicke der anderen auf mir. Vielleicht hatte ich mich wirklich etwas danebenbenommen. Immerhin sollte das hier ein entspanntes Picknick sein, mit dem wir feiern wollten, dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen zu sein. Und ich hatte nichts anderes zu tun, als mich zu streiten.

„Es tut mir leid“, murmelte ich zerknirscht. Ich erwartete, erneut streng durch meinen Vormund gemustert zu werden, aber er lächelte mich so offen an, wie sonst auch.

„Schon gut und jetzt zerbrich dir nicht mehr den Kopf darüber. Ich muss gleich los und hab auf meiner Rückreise nach Indien lieber dein fröhliches Gesicht in Erinnerung.“

„Was jetzt schon?“, entfuhr es mir. „Aber du fährst doch erst morgen!“

Ich hätte mich am liebsten an seinen Arm geklammert und ihn wie ein kleines Kind angefleht, noch ein paar Stunden zu bleiben. Aber mir wurde schließlich selbst bewusst, wie albern das war, also nickte ich nur.

„Ich muss noch packen“, erklärte Divari seine Eile. „Und ...“

„... du hast noch wichtige Geschäfte zu erledigen“, beendete ich den Satz für ihn, worauf er mir mit einem gequälten Lächeln antwortete.

„Es ist erforderlich, dass ein wichtiger Geschäftspartner aktuelle Anweisungen erhält, sonst ist das gesamte Unternehmen in Gefahr.“

Warum glaubte mein Vormund, die Welt würde untergehen, wenn er nicht ständig und überall seine Finger im Spiel hatte? Ich zuckte nur mit den Schultern. Wahrscheinlich würde ich ihn nie verstehen. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, welche Bedeutung dieser eine Satz für mich hatte, hätte ich sicher kein Auge mehr zubekommen. So war er für mich nicht mehr als eine Ausrede von einem Mann, der nur Arbeit kannte.

Divari stand ächzend auf, während er einen Scherz über sein Alter machte und sich von der kleinen Runde verabschiedete. Gerade, als er sich zum Gehen abwandte, fiel mir noch etwas ein und mein Groll der letzten Minuten war sofort vergessen.

Die Osterferien bei Jeffrey!

Auf keinen Fall konnte ich Divari gehen lassen, bevor ich sein Einverständnis hatte. Aufgeregt berichtete ich ihm von unserem Plan und Jeffrey fiel auch direkt ein, sodass wir beinahe im Chor auf ihn einredeten.

„Jetzt einmal langsam. Was wollt ihr?“, lachte Divari amüsiert.

„Ich hatte Mike angeboten, die Osterferien bei uns verbringen“, erzählte Jeffrey enthusiastisch und deutete auf seinen Onkel. „Ich habe auch schon mit meinem Onkel gesprochen. Es wäre absolut kein Umstand. Oder, Onkel Stan?“

Prüfend glitt der Blick meines Onkels zu Stan Harris, der ihm versicherte, dass er sich freuen würde, mich für die zwei Wochen bei sich aufzunehmen. Zumal es das Mindeste war, was er tun konnte, nachdem Divari Jeffreys Leben gerettet hatte. Jedenfalls sagte er das so.

Und es stimmte, ging es mir durch den Kopf. Wäre mein Vormund nicht plötzlich aufgetaucht, dann wäre Jeffrey die notwendige Behandlung wohl verwehrt geblieben. Zumindest machten weder Mr. McIntire, noch Miss McCrooder den Eindruck, als hätten sie den Ernst der Lage erkannt.

Es gab außerdem keinen Grund, dass Divari dieses Angebot ablehnen sollte, dennoch schien er zu zögern. Als würde er abwägen, ob mir irgendeine Gefahr durch Stan Harris drohte.

„Ich würde mich wirklich sehr freuen und ich werde auf ihn Acht geben, als wäre er mein eigener Sohn“, versicherte Stan und das Herz rutschte mir in die Hose, als Divari leicht den Kopf schüttelte.

„Warum nicht“, stimmte er zu und ich war froh, dass seine Geste nur die Antwort auf seine eigene Frage und keine Ablehnung war. Zielstrebig kramte er in seiner Jackentasche und holte schließlich seine Taschenuhr hervor. „Hm“, brummte Divari und klappte sie wieder zu. „Ein paar Minuten habe ich noch. Ich werde es gleich mit Mr. McIntire abklären, damit es auch keine Schwierigkeiten gibt.“

„Danke!“, rief ich überschwänglich und fiel ihm um den Hals. Es war das erste Mal seit einigen Minuten, dass ich mich vollkommen gelöst fühlte und mir tat mein Misstrauen Divari gegenüber bereits wieder leid. Ich war schon wieder ungerecht gewesen, befand ich und verstand nicht, warum mir das so oft passierte. Erst bei Jeffrey und nun Divari, der so viel für mich tat. Und das, obwohl uns nur seine Freundschaft zu meinem Vater verband.

Dennoch nagte ein gewisses Unbehagen an mir, aber vermutlich war es nur die Schuld, die ich fühlte. Warum sollte mein Vormund mir etwas verschweigen? Und zu glauben, dass etwas Größeres um mich herum geschah und ich es einfach nur nicht verstand, war geradezu paranoid.

Vielleicht war das mein Problem: Ich hatte solche Angst vor meinen Gefühlen und den Konsequenzen dadurch, dass ich überall Gefahr witterte.

„Also, dann wünsche ich dir eine schöne Zeit und mach mir keinen Ärger mehr“, verabschiedete sich mein Vormund von mir. „Wir sehen uns dann in den Winterferien.“

Ich nickte nur und widerstand dem Impuls, ihn erneut fest zu umklammern. Immerhin war ich alt genug, um ihm auf eine erwachsenere Art zu begegnen. Wenn ich gewusst hätte, was mir bevorstand, hätte ich wohl darauf gepfiffen und ihn nie mehr losgelassen. Sicher hätte das nichts genützt. Dennoch frage ich mich oft, wie mein Leben nun aussehen würde, wenn sie ehrlich zu mir gewesen wären.

Mit einer Mischung aus Freude, weil Divari mir das mit den Osterferien erlaubt hatte, und Trauer – ich würde ihn erst in gut einem halben Jahr wiedersehen – blickte ich meinem Vormund hinterher. Tief seufzte ich, denn mir wurde bewusst, dass ich mich freuen sollte. Aber nun spürte ich nichts als eine bleierne Leere. Wie konnte sich das so schwer anfühlen – ein Nichts im Herzen?

„War denn vorhin los?“, fragte Stan und riss mich somit aus meinem trüben Gedankenkarussell. Fast schon verwirrt blickte ich ihm ins Gesicht, obwohl mir klar war, wovon er sprach.

„Ach, nichts“, meinte ich und erkannte durchaus die Ironie darin. Ich sah Divari wohl ähnlicher, als ich es manchmal wahrhaben wollte.

Aber warum auch nicht? Ich mochte diesen Mann. Er war gutherzig, freundlich und ich vermisste ihn jetzt schon schmerzlich. Als ich bemerkte, wie der Kloß in meinem Hals immer drückender wurde, wandte ich mich schnell ab. Schwer schluckte ich und verstand nicht ganz, was los war.

Klar war ich traurig, dass mein Vormund nun abreiste. Doch ich hatte das so oft erlebt und es nahm mich schon seit einigen Jahren nicht mehr so sehr mit. Warum also jetzt?

Ich wurde einfach den Gedanken nicht los, es könnte endgültig sein. Als würde ich in einem Zug sitzen und wusste, über die Klippe führte keine Brücke. Dennoch konnte ich es einfach nicht schaffen, die Bremse zu ziehen und vielleicht gab es sie gar nicht?

Schulterzuckend verabschiedete ich mich ebenfalls für eine halbe Stunde, um einen kleinen Spaziergang zu machen.

„Soll ich dich begleiten?“, fragte Jeffrey und ich hörte deutlich die Besorgnis in seiner Stimme. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Ich freute mich still darüber, dass er mir diese Seite von sich so oft zeigte. Die meisten anderen Schüler – und vor allem die Lehrer – von Andara-House kannten nur den Raufbold Jeffrey. Ich jedoch wusste, dass er einen weichen Kern hatte und sich nur zu gern um das kümmerte, was er liebte. Noch eine ganze Weile auf meinem Weg durch den Wald freute ich mich, dass ich etwas war, das er liebte. Dass er mich bemerkt hatte. Mich – unter den hunderten Jungen auf dem Internat und das, obwohl ich absolut nichts Besonderes an mir hatte.

"Wahrheiten"

Das Waldstück war nicht besonders groß, dennoch konnte man sich hier recht gut verlaufen, wenn man nicht aufpasste. Aber ich lebte, seit ich zehn war, auf Andara-House und kannte diesen kleinen Wald daher recht gut. Jede freie Minute hatte ich hier verbracht. Dabei entdeckte ich wundervolle Plätze, an die ich manchmal flüchtete, um zu lesen oder einfach nur meinen Gedanken nachzuhängen. Der Wald war voll von Orten, die geradezu magisch erschienen und mir die nötige Ruhe gaben, welche mir des Öfteren im Internat fehlte.

Lächelnd betrachtete ich das Ziel meines Weges. Eine alte, knorrige Eiche, deren Äste so gewachsen waren, dass ihre Astgabelung dem Aussehen eines Throns sehr nahe kam. Es war geradezu unmöglich, von diesem Baum zu fallen, da die Äste einen stets wie sichernde Arme umschlossen. Für einen kurzen Moment genoss ich diesen majestätischen Anblick. Wie ich es als Kind gern getan hatte, begrüßte ich ihn in Gedanken und stellte mir vor, dass er mir zuhören würde. Dann griff ich entschlossen nach dem niedrigsten Ast, schwang mich mit wenigen kraftvollen Bewegungen nach oben und schloss seufzend die Augen. Während ich meine Stirn gegen seine warme Rinde lehnte und dem Rauschen seiner Blätter lauschte, schwanden meine Sorgen. Früher kam ich her, weil ich mich einsam fühlte und Probleme mit den anderen Kindern hatte. Das war noch bevor der blonde und stets verpeilte Junge, welcher sich mir als Paul Winterfeld vorstellte, in mein Zimmer zog.

Danach waren wir sogar oft gemeinsam hier gewesen und spielten, wir seien Königssöhne im Exil, die von gemeinen Drachen im Schloss festgehalten wurden und nur an diesem Baum für wenige Minuten Freiheit erfahren durften. Dabei schmuggelte Paul sogar einmal sein Kopfkissen mit nach draußen, weil er der Meinung war, der Thron, der nur mir gebührte, sei zu hart. Die Erinnerung ließ mich gleichwohl schmunzeln, als auch vor Scham erröten. Schon lange spielten wir nicht mehr, dass wir Prinzen seien und es war mir nun wirklich peinlich.

Der Gedanke, ein Prinz zu sein, erfüllte mich nicht mehr mit dieser kindlichen Freude, sondern mit Abscheu. Denn nur zu oft hatte ich im Internat erlebt, dass Adelige sich für etwas Besseres hielten, obwohl sie nicht viel anders waren als Paul oder ich. Wobei wir ihnen oft einiges voraus hatten. Vor allem, was Respekt für andere anging. Nein, ich war froh, kein Prinz zu sein. Denn wäre ich einer, wer weiß, ob ich dann so wäre wie Juan und andere herumschubste.

„Hey, du da oben“, hörte ich eine bekannte Stimme und lächelte, während ich mich nach vorne beugte, um in die Tiefe zu blicken. Paul grinste mir entgegen und machte sich halb auf dem Weg zu mir nach oben. „Eure königliche Hoheit erlaubt doch?“

„Hör auf mit dem Mist!“, ermahnte ich ihn lachend, als er sich neben mir in die Astgabelung sinken ließ. „Wir sind keine kleinen Kinder mehr.“ Leider, ging es mir durch den Kopf. Auch wenn mir so vieles Angst bereitet hatte, kam mir die Zeit damals nun um einiges einfacher vor. Trotz der Angst fühlte ich mich sicher, auch wenn mir das Verhalten der Erwachsenen oft ein Rätsel war. Ich war sicher und fühlte mich beschützt. Wogegen die letzten Monate waren, als wäre ich im freien Fall. Fühlte es sich so an, erwachsen zu werden? War das normal oder war es nur für mich eine absolute Katastrophe?

„Was war eigentlich vorhin los mit dir?“, riss Paul mich wieder aus meinen Gedanken. Ich war ihm dankbar, denn ich merkte, dass sie mich wieder einmal zu nichts brachten und mich im Gegenteil in ein tiefes, schwarzes Loch zogen. „Sicher, es ist traurig, wenn man mal wieder hier zurückgelassen wird, aber so hast du noch nie reagiert.“

Das war übertrieben. Es gab früher durchaus Tage, an denen ich geweint und geschrien hatte, weil man mich wieder alleine im Internat zurückließ. Aber seit Paul mich kannte, hatte ich darauf sehr gefasst reagiert. Ich wusste meine Zeit hier zu nutzen und mir war klargeworden, dass ich bei Divari immer einen Platz hatte. Also gab es nichts, wovor ich Angst haben musste. Bis zu diesem Tag.

„Ich weiß nicht“, druckste ich herum. „Die Sache mit mir und Jeffrey scheint mich wohl paranoid gemacht zu haben. Jedenfalls kam mir das alles so seltsam vor.“ Ich lauschte eine Weile dem Wind, der sich in den Blättern des Baumes fing und blickte dann verwirrt auf, als Paul nichts erwiderte. „Ich meine, fandest du nicht auch, dass mein Vormund sich seltsam benommen hat?“

„Also eigentlich war er so freundlich wie immer“, meinte Paul gedehnt, als würde er noch über meine Worte nachdenken, während er sprach. „Gut, er wirkte etwas gestresst. Aber er sagte ja auch, dass er Probleme mit einem Geschäftskunden hatte.“

„Und du glaubst die Geschichte?“

„Ja warum denn nicht?“ Verwirrt sah Paul, der einen Ast weiter nach oben geklettert war, zu mir herab. „Warum sollte er dich anlügen? Da gibt es doch gar keinen Grund zu. Freu' dich einfach, dass dir zwei schöne Wochen bevorstehen.“

„Hm, du hast wohl Recht“, meinte ich und konnte es nicht ganz verhindern, dass meine Ohren zu glühen begannen, als ich über die kommenden Osterferien nachdachte. Jeffrey und ich würden ganze zwei Wochen alleine sein. Sicher würden wir auch einiges mit Stan unternehmen, aber der konnte ja nicht immer bei uns sein. Immerhin hatte er ja noch sein Café.

Und nachts … Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Ob wir wohl in getrennten Schlafzimmern schlafen würden? Ich hoffte nicht, aber ich hatte keine Ahnung wie wir Stan erklären sollten, warum wir nur ein Bett brauchten. Als ich genauer darüber nachdachte, zog sich etwas in mir zusammen. Vielleicht würden die zwei Wochen doch nicht so schön, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, getrennt von Jeffrey zu schlafen. Dabei hatte ich gehofft, ihm in dieser Zeit wieder etwas näher zu kommen.

Das, was er in der einen Nacht mit mir getan hatte, war so schön und ich sehnte mich danach, es wieder zu fühlen. Aber seit ich wusste, dass Paul uns gehört hatte, erstarrte ich innerlich, wenn Jeffrey etwas versuchte. Das sorgte für ziemlich viel Frust: und das nicht nur bei mir. Jeffrey gab es nicht zu, aber ich merkte deutlich, dass ihn es wurmte, nicht mehr tun zu können, als mich zu küssen.

Wenn wir jedoch etwas taten, würde Paul es mitbekommen oder schlimmer, einer der Lehrer, der nachts die Zimmer kontrollierte.

„Bist du mir eigentlich böse?“, fragte ich unvermittelt, worauf Paul mich verwirrt ansah. Derart geschickt, dass jedes Äffchen neidisch auf ihn gewesen wäre, schwang er sich zu mir herunter.

„Was? Warum das denn plötzlich?“

„Na, weil ich dann nicht so viel Zeit für dich und deinen Vater habe“, erklärte ich zerknirscht. Zwar würde ich Paul in den Ferien sowieso weniger sehen, da er bei seinem Vater im Hotel schlief und sie so einiges vorhatten. Aber da ich selbst jetzt die Wochen verplant hatte, fühlte es sich fast an, als würde ich ihn vernachlässigen. Wir hatten sonst viel mehr zusammen unternommen und nun ging mir fast täglich nur Jeffrey durch den Kopf. Naja, und das, was wir endlich tun wollten. Ich spürte, wie ich knallrot anlief und sah schnell weg, bevor Paul es auch bemerken konnte. Jedoch war ich etwas zu langsam, wie mir dessen helles Kichern neben mir klarmachte.

„Ist schon in Ordnung“, sagte Paul lachend. „Wenn ich jemanden hätte, so wie du, dann würde ich auch die meiste Zeit mit ihr verbringen wollen.“

„Mhm“, machte ich dankbar, während sich ein fettes Grinsen auf mein Gesicht schlich. „Und du denkst da an eine ganz bestimmte Person?“ Diesmal war es Paul, der errötete. „Und? Du magst sie oder?“

„Sehr“, gestand Paul. „Sie ist so unglaublich humorvoll und außerdem wunderschön.“

Seine Augen glänzten, während er über sie sprach und ich war mir sicher, ihn vorher noch nie so glücklich gesehen zu haben. Paul redete noch eine Weile über seine Unterhaltung mit Sally und darüber, was er an ihr besonders gut fand – was so im Grunde alles war. Aber je mehr er sprach, desto weniger konnte ich mein Grinsen im Zaum halten. Er wurde immer nervöser, kramte alle paar Minuten seine Taschenuhr hervor und blickte in die Richtung, in welcher der See lag.

„Und du warst eigentlich nur hier, um zu sehen, ob es mir gut geht“, beendete ich seine Rede, worauf er mich betroffen ansah. „Es geht mir gut.“ Ich lächelte ihn aufmunternd an. „Und jetzt geh schon zurück zu ihr. Ich komme auch gleich nach.“

„Es macht dir nichts aus, wenn ich dich alleine lasse?“, fragte Paul unsicher, bevor er sich langsam auf den Weg nach unten machte, nachdem ich ihm erneut versicherte, in Ordnung zu sein. Noch eine Weile blickte ich ihm mit einem Kopfschütteln und einem fetten Grinsen im Gesicht nach. Und ich war ihm dankbar. Dankbar, dass er trotz seiner Verliebtheit an mich dachte.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber schließlich stand ich seufzend auf und streckte meine starren Muskeln. Es war das Beste, wenn ich jetzt auch zurück zum See ging, bevor sie noch einen ganzen Suchtrupp wegen mir losschickten.

Gerade, als ich nach dem nächsten Ast griff, um nach unten zu klettern, vernahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung zwischen den Büschen. Angestrengt blickte ich in die Richtung, doch ich konnte nichts ausmachen. Vermutlich war es nur ein Reh gewesen, dachte ich und maß dem keine weitere Bedeutung zu.

Vorsichtig ließ ich mich auf den unteren Ast gleiten, als ich ein lautes Knacken hörte und vor Schreck fast losgelassen hätte. So schnell es meine Position erlaubte, drehte ich den Kopf und sah gerade noch so hellblauen Stoff zwischen den Büschen davonhuschen.

Was war das? Rehe trugen ganz sicher keine hellblauen Kleider!

Kurzerhand ließ ich mich die letzten Meter fallen und kam federnd wieder auf die Füße. „Sally?“, rief ich fragend in den Wald hinein. Aber leider erhielt ich keine Antwort, daher griff ich mit weiten Schritten aus. Hatte ich wirklich Sally gesehen?, ging es mir durch den Kopf. Aber sonst kannte ich niemanden in der Nähe von Andara-House, der ein blaues Kleid trug.

Was machte Sally hier draußen im Wald? War sie vielleicht Paul gefolgt und hatte sich dann verlaufen? Der Wald war nicht groß, aber wenn man nicht aufpasste, konnte das durchaus passieren und Sally war zum ersten Mal hier.

Ich beschloss, ihr zu folgen, da ich es nicht riskieren wollte, sie wieder zu verlieren und eventuell mit den anderen die ganze Nacht suchen zu müssen. Außerdem wollte ich nicht wissen, was Paul mit mir machen würde, wenn er wüsste, ich hatte die Chance, Sally vor dem Verlaufen zu retten und diese nicht genutzt.

Erneut rief ich ihren Namen und drehte mich unschlüssig um meine eigene Achse. „Mist!“, fluchte ich leise. Ich hatte sie aus den Augen verloren, obwohl sie nur wenige Meter vor mir gewesen sein konnte! Das war vollkommen unmöglich; sie musste hier irgendwo sein.

Angestrengt starrte ich in die Richtung, in der sie verschwunden war und tatsächlich sah ich durch die Büsche etwas Blaues blitzen. Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte ich los und sprang halb durch das Gebüsch.

„Sally? Was ist passiert? Hast du dich ver...“

Die Situation hätte grotesker nicht sein können. Ich fror regelrecht mitten im Wort ein, während sie mich mit schreckgeweiteten Augen anblickte. Mir war bewusst, dass ich mich eigentlich hätte abwenden sollen, aber ich konnte es nicht. Sally stand in leicht gehockter Stellung an der gegenüberliegenden Hecke und hielt ihren zusammengerafften Rock im linken Arm, während sie mit der rechten ihr Glied in der Hand hielt. Moment! Ihr … Glied … Mein Kopf weigerte sich, diese zwei Worte zusammenzufügen, aber es war eindeutig das, was ich sah.

„Was ...“, stammelte ich und deute fast schon panisch zwischen ihre … seine? … Beine. „Penis?“ Mir war bewusst, wie debil ich klang, nur musste sich mein Gehirn in den letzten Minuten abgeschaltet haben. Als wäre dies der Startschuss gewesen, stopfte Sally ihr bestes Stück zurück in ihre lange Unterhose, ließ den Rock fallen und rannte, als sei der Teufel hinter ihr her. „Sally!“, rief ich ihr perplex hinterher und versuchte, sie einzuholen. Was ging hier eigentlich vor sich? Sally war ein Er?! „Bleib stehen!“, kreischte ich und hatte noch im Kopf, wie Paul von ihr geschwärmt hatte. Oh Gott, wie sollte ich ihm das erklären? Wo doch nun eindeutig klar war, dass er nur Mädchen liebte.

Warum hatte Sally ihm das angetan? Ich wollte eine Erklärung! Und zwar jetzt!

Vollkommen in Panik brach Sally quer durch die Sträucher. Dabei strauchelte sie immer wieder, aber das Entsetzen über das Geschehene schien ihr regelrecht Flügel zu verleihen. Als sie erneut fiel, wurde mir bewusst, was ich hier eigentlich tat und blieb abrupt stehen.

„Sally! Es tut mir leid! Ich wollte dir keine Angst machen!“, rief ich flehend. Jedoch schien sie das nicht im Geringsten zu beruhigen. Blind, wie ein gehetztes Reh, rannte sie weiter und es lief mir eiskalt den Rücken herunter, als ich begriff in welche Richtung sie lief. „Bleib stehen, Sally!“, donnerte ich und rannte so schnell ich konnte auf sie zu.

Sally lief direkt auf die Klippe zu! Es war nicht wirklich eine Klippe, aber wir hatten den steilen Abhang so genannt und früher sogar eine Mutprobe daraus gemacht, wer hinabklettern konnte. Er war nicht schwindelerregend tief, aber tief genug, um sich einige Knochen zu brechen, wenn man hinabfiel.

Und Sally stürmte darauf zu! Entsetzt hastete ich auf sie zu und registrierte, dass sie langsamer wurde. Jedoch schien sie von der Gefahr nichts zu ahnen. „Abhang!“, keuchte ich. Meine Lunge brannte und es begann bereits, unangenehm in meiner Seite zu stechen.

Es war das erste Wort, welches sie von mir wahrzunehmen schien, denn sie bremste ab und drehte sich in einer ungelenken Bewegung zu mir um. Nur noch anderthalb Meter trennten uns, als ein Teil des Erdreiches unter ihrem rechten Fuß wegbrach und sie mit einem spitzen Schrei nach hinten kippte. Ohne darüber nachzudenken, griff ich nach dem Stoff ihres Kleides und ließ mich nach hinten fallen. Der Aufprall fühlte sich an, als würde mein Rückgrat in zwei brechen und trieb mir die Luft aus der Lunge. Dass Sally ungebremst auf mir zu liegen kam, machte es auch nicht besser.

„Was ist eigentlich mit eurer Familie los, dass ihr ständig irgendwo rein- oder herunterfallen müsst?“, brachte ich japsend hervor. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich Sally kurz nach dem Sturz umklammert hatte und ließ die Arme nun kraftlos neben mich fallen. Alles um mich herum drehte sich und ich brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen.

Sally hingegen schien sich schneller wieder zu fassen. Sie rappelte sich langsam auf, schien aber nicht gewillt, von mir herunter zu gehen. Ich lag noch immer wie eine hilflose Schildkröte auf dem Rücken, während sie mich mit einem so ernsten Blick ansah, dass ich es mit der Angst zu tun bekam.

„Sag es niemandem!“, zischte sie – oder sollte ich er sagen? Nun war ich es, der mit geweiteten Augen aufsah und kein Wort herausbrachte. Und es schien Sally nicht zu gefallen, denn sie/er drückte das Knie unangenehm in meine Körpermitte. „Sag, dass du es niemanden sagst! Und glaub nicht, ich wüsste nicht, wie sehr das wehtut!“

„Erklär's mir“, brachte ich quietschend hervor und hoffte, meine Weichteile würden das überstehen. Denn ich hing doch ziemlich an ihnen. „Ich will es nur verstehen.“

Nachdenklich blickte Sally zu mir herab und ließ mich dann endlich frei. Als sie neben mir zum Sitzen kam, schien sie regelrecht in sich zusammenzusacken und ich erkannte Tränen in ihren Augen. Nun kam ich mir noch schäbiger vor, wenn ich daran dachte, wie ich sie verfolgt hatte. Aber vor allem das Gefühl von Verrat, welches ich gespürt hatte, tat mir leid.

„Du bist … ein Junge?“, brachte ich vorsichtig heraus, als Sally nach wie vor schwieg.

„Nein!“

Sally spie mir das Wort regelrecht entgegen, sodass ich erschrocken zusammenzuckte und mich wenige Zentimeter von ihr wegschob.

„Das bin ich nicht!“, schluchzte sie und tippte sich mit der Hand kräftig gegen die Brust. „Nicht hier drin! Aber ihr seht ja alle nur, was 'offensichtlich' ist!“

Geschockt sah ich sie an. Ich war weit entfernt von Verstehen, aber in mir bildete sich eine dunkle Ahnung von dem, was in Sally vorging. Wie es aussah, war sie rein körperlich ein Junge, doch diese Tatsache schien sich nicht mit dem zu decken, was sie fühlte.

So wie bei mir – nur etwas anders – schoss es mir durch den Kopf. Auch ich war anders und das brachte mich Sally so viel näher. Ich liebte einen Mann, obwohl ich selbst einer war und Sally... wollte einfach Sally sein.

„Es tut mir leid“, murmelte ich mit erstickter Stimme. Aber mir war bewusst, dass diese Worte hohl waren, während die Tränen Sallys Blick immer mehr verschleierten.

„Ich hatte gehofft, dass du es verstehen könntest!“, brachte sie unter Weinkrämpfen hervor. „Du liebst ihn doch? Oder?! Wenn du das kannst, warum verstehst du mich nicht?!“

Sie hatte Recht. Warum hatte ich so blöd reagiert, wo ich doch selbst wusste, wie sich das anfühlte? Aber ich verstand doch nicht einmal mich vollkommen! Ich hatte nie vorgehabt, Sally zu verletzten. Es war nur, dass ich nie darüber nachgedacht hatte, dass es das geben konnte.

„Es tut mir leid!“ Wieder diese Worte, die nichts brachten. „Ich hatte Angst, weil ich mich selbst doch oft nicht verstehe! Ich habe solche Angst vor dem, was mit mir passiert, wenn es jemand erfährt! Und ich hätte besser reagieren müssen, aber … ich ...“ Ich brach ab. Egal, was ich sagte, es würde nichts bringen. Da ich mich benommen hatte wie der letzte Arsch, verstand ich es, wenn Sally mich nun hasste. Aber ich wollte zumindest klarmachen, dass sie sicher war. „Ich sage es keinem!“

Wieder sah sie mich mit diesem nachdenklichen, durchdringenden Blick an und ich hätte alles von ihr erwartet. Dass sie mich wortlos zurückließ, mich schlug oder wieder anschrie. Stattdessen nahm sie mich einfach in ihre Arme.

„Ist schon gut“, murmelte sie nahe an meinem Ohr. „Du weißt es selber erst seit ein paar Monaten. Ich habe zu viel von dir verlangt.“

Verwirrt ließ ich mich sogar für einige Sekunden in ihren Armen fallen. Warum war ich denn jetzt derjenige, der getröstet wurde? Ich war es doch, der sich unmöglich benommen hatte!

„Warum bist du jetzt so nett zu mir? Nach alldem?!“

Wortlos setzte Sally sich neben mich und zuckte mit den Schultern. „Ich bin es leid. All den Hass“, seufzte sie – ich beschloss, sie als sie zu sehen, auch, wenn ich es noch nicht ganz verstand. Unvermittelt griff sie nach meiner Hand und blickte mir ernst in die Augen. „Bitte sag es niemandem. Auch … auch Paul nicht.“

„Er mag dich“, murmelte ich leise. Es behagte mir gar nicht, so etwas Entscheidendes zu wissen und ihn weiter im Dunkeln zu lassen. Aber auf der anderen Seite stand es mir nicht zu, Sallys Geheimnis zu offenbaren. Zerknirscht biss ich mir auf die Unterlippe. Was ich auch tat, es fühlte sich nicht richtig an. Aber ich musste zu einer Entscheidung kommen, daher nickte ich schließlich langsam. „Erklärst du es mir dann wenigstens?“

„Glaub mir, wenn ich sicher wäre, dass er mich trotzdem noch mögen würde, wäre Paul der Erste, dem ich es sagen würde. Aber das geht nicht. Ich würde damit nicht nur mich, sondern auch Stan und Jeffrey in Gefahr bringen.“ Sallys Stimme sank zu einem kaum noch hörbaren Flüstern ab. „Und ich verdanke Stan zu viel, als ihm das anzutun.“

Verwirrt blickte ich sie an und versuchte, mir einen Reim daraus zu machen, warum sie ihren Vater mit seinem Vornamen ansprach. Vermutlich waren mir diese Gedanken deutlich anzusehen, denn sie lächelte mich an und zuckte mit den Achseln. „Er hat mir mein Leben geschenkt, so wie ich es jetzt führe; weißt du?“

„Wie war es vorher?“, fragte ich und hoffte, dass ich nicht vollkommen dumm klang.

„Es war keines“, war die ernüchternde Antwort, die mich mehr als alles andere erschütterte. Dabei war es nicht nur das, was sie sagte, als vielmehr, wie sie es sagte. In ihren Augen erkannte ich blankes Entsetzen und eine Trauer, die ich mir trotz meiner eigenen Verluste nicht vorstellen konnte. „Du hast natürlich Recht“, begann sie zu erklären. „Körperlich sieht man einen Jungen in mir, aber das ist nicht mein wahres Ich. Ich bin gefangen in diesem Körper und jeden Tag lebe ich mit der Angst, dass er sich weiter in eine Richtung entwickelt, die ich nicht sehen will. Die einfach nicht dem entspricht, was ich bin.“ Sie stockte. „Wenn andere aufstehen und sich Gedanken darüber machen, was sie zum Frühstück essen, frage ich mich: Ist meine Stimme heute rauer? Habe ich vielleicht Haare im Gesicht, die eine Frau da nicht haben sollte oder ist das nur ein Schatten?“

Aufmerksam betrachtete ich ihr Gesicht. Wenn man es nicht wusste, hatten ihre Züge wirklich wenig von einem Jungen. Aber sie war erst wenige Jahre älter als ich. Daher war es schwer abzusehen, wie sich das entwickeln würde, wenn sie erst einmal richtig erwachsen war.

„Stan sagt, dass ich Glück habe“, deutete sie mein Starren richtig. Peinlich berührt senkte ich den Blick und murmelte erneut eine Entschuldigung. Ich wollte sie nicht angaffen wie ein Tier im Zoo, aber – neben Jeffrey – jemanden zu treffen, der etwas Ähnliches durchmachte wie ich, erfüllte mich mit Neugier. „Er sagt, dadurch, dass ich eine helle Hautfarbe habe, ist es leichter, die männlichen Merkmale zu verbergen. Helles Haar übersieht man eher als dunkles. Außerdem meinte er, mein Körper würde wohl weniger männliche Hormone bilden. Was mein Erscheinungsbild begünstige – nur, ob das so bleibt, weiß niemand.“

Verwundert sah ich sie an. Ich hatte erst kürzlich in einem Zeitungsartikel über die Entdeckung von Stoffen im Körper, die man Hormone nannte, gelesen. Aber das ein einfacher Cafébetreiber so gut darüber Bescheid wusste, hätte ich nicht gedacht. Jeffreys Familie wurde immer interessanter und das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich genau richtig am Platz. Ich war ebenso anders – besonders – und das verband uns.

„Stan ist also nicht dein richtiger Vater?“, fragte ich, nun etwas mutiger geworden.

„Biologisch nicht, aber er ist der Erste, der diese Bezeichnung verdient.“ Auf ihrem Gesicht erschien ein versonnener Ausdruck, der mit jedem Wort mehr daraus verschwand. Was sie mir da erzählte, war so grauenvoll, dass ich mich kurz sogar weigerte, es als wahr anzunehmen.

Sally – oder Salvadore, als der sie geboren wurde – war eines der älteren Geschwister von zwölf. Sie erzählte mir davon, wie es war, zu frieren, mit leerem Bauch ins Bett zu gehen und davon, geschlagen zu werden, wenn man den Ansprüchen nicht genügte.

„Wenn ich nicht arbeiten musste, passte ich gerne auf meine kleinen Schwestern auf“, berichtete Sally und begann seit langem wieder zu lächeln. „Ich denke, da entdeckte ich es zum ersten Mal. Ich spielte gerne mit ihnen und ihren Puppen. Und jeden Sonntag, wenn wir in die Kirche gingen, bewunderte ich ihre Kleider. Oh, wie gerne hätte ich auch so schön ausgesehen!“

Sie strahlte über das ganze Gesicht und ich fand, sie sah wunderschön aus. Dennoch machte sich in mir auch ein nervöses Drücken in meiner Magengegend breit. Diese Erinnerung war für Sally eine weniger schlimme, aber ich fühlte, dass da noch furchtbare Dinge folgen würden. Ich schwieg und nickte, als Sally mich nonverbal fragte, ob sie fortfahren sollte.

„Ich war es irgendwann leid, mir das alles immer nur vorzustellen und wollte es in echt sehen. Ich wollte sehen, wie es wäre, ein wunderschönes Mädchen zu sein, also zog ich Susans Kleid an. Es war so schön blau wie dieses, mit weißer Spitze und einer Schleife drauf.“ Sie brach erneut ab und ein Schluchzen bahnte sich aus ihrer Kehle. Immer wieder versuchte sie, weiterzusprechen, aber es schüttelte sie regelrecht vor Weinkrämpfen.

„Du musst es nicht erzählen“, sagte ich ergriffen und drückte ihre Hand fest. Doch sie schüttelte energisch den Kopf.

„Ich will!“, stieß sie aus. „Mein Vater sah mich so. Ich habe ihn vorher noch nie so schreien hören! Tagelang schloss er mich ein. Sagte mir, ich sei krank und zu nichts zu gebrauchen. Ich wäre nichts als eine Last in seinen Augen. Ein Maul mehr, das es zu füttern galt.“

Das Folgende hätte aus einem Roman stammen können, aber es war Sallys Geschichte und noch heute erfüllt sie mich mit Trauer. Sallys Erzeuger sah keinen Wert in ihr und ergriff die nächste Gelegenheit, den vermeintlichen Schandfleck aus seiner Familie zu entfernen. Für sie hieß das, verkauft zu werden – an einen durchreisenden Circus, der sie von nun an als Kuriosität ausstellte. Die Abartigkeit, zu der Menschen fähig waren, drehte mir den Magen um und ich konnte kaum glauben, dass es noch schlimmer ging.

„Sie nannte sich Jocelyn und sie war wie ich“, erinnerte Sally sich. „Eines Tages kam dieser Mann in den Circus und er gaffte uns mit einem Blick an, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Schließlich handelte er mit dem Direktor einen Preis aus. Ich sollte mit ihm gehen; für eine Nacht. Ich war gerade erst zwölf geworden und Jocelyn flehte den Herrn an, sie zu nehmen. Sie sei mit ihren sechzehn Jahren besser geeignet. Damals verstand ich nicht, um was es ging. Das tat ich erst, als Jocelyn zurückkehrte. Sie versuchte noch in der gleichen Nacht, zu fliehen und wurde erschossen.“

Sallys Erzählung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich hatte genug Fantasie, um mir zusammenzureimen, was Jocelyn in dieser Nacht durchlebt haben musste und konnte nicht fassen, dass man sie nach all dem Horror getötet hatte. Was Sally erlebt hatte, war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Trotzdem wirkte sie immer so fröhlich und lebensfroh. Ich begann, sie mehr und mehr zu bewundern. Nicht im Geringsten konnte ich sagen, wie ich sein würde, hätte ich nur halb so viel erlebt wie sie.

„Hat Stan dich da herausgeholt?“, mutmaßte ich. „Wie bist du ihm begegnet?“

Ein sanftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht und ihr Blick schien in weiter Ferne gerückt zu sein. Vermutlich hatte sie ihre Erinnerungen vor Augen, als wäre es gestern gewesen und ich hoffe inständig, dass diese von guten Gefühlen geprägt waren. Immerhin schien Stan sie gerettet zu haben.

„Er war ein Gast, wie viele andere vor ihm auch. Aber Stan war von Anfang an anders: Er zeigte deutliches Interesse an mir und es erfüllte mich mit einer schrecklichen Angst. Ich dachte zunächst, er wolle das Gleiche, was Jocelyn passiert war. Nur dass diesmal keiner da war, der den Kopf für mich hinhielt.“ Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. „Du glaubst gar nicht, was ich für eine Angst hatte, als er einen Preis für mich aushandelte. Aber es gab nichts, das ich tun konnte. Jocelyn hatte es versucht und mit ihrem Leben bezahlt“, sagte Sally schulterzuckend. „Letztendlich hatte ich Glück. Er hat mich mit sich genommen und aufgezogen wie sein eigenes Kind.“

Ich vermutete, dass da noch mehr dahintersteckte. Denn ich konnte nicht glauben, dass die beiden einfach so von da weggehen konnten. Aber Sallys Geschichte schien damit beendet zu sein und wenn ich ehrlich war, wusste ich nicht, ob ich noch mehr vertragen hätte. Mein Magen fühlte sich vollkommen rau an – so als hätte ich tagelang nichts gegessen und mir wurde sogar etwas schummerig. Die Angst, die ich während Sallys Erzählung gefühlt hatte, hatte wohl meine letzten Energiereserven verbraucht.

Peinlich berührt errötete ich, als mein Bauch heftig zu knurren anfing und Sally mich mit einem verschmitzten Grinsen ansah.

„Wollen wir sehen, ob Jeffrey uns noch Kuchen dagelassen hat?“, fragte sie lächelnd. Ich nickte schüchtern und fühlte, dass ich eine Weile brauchen würde, bis auch ich wieder so unbeschwert lachen konnte, wie sie es tat.

"Zum Kuckuck nochmal!"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

"Auf in die Ferien"

Wieder einmal saß ich an einem Tisch und musterte Paul heimlich von der Seite. Nicht, dass ich das zu meiner neuen Lieblingstätigkeit auserkoren hatte. Es war nur so, dass sich neben der Sache mit Sally, bei der ich mehr wusste als er, durch die letzte Nacht eine Situation ergeben hatte, dank der ich mich fragte, wie viel er über mich wusste.
 

Immer noch war ich erstaunt über mich, dass ich es letzte Nacht so weit hatte kommen lassen. Wo ich vorher noch so dagegen gewesen war, es in unserem Zimmer zu tun, wo Paul es jederzeit mitbekommen könnte. Aber eines führte zum anderen und schließlich war ich nicht mehr in der Lage, es aufzuhalten – nein, ich wollte es nicht mehr stoppen.
 

Es war wunderschön gewesen und um nichts auf der Welt wollte ich diese Erfahrung missen. Zumal sie mich Jeffrey so nahe wie noch nie gebracht hatte. Aber sie hatte meinen Morgen auch unheimlich kompliziert gemacht, wie ich mich mit flauem Gefühl im Magen erinnerte.
 

Helles Sonnenlicht drang durch einen Spalt im Vorhang, den wir wie unüblicherweise am Abend zuvor nicht komplett zugezogen hatte. Leise murrend versuchte ich, mich zu erinnern, wer für dieses Verbrechen verantwortlich war. Entschied mich dann aber dagegen, das genauer auseinanderzunehmen. Ich war viel zu müde und wahrscheinlich würde ich herausfinden, dass ich der Übeltäter war.
 

Daher kuschelte ich mich in mein Kissen, schlang die Decke fest um mich und genoss, wie sehr alles nach Jeffrey roch. Lächelnd tastete ich neben mich und erstarrte kurz, als ich keinen weiteren Körper vorfand. Mir waren die Ereignisse der vergangenen Nacht wieder in den Sinn gekommen und ich fragte mich, wo er war. Ich hatte ihn losgeschickt, damit er ein Tuch holte, mit dem wir beide uns säubern konnten und dann –
 

Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Weder daran, dass er wieder zu mir kam, noch, dass ich mich von den Überresten der gemeinsamen Nacht befreit hatte. Ich musste wohl eingeschlafen sein.
 

In übler Vorahnung hob ich die Bettdecke an und glaubte, dort alles verschmutzt vorzufinden. Sicherlich würde ich nun mehr Wäsche wechseln müssen, als nur das Laken, dachte ich genervt. Als ich jedoch auf meinen nackten Körper schielte, fand ich diesen – und die Bettdecke – sauber vor. Jeffrey musste das getan habe, bevor er sich dann in sein Bett gelegt und geschlafen hatte. Selbst meine Wäsche hatte er säuberlich über das Fußende des Bettes gelegt, stellte ich mit einem Lächeln fest. Diese Geste ließ mein Herz vor Freude höherschlagen, weil sie mir zeigte, dass er an mir nicht einfach seine Lust befriedigte, sondern für mich sorgte. Eine Weile hing ich noch meinen freudigen Gedanken nach und schwelgte in Erinnerungen an die vergangene Nacht, bis ich Paul laut im Schlaf seufzen hörte.
 

Das Geräusch holte mich sofort wieder in die Gegenwart zurück und ließ mich fahrig nach meiner Unterhose suchen, die ich schließlich auch am Bettende fand. Ich wusste ja nicht, ob Paul etwas von den Geschehnissen in der Nacht mitbekommen hatte. Wenn dem nicht so war, wollte ich ihn nicht auch ich auf die richtige Spur bringen, indem er mich nackt im Bett sitzen sah. Schnell fischte ich mir meine Hose und zog dann ebenfalls das Hemd wieder an. Kurz wägte ich ab, was ich als nächstes tun würde. Die Versuchung, mich einfach wieder für ein paar Minuten hinzulegen, war groß, aber wahrscheinlich war es besser, die gewonnene Zeit für eine Dusche zu nutzen. Die Nacht war wunderschön gewesen, trotzdem fühlte ich mich jetzt verschwitzt und etwas unwohl in meinem Körper.
 

Auf leisen Sohlen lief ich zu meinem Schrank, holte frische Wäsche sowie Hemd und Hose, hervor und kramte dann nach meinen Waschutensilien.
 

„Guten Morgen!“, hörte ich Pauls für diese Uhrzeit viel zu fröhliche Stimme. Erschrocken fuhr ich herum und hätte die Dinge, die ich nun fest an mich gepresst hatte, fast fallenlassen. Wie kam es, dass Paul jetzt schon wach war und warum war er so gut gelaunt?, schoss es mir durch den Kopf. Hatte er vielleicht doch etwas mitbekommen?
 

„Ähm … Guten Morgen?“, stotterte ich und hätte mir fast gegen den Kopf gehauen, warum sich das wie eine Frage anhörte. Ich verhielt mich viel zu verdächtig! Das war ein ganz normaler Morgen – so wie immer – ermahnte ich mich. Ein Morgen nach der Nacht, in der ich das erste Mal Sex gehabt hatte und das mit einem Mann. Ich spürte deutlich wie ich errötete und leider sah Paul das auch.
 

„Alles in Ordnung mit dir? Du bist so seltsam“, fragte er mich mit deutlicher Verwirrung in der Stimme. Heftig nickend ermahnte ich mich, mich nun weniger verdächtig zu benehmen.
 

„Aber ja“, stotterte ich. „Ich wollte nur schon mal duschen gehen. Du weißt ja: Mir ist es lieber, wenn nicht so viel los ist.“
 

Ich überprüfte noch einmal, ob ich alles hatte und machte mich dann auf zur Tür. Dabei achtete ich gar nicht weiter auf Paul, weil ich annahm, dass er sich noch etwas hinlegen würde. Immerhin war es wirklich noch sehr früh. Daher blickte ich ihn mehr als irritiert an, als er plötzlich voll ausgerüstet neben mir stand.
 

„Was soll das werden?“, fragte ich alarmiert und auch etwas misstrauisch. Ja, ich war in den letzten Monaten wirklich etwas paranoid geworden.
 

„Duschen ist eine gute Idee.“ Paul lächelte mich strahlend an. Normalerweise hätte dieses Lächeln mich angesteckt, nun aber suchte ich nach einem Hinweis, ob er etwas von der letzten Nacht mitbekommen hatte. Warum kam er gerade heute auf die Idee, mich zu dieser frühen Stunde zu begleiten. Es war nicht so, dass es mir sonst etwas ausmachte, wenn Paul und ich zur selben Zeit duschten. Aber gerade heute?
 

„Bist du nicht noch müde?“, wagte ich einen Versuch, Paul doch zum Hierbleiben zu bewegen. Der jedoch war so munter wie ein junges Reh.
 

„Ein bisschen“, gab er zu, während er gleichzeitig durch die Tür hüpfte, als gäbe es eine Note dafür. „Aber heute beginnen die Ferien und ich kann es kaum erwarten!“
 

„Wir haben aber noch einen halben Tag Unterricht“, erinnerte ich ihn.
 

„Spaßbremse!“ Verwundert blickte ich Paul, der mir die Zunge herausstreckte und die Tür zum Duschsaal mit seinem Hinterteil aufschob, hinterher. „Du glaubst doch nicht, dass einer von denen auf den Tag Lust hat.“
 

Ich zuckte nur mit den Achseln und begann, Pauls Beispiel zu folgen, indem ich mich von meiner Schlafkleidung befreite. Anders als sonst stellte ich mich dabei in die hinterste Ecke und ließ die Hüllen nur zögerlich fallen. Dabei konnte ich ein leises Seufzen nicht unterdrücken. Mir hatte es sonst nie etwas ausgemacht, mit Paul duschen zu gehen. Aber nun befürchtete ich, dass ein Blick auf meinen Körper reichen würde, damit klar war, was ich damit letzte Nacht getan hatte.
 

Skeptisch blickte ich zwischen meine Beine. War er etwa größer als sonst?
 

Prompt lief ich knallrot an und wickelte mir fast schon hektisch das Handtuch um die Hüfte.
 

So ein Quatsch! Der sah natürlich aus wie immer! Nur weil Jeffrey und ich gestern miteinander geschlafen hatten, würde er sich nicht gleich derartig verändern.
 

Unwillkürlich musste ich an das Gefühl denken, als ich Jeffreys Erektion zwischen meinen Beinen gespürt hatte. Auch die Laute, die wir beide von uns gegeben hatten, waren nun wieder allzu deutlich in meinem Kopf. Es war so wunder...
 

Geschockt blickte ich nach unten. Jetzt war er eindeutig größer! Panisch lief ich in den Duschraum. Wobei ich penibel darauf achtete, dass Paul nur meinen Rücken zu sehen bekam. Dabei fühlte ich seinen irritierten Blick an meiner Kehrseite, doch ich ignorierte das so gut ich konnte.
 

Zu meinem Glück war der Raum leer und ich suchte mir die erstbeste Dusche aus.
 

„Was versteckst du denn da?“, hörte ich Pauls Stimme hinter mir. Ich zuckte zusammen und versuchte irgendwie, das Kunststück fertigzubekommen, gleichzeitig mein Gemächt zu verstecken, während ich mein Handtuch vor dem Strahl der Dusche in Sicherheit brachte.
 

„N...nichts“, stotterte ich peinlich berührt und dankte noch einmal dem gesamten indischen Götterpantheon, dass hier sonst niemand war. Und das, obwohl ich nicht einmal daran glaubte.
 

Kaltes Wasser! Ich brauchte kaltes Wasser!
 

Zwar war die Wahrscheinlich hoch, dass mir davon das Herz stehen bleiben würde, aber alles war besser, als hier mit einem heftigen Ständer zu stehen. Ich presste die Kiefer fest zusammen und stellte mit Stolz fest, nicht einige Oktaven höher geschrien zu haben, als es für mich üblich war. Stattdessen entrang sich meiner Kehle ein tiefes Fluchen, in das sich bald Pauls Lachen mischte. Grimmig blickte ich ihn über meine Schulter hinweg an.
 

„Kann es sein, dass ich die Watte nicht umsonst getragen habe?“, riet er immer noch lachend ins Blaue. Ich zuckte nur mit den Schultern, konnte aber nicht verhindern, dass sich nun doch ein Grinsen auf meine Lippen stahl.
 

Paul hatte tatsächlich Recht gehabt: Bis auf Mr. McIntire nahm absolut niemand diesen Tag ernst. Daher konnte ich auch an meinem Pult sitzen und gefahrenlos meinen Gedanken nachhängen, während ich Paul beobachtete. Selbst Mr. Wilson war es heute absolut egal, dass seine Schüler unkonzentriert waren. Lustlos schrieb er einige mathematische Formeln an die Tafel, die es zu lösen galt. Träge wurden diese abgekritzelt, die teuren Füllfederhalter oder Bleistifte danach motivationslos fallengelassen und darauf gewartet, dass Mr. Wilson die Lösung murmelte.
 

Einige hatten sogar die Köpfe auf den Tischen liegen und als Juan einen dämlichen Scherz gemacht hatte, wurde dieser nur mit einem grimmigen Blick, anstatt von Schlägen, bedacht.
 

Das Schlimme daran war, dass die Zeit einfach nicht voranging und mir nun auch die Augen schwer wurden. Die Chancen, den Ferienbeginn zu verschlafen, waren groß und wurden mit jeder Minute größer. Zum Glück rettete mich schließlich das Läuten der Schulglocke davor, den Tod der Langeweile zu sterben.
 

Kaum erscholl der erste Ton, sprangen alle auf und stürmten davon. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mr. Wilson noch etwas sagen wollte, sich aber stattdessen seine Pfeife anzündete. Ein wildes Gemurmel und Getümmel herrschte auf den Gängen von Andara-House. Alle versuchten, so schnell wie möglich auf ihre Zimmer zu kommen, nur, um dann vollbeladen mit ihren Koffern wieder davonzustürmen.
 

Eigentlich deprimierten mich die Osterferien immer. Sie waren zu kurz für die Reise nach Indien und es wartete niemand am Schultor auf mich. Während also alle ihren Eltern um den Hals fielen, saß ich daher sonst einsam auf meinem Zimmer und schaute dem Schauspiel von da aus zu. Manchmal verbrachte ich zwar ein paar Tage bei Paul und seinem Vater, da dieser es fast immer so einrichten konnte, dass sein Schiff zur Ferienzeit vor der Themsemündung vor Anker lag und er so in London Urlaub machen konnte. Diese Tage rissen mich dann immer aus der Monotonie des leeren Internats, dennoch füllten sie nicht das Loch in meinem Inneren. Auch wenn die Beiden sich sehr bemühten und mir auch nahestanden: Es fühlte sich nicht nach Familie an. Ich musste der Realität ins Auge sehen: Ich hatte keine Familie. Heute aber würde das anders sein! Und daher teilte ich zum ersten Mal an diesem speziellen Datum die Aufregung der Masse.
 

Als wir schließlich mit unseren Koffern auf den überfüllten Schulhof traten, hatten wir einiges an Mühe, uns zu orientieren. Es wimmelte nur so von bekannten und unbekannten Gesichtern, dass wir im ersten Moment nicht sagen konnten, ob sich jemand für uns darunter befand. Wir beschlossen einfach, in der Nähe der Tür zu bleiben und zu warten, bis sich der schlimmste Trubel aufgelöst hatte.
 

„Hast du deinen Onkel schon gesehen?“, fragte ich Jeffrey, der sich – obwohl er nicht klein war – auf die Zehenspitzen gestellt hatte und so versuchte, etwas zu erkennen. Vermutlich wäre es besser gewesen, auf dem Zimmer zu warten, aber wie alle anderen auch konnten wir es kaum erwarten, von hier wegzukommen.
 

„Michael!“, hörte ich eine erwachsene Stimme und ohne den Mann sehen zu müssen, der sich durch die Menge auf uns zuarbeitete, wusste ich, wer es war.
 

„Vater!“
 

Paul ließ seinen Koffer neben uns achtlos stehen und rannte auf den Mann zu, der niemand anderes als Hieronymus Winterfeld war. Ich brauchte weder seine Stimme, noch sein Äußeres zu erkennen, um zu wissen, dass er es war. Allein die Art, wie er meinen Namen aussprach, reichte vollkommen aus. Er wählte nicht etwa die englische Aussprache, wie es üblich war, sondern benutzte stets die deutsche Form des Namens. Wenn ich ehrlich war, nervte mich das ziemlich. Meine Versuche, ihm das einfache 'Mike' anzugewöhnen, waren bisher leider gescheitert.
 

Kapitän Winterfeld lächelte sowohl Paul, als auch Jeffrey und mir freundlich zu. Wobei sein Lächeln für eine Sekunde gefror und einem Stirnrunzeln Platz machte, als sein Blick erneut auf mich fiel. Sein Stimmungsumschwung ging jedoch so schnell vonstatten, dass ich hinterher meinte, es mir nur eingebildet zu haben.
 

„Ich freue mich, euch wohlauf zu sehen“, begann er, als er direkt vor uns stand. Obwohl Kapitän Winterfeld ein äußerst zuvorkommender, freundlicher und humorvoller Mensch war, schüchterte sein Anblick mich immer etwas ein. Nicht etwa, weil er Furcht ausgestrahlt hätte, sondern, weil er absolut beeindruckend aussah.
 

Wie sonst auch bei diesen Gelegenheiten trug er seine Paradeuniform und darüber einen dünnen, weißen Mantel. Abgerundet wurde dieser Anblick durch die Kapitänsmütze mit dem goldenen Emblem seines Schiffes, dem Offizierssäbel unter seinem Mantel und dem sorgsam gezwirbelten Schnurrbart, der wie Draht steif von seinem Gesicht abstand.
 

„Danke“, murmelte ich kaum hörbar und versuchte, mich von seinem einnehmenden Anblick abzuwenden, während ich nervös von einem Bein auf das andere trat. Kapitän Winterfeld nickte mir wohlwollend zu, wurde jedoch etwas reservierter, als sein Blick auf Jeffrey fiel.
 

Ich konnte absolut nicht sagen, warum, aber zwischen den beiden schien vom ersten Augenblick an eine Art Feindseligkeit zu herrschen. Verwirrt stieß ich Jeffrey, der Winterfeld unverfroren in die Augen starrte, an, aber dieser schien es kaum zu bemerken. Schließlich drehte er jedoch den Kopf wieder weg und suchte die Menge erneut nach seinem Onkel ab.
 

Erleichtert atmete ich aus und auch Winterfeld schien diesen Affront nicht weiter zu beachten. Was jedoch nichts daran änderte, dass ich mir Gedanken machte, warum Jeffrey so unfreundlich zu Pauls Vater war. Dieser hatte in den vergangenen Monaten nichts getan, das so etwas rechtfertigte und war im Gegenteil immer freundlich gewesen. Ja, er brachte sogar zu jedem Besucht kleine Andenken von seinen Reisen für uns alle mit. Die Jeffrey im hintersten Eck seines Schrankes verstauben ließ, wohlgemerkt.
 

„Es klang ziemlich ernst, was Paul mir geschrieben hat“, nahm Kapitän Winterfeld das Gespräch mit mir wieder auf und ignorierte Jeffrey jetzt ebenfalls. „Ich bin wirklich überaus froh, dich so munter wie eh und je hier zu sehen. Da habt ihr ja wirklich noch einmal Glück gehabt, dass dieser Mann in der Nähe war. Hast du denn mittlerweile in Erfahrung bringen können, wer euer Retter ist? Es ist wirklich schade, ihm nicht persönlich danken zu können.“
 

Endlich!, schoss es mir durch den Kopf. Das erste Mal seit dem Vorfall am See verstand mich jemand und konnte nachvollziehen, warum mich dieser Unbekannte so beschäftigte. Ich schüttelte den Kopf, wobei ich ein Lächeln nicht unterdrücken konnte – jetzt, da ich einen Verbündeten gefunden hatte.
 

„Nein, leider nicht. Selbst die Lehrer wissen nichts.“
 

„Schade. Wirklich schade“, murmelte Winterfeld, wobei sein Blick immer wieder abschweifte und sich auf einen Punkt neben mir am Boden richtete. Irritiert folgte ich seinen Augen ein bis zwei Mal, konnte aber nichts anderes als meinen Koffer entdecken. Ich glaubte kaum, dass er dieses einfache Gepäckstück derart spannend fand und es deswegen genauerer Musterung bedurfte. Sonst war da aber nichts.
 

Als sich unsere Blicke trafen, geschah noch etwas Seltsames. Für den Bruchteil einer Sekunde legte sich ein verlegener Ausdruck auf sein Gesicht. Bevor ich mir aber zu hundert Prozent sicher war, es wirklich gesehen zu haben, verschwand es wieder.
 

„Entschuldige mein Starren“, bestätigte mir Kapitän Winterfeld nun, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte – was die Situation nicht weniger seltsam machte. „Ist dein Vormund etwa auch da?“
 

Suchend sah er sich in der Menge um, während sich seine Stirn in Falten legte. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass er besorgt aussah. Aber das war natürlich ausgemachter Unsinn.
 

„Nein“, beantwortete ich wahrheitsgemäß. „Er war ja erst hier und es lohnt sich auch kaum für die Osterferien.“
 

Nickend zwirbelte sich Pauls Vater den Schnurrbart. Ich hatte das schon öfter gesehen und meist tat er es, wenn etwas ihn sehr beschäftigte oder er angestrengt nach einer Lösung für ein schweres Problem suchte. Nun war ich es, der sich Sorgen machte.
 

„Ist alles in Ordnung?“
 

„Aber natürlich!“, lachte Winterfeld sofort und ich fand, dass es sich ehrlich anhörte. „Es ist nur: Der Koffer. Verreist du?“
 

Wieder folgte ich seinem Blick, der sich nun eindeutig auf meinen Koffer gerichtet hatte. Ich hatte mich vorhin also nicht getäuscht. Zwar kam mir sein plötzliches Interesse an meinem Koffer merkwürdig vor, aber ich dachte mir nichts weiter dabei.
 

„Ich – also, nicht wirklich. Aber ich werde die zwei Wochen bei Jeffrey verbringen“, erklärte ich daher freimütig und strahlte nun über das ganze Gesicht, da mir endlich spannende Osterferien bevorstanden. Nun wandte sich auch Jeffrey wieder unserem Gespräch zu und grinste Winterfeld breit ins Gesicht, wofür er sich einen leichten Tritt auf die Zehenspitzen von mir einhandelte. Ich verstand absolut nicht, was mit ihm los war. Aber ich nahm mir fest vor, ihn nachher auf sein kindisches Verhalten anzusprechen. War er etwa eifersüchtig auf Kapitän Winterfeld?
 

Allein die Vorstellung war absurd!
 

Er war viel zu alt, nicht mein Typ und außerdem Pauls Vater! Davon einmal abgesehen, dass ich ihn auch direkt darum bitten konnte, mich in eine Klinik zu fahren, wenn ich irgendetwas in der Richtung bei ihm versuchte.
 

„Hm“, machte Winterfeld. „Ich verstehe …“ Zerknirscht sah er erst mich und dann Paul an, der seinen Blick ebenso ratlos wie ich erwiderte.
 

„Ist wirklich alles in Ordnung, Vater?“, sorgte sich nun auch Paul und mir kam Winterfelds Verhalten immer komischer vor.
 

„Ja, ja – Ach, es war nur so ein Gedanke. Ich hätte etwas sagen sollen, aber es sollte nun mal eine Überraschung sein.“ Winterfeld rieb sich mit Daumen und Zeigefinger den Punkt zwischen den Augen und seufzte dann tief. „Die Wahrheit ist: Ich hab für dich im Carlton mit reserviert. Ich hätte das wirklich mit Paul und dir absprechen müssen, aber ich wollte dich überraschen, Michael.“
 

Erstaunt sah ich ihn an, während mein Herz einen erfreuten Hüpfer machte und Jeffreys Gesicht sich gefährlich verdüsterte. Ich konnte es nicht glauben. Das Carlton war eines der teuersten und angesagtesten Hotels in ganz London und Pauls Vater hatte mal eben für mich dort ein Zimmer reserviert?
 

Nun fühlte ich mich fast schlecht, dass ich ihm absagen musste und die Zeit lieber bei Jeffrey verbrachte. Ich konnte mir nicht im Ansatz vorstellen, was Kapitän Winterfeld das gekostet haben musste und hoffte, dass man das ohne Probleme stornieren konnte. Auf keinen Fall wollte ich, dass er sich wegen mir in Unkosten stürzte. Aber ich konnte auch nicht einfach meine Pläne über den Haufen werfen. Es war doch absolut verrückt! All die Jahre, die ich nun in London war, versauerte ich im Internat während der Osterferien und nun hatte ich sogar zwei Angebote, um dieses Jahr unvergesslich zu machen.
 

„Es tut mir leid“, stammelte ich. Mir war die Sache mehr als unangenehm, daher suchte ich verzweifelt nach Worten. Nur leider kamen mir nur diese vier leeren über die Lippen. Nur zu gerne hätte ich nun die Fähigkeit besessen, mich zu zerteilen, denn das Carlton war natürlich auch eine reizvolle Vorstellung. Da mir einfach nichts mehr einfiel, senkte ich den Blick auf meine Schuhspitzen und diesmal war es Paul, der mir beisprang.
 

„Du hättest mir wirklich was sagen sollen!“, sprach Paul seinen Vater geradezu respektlos an und erneut bewunderte ich, wie progressiv Kapitän Winterfeld war, indem er seinem Sohn dieses Verhalten durchgehen ließ. Bei anderen hätte Paul sich sicherlich schon Schläge eingefangen. Nicht so aber bei Hieronymus Winterfeld. Dieser begrüßte es sogar, wenn sein Sohn offen seine Meinung vertrat. „Mike hat diese Wochen schon so lange geplant! Hätte ich gewusst, was du vorgehabt hast, dann hätte ich dir gleich davon abraten können.“
 

„Ich freue mich wirklich sehr darüber!“, sprang nun auch ich wieder in das Gespräch ein. „Jedoch hat Paul Recht: Jeffrey und ich hatten das schon länger geplant und ich kann nun nicht einfach unsere Pläne umwerfen. Es tut mir wirklich leid! Aber ich freue mich wirklich sehr, dass Sie an mich gedacht haben und sowieso immer so viel für mich tun.“
 

Ich hätte mich vermutlich noch weiter um Kopf und Kragen geredet und mich dabei immer mehr mit meinen Worten im Kreis gedreht, aber Sallys aufgeregtes Rufen und Winken erlöste mich in der nächsten Sekunde aus dieser peinlichen Situation. Auch Jeffrey wirkte erleichtert, auch wenn er es auf eine andere Art war, als ich.
 

Mit schwungvollen Schritten lief er auf seinen Onkel zu, der ihm sofort den Koffer abnahm und dann lächelnd zu unserer kleinen Gruppe dazustieß.
 

„Hallo Mike. Paul“, begrüßte er uns herzlich, bis sein Blick fragend auf Kapitän Winterfeld zur Ruhe kam. „Und Sie sind?“
 

„Kapitän Hieronymus Winterfeld. Ich bin Pauls Vater“, erklärte dieser. Er lächelte. Aber ich fand, dass es ungewohnt gezwungen aussah. Normalerweise war Winterfeld ein sehr offener und lustiger Mensch – und diesen Eindruck hatte ich bisher auch von Stan Harris gehabt – nun aber wirkte die Energie zwischen den beiden geradezu feindselig. Und das, obwohl sie sich doch gar nicht kannten. Erst Jeffrey und jetzt benahmen sich sowohl Stan, als auch Kapitän Winterfeld äußerst seltsam.
 

„Sehr erfreut“, gab Stan zurück. Wobei seine Augen seinen Worten Lüge strafte und ich eher erwartet hätte, dass sie sich schlugen, anstatt sich die Hände zu reichen. „Stan Harris – Jeffreys Onkel. Und Sie sind Kapitän von-?
 

„Der deutschen kaiserlichen Kriegsmarine. Aber natürlich liege ich nicht mit der Leopold vor Anker, sondern bin wie jeder andere Besucher auch hierhergekommen.“
 

„Natürlich“, kommentierte Stan, wobei dieses eine Wort mehr Ablehnung enthielt, als jedes andere zuvor. Es zerging wie Gift auf der Zunge.
 

Als Kapitän Winterfeld die Leopold – den Schlachtkreuzer, den er kommandierte – erwähnte, bekam ich langsam eine Ahnung davon, was hier los sein könnte. Zum ersten Mal seit Monaten kamen mir wieder die politischen Spannungen in den Sinn, von denen alle Zeitungen berichteten und von denen auch mein Vormund gesprochen hatte. Konnte es sein, dass die beiden sich nicht mochten, ohne sich dabei zu kennen, weil sie zwei unterschiedlichen Nationen angehörten?
 

Allein die Vorstellung war verstörend für mich. Vor allem vor dem Hintergrund, dass beide eigentlich so sympathische Menschen waren. Aber auch Paul war Deutscher und den schien Stan sehr zu mögen. Sonst hätte er direkt Sally von ihm ferngehalten und er war auch in keiner Minute unfreundlich zu Paul gewesen.
 

„Nun, dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Wir müssen dann los. Ich kann das Café nicht so lange geschlossen halten. Sie entschuldigen uns“, hörte ich Stan sagen, womit er mich aus meinen Gedanken riss und ich ihn einige Sekunden verwirrt anblinzelte. „Lasst uns gehen, Jungs.“
 

Er wandte sich schon zum Gehen um, wobei Sally und Jeffrey ihm auf dem Fuß folgten. Ich jedoch war wegen all dem so perplex, dass ich mich keinen Zentimeter von der Stelle rührte. Zumal ich mich wegen Winterfelds Überraschung immer noch unwohl fühlte.
 

„Ich verstehe Ihre Eile“, erhob nun dieser seine Stimme und veranlasste Stan, sich widerwillig umzudrehen. „Es kam jedoch zu einer etwas unangenehmen Situation und ich hatte gehofft, wir könnten uns im Sinne von Michael einigen.“
 

„Welche unangenehme Situation?“, fragte Stan lauernd und blickte erst ihn und dann Jeffrey fragend an. Kapitän Winterfeld folgte seinem Blick und lächelte dann gewinnend. Von Feindseligkeit war von seiner Seite aus plötzlich nichts mehr zu spüren.
 

„Oh, es ist absolut nichts Schlimmes vorgefallen, falls Sie das denken. Es geht nur darum, dass ich Michael eine Freude machen wollte und für ihn ein Zimmer im Carlton reserviert habe. Wie Sie sicher wissen, sind mein Sohn Paul und Michael sehr gute Freunde. Daher hatte ich mir gedacht, es wäre schön, wenn sie die Ferien zusammen verbringen könnten.“
 

Stans Gesicht verdunkelte sich, während er wieder einige Schritte näher kam und mein Herz begann, etwas schneller zu klopfen. Dass Sally und Jeffrey Abstand hielten, machte es nicht besser.
 

„Das war mit Sicherheit nur Ihre beste Absicht. Jedoch ist es so, dass Mike bereits verplant ist und sich die Jungen da schon sehr drauf gefreut hatten.“
 

Winterfeld nickte und ich atmete unmerklich erleichtert aus, da sich Stans Stimme wider Erwarten weniger aggressiv angehört hatte.
 

„Das bezweifle ich nicht und es ist mir auch sehr unangenehm. Es sollte eine Überraschung sein, daher hatte ich nichts gesagt. Das war nicht ganz richtig – da hat Paul schon Recht – aber vielleicht können wir trotzdem eine passende Lösung finden. Was halten Sie davon, wenn wir die zwei Wochen aufteilen? Michael verbringt die erste bei Ihnen und dann die zweite zusammen mit mir und Paul?“
 

Ich fand die Idee eigentlich sehr gut. Denn ich konnte absolut nicht verleugnen, dass mich beides reizte und ich mochte Kapitän Winterfeld. Stans Augen verengten sich jedoch zu Schlitzen und er sah aus wie jemand, dem man gerade angeboten hatte, mich für unmoralische Handlungen zu kaufen.
 

„Als Vater müssten Sie wissen, dass ich Ihrem Vorschlag nicht zustimmen kann“, gab er eisig zurück. „Mikes Vormund hat mir sein Vertrauen geschenkt, indem er mir seinen Schützling für diese zwei Wochen anvertraut hat. Was denken Sie, welches Bild das abgibt, wenn ich ihn jetzt in die Hände eines mir unbekannten Mannes gebe?“
 

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde Winterfeld etwas erwidern wollen. Dann presste er jedoch die Lippen fest aufeinander, nur, um im nächsten Moment zu lächeln wie immer. Ganz verstand ich Stan jedoch nicht. Paul Vater war doch kein Fremder?
 

Enttäuscht seufzte ich und spürte im nächsten Moment Kapitän Winterfelds Hand auf meiner Schulter.
 

„Wir holen das nach, in Ordnung? Und dann planen wir das vernünftig.“
 

Enthusiastisch nickte ich und verabschiedete mich kurz angebunden von Paul und seinem Vater, da Stan und Jeffrey bereits ungeduldig warteten.

"Dunkle Wolken"

Ich musste mich nun ziemlich beeilen, um Stan und Jeffrey noch einzuholen, denn die beiden schienen es plötzlich ziemlich eilig zu haben. Entschlossen umklammerte ich den Griff meines Koffers und lehnte den Oberkörper mehr nach links, um das Gewicht so gut es ging tragen zu können. Durch Jeffrey wusste ich, dass wir nicht viel laufen würden und dass Stan uns mit seinem neuen Automobil – seinem ganzen Stolz – abholen würde. Aber das war mir in dem Moment reichlich egal. Ich war so wütend, dass ich solche Kräfte entwickelte und mir vorstellen konnte, den schweren Koffer bis zu Stans Haus zu tragen. Notfalls würde ich ihn bis dahin werfen können. Ja, und Jeffrey vielleicht direkt hinterher!
 

Was war nur in ihn gefahren, so respektlos und unfreundlich zu Pauls Vater zu sein? Und dann tat sein Onkel auch noch das Gleiche. Verbissen starrte ich auf den Boden, sodass ich fast in Jeffrey hineingelaufen wäre, als dieser plötzlich stehen blieb.
 

„Wahnsinn!“, rief er mit überschnappender Stimme aus, ließ seinen Koffer achtlos fallen und rannte wie ein angestochenes Huhn um das schicke Automobil herum. Ein Cadillac Model 30, wie er mir sofort auf die Nase band. Ich zuckte nur desinteressiert mit den Schultern, da ich regelrecht vor Wut kochte und daher Jeffreys Begeisterung über das Gefährt absolut nicht teilen konnte. Aber er schien das gar nicht weiter zu bemerken oder es war ihm gerade einfach egal. Aufgeregt sprang er wieder um das Auto herum, blieb einige Minuten vor Stan stehen und löcherte ihn mit Fragen dazu.
 

„Und man muss tatsächlich nicht kurbeln?“, sprudelte es aus ihm heraus und ich befürchtete, er würde hyperventilieren und umkippen, als Stan den Kopf schüttelte. Wer hätte gedacht, dass Jeffrey sich so für Automobile interessierte? Irgendwie war es ja auch niedlich, aber ich entschied mich, weiterhin sauer zu sein. „Wahnsinn! Wie funktioniert das? Darf ich fahren?!“
 

„Vergiss es!“, rief Stan lachend aus. „Hast du eine Ahnung, wie teuer der Spaß war?“
 

Die nächsten Minuten verbrachte Jeffrey damit, zu meckern wie ein Rohrspatz, während Stan unsere Gepäckstücke sorgsam verstaute. Die folgende Fahrt gestaltete sich etwas beengt, obwohl das Fahrzeug an sich sehr luxuriös war. Aber mit unserem ganzen Gepäck war seine Kapazität dann doch recht schnell erreicht. Dennoch war dieses Fahrzeug ein Wunderwerk der Technik. Stan hatte nicht zu viel versprochen: Nachdem Jeffrey und ich auf der ledernen Rückbank Platz genommen und Sally sich vorne neben den Fahrersitz gesetzt hatten, betätigte Stan einige Schalter und Heben und das Automobil erwachte wie von selbst zum Leben.
 

Ich staunte nicht schlecht, dass das lästige und zum Teil auch gefährliche Kurbeln hier entfiel. Vor allem staunte ich aber, wie zuverlässig der Wagen ansprang. Nun teilte ich Jeffreys Begeisterung doch, auch wenn mich die technischen Details weniger interessierten. Allein die Tatsache, dass so etwas möglich war, reichte aus – da brauchte ich mich nicht tiefer damit auseinanderzusetzen.
 

So geschah es, dass ich doch für gute 20 Minuten von meinem Groll abgelenkt war. Zum einen, weil es unglaublich spannend war und zum anderen war das Automobil trotz aller technischen Raffinesse ziemlich laut und die Fahrt holprig. Jedoch um Längen komfortabler als mit einer Kutsche, deren Achsen kaum gefedert waren.
 

Die ersten fünf Minuten hatte ich mich noch dagegen gewehrt, aber dann teilte ich Jeffreys Euphorie und warf ihm sogar einmal ein schwaches Lächeln zu. Dafür hätte ich mir zwar am liebsten auf die Zunge gebissen, aber ein kleiner Teil in mir wollte eigentlich gar nicht mehr sauer sein. Ich hatte mir so viel von diesen Wochen erhofft und das tat ich noch immer. Warum sollte ich es mir nun also wegen so eines seltsamen Vorfalls vermiesen?
 

Nein, mein Groll schwand merklich. Dennoch, ansprechen musste ich es, schwor ich mir. Als wir ankamen, war ich daher nicht mehr ganz der Vulkan, der kurz vor seinem Ausbruch stand. Sondern eher ein tiefer, stiller See, in den meine Fragen und Anschuldigungen versanken, bis ich nach ihnen tauchte oder in dem sie sich stapelten, bis das letzte Fleckchen Wasser verschwunden war. Wieder typisch! Ich entschied mich für Rückzug, anstatt den Angriff zu wählen. Genau das, was Jeffrey mir am Anfang unserer Beziehung vorgeworfen hatte. Wieder typisch!, konnte ich genau seine Stimme hören, die diese Worte in meinem Kopf sprach.
 

„Kommst du rein oder brauchst du noch eine Minute frische Luft?“, riss mich Jeffreys Stimme – die ich mir nun nicht zusammensponn – aus meinen Gedanken. Ich blinzelte und fand mich selbst vor dem Café stehend wieder, während Stan bereits meinen und Jeffreys Koffer hereingetragen hatte. Stumm nickte ich und fühlte den Ärger doch wieder etwas in mir aufflammen, auch, wenn ich mir jetzt nicht mehr sicher war, gegen wen er sich richtete. Aber die gemütliche Atmosphäre, die immer im Café herrschte, vertrieb meine schlechten Gefühle schnell und ersetzte sie mit einer aufregenden Neugier, weil ich nun zum ersten Mal auch die privaten Räume sehen würde, die Stan, Sally und auch des Öfteren Jeffrey bewohnten. Damit kannte ich nicht nur Jeffreys besonderen Rückzugsort, sondern auch den Platz, an dem seine Familie lebte. An dem sie alles teilten: Freude, Leid und vor allem Geborgenheit.
 

Nachdem Stan die Tür des Cafés hinter mir wieder sorgsam verschlossen hatte, lief er mit unseren Koffern am Tresen vorbei und durchquerte einen schmalen Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Diese war aus einfachem Eichenholz gefertigt und bestand nicht aus Glas und verschnörkelten Eisenverzierungen, wie die Eingangstür des Ladenlokals. Dahinter befand sich nur ein winziger Vorraum, der gerade der Tür Platz ließ, um sie nach innen öffnen zu können und danach folgte eine steile Holztreppe, die hinauf ins obere Stockwerk führte.
 

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Sally uns nicht folgte. Sie hatte sich bereits geschäftig ihre Schürze umgebunden und polierte die ohnehin sauberen Tische auf Hochglanz. Ich bestaunte, wie sie sich dabei ins Zeug legte und routiniert von einer Arbeit zur nächsten lief. Was mir aber vor allem auffiel war, dass sie darin vollkommen aufzugehen schien. Nach alldem, was ich nun über sie wusste, sah ich ihren Einsatz nun noch einmal aus ganz anderen Augen.
 

Unsere Blicke trafen sich und sie strahlte mich mit einem solchen Lächeln an, dass ich meine Sorgen und die Wut für einige Sekunden vergaß. Bis sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand nach oben deutete und mir bewusstwurde, dass ich der Einzige war, der noch am Fuße der Treppe stand. Hastig folgte ich Jeffrey und Stan. Zwar konnte ihre Wohnung nicht unendlich groß sein, dass ich mich darin verlaufen würde, aber mir war es dann schon unangenehm, allein durch mir unbekannte Zimmer zu laufen.
 

Zum Glück waren sie in der Zeit, die ich mit Träumen vergeudet hatte, nicht sehr weit gekommen, sondern erwarteten mich im oberen Flur. Die erste Zimmertür auf der rechten Seite stand offen. Darin erkannte ich ein großes Bett, sowie einen kleinen Tisch und eine Kommode, auf der eine Schale und eine Karaffe standen. Außerdem befanden sich sowohl meiner, als auch Jeffreys Koffer darin. Damit hatte sich meine Frage, wo ich in Stans Wohnung wohl schlafen würde, geklärt und natürlich konnte Stans Wohnung nicht endlos Zimmer haben.
 

„Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich, wenn ihr in einem Bett schlaft?“, kommentierte Stan meinen neugierigen Blick in das Zimmer. „Es ist ja groß genug. Und wenn ich Jeffrey und Sally in ein Zimmer stecke, überlebt das keiner. Außerdem dachte ich, das sei in eurem Sinne.“ Er bedachte mich dabei mit einem sonderbaren Lächeln, sodass ich es nicht länger schaffte, seinem Blick standzuhalten und lieber auf den Boden starrte. Was hatte er damit gemeint 'In unserem Sinne'? Ahnte er etwas oder hatte Jeffrey es ihm gar erzählt? Wenn ja, waren wir sicher? Aber wenn er es wusste, hätte er uns sicher niemals zusammen in ein Zimmer gelassen. Geschweige denn, mich bei ihm aufgenommen.
 

„Ich zeige dir noch den Rest der Wohnung, aber dann muss ich runter in das Café und Sally helfen. Ihr könnt euch dann etwas ausruhen oder auf ein Stück Kuchen runterkommen. Wie ihr möchtet.“
 

Das Café musste wirklich einen guten Gewinn abwerfen. Denn Stans Wohnung war, wie das Ladenlokal im unteren Stockwerk, äußerst komfortabel. Man konnte sogar sagen, dass sie luxuriös, aber gleichzeitig auch nicht übertrieben war. Eben auf Stans Art: funktional und geschmackvoll.
 

Es folgten zwei Zimmer auf der gleichen Seite wie Jeffreys, die wir unbeachtet ließen und bei denen es sich um die Privaträume von Sally und Stan handeln musste.
 

An der gegenüberliegenden Stirnseite des Flurs führte eine Tür in einen großzügigen Salon, der von einem riesigen Erkerfenster eingerahmt war. Gemütliche Sitzbänke, Vorhänge, sowie zahlreiche Bücherregale und ein Kamin, der an kalten Tagen die Sitzgruppe in einen warmen Schein hüllte, machten das gesamte Bild behaglich. Ich fühlte mich sofort Zuhause und hätte mich am liebsten in einen der Sessel fallen lassen, um die Füße hochzulegen. Aber natürlich wollte ich nicht unhöflich sein und der Rest der Wohnung interessierte mich auch. Und es gab tatsächlich noch viel zu entdecken.
 

An das Wohnzimmer folgte ein offener Essbereich, über den eine weitere Tür wieder in den Flur führte, von wo aus man noch in Küche und Badezimmer gelangte. Besonders das Badezimmer hatte es mir angetan, sodass mein Staunen kaum zu übersehen war. Die sanitären Einrichtungen gehörten zu dem modernsten, was der derzeitige Markt anzubieten hatte und es gab sogar eine Dusch-Wannenkombination mit dazugehörigem Ofen, der für die richtige Badetemperatur sorgte. Wenn man einmal bedachte, dass so ein Badezimmer nicht für jeden Haushalt eine Selbstverständlichkeit war und die meisten Leute öffentliche Duschhäuser nutzen mussten, war das absolut beeindruckend. Dazu kam, dass ich mich kaum noch erinnern konnte, wann ich zum letzten Mal ein richtiges Wannenbad genommen hatte.
 

„Wahnsinn“, entfuhr es mir, während mein Blick unstet durch den hellen Raum wanderte und ich überhörte, wie Stan sich verabschiedete. Selbst die Tür, die kurz danach geschlossen wurde, nahm ich nur am Rande wahr.
 

„Und?“, hörte ich Jeffreys Stimme und vor allem spürte ich seinen Atem im Nacken, dass sich mir die feinen Härchen dort aufstellten. „Willst du es ausprobieren?“
 

Mein erster Instinkt war, mich gegen ihn zu lehnen und die Hände, die sich nun kreisend an meinem oberen Rücken bewegten, zu genießen. Jedoch kam mir auch schnell wieder in den Sinn, dass ich eigentlich noch sauer auf ihn war und ihn wegen seines Verhaltens zur Rede stellen wollte. Daher verspannte ich mich recht schnell und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Jeffreys Hände griffen nun etwas fester zu und wenige Sekunden später hörte ich ihn seufzen.
 

„Du bist wirklich ziemlich verspannt. Glaub mir: So ein heißes Bad könnte dir helfen.“
 

Entgegen meiner eigentlichen Meinung, zuckte ich nur mit den Schultern. Ich hatte nicht vor, ihm in die Karten zu spielen, indem ich zugab, dass ich nichts lieber tun würde. Allein die Vorstellung, wie mein angespannter Körper in das warme Wasser sinken würde, hinterließ ein wohliges Gefühl in mir. Aber ich war definitiv noch sauer, auch wenn mich die Führung durch die Wohnung für einige Minuten davon abgelenkt hatte. Grummelnd riss ich mich von ihm und meinen aufkommenden Gefühlen, die mich hätten einknicken lassen, los.
 

Außerdem war mir auch nicht ganz wohl dabei. Ich war gerade ein paar Minuten hier und wollte nicht direkt das Badezimmer belegen und Unmengen an Litern von heißem Wasser verbrauchen. Das kam mir einfach falsch vor.
 

Wie ich feststellte, hatte Jeffrey damit jedoch kein Problem. Als ich mich schließlich doch zu ihm umdrehte, erkannte ich, dass er sich bereits von Krawatte und Hemd befreit hatte und mit nacktem Oberkörper vor mir stand. Ich schluckte schwer, da sein Anblick mich äußerst nervös machte und die Mauer aus Unmut um mich herum etwas zu bröckeln begann.
 

Woher wusste er nur so genau, was er machen musste, damit ich tat, was er wollte?
 

„Geht das denn auch in Ordnung?“, fragte ich zögernd und hatte noch immer Bedenken, dass wir uns so Stans Unmut zuziehen würden.
 

„Ja, warum denn nicht?“, beschwichtigte Jeffrey mich. „Immerhin wohne ich auch hier, trotz dessen, dass ich die meiste Zeit im Internat bin.“
 

„Hmm.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, aber es war nur ein Versuch, die schon eher halbherzige Gegenwehr aufrechtzuerhalten. In Gedanken hatte ich mich bereits ausgezogen und war mit einem Satz in die Wanne gesprungen. Aber das musste Jeffrey ja nicht wissen. „Aber was soll dein Onkel denken, wenn er bemerkt, dass wir beide stundenlang zusammen im Badezimmer verschwunden sind? Oder schlimmer: Jemand kommt herein?“
 

Diesmal war er es, der mit den Schultern zuckte.
 

„Na, wir können doch abschließen und Stan und Sally haben gut im Café zu tun. Jetzt komm, stell dich nicht so an! Oder bist du wasserscheu?“
 

Ich schluckte meine bissige Antwort herunter und schüttelte langsam den Kopf, nur, um dann direkt zu nicken.
 

„Du bist wasserscheu?!“, entfuhr es Jeffrey mit überschnappender Stimme. „Haben wir die Glückskuchen vertauscht? Jetzt ergibt das alles Sinn!“
 

„Nein, du Idiot! Ich meinte: Ja, lass uns baden. Und jetzt mach, bevor ich mir es anders überlege“, maulte ich ihn an und kämpfte darum, meine Fassung wiederzuerlangen. Da war er wieder, der Jeffrey, der alles ins Lächerliche zog und nicht ernst bleiben konnte. Es gab Situationen, wie diese, an denen mir das wirklich auf die Nerven ging. Aber gleichzeitig brachte er mir dadurch ein Lachen auf die Lippen.
 

Geschickt entfachte Jeffrey das Feuer im Ofen, wodurch die verschnörkelte Badewanne auf den kunstvollen Löwenfüßen bald mit dampfendem, warmen Wasser gefüllt war. Dabei erfüllte der zugefügte Lavendelzusatz die Luft mit einem angenehm beruhigenden Duft.
 

Ich seufzte. Zum einen, weil der Geruch begann, mich einzulullen und zum anderen, weil ich nicht wusste, wie ich noch die Kraft aufbringen sollte, wütend zu sein. Ich konnte mir in diesem Moment durchaus vorstellen, dass Jeffrey das so geplant hatte. Er hatte gemerkt, wie sauer ich war und mir direkt den Wind aus den Segeln genommen. Dieser …
 

Wieder einmal war ich tief in meine Gedanken versunken, aus denen mich erst das Quieken des Wasserhahns und dann das Klicken des Türschlosses holten. Damit war klar: Ich war gefangen und es gab kein Zurück mehr.
 

Schwer schluckend beobachtete ich, wie Jeffrey schließlich auch Hose, Socken und Unterhose fallen ließ und nackt durch das Zimmer lief, als sei das das Natürlichste der Welt. Sein schwungvoller Gang brachte dabei seine untere Region dermaßen ins Schwingen, dass ich nicht anders konnte, als genau hinzusehen. Was er natürlich mit einem Grinsen quittierte und sich noch einmal extra streckte, bevor er in die Wanne stieg. Es platschte nur so, als er sich fallen ließ und ich machte mir ernsthafte Sorgen um den schönen Holzfußboden. Die ganze Einrichtung hier war sicher nicht billig gewesen und Jeffrey benahm sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Missbilligend zog ich eine Augenbraue hoch und erinnerte mich, wovon mich nun auch die nackte Haut ablenken wollte. Ich war immer noch sauer auf ihn.
 

„Was ist nun?“, murrte Jeffrey, als er nach seinem kurzen Tauchgang über den Rand der Badewanne lugte. „Willst du dich nicht ausziehen oder badet man in Indien in voller Montur?“
 

Ein abwertendes Geräusch kam über meine Lippen, während ich seine Augen mit meinem Blick fixierte und den Knoten meiner Krawatte löste. Ich tat es extra langsam und verfuhr so auch mit dem Rest meiner Kleidung. Sollte Jeffrey doch warten, wenn er meinte, heute so ein Idiot sein zu müssen!
 

Dummerweise bekam ich nach kurzer Zeit jedoch das Gefühl, dass ihm das auch noch gefiel und brummte genervt. Und wenn ich es genau betrachtete, schadete ich hier nur mir selbst. Wenn ich mich in Zeitlupe auszog, war das Wasser möglicherweise kalt, wenn ich es in die Wanne geschafft hatte. Also ließ ich den Rest genauso ungeduldig fallen, wie Jeffrey zuvor und stieg zu ihm, bevor er weitere blöde Kommentare abgeben konnte.
 

Jedoch verzog ich mich an das andere Ende und legte mich nicht, wie er es mir andeutete, zwischen seine geöffneten Beine. Zwar wäre es bequemer gewesen, mich an seinem Oberkörper anzulehnen, aber ich wollte ihm diese Nähe nicht gönnen. Nicht jetzt, wo es etwas zu klären gab.
 

Auch wenn ich mit meinen Beinen, die ich nahe an meinen Körper gezogen und umklammert hielt, nicht so aussah, genoss ich wirklich die Wärme des Wassers und verspürte fast schon so etwas wie Schuldgefühle, dass ich meinen Groll nicht vergessen konnte. Aus funkensprühenden Augen blickte ich zu Jeffrey herüber, der mich ratlos ansah und immer noch stolz sein bestes Stück präsentierte.
 

„Also gut. Jetzt raus damit: Was ist eigentlich los? Ich dachte, du würdest dich auf diese Wochen freuen und nun ziehst du die ganze Zeit ein Gesicht, als würden wir dich dazu zwingen!“, brach es urplötzlich aus ihm heraus und das Wasser schwappte nun tatsächlich aus der Wanne, als er sich mit einem Ruck aufsetzte.
 

„Das fragst du noch?!“
 

Meine Stimme war ein dunkles Zischen und ich zog die Beine noch enger an den Körper, da mir plötzlich eisig kalt war. Stur erwiderte ich Jeffreys Starren, der mir ebenso patzig entgegenblickte.
 

„Ja! Das frage ich dich! Ach, weißt du was: Sag nichts! Ich weiß es schon. Das ist dir hier nicht Carlton genug! Tut mir leid, dass du dich hier mit so wenig zufriedengeben musst!“
 

Mit offenem Mund starrte ich ihn an und versuchte noch, zu realisieren, ob ich das eben wirklich gehört hatte. Vielleicht war ich auch beim Einsteigen in die Wanne gestürzt und lag bewusstlos im Wasser. Jedoch fühlte sich der Schwamm, der gerade in meine Richtung trieb, sehr echt unter meinen Fingern an. Ohne zu zögern hatte ich danach gegriffen und warf den schweren, mit Wasser vollgesogenen Schwamm in Jeffreys Richtung, dass es nur so platschte.
 

„Bist du eigentlich vollkommen bescheuert?!“, rief ich so wütend wie noch nie. „Als ob es mir darum ginge! Nur zu deiner Information: Selbst, wenn mich die Queen einladen würde, wäre ich lieber bei dir! Aber du arbeitest gerade gut daran, das kaputt zu machen!“
 

Ich hätte noch mehr rausgeschrien, aber das nasse Ding prallte nun haltlos in mein Gesicht und ließ mich blinzelnd das Wasser aus den Augen wischen.
 

„Und warum schweigst du dann die ganze Zeit so verbissen, seit mein Onkel gesagt hat, dass du da nicht hin kannst? Ich hab doch gesehen, wie sehr dich das gereizt hat!“
 

„Natürlich war das reizvoll! Aber das ändert nichts daran, dass ich lieber bei dir bin!“, keifte ich zurück und ließ eine Welle durch die Wanne gehen, sodass Jeffrey im nächsten Moment genauso mit klatschnassen Haaren dasaß, wie ich. „Es geht hier auch gar nicht um irgendein blödes Hotel! Ich bin sauer, dass du so mies zu Pauls Vater warst!“
 

Ich erwartete, dass wir nun im Wechsel so weiter schreien würden und das Jeffrey nun an der Reihe war. Daher irritierte mich sein Blick, der urplötzlich weicher wurde, vollends.
 

„Es ist dir gar nicht aufgefallen, oder?“
 

„Aufgefallen? Was meinst du?“, gab ich verwirrt zurück.
 

„Wie er dich immer ansieht.“
 

Wie er mich immer ansah?, wiederholte ich in Gedanken. Wie sollte er mich schon ansehen? Kapitän Winterfeld war ein freundlicher und zuvorkommender Mann. Außerdem ein Vater, der stets nur das Beste für sein Kind wollte und dabei in den meisten Fällen absolut fair war. Was an ihm sollte schlecht sein?
 

Womöglich war Jeffrey doch eifersüchtig, kam es mir in den Sinn. Dachte er etwas, dass Pauls Vater etwas von mir wollte? „Wie er mich ansah“, wiederholte ich im Stillen erneut. Nein, mir war absolut nichts Besonderes daran aufgefallen.
 

Ich schwieg und überlegte einige Minuten lang, in denen Jeffrey mich vollkommen geduldig musterte. Schließlich schüttelte ich den Kopf, was ihn zu einem schweren Seufzen verleitete. Die Spannung, die noch vor kurzer Zeit in der Luft lag, war vollkommen verschwunden, daher machte es mir nichts aus, als Jeffrey näher zu mir rutschte und meine Hände in seine nahm.
 

„Manchmal, wenn er glaubt, dass keiner es sieht, hat er diesen Blick. Ich kenne ich von Geschäftspartnern meines Vaters, die den großen Gewinn wittern und alles dafür tun würden, um den großen Deal abzuschließen.“
 

„Aber das ist doch ...“, begann ich, wurde jedoch sofort wieder von Jeffrey unterbrochen.
 

„Lass mich ausreden. Ich weiß nicht was es ist, was er von dir will, aber da ist etwas, Mike. Irgendetwas stimmt hier nicht und ich glaube, dass du in Gefahr bist. Und du hast gesehen wie mein Onkel reagiert hat. Er hat es auch gesehen!“
 

Geschockt blickte ich ihm entgegen und ich glaube, dass ich minutenlang sogar nicht geblinzelt hatte. Dann brach das Lachen plötzlich so heftig aus mir heraus, dass es nun Jeffrey war, der mich perplex musterte. Fast wäre ich wirklich auf Jeffreys kleine Geschichte hereingefallen und er hatte wirklich gut gespielt. Ich war so auf ihn hereingefallen, dass ich absolut sauer über sein Verhalten gewesen war. Nun war ich mir aber sicher, dass dies nichts anderes als ein Streich, wie damals im Westflügel, sein konnte.
 

„Tut mir leid, dass ich so darauf angesprungen bin und wir uns sogar gestritten haben“, entschuldigte ich mich bei ihm und schlang die Arme um seinen Hals. Meine Wut war nun endgültig weg und machte einem erleichterten Gefühl Platz. Endlich freute ich mich wieder, die zwei Wochen bei ihm zu sein und ihm dabei um einiges näher zu kommen.
 

„Nein, ich meine das e...“
 

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern kam auf seinem Schoß zum Sitzen und verschloss seinen Mund mit meinen Lippen. Nach einem kurzen Moment der Überraschung fiel er schließlich mit in den Kuss ein und ich vergaß seinen dummen Scherz recht schnell wieder.

"Kali"

Erschöpft, aber um einiges entspannter, lagen wir, in unsere Handtücher eingewickelt, auf Jeffreys Bett. Wir hatten es wohl mit der Wassertemperatur etwas übertrieben und als unser Streit dann vergessen war, konnten wir auch nicht wirklich die Finger vom jeweils anderen lassen. Mittlerweile kam es mir sogar wie ein böser Traum vor, dass wir uns gestritten hatten und ich musste etwas darüber schmunzeln. Wieder ein erstes Mal, auch wenn es keines der angenehmen Art war.
 

Als das Rauschen des Blutes in meinen Ohren wieder etwas leiser wurde, drehte ich mich zu Jeffrey herum, der mir ein warmes Lächeln entgegenbrachte. Ich konnte nicht mehr, als ihn stumm anzuschauen. So als würde ich ihn gerade zum ersten Mal sehen und ihn gleich für ein Fahndungsfoto beschreiben müssen. Das Grünblau seiner Augen funkelte mich verschmitzt an und ich konnte mir vorstellen, dass er dahinter schon an neuen Streichen und Witzen arbeitete. So sehr ich mich darüber auch ärgern konnte, fragte ich mich dennoch, auf was für dumme Ideen mein Idiot noch kommen konnte. Davon, dass diese Einfälle nicht immer die Klügsten waren, zeugte eine kleine Narbe, die seine linke Augenbraue unterbrach. Man sah es wirklich nur, wenn man genau hinschaute, aber hatte man sie einmal entdeckt, ließ sie ihn noch schelmischer wirken. Langsam streckte ich meine Hand aus und fuhr mit den Fingerspitzen darüber, bis ich ein leises Kichern von Jeffrey vernahm.
 

„Was ist so lustig?“, fragte ich mit einem amüsierten Glitzern in den Augen. Mit einer Mischung zwischen peinlich berührt sein und den Schelm im Nacken habend, ließ er seinen Blick durch den Raum gleiten und kehrte schließlich zu mir zurück.
 

„Ich musste an meinen Vater denken.“
 

„Du denkst an deinen Vater, wenn du mich ansiehst?“, brachte ich hervor und stütze mich auf dem Ellenbogen auf. Dabei begannen meine Finger, wie von selbst mit der Kette des Amulettes um meinen Hals zu spielen. Jeffrey zuckte mit den Schultern, während ich ihn anblickte, als hätte er den Verstand verloren.
 

„Ja, mir ist einfach gerade wieder diese Ironie bewusst geworden. Weißt du, mein Vater dachte, ein Jungeninternat würde mir zeigen, wie man sich als Mann verhält und dass ich hier lernen würde, abstinent zu leben, bis ich ehrenvoll verheiratet wäre.“ Lachend wälzte Jeffrey sich wieder auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter den Kopf. „Seine größte Angst war ja, dass ich bis 20 schon zehn Bastarde gezeugt hätte, die alle finanziell versorgt werden müssten und dem Ruf der Familie schaden würden. Dabei weiß er absolut nichts über mich. Es wundert mich schon, dass er noch weiß, wie ich aussehe.“
 

Sorgenvoll musterte ich sein Gesicht und beschloss, zu schweigen, bis er von sich aus weiterreden würde. Ich wusste nicht, warum er mir dies jetzt alles erzählte, aber ich spürte, dass da eine Menge aufgestaute Gefühle dahintersteckten und war froh, dass er diese nun mit mir teilen wollte. Außerdem hoffte ich, dass es ihm dann besser gehen würde. Fest umschloss ich mein Amulett mit meiner Hand, bis sich das Metall angenehm warm in meiner Hand anfühlte.
 

„Wahrscheinlich dachte er, er würde mich damit bestrafen und lange dachte ich das auch. Aber mir ist bewusst geworden, dass er mich in den Himmel geschickt hat.“ Ich hob eine Augenbraue und Jeffrey fing an, zu lachen. „Du musst doch zugeben, dass Andara-House das Paradies ist, in dem man jedem Arsch hinterhergucken kann.“
 

Beleidigt – obwohl ich es nicht wirklich war – verzog ich die Lippen. „Du guckst also jedem Arsch hinterher?“ Ich musste mich absolut zusammenreißen, nicht laut herauszulachen, als ich mich mit einem Ruck herumdrehte und aufstehen wollte. „Dann kannst du gleich diesem hinterhersehen!“
 

Jeffrey war jedoch schneller und riss mich mit einer raschen Bewegung wieder auf das Bett zurück. „Warte!“, sagte er und konnte ein Kichern nicht unterdrücken, aber auch meine Augen sprühten nur so vor Belustigung. „Diesen Arsch will ich nicht mehr hergeben. Ich liebe dich.“
 

Die gelöste Stimmung zwischen uns war mit einem Schlag verschwunden und ich blickte ihm erstaunt entgegen, während mein Herz hart gegen meine Brust klopfte. Noch nie hatte das jemand zu mir gesagt und obwohl ich auch so fühlte, war ich nicht darauf gefasst gewesen, diese Worte nun zu hören.
 

„M...meinst du das ernst?“, stotterte ich perplex und war mir sicher, dass ich mich wie der letzte Idiot anhörte.
 

Er nickte und auf seinen Lippen machte sich ein großspuriges Lächeln breit. Kurz meinte ich, sogar ein feuchtes Glitzern in seinen Augen zu sehen, das jedoch wieder verschwand, bevor ich mir ganz sicher war. „Nun ja, ich war mir bis eben nicht sicher, aber dann hab ich dein Hinterteil gesehen“, lachte Jeffrey, worauf er sich eine von mir fing. Lachend fing er meine Hand ab und küsste mich. Dabei spürte ich seine Hand langsam über meine Brust streicheln, wobei sie über das kalte Metall der Kette fuhr.
 

„Sag mal“, begann Jeffrey, als er sich fast widerwillig von mir löste. „Was hat es eigentlich damit auf sich?“ Fragend hielt er das Amulett vor meine Nase und runzelte die Stirn. „Du trägst es immer und legst es fast nie ab, obwohl es … Entschuldige, falls dich das verletzt. Es sieht wirklich gruselig aus.“
 

Er legte das Amulett wieder auf meiner Brust ab und bedachte es mit einem Blick, als würde es ihm die Seele rauben, wenn er es nur eine Sekunde länger in der Hand gehabt hätte.
 

„Das ist Kali“, erklärte ich mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht. „Die Göttin des Todes und der Zerstörung.“
 

Dank meiner Erklärung entgleisten Jeffreys Gesichtszüge noch mehr. „Des Todes und der Zerstörung?!“, echote er und wurde deutlich blass um die Nase. „W...warum trägst du das? Gehörst du irgendeinem dunklen Kult an? Wirst du mich dann in Lava opfern?!“
 

Wieder musste ich lachen und fuhr die Konturen des Amuletts nach, als ich mir die Darstellung Kalis – die ich blind hätte zeichnen können – ansah. Wenn man nicht wusste, um was es sich handelte, war sie tatsächlich erschreckend. Das schwache Relief zeigte eine furios tanzende Frauengestalt, die die Zunge herausstreckte und ihre Beine sowie sechs Arme wild vom Körper streckte. Abgerundet wurde dieses erschreckende Bild von Totenköpfen, die als Kette aufgereiht um ihren Hals hingen. Das Amulett war wirklich filigran und detailreich – und geizte nicht mit Übertreibungen.
 

„Wenn du dich nicht benimmst ...“ Gespielt geschockt rückte Jeffrey von mir weg, was mich erneut zum Lachen brachte. „Natürlich nicht! Außerdem ist sie nicht in erster Linie etwas Negatives. Sie steht für Erneuerung und die Befreiung von negativen Kräften und Illusionen.“
 

„Hm“, machte Jeffrey, der mein Amulett nun doch etwas genauer unter die Lupe nahm. „Ich dachte, du interessierst dich nicht so für diesen ganzen Götterkram?“
 

Tatsächlich tat ich das wirklich nicht, auch wenn mir die Bedeutung Kalis einen gewissen Wehmut einbrachte. Mehr als einmal hoffte ich, dass sie meine Verwirrung, die das Leben mir oft einbrachte, auflösen konnte.
 

„Das tue ich auch nicht, aber ich habe es von meinem Vater bekommen. Es ist das einzige Persönliche, was ich von ihm habe. Daher ist es mir sehr wichtig.“
 

Ich zuckte mit den Schultern. Zum einen, weil ich nicht mehr wusste, was ich dazu noch sagen sollte und zum anderen, da ich den Kloß in meinem Hals wachsen fühlte, wenn ich daran dachte, diesen Mann nie kennenlernen zu können.
 

„Lass uns was anziehen!“, unterbrach Jeffrey unser Gespräch schwungvoll, stand auf und suchte sich passende Kleidung heraus. „Vielleicht nehmen wir Onkel Stans Angebot an und sehen, was das Café heute so hergibt.“
 

Dankbar lächelte ich. Obwohl Jeffrey allgemein als Vielfraß galt, wusste ich, dass sein Vorschlag, ins Café zu gehen, nicht von ungefähr kam. Es war ein geschickter – und erfolgreicher – Versuch, mich auf andere Gedanken zu bringen. Außerdem roch es hier überall so lecker nach Gebäck, dass mein Magen schon zu knurren anfing.
 


 

Das Café war so voll wie noch nie und wir waren froh, zumindest noch einen Platz am Verkaufstresen zu erhaschen. Es herrschte ein reger Geräuschpegel, der trotz allem nicht unangenehm war und mir nach dem Stress des Vormittags sogar angenehm meine Gedanken zerstreute.
 

„Ah, ihr habt euch also doch entschieden, uns noch etwas Gesellschaft zu leisten“, zwinkerte Jeffreys Onkel uns fröhlich zu. Bei all dem Trubel hätte ich gedacht, dass er zumindest etwas gestresst war, aber er schien vollkommen in seinem Element zu sein. Immer wieder nahm er lächelnd Bestellungen an und bereitete Tabletts mit Getränken und Gebäckstücken vor, die Sally dann fleißig zu den jeweiligen Tischen brachte. Auch Sally schien sich voll in ihrer Welt zu befinden, während sie betriebsam von Kunde zu Kunde huschte.
 

„Ihr scheint ja doch bester Laune zu sein“, sagte Stan in einem erleichterten Ton, während er zwei Tassen köstlichen Kakaos vorbereitete. „Ich hatte mir etwas Sorgen gemacht. Immerhin war die Stimmung vorhin so gedrückt und dann wart ihr da oben ziemlich laut.“
 

Erschrocken blickte ich auf, sah dann jedoch sofort wieder peinlich berührt auf meine Hände hinab. „Es … tut mir leid“, stotterte ich und hoffte, dass keiner mitbekommen hatte, weshalb Jeffrey und ich uns gestritten hatten. „Ich hoffe, es hat Ihnen keine Unannehmlichkeiten gemacht.“ In meinem Kopf formierte sich die Vorstellung, wie das gesamte Café unser Streitgespräch mit angehört hatte und in meiner Fantasie war es gar nicht abwegig, dass sie auch wussten, wo wir dabei gewesen waren – in der Badewanne. Schnell nahm ich mir die Speisekarte und vertiefte mich darin, bevor noch jemand sehen würde, dass ich knallrot anlief. Meine Ferien begannen wirklich mit Pleiten, Pech und Pannen vom Feinsten.
 

„Ach, das war nichts weiter. Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit, die wir aber schnell aus der Welt schaffen konnten“, erklärte Jeffrey, wodurch Stan nicht weiter nachfragte und im nächsten Moment hatte er dann auch schon wieder Bestellungen, die er bearbeiten musste. Ich war darüber nicht traurig und es kam mir sogar gelegen. „Hier ist ganz schön was los“, kommentierte Jeffrey das Geschehen und ich hätte ihn in diesem Moment küssen können. Lenkte er doch nun noch weiter vom Thema ab. So langsam bewunderte ich seine Fähigkeit, im richtigen Augenblick zu wissen, was ich brauchte.
 

„Ja! Sie kommen alle wegen den Glückskuchen.“ Stan grinste schief und verkaufte, wie zum Beweis, direkt zwei von den besagten Küchlein. „Ich weiß nur nicht, wie lange das noch so gehen kann. Wollt ihr … auch einen?“
 

Mit gerunzelter Stirn musterte ich ihn und fragte mich, warum er uns das so zögerlich anbot. Er wirkte nicht sehr glücklich darüber, dass sich seine Erfindung so gut verkaufte.
 

„Also … ähm … Ich weiß nicht.“ Nach allem, was nach dem Genuss und der versteckten Botschaft in den Kuchen passiert war, war ich mir nicht ganz sicher, ob ich einen haben wollte. „Du hast doch gesagt, sie verkaufen sich gut. Warum sollte es dann nicht mehr lange so gehen?“, fragte ich schließlich. Wieder huschte ein schräges Lächeln über Stans Lippen und dann beugte er sich verschwörerisch zu mir über den Tresen.
 

„Bei euch beiden dachte ich ja, es sei Zufall, aber alles, was in den Kuchen steht, passiert wirklich.“ Stan hatte es geflüstert und zunächst dachte ich, er würde, wie es sonst Jeffreys Art war, einen Scherz machen. Jedoch blieb sein Gesicht vollkommen ernst und ich schloss meine erste Vermutung nach wenigen Minuten aus. Dennoch konnte ich die ganze Geschichte nicht wirklich glauben. Außerdem, bei Jeffrey hatte es gepasst, aber Stan konnte ja gar nicht wissen, was auf meinem Zettel gestanden hatte. Obwohl es da auch hingehauen hatte.
 

Aber dass nun jede Kuchenbotschaft in Erfüllung gehen sollte?
 

„Seit ich die ersten Kuchen verkauft habe, kommen die Leute und berichten von ihren Erlebnissen und dass sie zu ihren Botschaften passten. Ich meine, das ist doch verrückt! Vielleicht sollte ich besser damit aufhören, bevor sie kommen und mich verbrennen, wie einen Hexer.“
 

„Hm“, machte ich langgezogen. „Aber sie scheinen doch alle zufrieden zu sein. Sonst würden sie doch nicht noch mehr kaufen wollen, oder?“ Nach wie vor glaubte ich nicht an Hexerei, Geister oder dergleichen und Stan hatte sich doch gewünscht, dass seine Erfindung ein Erfolg werden würde. Daher war meiner Ansicht nach alles gut und Jeffrey stimmte mir schnell zu, als ich Stan meine Gedanken erläuterte.
 

„Ja, vielleicht hast du ja Recht. Naja, jedenfalls warte ich jetzt auf die Lieferung. Sonst kann ich den Laden gleich zumachen, weil ich ausverkauft bin. Ah! Da ist er ja!“
 

Die Türglocke klingelte und ich drehte mich neugierig herum. Tatsächlich hatte ein kleiner Lieferwagen vor dem Café Halt gemacht und ein Mann war dabei, einige Säcke und Kisten abzuladen. Wie die Aufschriften verrieten, handelte es sich dabei um Mehl, Butter, Eier und was man sonst noch so zum Backen brauchte.
 

„Hey da!“, rief der Mann aus, als er auf Stan zukam und ihn offen angrinste. „Dein Geschäft läuft ja jedes Mal besser, wenn ich hier aufkreuze. Wie machst du das?“
 

Stan zuckte mit den Achseln und lief ihm entgegen, um kräftig mit anzupacken und ich beschloss, ihm zu helfen, da es echt unglaublich viel zum Abladen gab. Dankbar lächelte er mir zu und auch Jeffrey hatte sich nun aufgerafft und packte tüchtig mit an. So schafften wir es unter Stans Anleitung in nur 20 Minuten, alle Kisten und Säcke geordnet in seiner Vorratskammer zu verstauen. Was Stan die nötige Luft gab, um im Verkaufsraum weiterhin die Kunden zu bedienen und Sally nicht alles alleine zu überlassen.
 

„Gute Arbeit, Jungs“, lobte er uns und schob uns zwei Gläser Limonade zu, die wir durstig hinabschütteten, während er noch einige Lieferscheine ausfüllte. Ich weiß nicht, warum ich ihn dabei so beobachtete, wo doch nichts Besonderes daran war. Dennoch konnte ich nicht die Augen von ihm nehmen. Genaugenommen von dem Zettel, den er beschrieb. Etwas daran kam mir bekannt vor. Aber es war nicht das Papier an sich, sondern …
 

Seine Handschrift!
 

Ich konnte absolut nicht sagen, woher, aber mir kam diese Handschrift vertraut vor. Irritiert starrte ich ihn an, bis er ebenfalls aufblickte und mir direkt ins Gesicht sah.
 

„Ist alles in Ordnung? Du siehst irgendwie blass aus“, erkundigte er sich besorgt und schob mir dann noch ein Glas Limonade zu.
 

„N...nein, es ist nichts. Ich war nur in Gedanken und ...“
 

Wahrscheinlich hätte Stan sich noch einmal nach meinem Befinden erkundigt, wenn nicht in diesem Moment der Mann mit der Lieferung erneut auf ihn zugetreten wäre. Mit einigen Worten des Dankes überreichte Stan ihm den ausgefüllten und unterschriebenen Lieferschein sowie einige Geldscheine als Trinkgeld. Ich erwartete, dass dieser sich nun umdrehen und gehen würde. Stattdessen griff er in seine Jacke und holte einen kleinen Umschlag heraus, den er verstohlen zu Stan über den Tresen schob. Hätte ich die beiden nicht so im Auge gehabt, wäre es mir vermutlich gar nicht aufgefallen.
 

„Dieses Wochenende“, flüsterte der Mann ihm zu und ich tat so, als sei ich mit meiner Limonade beschäftigt. Die Worte waren sicher nicht für mich bestimmt, trotzdem widerstand ich nicht, zu lauschen. „Gib mir Bescheid, wie viele ihr seid und dann ist es wie immer.“
 

Stan nickt knapp – kaum merklich – und ließ den Umschlag in seiner Weste verschwinden. Dann, als wäre nichts gewesen, drehte der Mann sich um und verließ das Café. Möglichst unauffällig starrte ihm hinterher, aber ich konnte mir absolut keinen Reim darauf machen, was es mit dieser Heimlichtuerei auf sich hatte. Natürlich stand es außer Frage, dass ich mich einfach bei Stan darüber erkundigte. Immerhin hatte ich gelauscht und hätte dies wohl gar nicht mitbekommen sollen.
 

Ich konnte absolut nicht verhindern, dass meine Fantasie nun Purzelbäume schlug. In meinem Kopf gehörte Stan gleichzeitig einem okkulten Club und einem Geheimdienst an; und dann war er ein gefürchteter Schurke, der seinen neuesten Coop plante. Das war natürlich alles Quatsch und es gab sicher eine ganz einfache Erklärung, die mich aber eben nichts anging. Schlimm genug, dass ich bereits in seinen Angelegenheiten geschnüffelt hatte und ich konnte von Glück reden, dass er mich dabei nicht erwischt hatte. Mein Urlaub bei den Harris‘ begann wirklich turbulent und das alles an einem Tag. Das ließ jedoch für die kommenden Tage hoffen.
 

Leider aber hörten damit die Merkwürdigkeiten nicht auf, denn als Stan kurz den Verkaufsraum verließ, um etwas im Lager zu suchen, rannte Jeffrey ihm hinterher, als hätte ihn etwas gestochen. Ich hörte sie durch die nahe Tür eine Weile hitzig diskutieren, bis beide schließlich wieder herauskamen und aussahen, als hätten sie sich nur über das Wetter unterhalten.
 

„Ist alles in Ordnung?“, flüsterte ich Jeffrey zu und war froh, dass Stan gerade zu beschäftigt war, um etwas davon mitzubekommen. Ich erwartete, dass dieser das nun bejahen würde und ich mir die Geheimnistuerei nur eingebildet hatte, aber Jeffrey lehnte sich nun genauso verstohlen zu mir. Seine Stimme war nur ein raues Flüstern, das ich mit Mühe und Not verstand.
 

„Ich hab versucht, etwas für uns in die Wege zu leiten. Glaub mir, das wird dir gefallen und Stan hatte es mir eigentlich schon versprochen. Er ist sich nur unsicher, weil du jetzt hier bist. Aber das krieg ich hin.“
 

„Etwas in die Wege leiten?“, wiederholte ich verwirrt, doch Jeffrey hüllte sich nun in geheimnisvolles Schweigen.
 

„Ich erkläre es dir, wenn ich das mit meinem Onkel geklärt habe“, meinte er schließlich und überließ den Rest meiner Fantasie.

"In der Schusslinie"

Schläfrig streckte ich mich, als sanftes Sonnenlicht und leise Geräusche aus einem der Nebenräume mich weckten. Im ersten Moment war ich verwirrt und sogar etwas sauer darüber. Denn zu gerne hätte ich noch etwas geschlafen, bevor der eintönige Schulalltag mich einholte. Dann jedoch begriff ich, dass ich gar nicht im Internat war und außerdem Ferien hatte.
 

Das Bett war auch viel weicher und gemütlicher als das auf Andara-House. Mit großer Freude drehte ich mich noch einmal herum und kuschelte mich wohlig seufzend an den Körper, den ich auf der anderen Seite des Bettes fand. Schon bald wurde mein Geräusch des Wohlbehagens mit einem schläfrigen Brummen beantwortet und kräftige Arme schlangen sich um mich.
 

„Gut geschlafen?“, fragte Jeffrey, als er träge die Augen öffnete. Die Antwort war eindeutig ‚Ja‘, aber ich war noch nicht bereit, die wohlige Wärme des Bettes zu verspielen, indem ich eine verständliche Erwiderung von mir gab. Daher zog ich mir die Decke über den Kopf und drückte mich näher an Jeffrey. So schliefen wir beide tatsächlich noch einmal ein, bis der Duft von frisch gebackenem Brot und ein leises Klopfen an der Zimmertür uns erneute weckten.
 

„Frühstück ist fertig“, hörte ich Stan gedämpft durch die Tür rufen. „Von mir aus könnt ihr noch liegen bleiben, aber das Brot schmeckt am besten, wenn es noch warm ist.“
 

Diesmal war es Jeffrey, der nur ein Murren von sich gab. Wohin gegen ich schon halb aus dem Bett und auf dem Weg zur Kommode war, um mich kurz frisch zu machen und dann in meine Kleidung zu springen. Die Aussicht auf ein leckeres Frühstück, nach so erholsamem Schlaf, war mehr als verlockend. Nur Jeffrey schien der frische Duft nach Brot nicht zu locken. Vermutlich war er es so gewohnt, dass er gegen eine derartige Verlockung schon immun war. Mein Magen reagierte jedoch aufs Brutalste darauf: Nämlich mit einem solch lauten Knurren, dass Stan es auf der anderen Seite der Tür sicher auch hören konnte.
 

Und nun erfüllte auch noch ein anderer Duft die Luft. Ich schnupperte übertrieben und ein noch lauteres Knurren erfüllte unser Zimmer. Das war …
 

„Speck!“, rief Jeffrey aus und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Verwundert schaute ich ihm zu, wie er sich innerhalb von wenigen Minuten angezogen hatte und dann zur Tür herausstürmte. Wobei er Stan fast umgerannt hätte.
 


 

„Sagt mal: Bekommt ihr auf dem Internat nichts zu essen?“, fragte Stan, nachdem er uns einige Zeit schweigend zugesehen hatte, wie wir einen Teller nach dem anderen leerten. Stan und Sally waren schon lange mit dem Frühstück fertig und blickten mit großen Augen zu uns herüber. Auf den Lippen von Jeffreys Onkel zeichnete sich jedoch ein leichtes Lächeln der Belustigung ab.
 

Es war natürlich nicht so, dass wir auf dem Internat verhungerten. Jedoch war das Frühstück hier so auffallend lecker, dass ich einfach nicht aufhören konnte, zu essen. Allein das frisch gebackene Brot war schon unglaublich köstlich. Dazu gab es aber auch noch gebratenen Speck, Rühreier und die Butter war so lecker, wie ich es noch nie zuvor geschmeckt hatte. Ich nahm mir noch eine Scheibe des dick abgeschnittenen Brotes, bestrich sie reichlich mit Butter und gab anschließend noch eine gute Portion Ei darauf.
 

„Na klar gibt es da Essen, aber es schmeckt eben nicht so gut wie hier“, kommentierte Jeffrey, da ich schon wieder den Mund voll hatte und man so ja nicht sprach. Heftig nickend stimmte ich ihm zu. Zwar konnte ich gerade nicht reden, aber irgendeine Reaktion zum Sachverhalt wollte ich dann doch geben.
 

„Mike, wir sind hier unter uns“, sagte Stan mit einem fürsorglichen Ton in der Stimme und legte seine Hand kurz auf meine. Fragend hob ich eine Augenbraue, bevor ich mir eine weitere Gabel des leckeren Frühstücks in den Mund stopfte. „Du kannst ehrlich zu mir sein und mir sagen, dass Jeffrey dir im Internat die Haare vom Kopf frisst.“
 

„Hey!“, beschwerte sich Jeffrey, während ich damit beschäftigt war, das Lachen zu unterdrücken, an dem ich mich sicher verschluckt hätte. „Das ist echt gemein von dir!“
 

„Aber es ist doch die Wahrheit! Der arme Junge muss sicher jeden Tag zusehen, dass er schnell fertig isst, bevor du ihm den Teller wegziehst!“, meckerte Stan zurück. Ich kannte die beiden mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie ihre Streitereien nicht ernst meinten. Sonst wäre das schon ziemlich unangenehm für mich gewesen. So löste es aber absolute Heiterkeit bei mir aus und ich stimmte in das Lachen von Sally und Stan mit ein.
 

„Lachst du mich jetzt etwa auch aus?“, kam es beleidigt von Jeffrey und ich erntete einen halbherzigen Stoß in die Rippen.
 

„Tut mir leid“, brachte ich kichernd hervor, während ich mir den Bauch hielt und schon jetzt bereute, so viel gegessen zu haben.
 

„Haha! Das war jetzt auf meine Kosten sehr witzig! Wenn dann alle mit Lachen fertig sind, kannst du mir dann ja sagen, zu welcher Entscheidung du gekommen bist, Onkel.“
 

Die Stimmung schwang so plötzlich um, dass man meinen konnte, jederzeit Eiskristalle am Fenster zu sehen – im beginnenden Sommer.
 

Mit einem ernsten Gesichtsausdruck, den ich noch nie gesehen hatte, maß Stan Jeffrey. Wobei, ich hatte ihn schon so gesehen. Es war erst gestern gewesen, als ich das Gefühl hatte, Stan würde sich gleich mit Pauls Vater schlagen. Seine Lippen pressten sich fest aufeinander, sodass nur ein blutleerer Strich zu sehen war. Dann atmete er hörbar aus und wirkte bereits wieder viel ruhiger.
 

„Jeffrey“, begann er langsam und ich fand, dass es sich wie eine Warnung anhörte. „Ich habe dir gestern schon gesagt, dass ich darüber nachdenke und das ist nicht in einer Nacht getan. Also lässt du mich jetzt damit in Ruhe oder du kannst es direkt vergessen.“
 

Jeffrey antwortete nichts darauf. Ja, er murrte nicht einmal als Erwiderung, sondern blickte nur geschlagen auf seinen Teller. So, als hätte er da etwas sehr Interessantes gefunden. Verstohlen musterte ich Stan und musste gestehen, wie sehr mich die Autorität, die er ausstrahlte, in seinen Bann zog. Zumal er den aufmüpfigen Jeffrey mit einem Blick in seine Schranken weisen konnte und dabei trotzdem so sympathisch wirkte.
 

„Lasst uns lieber überlegen, was wir heute mit meinem freien Tag so anfangen. Habt ihr irgendwelche Ideen?“
 

„Freier Tag?“, echote Jeffrey, der sich nun doch von seiner Abfuhr erholt hatte. „Seit wann gibt’s bei dir einen freien Tag? Lässt du deine Angestellten“ – Er schielte dabei auf Sally – „nicht normalerweise schuften bis zum Umfallen?“
 

„Vielleicht solltest du mal schuften bis zum Umfallen, dann weißt du jedenfalls wovon du sprichst!“
 

Ich nippte an meinem Tee und ließ mich dabei etwas tiefer in den Stuhl sinken. Zwar war mir bewusst, dass die beiden es meist nicht ernst meinten, wenn sie sich ankeiften, aber dann die ganze Zeit dazwischen zu sitzen war doch irgendwie unangenehm. Kurz überlegte ich, ob Jeffrey mit mir wohl den Platz tauschen wollte. Dann brauchte er nicht permanent über mich hinweg schreien.
 

„Das Café läuft so gut, dass wir uns jetzt einen geschlossenen Tag pro Woche leisten können“, erklärte Sally an mich gewandt, während Stan und Jeffrey noch damit beschäftigt waren, sich böse anzufunkeln. „Und trotzdem haben wir ein so gutes Einkommen, dass einige Extras drin sind. Ich glaube, so gut wie in den letzten Monaten ging es uns noch nie.“
 

Sally lächelte so herzerfrischend, dass ich nicht anders konnte, als es zu erwidern. Und tatsächlich, nicht nur das volle Café, das neue Auto oder die wunderschöne Wohnung zeugten von Stans Erfolg. Sondern vor allem Sally, die geradeso mit all den neuen Dingen um die Wette strahlte.
 

„Da hast du Recht“, pflichtete nun Stan, der sein Starrduell mit Jeffrey unterbrochen hatte, ihr bei. „Aber ab jetzt müssen wir wieder etwas zurückstecken. Du weißt, warum. Also, worauf habt ihr Lust?“
 

Neugierig blickte ich zu Sally, die eifrig genickt und danach direkt rot angelaufen war, aber dann fühlte ich ebenfalls einen Blick auf mir und beeilte mich, eine Antwort auf die Frage zu finden. Ich hatte ehrlich gesagt absolut keine Idee, bis mir plötzlich doch ein absurder Gedanke in den Sinn kam. Aus welchen Untiefen meines Kopfes sich diese Idee losgerissen hatte, konnte ich nicht sagen, denn ich hatte seit Wochen nicht mehr daran gedacht. Auch wenn ich mir bei dem Gedanken, die Ferien mit Jeffrey dafür auszunutzen, etwas schäbig vorkam. Aber immerhin hatte es ja auch mit ihm zu tun und ich konnte mir vorstellen, dass er es genauso spannend finden würde. Warum genau ich da hinwollte, musste ich ihm ja nicht auf die Nase binden.
 

„Ich … ähm … also“, begann ich unsicher, meinen Vorschlag vorzubringen, aber erst Stans aufmunterndes Nicken brachte mich endgültig dazu. „Ich habe vor längerer Zeit von diesem Lichtspieltheater gehört und also, das würde mich wohl interessieren.“
 


 

Das Filmtheater im Herzen Londons machte zunächst einen recht unscheinbaren Eindruck. Von außen wirkte es fast wie ein normales Wohnhaus, dessen Backsteinwände nichts Besonderes vermuten ließen. Von den Dingen, die es hier zu entdecken gab, zeugten nur einige Poster und gerade einmal ein hell erleuchtetes Fenster. Hinter diesem konnte man aber auch nicht wirklich viel erkennen. Es war absolut fraglich, ob ich diesem Ort alleine jemals Beachtung geschenkt hätte. Jedenfalls war ich froh, neben Jeffrey auch Stan und Sally dabei zu haben. In der lustigen Runde, die wir bildeten, hätte ich mich wohl in der übelsten Spelunke wohlgefühlt.
 

Als wir das Haus jedoch betraten, merkte ich, wie sehr einen der erste Eindruck täuschen konnte. Und ich musste mir eine neue Erklärung suchen, warum Stan am Anfang alles andere als begeistert von meiner Idee erschien. Nachdem ich meinen Vorschlag geäußert hatte, wirkte er, als würde ein eisiger Schauer durch seinen gesamten Körper laufen. Die Kiefer hatte er fest aufeinandergepresst und schwer geschluckt, wodurch sein Adamsapfel deutlich dieser Bewegung folgte. Bevor ich mich jedoch fragen konnte, ob ich etwas Falsches gesagt hatte, trat das gewohnte Lächeln wieder auf sein Gesicht und er pflichtete meiner Idee bei.
 

Nachdem ich das von außen recht enttäuschende Haus gesehen hatte, dachte ich, es läge wohl daran. Aber etwas Anderes musste der Grund sein. Vielleicht war etwas Unangenehmes passiert? Stan konnte auch nicht wirklich auf meine Frage antworten, ob sich der Besuch gelohnt hatte. Er meinte, er sei zu beschäftigt gewesen, als dass er dem Geschehen so wirklich folgen konnte. Womit, wollte er mir jedoch nicht verraten. So, wie er geguckt hatte, konnte es aber nichts Erfreuliches gewesen sein.
 

Ich zuckte mit den Schultern, um mich selbst von meinen Gedanken zu befreien und betrat direkt hinter Jeffrey und Stan das Lichtspieltheater.
 

Die Eingangstür führte in einen kleinen Vorraum, der mit roten Samtbändern notdürftig vom Rest des Raums abgetrennt war. Hier kaufte Stan vier Karten, die er dann an jeden von uns weiterreichte und ein Mann im schicken Anzug ließ uns herein, indem er eine der Absperrungen öffnete.
 

Der restliche Raum und auch der Teil davor mussten einmal ein Café, ähnlich dem von Stan, gewesen sein. Nur dass daran nur noch der Tresen und wenige kleine Sitzgruppen erinnerten. Die eigentliche Filmvorstellung musste einen Raum weiter, der durch einen schweren, blickdichten Vorhang verschlossen war, stattfinden. Trotz dessen, dass die Räumlichkeiten einmal etwas Anderes gewesen waren, war es hier durchaus gemütlich. Die restlichen Fenster waren mit roten Samtvorhängen, die bis auf den Boden reichten, verhangen und ein fast zu groß wirkender Kronleuchter tauchte den gesamten Raum in warmes, gelbes Licht. Die wuchtigen Sitzmöbel an den kleinen Tischen luden während der Wartezeit zwischen den Vorstellungen zum Verweilen ein. Dazu ein warmes Getränk und einem würde sicher nicht langweilig werden. Am angenehmsten aber war der Duft nach Popcorn, das am Tresen frisch hergestellt wurde.
 

„Kommst du?“, fragte Jeffrey. Als ich mich umdrehte, fand ich ihn direkt vor mir – mit einem riesigen Eimer Popcorn in den Armen. Ich zog belustigt eine Augenbraue hoch, während er mit vollem Mund weitersprach. „Wir können schon rein. Wird sicher bald losgehen.“
 

Er wirkte so aufgeregt wie ein kleines Kind, das soeben seinen ersten Lolli erhalten hatte und das Lächeln auf meinem Gesicht wurde noch breiter.
 

„Geh doch schon mal vor. Ich müsste noch mal wo hin“, stellte ich klar, nahm mir etwas Popcorn und schob es mir in den Mund. Es schmeckte wirklich wahnsinnig gut und ich musste dem Drang widerstehen, direkt ein zweites Mal zuzugreifen.
 

Ohne eine Antwort von Jeffrey abzuwarten, lief ich in die Richtung, in der die Toiletten waren. Dabei starrte ich wie gebannt auf meine Eintrittskarte hinab. Es war die gleiche Karte, wie die, die ich in der Jacke des Fremden gefunden hatte. Nur dass meine auf der Rückseite keine Notiz enthielt.
 

Ich fühlte mich etwas schlecht dabei, dass ich diesen Ausflug mit Hintergedanken gewählt hatte. Denn ich war nicht wirklich wegen des Films oder des Popcorns hier. Ich hoffte …
 

Ja, was denn? Den Fremden hier zu treffen?
 

Nein, das sicher nicht. Und ich wusste ja gar nicht, wie er aussah. Sollte ich nun jeden dunkelhäutigen Menschen ansprechen mit: „Hallo, ich bin Mike. Kann es sein, dass sie mich aus einem vereisten See gezogen haben?“
 

Wohl kaum!
 

Also was wollte ich dann hier? Vielleicht sollte ich jetzt einfach in den Saal gehen, die Vorstellung genießen und fertig. Dennoch spürte ich, dass ich ihm noch nie so nahe war.
 

Unschlüssig musterte ich das Eintrittskärtchen erneut. Vielleicht konnte ich doch etwas herausfinden. Was hatte ich schon zu verlieren?
 

Vorsichtig öffnete ich die Toilettentür, die ich gerade erst verschlossen hatte, erneut. Im Vorraum des Kinos sah ich weder Jeffrey, noch Stan oder Sally. Also gut, wenn es eine Gelegenheit für mich gab, dann war es jetzt diese. Entschlossen trat ich hinaus und lief zu dem Mann, der uns vorhin das rote Samtband geöffnet hatte. Als ich ihm erklärte, ich müsse noch etwas an der Kasse klären, ließ er mich ohne weitere Fragen durch.
 

An der Kasse war gerade nicht viel los, jedoch war ich mir nicht ganz sicher, ob ich mich darüber freute. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass es nun kein Zurück gab und dennoch war ich dankbar dafür, es jetzt durchziehen zu müssen.
 

„Entschuldigen Sie, Sir“, sagte ich nach einem kurzen Räuspern, um den Kloß im Hals loszuwerden. Die Augen des Kartenverkäufers richteten sich langsam und vollkommen desinteressiert auf mich. Ich schluckte schwer, da sich der Kloß schon wieder neu zu bilden begann.
 

„Was kann ich für dich tun, Junge?“
 

Die Frage war freundlich gestellt, aber in einem solchen Ton, der klarwerden ließ, dass er keine Lust hatte, mir bei irgendetwas zu helfen. Obwohl es mich vollends irritierte, ließ ich mich nicht von meinem Vorhaben abbringen und lächelte gewinnend.
 

„Verkaufen Sie hier immer die Karten?“, stellte ich meine Frage geradeheraus und schluckte erneut schwer. Der Mann maß mich mit einem stechenden Blick, als hätte ich ihn soeben gebeten, die Kasse zu leeren.
 

„Na, da ich noch auf keinen Goldesel gestoßen bin, muss ich das wohl!“
 

„Also sind Sie immer hier? Das ist gut“, hörte ich mich sagen und ignorierte seinen rauen Ton. Dennoch schrillten zahlreiche kleine Alarmglöckchen in meinem Kopf.
 

„Ach ja?“, brummte der Mann, verengte die Augen zu Schlitzen und beugte sich zu mir herüber. „Was willst du, Jungchen? Willst mich jetzt etwa jeden Abend besuchen?“
 

„Nein! Nein!“, warf ich schnell ein und hoffte nicht rot anzulaufen. „Ich suche jemanden.“
 

Jetzt fing der Mann heiser zu lachen an und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er im Durchschnitt wohl eine Pfeife zu viel rauchte.
 

„Suchst nen Weiberrock, hm? Ihr Jungspunde und eure Affären. Aber pass auf.“ Er beugte sich noch weiter zu mir, sodass ich seinen rauchigen Atem roch. „Wenns schief geht, musst sie heiraten und gehst von früh bis spät ackern. Hängst in ner miesen Arbeit fest bisde ins Grab fällst.“
 

Perplex blickte ich ihn an, bis auch jeder Winkel meines Kopfes begriff, was er gesagt hatte und wie er über mich dachte.
 

„Was?“, entfuhr es mir empört. „Nein! Sie verstehen das vollkommen falsch! Ich suche einen Mann.“
 

Der Satz war schneller draußen, als ich mir auf die Zunge beißen konnte. Was ich jetzt gesagt hatte, konnte man mit dem vorangegangenen Kontext sehr falsch verstehen. Und das vor dieser unangenehmen Person!
 

Außerdem entsprach es der Wahrheit, aber das durfte eben keiner wissen. Schon gar nicht hier: Mitten in der Öffentlichkeit!
 

„Ach, so einer bist du“, kommentierte der Kartenverkäufer ohne jedes Gefühl in der Stimme und musterte mich, als hätte er eben eine neue Spezies entdeckt. Wenn ich nicht selbst so davon betroffen gewesen wäre, hätte ich wohl bewundert, wie dieser Mann so viel richtig verstehen konnte, indem er eigentlich alles missverstand, was ich von mir gab.
 

„N…nein“, stotterte ich und diesmal konnte keine Macht der Welt verhindern, dass ich rot anlief. „Was … was reden Sie da für einen Unsinn?!“
 

Meine Stimme überschlug sich fast und ich war lauter geworden, als ich es beabsichtigt hatte. Der Mann am roten Band warf einen fragenden Blick zu uns herüber. Ich erwartete schon, dass er herkommen und ich mich gleich auf der Straße wiederfinden würde. Mit einer ordentlichen Backpfeife links und rechts. Aber der Kartenverkäufer winkte ab und machte einen derben Scherz auf meine Kosten, sodass der andere lachte und schon deutlich entspannter aussah.
 

Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, einfach wegzulaufen und nahm all meinen Mut zusammen, um doch noch zu herauszufinden, was ich in Erfahrung bringen wollte.
 

„Hören Sie: Ich suche hier keine Liebelei und ich bin schon gar nicht das, was Sie mir vorwerfen! Ich suche einen Mann, der vor einigen Wochen hier war. Er hat mir das Leben gerettet!“
 

Der Blick des Kartenverkäufers wurde etwas weicher, aber der Spott darin wich nicht ganz. Dennoch schien er nun gewillter zu sein, mir zu helfen.
 

„Also gut. Ich weiß zwar trotzdem nicht ganz, wie ich dir da helfen soll. Ist ja nicht so, dass ich jeden, der herkommt, nach Name und Adresse frage.“
 

„Aber die Leute reden viel und so ein Mann wie er fällt sicher auf“, warf ich ein. Ich wusste selbst, dass es nicht viel war. Aber was sollte ich sonst machen?
 

„Hm“, kam es abschätzig von ihm. Ehe sich jedoch Enttäuschung in mir breitmachen konnte, sprach er weiter. „Wie sieht er denn aus, dein Retter in der Not? Und wann will er denn hier gewesen sein?“ Brummend stopfte er sich seine Pfeife, zündete sie an und nahm einen kräftigen Zug.
 

„Das muss so im Februar gewesen sein“, antwortete ich, nachdem ich die Ereignisse im Kopf überschlagen hatte. Die Augen des Kartenverkäufers wurden groß und für einige Sekunden verschlug es ihm die Sprache, bis es aus ihm herausplatzte.
 

„Das war vor über acht Wochen!“, entfuhr es ihm und er hustete mir den Rauch seiner Pfeife entgegen. „Du erwartet von mir, dass ich mich an eine Person erinnere, die vor über acht Wochen hier war?!“
 

„Es ist ja nicht irgendeine, sondern eine bestimmte Person“, sagte ich kleinlaut, woraufhin er mich noch fassungsloser anblickte.
 

„Weißt du, wie viele Leute hier täglich herkommen?“
 

Wenn ich ehrlich war, wusste ich das nicht und zuckte daher mit den Achseln. Wie sich herausstellte, war das auch keine Frage, auf die ich ihm eine Antwort geben sollte und daher hätte ich mir das Folgende wohl eher sparen sollen.
 

„Naja, ich bin mir nicht sicher, ob sich das so viele Leute leisten können“, riet ich ins Blaue. „Außerdem ist der Mann, den ich suche, recht auffällig. Dunkelhäutig; vermutlich ein Inder.“
 

„Du würdest dich wundern, wie viele von diesen Kaffern hier herumlaufen! Da musst du mir schon etwas mehr geben.“
 

Angewidert durch diese Beleidigung verzog ich das Gesicht, blieb aber stumm. Mehr wusste ich über ihn einfach nicht, abgesehen davon, dass er schwarze Haare hatte. Aber die hatte so gut wie jeder Inder. Selbst ich, der nur ein halber war. Und die braune Wildlederjacke? Ich wusste nicht, wie mir die hier jetzt weiterhelfen sollte. Anscheinend sah man mir meine Ratlosigkeit deutlich an, denn das Gesicht des Kartenverkäufers verdunkelte sich deutlich.
 

„Willst du mir sagen, du weißt nicht, wie er aussieht? Du kennst den Typen nicht und schnüffelst trotzdem hinter ihm her? Weißt du, wie seltsam das ist, Junge?“
 

Ich wollte etwas erwidern, doch er schnitt mir schroff das Wort ab, schüttelte energisch den Kopf und kam mir näher, als mir lieb war. „Weiß dein Vater da drinnen, dass du schwarzen Schwänzen hinterhersteigst?“ Er deutete mit einem Kopfnicken zu dem dunklen Vorhang, hinter dem sich der Vorführsaal befand. „Vielleicht sollten wir ihn dazu holen und das hier mit ihm klären. Glaub mir Junge, das rückt dir den Kopf wieder zurecht.“
 

Verschlagen grinste er mich an, während ich schockgelähmt in die Richtung blickte, in die er gedeutet hatte.
 

„Nein!“, begehrte ich auf und schüttelte heftig den Kopf. „Ich bin nicht so, wie Sie denken!“
 

Während ich mich so vehement selbst verleugnete, musste ich an Jeffrey denken und mir wurde beinahe schlecht. Abzustreiten, wie ich war, tat unglaublich weh, aber es war nun einmal die einzige Möglichkeit, mich selbst zu beschützen.
 

Ich hatte noch immer nicht ganz realisieren können, wie es plötzlich soweit gekommen war. Lediglich nach einem Mann hatte ich gefragt und nun lief ich Gefahr, in aller Öffentlichkeit das Gesicht zu verlieren!
 

Jemand berührte mich am Arm und als ich den Kopf drehte, erwartete ich den anderen Mann zu sehen. Jetzt würde es richtig Stress geben und ich vielleicht noch Schläge kassieren, nachdem ich schon mein Gesicht verloren hatte. Aber es war Jeffrey, der aus spöttisch funkelnden Augen den Kartenverkäufer musterte.
 

„Mann! Das war letztens ne Nummer!“, feixte er so laut, dass nun auch der Typ am Einlass zu uns sah. „Hätte ja nicht gedacht, dass du das durchziehst. Hast die Kleine ja echt so richtig durchgenommen. Ist das nicht seine Schwester?“ Nun lachte Jeffrey noch lauter und deutete auf den Mann am Band, dem prompt die Zornesröte ins Gesicht stieg.
 

Mit offenem Mund starrte ich Jeffrey an, der noch einen draufsetzte und ich wusste nicht, ob ich mich mehr über die Worte, die aus ihm hervorsprudelten oder die Tatsache, dass er plötzlich da war, wundern sollte.
 

„Solche Stellungen hätte ich so nem Mauerblümchen ja gar nicht zugetraut. Respekt, Mann!“
 

Der Mann am Einlass hatte seine Position mittlerweile aufgegeben und stapfte wutentbrannt auf uns zu. Vor Schreck zog ich den Kopf zwischen die Schultern. Aber Jeffrey und mich ignorierte er völlig.
 

„Du hast mit meiner Schwester geschlafen?!“, donnerte er an uns vorbei. Der Kartenverkäufer wusste nicht, wie ihm geschah und wehrte sich lauthals gegen die Anschuldigung.
 

Während ich wie zur Salzsäule erstarrt dastand und die groteske Szene bewunderte, zog Jeffrey mich am Arm davon.
 

„Komm!“, zischte er energisch bis ich aus meiner Starre erwachte. Kurz warf ich noch einen Blick zurück zu den beiden Streitenden, die sich wohl jederzeit an die Gurgel gehen würden. Dann folgte ich Jeffrey so schnell ich konnte. Ich war so erleichtert, nicht mehr in der Schusslinie zu stehen, dass ich gar nicht darauf achtete, wo wir hinliefen. Jeffrey hatte nicht etwa den Vorführsaal, sondern die Toilette angesteuert. Jedoch merkte ich dies erst, als er die Tür mit wütend blitzenden Augen hinter uns schloss.

"Erschüttertes Vertrauen"

„Kannst du mir erklären, was das sollte?!“, dröhnte es von Jeffrey, kaum dass er die Tür hinter uns verschlossen hatte. Ich wich ein Stück von ihm zurück, da ich ihn noch nie so zornig gesehen hatte, wie in diesem Moment und starrte ihm aus großen Augen entgegen. Verschreckt öffnete und schloss ich den Mund ein paar Mal, bis sich Worte in meinem Kopf formten, die ich schließlich auch aussprach. Dass meine Stimme zitterte, wie noch nie zuvor, konnte ich jedoch nicht verhindern.
 

„Ich … ich wollte nicht … Ich hatte nicht vor, es zu verraten! Er hat plötzlich angefangen, davon zu reden und ich … hab alles abgestritten … aber …“
 

„Davon rede ich nicht!“, unterbrach Jeffrey mich schroff und ich drückte mich gegen die hinterste Wand des kleinen Raumes. Ob ich es tat, weil ich plötzlich Angst vor Jeffrey hatte oder, weil ich hoffte, die Wand würde meinem zitternden Körper Halt geben, wusste ich nicht. Unangenehm fühlte ich Jeffreys Blick auf mir und hob den Kopf, den ich zuvor gesenkt und wie ein geschlagener Hund zwischen die Schultern gezogen hatte. Ich erkannte, dass er auf irgendeine Reaktion von mir – eine Erklärung oder eine Entschuldigung? – wartete. Ratlos schüttelte ich den Kopf. Mir war nicht vollends klar, was diesen heftigen Zorn bei ihm ausgelöst hatte.
 

„Ich weiß nicht was …“
 

„Das weißt du nicht?!“, wiederholte Jeffrey beinahe in Rage, was ich gesagt hatte. „Du … du hast das hier ausgenutzt! Du hast mich und meinen Onkel ausgenutzt, um ihn zu finden!“
 

Geschockt blickte ich Jeffrey entgegen, dessen Brust sich im schnellen Takt auf und ab bewegte und aus dem die Anspannung nun abzufließen begann. So schnell wie der Zorn in ihm gekommen war, schien er auch wieder zu verrauchen und machte einer trägen Enttäuschung Platz.
 

„Ich habe schon eine Weile dagestanden und gehört, wie du nach ihm gefragt hast“, erklärte er in resigniertem Tonfall und seine Augen blickten mir traurig entgegen. „Weißt du, ich dachte wir machen uns einen schönen Abend. Wo doch bereits alles so mies angefangen hat! Dann verschwindest du ewig und als wäre das nicht genug, sehe ich dich, wie du da nach einem anderen Mann fragst. Und dich – und vielleicht noch uns dazu – auffliegen lässt.“
 

Jeffrey sank regelrecht in sich zusammen und ich bemerkte erst jetzt, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Obwohl ich das nie vorhatte. Und wenn ich ehrlich war, war mir nie vollkommen klar gewesen, dass es ihn so verletzen konnte. Heiße Tränen traten in meine Augen und anders als sonst versuchte ich nicht, sie zurückzudrängen. Wenn man Weinen als Verlust der Männlichkeit ansah, dann hatte ich das genau jetzt verdient.
 

„Jeffrey, ich …“
 

Meine Stimme versagte und ich hatte auch kaum Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen.
 

„Was ist los mit dir, Mike? Warum bist du so besessen von diesem Mann? Reiche ich dir nicht?“, fragte Jeffrey gequält und sein Blick bohrte sich in meinen.
 

Ich schüttelte den Kopf, woraufhin Jeffrey mich betroffen ansah. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich schon wieder etwas Missverständliches getan hatte.
 

„Du verstehst das falsch“, schob ich schnell hinterher und beeilte mich, weiterzusprechen. „Ich habe ihn nicht gesucht, weil ich irgendetwas in der Richtung von ihm will, an das du denkst. Es ist nur; er hat unsere beiden Leben gerettet und ich will mich dafür bedanken.“
 

Da Jeffrey so wütend auf mich gewesen war und, wie ich fand, zu Recht, glaubte ich nicht, dass er meine Worte verstehen würde. Womöglich hatte ich soeben noch mehr Öl ins Feuer gegossen. Aber anders als erwartet war seine Stimme um einiges sanfter und er trat mir mit offenem Gesichtsausdruck entgegen.
 

„Mike, ich denke, er erwartet und er will keinen Dank von uns. Ja, er hat uns gerettet, aber hätte er gewollt, dass wir ihm überschwänglich danken, dann wäre er dageblieben. Hätte sich zu erkennen gegeben. Lass es gut sein, Mike. Diese Suche nach ihm führt zu nichts.“
 

Ich sollte also einfach so weitermachen, als wäre nichts passiert? Hilflos blickte ich Jeffrey entgegen und fragte mich verzweifelt, ob ich das konnte. Was Jeffrey zu mir gesagt hatte, nährte jedoch den schon bestehenden Zweifel in mir. Machte ich am Ende vielleicht wirklich alles kaputt, weil ich tatsächlich besessen von diesem Fremden war?
 

Ich wollte es nicht zugeben, aber er begann tatsächlich, mein Denken und Handeln zu beeinflussen. Nur, warum er mir – obwohl völlig fremd – so wichtig war, konnte ich nicht sagen. Immer, wenn ich an ihn dachte, kam mir das verschwommene, dunkle Gesicht in den Sinn und der Duft, der mir so vertraut war. Ich hatte ihn nicht einmal richtig gesehen, dennoch ließ er mich nicht los.
 

„Vergiss ihn, Mike. Und leb dein Leben weiter. Mit mir“, hörte ich Jeffrey sagen, aber ich bekam es eher am Rande mit, da mir plötzlich eiskalt wurde. Ich musste an das eisige Wasser denken, das nach mir griff, während ich davon überzeugt war, Jeffrey nicht mehr länger halten zu können. Wir würden beide in den Fluten versinken. Meine Arme und Beine waren bereits vollkommen taub, während jemand mich anschrie, dass ich mit Männern schlief. „Mike?“ Jeffreys Stimme vermischte sich mit dem lauten Rauschen meines Blutes in den Ohren. Aber vielleicht hatte ich mir auch nur eingebildet, dass er meinen Namen gesagt hatte. Alles um mich herum schien sich in dichtem Nebel zu befinden.
 

„Jeffrey, was ist los? Wo bleibt ihr?“, mischte sich eine andere Stimme in das Gewirr, in welches sich mein Kopf verwandelt hatte. Trotzdem registrierte ich nach ein paar Momenten, dass es sich um Stan handeln musste. Sein Gesicht, das mal verschwommen und dann wieder klar war, blickte mir erschrocken entgegen. Ich fragte mich noch, was ihn so erschreckt hatte, als er direkt vor mir auftauchte und mein Gesicht in beide Hände nahm. „Was ist passiert? Du bist ja weiß wie eine Kalkwand!“
 

Ich war mir nicht sicher, ob die Frage an mich gerichtet war, aber selbst wenn, brachte ich es nicht fertig, ihm zu antworten. Meine Knie wurden weich und ich konnte nicht verhindern, dass sie unter mir nachgaben. Der harte Aufprall, der unweigerlich folgen musste, blieb jedoch aus, als Stan beherzt zugriff und mich im Sitzen gegen die Wand lehnte. Jedenfalls stellte ich im Nachhinein fest, dass es die Wand war, da ich im gegenwertigen Zustand selbst die leichten Schläge auf meine Wange kaum wahrnahm. „Mike, was ist los?“, fragte Stan aufgebracht, während er weiter links und rechts leichte Klapse austeilte.
 

Ich musste tatsächlich das Bewusstsein verloren haben, denn plötzlich lag ich seitlich auf dem kalten Fliesenboden. Die Augen konnte ich nicht öffnen, aber ich hörte Stan und Jeffrey wie durch einen hallenden Tunnel. Irgendwer strich mir immer wieder über den Kopf, während Jeffrey knapp erzählte, was vorgefallen war. Darüber, wie man mich beschuldigt hatte, mit Männern zu schlafen und wie ich so unfreiwillig aufgeflogen war. Nur von meiner Suche nach dem fremden Mann erzählte er nichts – oder er hatte es getan, als ich noch bewusstlos war – jedoch gestand er seinem Onkel, wie er aus der Haut gefahren war, weil ich uns beide beinahe verraten hatte. Ich war längst wach bei diesen Worten, dennoch erstarrte ich, als er Stan einfach erzählte, wie Jeffrey und ich waren.
 

Stan gab ein tiefes Seufzen von sich. „Das muss furchtbar für ihn gewesen sein, Jeffrey! Man nimmt seinen Freund in den Arm, wenn er unter heftigen psychischen Stress steht und schreit ihn nicht auch noch an. Kein Wunder, dass er aus den Latschen gekippt ist.“
 

Jeffrey nuschelte ein zerknirschtes „Ich weiß“ und schien wirklich voller Reue zu sein.
 

Nachdem ich wieder fähig war, zu hören, was um mich herumgeschah, kamen nacheinander auch meine anderen Sinne zurück. Ich bemerkte, wie hart und kalt der Boden war, auf dem ich lag und öffnete mit einem gequältem Stöhnen die Augen einen Spalt weit.
 

„Er kommt zu sich!“, hörte ich Stans Stimme nahe bei mir und blickte ihm entgegen, als ich die Augen vollends öffnete. Er kniete direkt neben meinem Kopf und von Jeffrey sah ich zunächst nichts. Wahrscheinlich hockte er irgendwo bei meinen Beinen, jedoch tat mir der Kopf noch zu weh, um mich zu ihm hinzudrehen. „Wie geht es dir?“, fragte Stan und strich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Verwirrt blickte ich ihm entgegen und langsam realisierte ich, dass er es die ganze Zeit gewesen sein musste, der mir über den Kopf gestrichen hatte. Als wäre das der Startschuss gewesen, kehrte die Kraft plötzlich in meinen Körper zurück und mit ihr auch die Scham. Nicht nur, dass ich wie ein Mädchen ohnmächtig geworden war, nach all dem Mist. Nein, dazu kam auch noch, dass Stan jetzt wusste, dass ich auf Männer stand und er – nicht Jeffrey – hatte sich die ganze Zeit um mich gekümmert.
 

„Es tut mir leid!“, stotterte ich vollkommen aufgelöst, sprang wie vom Blitz getroffen auf und blickte gehetzt um mich. Dabei wusste ich selbst nicht, was mir leid tat. Dass ich bewusstlos geworden war? Dass sich Stan und Jeffrey die ganze Zeit um mich kümmern mussten und ich ihnen so den Abend vermiest hatte? Oder entschuldigte ich mich etwas bei Stan, dass ich so war wie ich eben war?
 

Bevor ich jedoch ganz auf die Füße kommen konnte, hielt Stan mich bestimmt auf und sorgte mit sanften Druck auf meine Schultern dafür, dass ich mich wieder setzte.
 

„Ganz ruhig“, sagte er immer wieder so langsam, dass der tiefe, brummende Ton seiner Stimme fast schon ausreichte, um mich zu beruhigen. „Es ist alles in Ordnung. Du kannst ganz ruhig sein.“
 

Zwar fühlte sich für mich absolut nichts so an, als sei alles im Reinen, dennoch nickte ich beinahe automatisch. Aus großen Augen blickte ich ihm entgegen und erwartete, einen Vortrag über mein Verhalten und mein Fühlen zu erhalten. Bis sich wohl auch der restliche Teil meines Gehirns wieder einschaltete und mir klar wurde, wie falsch ich liegen musste. Stan hatte Sally, die noch mehr durchgemacht hatte, als ich es wahrscheinlich jemals würde, gerettet und sie so akzeptiert wie sie war. Mehr noch, er hatte ihr ein Leben ermöglicht, wie sie es sich wünschte. Warum also sollte er mich jetzt verurteilen, dafür wie ich war?
 

Eine Erleichterung, wie ich sie noch nie gefühlt hatte, machte sich in mir breit und im nächsten Moment fand ich mich in einer festen Umarmung wieder. Ich wusste nicht genau, ob ich mich in Stans Arme geworfen oder ob er mich an sich gezogen hatte. Aber er hielt mich so fest, dass ich nun felsenfest davon überzeugt war, mir könne nichts passieren. Dabei fühlte ich eine Geborgenheit, wie noch nie zuvor und fragte mich, ob dieses Gefühl dem nahe kam, wenn man von seinem Vater in den Armen gehalten wurde.
 

„Geht es dir besser?“, erkundigte er sich besorgt und musterte mich mit einem prüfenden Blick. Bevor ich ihm antwortete, fühlte ich tief in mich hinein und tatsächlich, zwar tat mir der Kopf etwas weh und ich fühlte mich etwas erschlagen, aber es ging mir gut.
 

„Alles gut“, bestätigte ich ihm und verzog sogar die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Man sah Stan die Erleichterung deutlich an. Als mein Blick jedoch Jeffrey traf, merkte ich, dass dieser noch ziemlich zerknirscht aussah. Erst dachte ich, er sei noch sauer auf mich. Jedoch deutete ich den Ausdruck in seinen Augen schnell richtig und revidierte meine erste Annahme. Er war nicht wütend – jedenfalls nicht mehr – vielmehr zerging er fast vor Schuldgefühlen und traute sich kaum, mir in die Augen zu blicken.
 

Das hatte wohl auch Stan erkannt. Während ich eher ratlos dasaß, reagierte er direkt richtig.
 

„Jeffrey“, wandte er sich an seinen Neffen, der wie geschlagen zusammenzuckte. „Komm und hilf deinem Freund auf die Beine.“ Wobei er das ‚deinem Freund‘ besonders betonte und seine Augenbrauen unmerklich nach oben wanderten.
 

Für einige Sekunden blickte Jeffrey mir ratlos entgegen, als würde er erwarten, dass ich seine Hilfe ausschlug. Dann jedoch hastete er zu mir, führte meinen Arm über seinen Schultern entlang und gab meinen noch etwas wackeligen Beinen so besseren Halt. Was mir jedoch auffiel, war, dass er dabei kein Wort sagte.
 

Kein ‚Wie geht es dir?‘ oder ‚Es tut mir leid‘ und ich fühlte einen leichten Stich im Herz. Aber vielleicht brauchte Jeffrey einfach noch einen Moment.
 

„Ich denke, es ist besser, wenn wir nach Hause fahren“, meinte Stan schließlich, nachdem er mich erneut mit einem besorgten Blick bedacht hatte. Fast schon erschrocken schüttelte ich den Kopf.
 

„Nein! Das ist wirklich nicht nötig! Was passiert ist, tut mir leid, aber ich wollte uns wirklich nicht den Abend vermiesen und …“
 

„Bist du sicher?“, unterbrach er mich, bevor ich mich erneut in Verzweiflung redete. Wieder nickte ich, bis er schließlich lächelte. „Also gut. Ich denke, wir werden sowieso nur die Tagesschau verpasst haben und das ist eigentlich gar nicht so schlimm. Von den Nachrichten bekommt man nur Magenverstimmungen. Na kommt.“
 


 

Tatsächlich kamen wir rechtzeitig zu den Hauptfilmen, von denen aufgrund der kurzen Dauer der einzelnen Filme mehrere gespielt wurden. Etwas verwirrt sah Sally uns an und raunte uns entgegen, wo wir denn gewesen waren. Doch Stan lächelte nur und winkte ab.
 

Ich war froh, dass er die ganze Sache für sich behielt und nicht weiter breittrat. Auch wenn es Sally war, ich war schlicht froh, das Ganze nicht noch einmal vorgekaut zu bekommen.
 

So schaffte ich es nach ein paar Minuten, mich zu entspannen, während ich zwischen Stan und Jeffrey saß. Nach allem, was passiert war, tat die Anwesenheit von Jeffreys Onkel mir gut, sogar mehr als die meines Freundes. Noch immer konnte ich seine Stärke und Zuversicht fühlen, sodass ich bald schon für die Zeit, die wir noch im Theater waren, vergaß, was passiert war.
 

Wie ich fand, hatte es sich gelohnt, noch zu bleiben, denn der Film war wirklich ein Erlebnis. Das hieß, nicht nur der Film an sich, sondern das Zusammenspiel von wie auf magische Weise bewegten Bildern, Klaviermusik, die begleitend dazu gespielt wurde und einem Erzähler, der mal mit mehr oder weniger Humor das Dargestellte kommentierte.
 

Nebenbei griff ich immer wieder in die Schale mit Popcorn, die Stan mir hinhielt. Stets mit dem Kommentar, ich müsse Süßes essen damit sich mein Kreislauf wieder stabilisierte. Ich fand es fast schon niedlich, wie er mich so fast schon zum Naschen nötigte und musste irgendwann mit Nachdruck ablehnen.
 

Da ich erst dachte, der Abend sei unwiderruflich gelaufen, war ich froh, dass es mir schon viel besser ging. Es stellte sich erst wieder ein ungutes Gefühl ein, als die Vorstellung vorbei war und mir aufging, dass ich gleich durch den Vorraum laufen musste. Horrorvorstellungen gingen durch meinen Kopf, wie man mir erneut irgendwelche Anschuldigungen an den Kopf warf. Aber wieder konnte ich mich auf Stan verlassen, der sich auf dem ganzen Weg nach draußen mit mir unterhielt. So merkte ich erst im letzten Moment, dass er permanent zwischen mir und diesem Ekelpaket war. Wie eine lebende Barriere.
 

Zunächst dachte ich, das sei Zufall. Doch als ich ihn aus dem Augenwinkel musterte, bemerkte ich, wie er dem Mann an der Kasse einen vernichtenden Blick zuwarf. Erst als wir alle in Stans Auto saßen, wich die Anspannung von mir und ich erlaubte mir einen Seufzer der Erleichterung. Auch Jeffrey, der die ganze Zeit während des Filmes und auch auf dem Weg nach draußen geschwiegen hatte, wirkte etwas gelöster. Er warf mir sogar einige schüchterne Blicke zu und einmal huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht.
 

„So“, machte Stan, klatschte laut in die Hände und rieb sich dann enthusiastisch die Handflächen. „Wer möchte nach Hause?“
 

Zaghaft und stumm hoben sich drei Hände, was Stan zu einem breiten Grinsen veranlasste. Jedoch verschwand es schnell wieder, machte einem nachdenklich Ausdruck Platz und schließlich klopfte er sich mit den flachen Händen über die Jacke.
 

„Ah“, entfuhr es ihm. „Hab was vergessen! Ich komme gleich wieder. Wartet hier.“ Er sprang mit einem Satz wieder aus dem Auto und warf noch einen warnenden Blick zu Jeffrey. „Nicht wegfahren!“
 

Bevor einer von uns ihn auch nur fragen konnte, was er denn vergessen hatte, war er schon wieder im Lichtspieltheater verschwunden. Verwirrt blickten wir ihm hinterher und es dauerte tatsächlich ziemlich lange, bis er wiederkam.
 

„Vielleicht musste er noch mal aufs Klo“, mutmaßte Jeffrey, der nun doch seine Stimme wiedergefunden hatte. Sally, die sich zu uns nach hinten zur Rückbank gedreht hatte, hob eine Augenbraue.
 

„So lange?“
 

„Wer weiß? Er hat ganz schön viel Popcorn gegessen. Vielleicht hat er die Schüssel gesprengt?“
 

Zwar fragte ich mich auch, wo Stan abgeblieben war, aber ich glaubte nicht, dass er seit einer halben Stunde auf dem Klo hockte. Na, jedenfalls wollte ich mir das nicht vorstellen.
 

„Da liegst du völlig falsch!“, sagte Stan, der plötzlich neben dem Auto aufgetaucht war und einstieg. Jetzt grinste er noch breiter und ich fragte mich echt, was er so lange gemacht hatte. Aber es wirkte nicht so, als wolle er es uns sagen. Stattdessen griff er nach dem Lenkrad und startete dann den Motor.
 

Erschrocken zog ich die Luft ein, als ich seine Hände sah und auch Sally neben ihm machte große Augen. „Was ist mit deinen Händen passiert?“, entfuhr es ihr.
 

Stans Knöchel waren an beiden Händen stark gerötet und an einigen Stellen war sogar die Haut aufgeplatzt und kleine, halb getrocknete Blutströpfchen klebten daran. Wenn es schmerzte, zeigte er es nicht, denn er zuckte nur mit den Achseln und lächelte noch breiter.
 

„Sagen wir, ich hatte eine kleine Begegnung.“

"Nächtliche Klarheiten - Teil 1"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

"Nächtliche Klarheiten - Teil 2"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

"Von Nicht-Vater zu Nicht-Sohn"

„Kann ich dich gleich sprechen, Mike?“, hörte ich Stan fragen und blinzelte ihn verwundert an. Ich hatte mich nach dem Frühstück mit nach unten ins Café gesellt, wo Stan und Sally gerade die letzten Vorbereitungen tätigten. Das Geschäft würde gleich öffnen und da es wirklich gut lief, ließen die ersten Kunden sicher nicht lange auf sich warten. Verstohlen blickte ich zu Sally, die Jeffrey gerade mit einem Putzlappen durch das Café jagte und mit ihm die letzten Tische polierte.
 

„Ja, sicher“, meinte ich zögerlich und lächelte Stan schüchtern über zu. Abwesend schnappte ich mir den kleinen, silbernen Teelöffel, der sich auf den Tresen verirrt hatte, und spielte nervös damit. Was konnte Stan von mir wollen?, ging es mir unruhig durch den Kopf. Ich konnte nicht verhindern, dass ich dabei an die letzte Nacht dachte. Noch immer war mir nicht ganz klar gewesen, was da eigentlich passiert war und als Jeffrey heute Morgen aufstand, schien dieser wie immer zu sein. Er hatte anscheinend wirklich nicht mitbekommen, wie unangenehm mir das alles gewesen war. Und das Schlimme daran war, dass ich mir nicht sicher sein konnte, ob ich froh darüber war. Aber auf der anderen Seite: Wenn er es bemerkt und trotzdem weitergemacht hätte – das wäre wirklich schlimm gewesen. Ich seufzte schwer und beobachtete Stan dann etwas irritiert, wie er ein Tablett mit einer Teekanne, zwei Tassen sowie Milch und Zucker vorbereitete. Mit einem fragenden Blick drehte ich mich auf meinem Hocker um und durchsuchte den Laden. Ich war mir sicher die Türglocke nicht gehört zu haben und mein Verdacht bestätigte sich: Es war kein Gast da.
 

„Kommst du?“, fragte Stan und meine Verwunderung stieg, als dieser seine Schürze auszog und an den Haken hängte. Er lächelte mich aufmunternd an und balancierte das Tablett dann in der rechten Hand, während er sich hinter dem Tresen hervorschob.
 

„Ähm?“ Ich hörte mich nicht sonderlich geistreich an, aber ich war nun einmal deutlich verwirrt. Stan steuerte die Zwischentür zur Wohnung an und das, wo doch gleich das Café mit Gästen nur so geflutet werden würde. Hastig sprang ich von meinem Hocker und holte ihn ein, bevor er ganz durch die Tür verschwunden wäre. „Oben? Aber was ist denn mit …?“, begann ich daher und zeigte fragend in den Gastraum. Stan jedoch schien überhaupt nicht beunruhigt oder gar gehetzt zu sein. Im Gegenteil, er war die Ruhe in Person.
 

„Sally schafft das auch ein paar Minuten ohne mich. Außerdem ist Jeffrey ja noch da. Dem schadet es nicht, mal ein bisschen zu arbeiten. Na komm, lass uns nach oben gehen. Da redet es sich besser.“
 

Ja, über was denn?, ging es mir nervös durch den Kopf. Und da Stan eine ganze Teekanne vorbereitet hatte, sah es für mich nicht so aus, als sollte das Gespräch nur fünf Minuten dauern. Zögernd trottete ich hinter ihm her und zerbrach mir darüber den Kopf, bis Stan schließlich das Tablett auf dem Esstisch abstellte. Mit einem Lächeln und einer knappen Handbewegung bedeutete er mir, mich zu setzen. Der Blick, mit dem ich ihn musterte, musste mehr als zweifelnd sein, als ich meinen Stuhl fast in Zeitlupe zurückzog und mich dann setzte. Direkt begannen meine Finger wieder, mit dem Erstbesten zu spielen, das sie fanden.
 

„Hab ich was angestellt?“, fragte ich zögernd und traute mich kaum, aufzusehen. Stan ließ sich voller Elan auf dem Stuhl mir gegenüber nieder und grinste breit. So hatte er tatsächlich Ähnlichkeit mit Jeffrey.
 

„Ich weiß nicht. Hast du?“ Bevor mich seine Frage jedoch auf den Holzweg schicken konnte, winkte er jedoch ab und schob mir eine Tasse dampfenden Tee zu. „Nein, es gibt keine Probleme. Es gibt da nur Etwas, über das ich gerne mit dir sprechen wollte.“
 

Er machte eine kleine Pause, in der er mir das Milchkännchen und Zucker zuschob und wartete, bis mein Tee trinkfertig war. Nachdem ich beides wieder zur Tischmitte zurückgeschoben hatte, nahm er selbst einen großen Schluck und bedachte mich dann mit einem prüfenden Blick.
 

Vielleicht gab es keine Probleme, aber was er mit mir besprechen wollte, musste ein ernstes Thema sein.
 

„Ich habe lange überlegt, ob ich dieses Gespräch mit dir führen sollte“, begann er, nachdem er sich geräuspert hatte. „Immerhin bin ich weder dein Vater, noch sonst irgendwie mit dir verwandt. Aber seien wir doch mal ehrlich: Wer aus deinem Umfeld weiß davon und würde das mit dir besprechen können?“ Er machte eine Pause und wirkte diesmal eindeutig verlegen. Noch etwas ratlos, aber mit einer leisen Ahnung im Bauch, blickte ich ihm weiter stumm entgegen. „Und es ist schwierig, damit alleine zu stehen. Daher hoffe ich, dass es für dich in Ordnung ist.“
 

Ich nickte – langsam. Mir ging allmehlig auf, dass das hier wohl so eine Art Aufklärungsgespräch werden sollte und es stimmte, es war etwas seltsam. Dennoch fragte ich mich, was genau Stan mir da erzählen würde. Immerhin ging es hier sicher um meine Neigungen und da war so etwas wie jemanden schwängern eher weniger relevant.
 

„Bevor es irgendwie unangenehm werden sollte, nur schnell vorneweg: Ich habe dieses Gespräch bereits mit Jeffrey geführt“, schob er schnell hinterher und fuhr dann nahtlos fort. „Es geht mir auch nicht um intime Sachen, außer du hast Fragen dazu. Dann erkläre ich dir sicher, was ich kann.“ Er brach wieder ab. Und während ich es schaffte, auf meinem Gesicht keine Regung zuzulassen, war seines deutlich rot geworden.
 

„Das war bei Jeffrey irgendwie einfacher“, murmelte er und trank dann einen großen Schluck Tee. Ich tat es ihm gleich und beschloss, ihm irgendwie entgegenkommen zu müssen.
 

„Das kann ich mir vorstellen. Aber es bedeutet mir viel, dass du dir die Mühe machst“, meinte ich. Wobei ich ihn in diesem Moment irgendwie viel lieber gesiezt hätte. Das Du war mir in dem Kontext fast schon zu intim.
 

„Jeffrey hatte mich um etwas gebeten“, erklärte Stan schließlich und ich nickte wieder. Mir war die Heimlichtuerei zwischen den beiden durchaus aufgefallen, aber Jeffrey wollte mir auch nicht erzählen, um was es ging. Auch wenn ich letztendlich darin involviert werden sollte. „Ich hielt es zunächst für keine gute Idee. Aber du weißt ja, wie Jeffrey ist: Er hört einfach nicht auf, zu betteln. Daher habe ich einige Tage darüber nachgedacht und vielleicht könnte es doch sinnvoll sein. Jedenfalls denke ich das seit dem Zwischenfall im Lichtspieltheater.“
 

Mit tausend Fragezeichen in den Augen blickte ich ihn an und fragte mich, was es sein mochte, das er mir hier so geheimnisvoll verkaufte. Auch jetzt noch schien er angestrengt jedes Wort abzuwägen, das er mir sagte. Was zum Teufel hatte er vor? Um was hatte Jeffrey ihn da gebeten?
 

Stan schnalzte mit der Zunge und blickte mich etwas gequält an.
 

„Ich muss leider etwas ausholen, bevor ich dir sagen kann, um was genau es geht“, meinte er dann mit einer stummen Entschuldigung. „Wie du sicher weißt, ist unsere Form der Liebe sowohl gesellschaftlich verpönt, als auch vor dem Gesetz strafbar.“
 

Ich nickte mechanisch, während sich eine eisige Hand um mein Herz schloss.
 

„Aber ich sage dir auch, dass an unserer Art, zu leben, nichts falsch ist. Jedoch ist es wichtig, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen“, fuhr er unbeirrt fort.
 

Da hatte ich es! Es ging wohl um meine schwachsinnige Tat im Lichtspieltheater, mit der ich uns fast alle hätte auffliegen lassen. Stan wollte es mir wohl nicht direkt sagen, aber das hier schien doch eine Standpauke zu sein. Ich holte tief Luft, um ihn um Verzeihung zu bitten, doch Stan bedeutete mir, dass ich ihm weiter zuhören sollte.
 

„Unter diesen Umständen Kontakte zu Gleichgesinnten – ja gar eine funktionierende Beziehung – aufzubauen, ist äußerst schwierig und mit großen Risiken verbunden. Es ist nicht so, dass eine Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen immer ein positives Ereignis ist. Leider geschehen im Laufe der Zeit Dinge, von denen man nie dachte, dass sie möglich sind und ehe man sich versieht, schlagen Gefühle wie Liebe und Zuneigung in Hass um. Dass ist völlig normal, aber in unserer Situation äußerst gefährlich.“
 

Ich war froh, dass Stan hier eine kleine Pause machte, indem er sich erneut Tee einschenkte. Denn so hatte ich etwas Zeit, das Gesagte zu verdauen. Es war nicht vollkommen spurlos an mir vorbeigegangen – im Gegenteil. Die Erinnerungen an die letzte Nacht kamen mir in den Sinn und auch, welche verworrenen Gefühle ich zurzeit erlebte. Meine Augen begannen, zu brennen und ich vergrub das Gesicht daher halb in meiner Tasse.
 

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Stan, dem man wohl schwer etwas verheimlichen konnte.
 

„Ja“, log ich und erntete eine hochgezogene Augenbraue.
 

„Ich werde dich nicht drängen, wenn du aber reden willst: jederzeit. Aber es gibt da aber noch mehr, was ich dir erzählen wollte. Es ist so, dass Menschen sich gegenseitig schlimme Dinge antun können. Besonders dann, wenn sie verletzt sind und sich im Recht fühlen. So kann es durchaus vorkommen, dass der eine Partner den anderen anschwärzt. Sei es aus Rache oder, um sich selbst aus der Schusslinie zu bringen.“
 

Erschrocken sog ich die Luft ein und blickte ihn entsetzt an. Glaubte er, ich würde Jeffrey so etwas antun können, falls die Beziehung einmal zerbrechen sollte? Redete er hier mir gerade ins Gewissen, damit sein Neffe sicher war? Sicher vor mir?
 

„Ich würde niemals …“, begehrte ich entsetzt auf, doch bevor ich den Satz ganz beenden konnte, legte Stan beruhigend eine Hand auf meine.
 

„Das weiß ich, Mike. Das weiß ich“, sagte er mit vollkommen ernster Stimme. „Ich rede hier nicht explizit von Jeffrey und dir, sondern meine es allgemein. Ich wollte dir klar machen, welche Gefahren für uns existieren, um dir das Folgende verständlicher zu machen.“
 

Mechanisch nickte ich und auf Stans Gesicht erschien ein schwaches Lächeln, ehe er seine Hand langsam von meiner nahm.
 

„Solche Anschuldigungen haben schon den einen oder anderen in den Tod getrieben. Oder es kam gar zu Morden, weil man fürchtete, der andere würde belastende Dinge über einen erzählen. Aus Angst davor bekennen sich nur die Wenigsten zu dem, wie sie sind und wenn sie ihre Neigungen nicht komplett unterdrücken, muss eine schnelle Nummer hier und dort genügen. Aber auch das ist kein Garant für Sicherheit. Schon gar nicht, wenn man es in einem Park oder ähnlichem tut. Da hat man schneller die Polizei am Hals, als einem lieb ist.“
 

Ich hatte ja bereits geahnt, dass meine Art, zu fühlen, früher oder später mit Problemen einhergehen würde, aber das, was Stan da erzählte, schnürte mir absolut die Kehle zu. Nur widerwillig wollte ich mir vorstellen, wie Jeffrey mich verraten könnte oder wie ich auf ewig allein sein würde, weil wir uns getrennt hatten. Wie sollte ich einen Partner finden, dem ich dann auch noch mein Leben anvertrauen konnte? Das war absolut schrecklich!
 

„Hört sich schlimm an, was?“, fragte Stan und wieder nickte ich. Doch dann fiel mir etwas ein und ich erstarrte, weil eine ganz andere Angst sich um mein Herz schloss. War Stan durch den Fremden vielleicht in Gefahr? Ich wusste nicht, wie ich ihn darauf ansprechen sollte, aber einfach so im Raum stehen lassen, wollte ich es nicht.
 

„Kann ich … dich etwas fragen?“, brachte ich schließlich zögerlich hervor.
 

„Aber sicher.“ Aufmunternd lächelte Stan mir zu, aber ich musste noch einige Male schlucken, bevor ich auch nur einen Ton hervorbrachte.
 

„Hast du … Also hast du jemanden, der dir … Also … Also der …“ Aus meinem Mund kam nur furchtbares Gestotter, aber fast noch peinlicher war das heitere Lachen, das Stan plötzlich ausstieß. Und als er mir zuzwinkerte, wäre ich am liebsten vor Scham im Boden versunken.
 

„Willst du fragen, ob ich noch zu haben bin?“, grinste er mir zu und wieder fiel mir seine Ähnlichkeit zu Jeffrey auf.
 

„Nein!“, rief ich entsetzt aus, während mein Herz hart in meiner Brust schlug. „Nein! Ich wollte nur … Ich hatte Sorge, dass jemand etwas Blödes über dich sagen könnte. Das ist alles.“
 

„Alles gut“, sagte er kopfschüttelnd und kurz schien ein Schatten über sein Gesicht zu huschen. „Es gab da jemanden. Hat aber nicht funktioniert. Jedoch ist er immerhin ein vernünftiger Kerl und würde so etwas Mieses nicht tun. Da bin ich mir sicher.“
 

Es tat weh, Stan so verletzt zu sehen, aber ich war froh, dass ihm keine Gefahr drohte.
 

„Ich habe ihn an dem Ort kennengelernt, von dem ich dir erzählen wollte, Mike“, fuhr Stan fort.
 

„Welcher Ort?“, fragte ich verwundert. Die Art, wie Stan es ausgesprochen hatte, ließ das Ganze in einem mysteriösen Licht erscheinen.
 

„Was ich dir jetzt erzähle, bleibt unter uns. Verstanden? Jeffrey und Sally wissen davon. Mit ihnen kannst du darüber reden. Aber sonst kein Wort zu niemandem.“
 

„Ich verrate es niemanden. Versprochen!“, sicherte ich Stan zu und lehnte mich dann weiter zu ihm nach vorne. Ein aufgeregtes Kribbeln machte sich in meiner Magengegend breit und ich konnte es kaum erwarten, in Stans Geheimnis eingeweiht zu werden. Vielleicht gehörte er ja wirklich einem okkultistischen Club oder einem Geheimdienst mit mysteriöser Mission an?
 

„Also gut. Es gibt eine Veranstaltung für Leute, wie wir es sind. Niemand genau weiß, wer dafür verantwortlich ist, aber genauso wenig weiß jemand, wer daran teilnimmt. Es ist ein Ort, an dem man sich austauschen kann. Einfach nur reden und Spaß haben oder sich genauso gut für unverbindlichen – aber um einiges sichereren – Sex treffen kann.“
 

„Moment“, hakte ich dazwischen. „Wie kann es sein, dass man nicht weiß, wer daran teilnimmt, wenn man doch dort ist?“ Noch seltsamer fand ich die Sache mit dem Sex, aber nach dem, was Stan vorher erzählt hatte, konnte ich es auch irgendwo verstehen.
 

„Es ist eine Bedingung, dass man sein Gesicht verhüllt und während der Festlichkeiten nichts erzählt, was Aufschluss über die Identität gibt. Zu den Festlichkeiten selber kommt man nur über Beziehungen und mit Einladung. Das ist außerdem ein kompliziertes System, damit die Besucher anonym bleiben können und nicht doch einer den anderen verrät. Das gilt besonders für die Boten.“
 

„Der Mann, der die Lieferung gebracht hatte …“, stieß ich aus und Stan nickte.
 

„In ein paar Tagen muss ich ihm mitteilen, ob ich alleine komme oder euch mitnehme. Falls du also Interesse hast, könnt ihr mitkommen. Solange ihr euch an die Regeln haltet“, sagte Stan ernst. Ich musste wohl etwas erschrocken ausgesehen haben, denn er fuhr schnell fort. „Es geht dort nicht in erster Linie um Sex“, betonte er nachdrücklich. Man musste mir wohl angesehen haben, dass mein Kopf genau bei diesem Punkt verweilt war. „Es geht darum, dass du siehst, dass auch andere so fühlen wie du. Dass es normal ist. Und du brauchst wirklich keine Angst haben. Niemand wird dich da anfallen oder etwas tun, was du nicht willst. Es ist sogar so, dass sich dort einige Pärchen gebildet haben, obwohl sie den wahren Namen des anderen gar nicht kennen. Sie treffen sich dort und wenn die Feier vorbei ist, kehren sie in ihre eigentlichen Leben zurück. Einige haben sogar Familien, auch wenn sie das natürlich nie sagen würden.“ Stan leerte seine dritte Tasse Tee und seufzte dann. „Ich denke, ich muss jetzt gucken, was Jeffrey unten im Café veranstaltet. Nimm dir noch etwas Zeit und denk darüber nach. Du kannst mir dann heute Abend deine Entscheidung mitteilen.“
 

Da saß ich nun – alleine und mit zigtausend verworrenen Gedanken in meinem Kopf. Schließlich führten all diese Gedanken zu einem Ergebnis: Stan hatte die Regeln des Clubs gebrochen. Und das bedeutete, er hatte den Fremden so sehr geliebt, dass er nicht damit auskam, ihn nicht ganz für sich zu haben. Außerhalb des geheimen Clubs.

"Dornröschens Frühlingstag"

Das Gespräch mit Stan war nun schon seit einigen Minuten vorüber, dennoch konnte ich es nicht über mich bringen, zu den anderen ins Café herunterzugehen. Meine Gedanken kreisten ruhelos um das, was Stan mir erzählt hatte und obwohl ich auch absolut neugierig war, weigerte sich ein Teil von mir, sich darauf einzulassen. Ich verstand durchaus, was Stan damit bezwecken wollte, aber das änderte nichts daran, dass es mich abschreckte.
 

Kurz überlegte ich, doch auf ein Stück Kuchen nach unten zu gehen – von Tee hatte ich erst einmal genug – aber das würde auch bedeuten, dass einer der drei versuchen würde, mit mir zu reden. Und ich wollte nicht reden. Ich wollte nachdenken, auch, wenn mir das kein Ergebnis brachte.
 

Es verging eine gute halbe Stunde, bis ich begriff, dass ich nur dasaß und vor mich hinstarrte. Ein tiefes Seufzen verließ meine Brust und schließlich erinnerte ich mich an Stans Worte: Ich sollte mich hier wie zuhause fühlen. Daher schlenderte ich durch den Wohnbereich und blieb irgendwann vor dem wuchtigen Bücherregal stehen.
 

Interessiert studierte ich die Buchrücken der Sammlung, bei der es sich um eine bunte Mischung aus Sachbüchern, Romanen und Poesie-Bänden handelte. Beinahe sanft ließ ich den Zeigefinger über die ledernen Einbände gleiten, bis er auf einem Buch stoppte. Zögerlich und mit äußerster Vorsicht nahm ich den Gedichtband mit Werken von John Keats aus dem Regal und ließ mich in den nahen Sessel sinken. Rastlos blätterte ich durch die Seiten, überflog hier und da ein paar Zeilen, aber so wirklich darauf konzentrieren konnte ich mich nicht. Irgendwann stellte sich sogar fast, dass ich zehn Mal die gleichen Zeilen las und stieß seufzend die Luft aus.
 

Müde schloss ich das Buch, wobei ich einen Finger zwischen den Seiten ließ und lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels. Dass ich die Nacht kaum geschlafen hatte, rächte sich nun und ich konnte die schweren Augenlider kaum noch offenhalten. Zwar versuchte ich es trotzdem einige Minuten lang, gab mich dann aber dennoch dem wohligen Gefühl des nahen Schlafes hin.
 

„Aufwachen, Dornröschen!“, vernahm ich eine leise Stimme nahe an meinem Ohr und bevor ich begreifen konnte, wem sie gehörte, legten sich weiche Lippen auf meine. Erschrocken zuckte ich zusammen und drückte mich gegen die Rückenlehne des Sessels.
 

„Jeffrey! Verdammt, was soll das?“, stieß ich aus und funkelte ihn böse an. Etwas beleidigt ließ er sich vor dem Sessel auf die Knie sinken, stützte seine Ellenbogen auf meinen Beinen ab und blickte mich mit seinem besten Hundeblick an.
 

„Ich dachte du magst es, von deinem Märchenprinz wachgeküsst zu werden.“
 

Ich fand absolut keinen Weg, dem zu widerstehen, daher beugte ich mich nach vorne und nahm sein Gesicht in meine Hände. Grinsend kam er mir entgegen, bis sich unsere Lippen wieder trafen und diesmal hatte ich mehr von dem Kuss.
 

„Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen“, gab ich lächelnd zu. „Aber ich war nur so müde und hab mich irgendwie etwas erschrocken.“ Tatsächlich fühlte ich mich immer noch sehr erschöpft und wahrscheinlich hatte ich auch nur ein paar Minuten geschlafen. Zwar fiel es mir nun deutlich einfacher, die Augen offenzuhalten, aber hinter meiner Stirn dröhnte es schmerzhaft. Seufzend hob ich das Buch auf, das mir während des Schlafens heruntergefallen sein musste und stand dann auf. Ich war äußerst wackelig auf den Beinen, sodass ich blind um mich tastete und schließlich Jeffreys Hand um meinen Oberarm fühlte.
 

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mich besorgt. Ich hielt inne. Atmete tief ein und aus und fühlte mich bereits wenige Sekunden später um einiges besser. Unbeirrt setzte ich meinen Weg fort und stellte das Buch sorgsam an seinen angestammten Platz zurück.
 

„Alles gut“, beruhigte ich Jeffrey, nachdem ich mich lächelnd zu ihm gedreht hatte. „Ich sollte mich wohl lieber etwas hinlegen, als nur ein paar Minuten im Sitzen zu schlafen.“
 

Etwas verwundert musterte Jeffrey mich, bis sein Blick irgendwann zur Standuhr ging und ich diesem folgte.
 

„Oh“, machte ich, als ich feststellte, dass es schon weit nach Mittag war und ich nicht einige Minuten, sondern Stunden geschlafen hatte.
 

„Eigentlich wollte ich dich gerade holen und fragen, ob du was essen magst. Und danach vielleicht ein bisschen mit mir durch die Gegend bummeln möchtest. Immerhin müssen wir noch das eine oder andere für das Fest besorgen“, meinte Jeffrey dann. Und tatsächlich: Ich hatte einen Bärenhunger! Dazu kam, dass es hier furchtbar nach Essen roch. Sally, oder vielleicht auch Stan selbst, musste in der Zwischenzeit hier oben gewesen sein, um das Mittagessen zu kochen und ich hatte davon absolut nichts mitbekommen!
 

Wie um zu beweisen, dass es für mich absolut Zeit war, etwas zu essen, gab mein Magen ein lautes Knurren von sich und ich folgte Jeffrey hinunter in den Gastraum. Das Geschäft hatte nach seiner Mittagspause bereits wieder geöffnet, aber es befanden sich nur wenig Kunden im Inneren, weshalb ich mich an einen der eher abgelegenen Tische setzen konnte.
 

„Geht es dir besser, Mike?“, fragte Sally, nachdem sie mir freudig zugelächelt hatte und an meinen Tisch getreten war. „Du hast so fest geschlafen, dass ich dich vorhin nicht wecken wollte. Ich habe sogar drei Mal versucht, dich zuzudecken, aber du hast die Decke immer wieder weggeschoben und dann hatte ich Angst, du wachst davon auf.“ Die willkommene Pause nutzend, zog sie einen Stuhl zurück und setzte sich einige Minuten zu mir. Dann warf sie Jeffrey einen auffordernden Blick zu, woraufhin er sich erhob und nach wenigen Moment mit den Resten vom Mittagessen auftauchte. Bewundernd folgte ich der stummen Kommunikation und befand, dass Sally Jeffrey richtig gut im Griff hatte. Vermutlich hatte sie ihn ordentlich durch den Laden gejagt, während Stan und ich miteinander gesprochen hatten.
 

Vollkommen ausgehungert leerte ich den Teller komplett und verschlang sogar noch ein Stück Kuchen, bis ich mir sicher war, zu platzen, wenn ich nur noch einen Krümel mehr aß. In all der Zeit hatte Sally geduldig geschwiegen und einen Tee getrunken. Nur Jeffrey warf mir immer wieder ungeduldige Blicke zu und ein oder zwei Mal öffnete er sogar den Mund, wie um etwas zu sagen. Aber ein scharfer Blick von Sally hielt ihn immer wieder davon ab.
 

„Das war wahnsinnig lecker!“, lobte ich sie und lehnte mich weit in die Sitzbank zurück. Kurz überlegte ich sogar, ob ich die Gürtelschlaufe etwas lösen musste, aber das wäre mir dann doch zu peinlich gewesen.
 

„Danke“, sagte sie und strich sich eine rote Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, zurück. Dann rutschte sie auf ihrem Stuhl etwas nach vorne und beugte sich leicht zu mir herüber. „Er hat heute mit dir darüber gesprochen, oder?“
 

Ich blickte sie ernst an und nickte dann nur. Da ich die meiste Zeit nach dem Gespräch geschlafen hatte, war ich noch nicht wirklich zu einer Entscheidung gekommen. Aber vielleicht konnte mir Sally dabei helfen.
 

„Warst du schon mal dort?“, fragte ich schließlich und musterte sie neugierig.
 

„Letztes Jahr“, gab sie zu und wirkte dennoch etwas nervös dabei. „Es war eine interessante Erfahrung und ich denke, dass es hilfreich sein kann. Aber dieses Mal komme ich nicht mit.“
 

Wenn ich ehrlich war, war ich enttäuscht. „Warum nicht?“
 

„Die Leute sind alle sehr freundlich – keine Frage“, schob sie schnell hinterher. „Aber mich macht es einfach nervös. Ich weiß nicht, vielleicht liegt es an den Masken oder an den vielen Menschen. Aber es erinnert mich an …“
 

Sie sprach nicht weiter, aber ich verstand auch so, was sie sagen wollte und beschloss, nicht weiter darauf einzugehen.
 

„Aber du kommst doch mit, oder?“, warf Jeffrey, der die ganze Zeit unfreiwillig geschwiegen hatte, ein. „Komm! Das wird lustig! Ich bin mir ganz sicher.“
 

Ich war mir da alles andere als sicher. Aber Jeffrey strahlte mich mit solch einer Vorfreude an, dass ich meine eigene Unsicherheit innerhalb von Sekunden schwinden fühlte. Mein erster Impuls war, dass mir dieses Fest Angst bereitete und ich lieber hierbleiben würde. Immerhin hatte ich Jeffrey, Stan und Sally, mit denen ich reden konnte. Mir war nicht klar, wie mir fremde, maskierte Menschen helfen sollten, mich selbst zu akzeptieren.
 

Ein Blick in Jeffreys Augen nährte jedoch den Zweifel. Vielleicht verpasste ich aber auch eine große Chance, wenn ich nicht hinging? Womöglich, aber alles in mir schrie danach, es lieber sein zu lassen. Dennoch spürte ich, wie ich nickte und hörte mich im nächsten Moment sagen: „Also gut. Wieso nicht?“
 

Vor Freude sprang Jeffrey mir um den Hals, sodass sich die wenigen Gäste verwundert zu uns umdrehten. Verlegen lächelte ich, während Sally seufzend aufstand.
 

„Du wirst dich nie ändern, Jeffrey“, sagte sie in einem seltsamen Tonfall und ging wieder an die Arbeit.
 

Jeffrey ignorierte den Seitenhieb jedoch völlig und war schon dabei, mich über seine Tagespläne aufzuklären.
 

Da heute ein wunderschöner Tag war und ich schon ziemlich viel davon verschlafen hatte, empfand ich seine Idee von einem kleinen Stadtbummel jedoch als willkommene Abwechslung. Außerdem hatten das Nickerchen und das gute Essen mir meine Kräfte sowie die gute Laune erfolgreich zurückgebracht. Nun freute ich mich auf diesen wunderschönen Frühlingstag.
 

Schon als wir das Café verließen, fiel mir die frische, würzige Luft auf. Es roch nach neu erblühtem Leben – nach Blüten und Sonnenschein. Mehr als einmal flatterte ein übermütiger Schmetterling um meinen Kopf herum. Die Schmerzen und die Zweifel der letzten Nacht waren vergessen und ich genoss die mir vertraute Unbeschwertheit mit Jeffrey. Keine Ahnung, was die letzten Tage losgewesen war, aber letztendlich erkannte ich uns wieder. Wir lachten und scherzten, als wären der Streit im Lichtspieltheater und die letzte Nacht nie passiert. Und mehr als einmal ertappte ich mich bei dem Gedanken, ihn in eine dunkle Gasse ziehen zu wollen, um ihn zu küssen. Mir wurde schrecklich heiß bei dem Gedanken und ich konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich darüber nachdachte.
 

Jeffrey machte es auch nicht gerade besser, denn er zog aufgrund des ungewöhnlich heißen Frühlingstages bald seine dünne Jacke aus und öffnete sogar die obersten Knöpfe seines Hemdes. Immer wieder streiften sich unsere Blicke und die zahlreichen bunten Schaufenster waren eher uninteressant.
 

Jeffrey machte einen Schlenker, der wie zufällig aussah, ihn aber so nahe an mich heranbrachte, dass sich unsere Schultern beinahe berührten. Ein aufgeregtes Kribbeln erfasste meinen Magen, denn mir wurde klar, dass ich meine Finger nur wenige Zentimeter bewegen müsste, um seine Hand zu greifen. Zu gerne hätte ich das getan und wäre ihm hier so nahe gewesen.
 

Dann spürte ich plötzlich seinen Handrücken an meinem und wir bedachten uns mit einem kurzen Lächeln, bevor jeder von uns einen halben Schritt in die andere Richtung machte. Es war besser so, aber es erfüllte mich mit einer nie geahnten Sehnsucht. Wir würden uns das unmöglich erlauben können, denn die Straßen füllten sich schon bald mit Passanten, die ebenso das gute Wetter nutzen wollten.
 

„Ich wollte hier gerne rein“, sagte Jeffrey unvermittelt und blieb vor einem Schaufenster stehen. Neugierig musterte ich die Auslagen des Ladens, bei dem es sich um eine Art Kunst- und Kuriositätengeschäft handeln musste. Bereits das Schaufenster war so vollgestopft, dass es einem schier die Sinne vernebelte und auch das Innere des Geschäfts folgte diesem ungeschriebenen Gesetz.
 

Staunend blickte ich mich um und musterte mit unverhohlenem Interesse die überfüllten Regale.
 

Der Verkäufer begrüßte uns mit überfreundlicher Stimme und Jeffrey verwickelte ihn schon bald in ein Gespräch. Ich bekam nicht wirklich mit, um was es ging, aber ich interessierte mich auch nicht recht dafür. Es gab so viel zu entdecken, dass ich schnell weiterschlenderte und die vielen Dinge bewunderte.
 

Geradezu idyllische Gemälde lehnten neben beinahe angsteinflößenden, afrikanischen Masken. Daneben stapelten sich Bücher, deren lederne Einbände so brüchig aussahen, dass ich Angst hatte, ein Lufthauch, hervorgerufen durch eine falsche Bewegung, würde sie zu Staub zerfallen lassen. Vorsichtig schritt ich weiter. Bewunderte teure chinesische Vasen, auf Hochglanz polierte Musikinstrumente und blieb schließlich vor einigen Statuen stehen. Einige waren fast so groß wie ich, andere winzig klein, aber sie hatten eines gemeinsam: Sie stammten aus meiner Heimat und stellten hinduistische Götter dar.
 

Ich war nicht im Geringsten religiös und wenn ich in Indien einen Tempel besuchte, dann nur, um meinem Vormund einen Gefallen zu tun. Denn er bestand darauf, dass ich mich mit meiner Kultur auseinandersetzte und ich musste sogar Sanskrit lernen.
 

Hier fand sich ein Sammelsurium an farbenfrohen Göttern und neben den üblichen Ganesha, Kali und Shiva Statuen erregte auch der auf einem Pfau reitende Skanda meine Aufmerksamkeit. Ich ging in die Knie und bewunderte sie, eine nach der anderen. Obwohl ich nicht an sie glaubte, rangen sie mir ein Lächeln ab und gaben mir ein kleines Gefühl von Heimat.
 

„Können Sie es mir gleich einpacken?“, hörte ich Jeffrey fragen und drehte mich neugierig zu ihm um. Der Verkäufer hastete geschäftig davon und leider konnte ich wegen seines äußerst breiten Rückens nicht erkennen, was er in den Händen trug. Seufzend kam ich auf die Füße und schlenderte zu Jeffrey hinüber.
 

„Hast du was gekauft?“, fragte ich Jeffrey, in der Hoffnung, mehr zu erfahren. Dieser blickte mir breit grinsend entgegen, aber mehr als ein ‚Mhm‘ bekam ich nicht als Antwort. Gerade, als ich weiter nachbohren wollte, kam der Verkäufer wieder und reichte Jeffrey ein in Seidenpapier eingewickeltes Bündel, welches er zusätzlich in eine Pappschachtel getan hatte. Jeffrey bedankte sich mit einem gewinnenden Lächeln und reichte dem Mann ein paar Geldscheine, dann verabschiedeten wir uns.
 

„Was ist da drin?“, quengelte ich ungeduldig, als ich hinter ihm das Geschäft verließ.
 

„Das würdest du gerne wissen, was?“
 

Jeffrey lachte, lief aber unbeirrt weiter.
 

„Ja sicher. Sonst würde ich nicht fragen!“, begehrte ich auf und musste mich ziemlich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten. Als ich es schließlich geschafft hatte, neben ihn anzulangen, nahm er plötzlich meine Hand und zog mich ohne Vorwarnung in die enge Gasse, die wir soeben passierten. Wobei es nicht einmal wirklich eine Gasse war. Dafür war es viel zu eng. Die Hauswände standen hier so nahe beieinander, dass unsere Schultern beinahe die Fassaden der Häuser und sich gegenseitig berührten. Und recht düster war es hier auch.
 

„Wo willst du hin?“, rief ich aus, aber er zog mich noch einige Meter weiter. Bis er unvermittelt stehen blieb, mich gegen eine der Hauswände drückte und mir dann einen hemmungslosen Kuss gab. Atemlos und eindeutig geschockt blickte ich erst ihn an, dann die Gasse hinab und musterte aufmerksam den kleinen Ausschnitt der Straße, den sie zu zeigen gewillt war. Sie war vollkommen menschenleer und die Gasse so schattig, dass wir zwei hier wohl kaum auffallen würden. Aufgeregt kribbelte es in meinem Bauch und Jeffreys Hände, die sich noch an meiner Hüfte befanden, machten mich schier irre.
 

Ohne dass ich weiter darüber nachdachte, zog ich seinen Kopf wieder zu mir und drängte nun meinerseits die Lippen auf seine. Gierig ließ ich meine Zunge gegen sein gleiten und genoss den festen Druck seiner Hände, die sich mal auf meine Wangen und dann auf meinen Hals legten. Nach all den Ängsten, die ich in den letzten Monaten durchlebt hatte, hätte ich nicht gedacht, dass die nahe Gefahr mich so erregte. Aber das wir uns hier küssten, ließ mir ein Gefühl der Überlegenheit und ich wollte es voll auskosten.
 

„Hey! Ihr da!“, donnerte plötzlich eine Stimme. Erschrocken lösten wir uns voneinander und blickten zur Straße zurück. Bevor ich jedoch auch nur eine Gelegenheit hatte, den alten Mann genauer zu mustern, lachte Jeffrey auf, packte meine Hand und rannte mit mir weiter die Gasse hinab. „Bleibt stehen, ihr perversen Jungspunde! Euch leg ich übers Knie und treib euch die Flausen aus, wenn ich euch erwische!“
 

Unbeeindruckt lachte Jeffrey wieder und auch ich spürte seltsamerweise keine Angst. Wir hasteten weiter durch einige Gassen, die uns mit ihren Schatten in Sicherheit wiegten und sprangen hier und dort über Mauern. Als wir uns schließlich sicher waren, dass niemand uns folgte, lehnten wir uns atemlos nebeneinander an die Wand. Nur, um uns wenige Minuten später so unbeschwert wie noch nie vor Lachen zu krümmen.
 

„Wenn du willst, mache ich nachher, was er vorgeschlagen hat“, lachte Jeffrey und grinste mich lüstern an.
 

„Das sollte ich bei dir tun!“, gab ich genauso zurück, was ihm ein noch breiteres Grinsen auf das Gesicht zauberte.
 

Neugierig musterte ich unsere Umgebung und stellte fest, dass unsere Flucht uns bis an den Rand des Regent‘s Park gebracht hatte.
 

„Wollen wir noch ein paar Enten füttern und dann nach Hause gehen?“, fragte Jeffrey, der meinem Blick gefolgt war. Es war zwar schon recht spät am Nachmittag, aber einige Stunden Tageslicht hatten wir noch. Was also sprach dagegen?
 

„Nur wenn die Enten uns hinterher nicht verfolgen“, sagte ich, hauchte ihm einen kurzen Kuss auf und trat hinter ihm aus der dunklen Gasse.

"Blindes Vertrauen"

„Sagst du mir jetzt, was in dem Karton ist?“, fragte ich wollkommen entnervt, während ich Jeffrey dabei beobachtete, wie er sich seelenruhig die Haare frottierte. Doch anstatt mir eine Antwort zu geben, warf er das Handtuch achtlos zu dem anderen, das vorher um seine Hüften geschlungen gewesen war, auf den Boden.
 

„Das hab ich doch schon“, meinte er und kämmte seine Haare notdürftig mit den Fingern – was ganz klar erklärte, warum sie immer so struppig aussahen. „Deine und meine Maske natürlich.“
 

„Ja aber, warum zeigst du sie mir nicht?“, maulte ich zurück. Er hatte mir schon an dem Abend, als er sie gekauft hatte, gesagt, dass es Masken waren. Aber eben nichts dazu, wie sie aussahen. Seitdem hatte ich immer wieder gefragt, aber er weigerte sich schlicht, sie mir zu zeigen. Ich fand das ziemlich empörend. Immerhin sollte ich eine davon tragen! Sollte er sich doch zum Deppen machen, aber ich hatte da keine Lust zu.
 

Seufzend wälzte ich mich auf dem Bett herum und schielte auf die Kleidung, die Stan uns vor ein paar Stunden ins Zimmer gelegt hatte. Zwei Garnituren eleganter, aber schlichter Anzüge in schwarz. Dazu passende schwarze Krawatten und weiße Hemden. Sie sahen fast aus wie unsere Schuluniformen, nur dass der Stoff edler war und das Emblem des Internats fehlte.
 

Es war wohl langsam Zeit, sich anzuziehen, denn schon bald würden wir zum vereinbarten Treffpunkt aufbrechen müssen. Geplant war, dass uns dort eine Kutsche abholen und zum geheimen Veranstaltungsort bringen würde. Das hörte sich für mich wie eine Entführung an. Nur, dass ich dummerweise zugestimmt hatte.
 

„Du willst sie also sehen?“, sagte Jeffrey, dem das alles egal zu sein schien und der beinahe seit einer halben Stunde nackt vor mir herumsprang. „Na gut. Kannst du haben!“
 

Neugierig sah ich zur Kommode hinüber, auf der er den Karton abgestellt hatte und nur das Rascheln verriet, dass er sie geöffnet hatte. Jeffrey machte es aber nach wie vor spannend. Er holte nicht etwa die Masken raus und brachte sie mir. Sondern schwang seinen Po in einem langsamen Takt von einer Seite zur anderen, während er mir eisern den Rücken zuwandte.
 

„Was soll der Mist, du Spinner?“ Ich konnte nicht verhindern, dass mir ein lautes Lachen entwich. Was er da tat, sah zu komisch aus. Doch er ließ sich nicht beirren, hob etwas an sein Gesicht und band die Schnur an seinem Hinterkopf fest. Die andere Maske musste er ebenso aus der Schachtel genommen haben, aber ich sah nichts davon und im nächsten Moment war ich zu abgelenkt.
 

Mit einer schnellen Bewegung fuhr Jeffrey herum – wobei er meine Maske hinter seinem Rücken verbarg – und kam mit katzengleichen Bewegungen zu mir ans Bett. Ich wusste nicht, ob ich sprachlos sein oder lieber laut losprusten sollte, aber Jeffrey lief splitterfasernackt und mit einer Tigermaske auf dem Gesicht auf mich zu. Und dabei tat er so, als würde er sich an seine Beute heranpirschen.
 

Auf allen Vieren, wobei eher Dreien – er versteckte ja noch die Maske – kam er auf mich zugekrochen.
 

„Du kannst mir nicht entkommen“, schnurrte er, während ich mich grinsend ein Stück von ihm wegschob. „Ich bin gierig nach dir und schlage meine Zähne in dein Fleisch, bis deine schönen Federn mir gehören!“
 

Mit diesen Worten warf er die Maske so schnell über mein Gesicht, dass ich gar keine Gelegenheit hatte, zu erkennen, wie sie aussah.
 

„Was?“, lachte ich, nachdem ich mich von seinem Kuss gelöst hatte. „Welche Federn?“ Irritiert riss ich mir die Maske vom Gesicht, drehte sie um und starrte sie entgeistert an. Die Maske selbst bedeckte das halbe Gesicht, sodass nur Nase, Kinnpartie und die halbe Wangenpartie zu erkennen war. Sie war in einem tiefen Blau gehalten, um die Augen heller gefärbt und schwarze Umrandungen ließen es so aussehen, als würde man Kajal tragen. Ein dichter Kranz aus Pfauenfedern war so an die Maske angebracht, dass sie bis zu den Schultern reichten und mein eigenes Haar verdecken würden.
 

„Ein Pfau?!“, stieß ich entgeistert aus. „Wie kommst du auf einen Pfau?“
 

„Mhm“, machte Jeffrey langgezogen, während er sich wieder über mich warf und mir das Ding erneut aufs Gesicht drückte. „Ich dachte, das sei passend für meine indische Schönheit.“
 

„Ich bin aber nur ein halber Inder“, gab ich gespielt patzig zurück. „Und wie kommst du darauf, dass du ein Tiger bist? Passt Brummbär nicht besser?“
 

„Pah!“, stieß Jeffrey aus und begann, mich zu kitzeln – leider wusste er mittlerweile ganz genau, wo es für mich am schlimmsten war. „Du wirst gleich sehen, dass der Tiger gerechtfertigt ist!“
 

Amüsiert lachte ich auf und versuchte weiter, tapfer seine Hände abzuwehren.
 

„Jungs? Seid ihr fertig?“, rief Stan. Erschrocken fuhr ich zur Tür herum, während Jeffrey nur enttäuscht seufzte, dass sein kleines Intermezzo nun so harsch unterbrochen wurde. Ich war mir sicher, dass Stan geklopft hatte, denn ohne wäre er nie ins Zimmer gekommen. Nur leider hatten wir beide es wohl nicht gehört. Wenn es Stan peinlich war, dass er uns beide so gut wie nackt – wir hatten ja immerhin die Masken – auf dem Bett vorfand, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er wirkte sogar eher genervt. „Das gibt’s doch nicht“, maulte er drauf los. „Ich dachte, ihr seid fertig. Wir müssen gleich los und zumindest für den Weg solltet ihr euch was anziehen. Von mir aus könnt ihr dann dort die ganze Zeit nackt durch die Gegend springen, aber wartet bitte damit, bis ich mir das nicht ansehen muss.“ Er seufzte tief, drehte sich um und blieb dann mit der Türklinke in der Hand noch einmal stehen. „Zehn Minuten, in Ordnung? Ach Mike; schöne Maske.“
 

Damit zog er die Tür hinter sich zu und ließ uns perplex sitzen.
 

„Hey, was ist mit meiner Maske?“, zeterte Jeffrey und verzog schmollend die Lippen.
 

„Ich sag‘s ja: Der Brummbär hätte besser gepasst“, meinte ich, wobei ich mir ein Lachen nicht verkneifen konnte. „Und jetzt runter von mir. Sonst kann ich mich nicht anziehen.“
 

Da Jeffrey seinen Onkel so einschätzte, dass er ohne uns ging, wenn wir nicht rechtzeitig fertig waren, sprang er auf und wir beide hatten uns in Windeseile unsere Kleidung übergeworfen. Nach wenigen Handgriffen von mir standen auch Jeffreys Haare schließlich nicht mehr so extrem ab. Bei mir war es egal. Meine Haare kringelten sich heute so stark, dass ich beinahe Locken hatte. Das würde ich sowieso nicht geordnet bekommen und das musste ich auch nicht. Die Federn der Maske verbargen es komplett.
 

„Ich denke, dann brauchen wir deinen Onkel nicht mehr länger warten lassen“, meinte ich und warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Obwohl ich Anzüge durch die Schuluniform gewöhnt war, war das noch einmal eine Nummer eleganter und wirkte auf mich äußerst ungewohnt. Aber es war durchaus schick und mir gefiel, was ich bei Jeffrey sah. Ihm schien es auch so zu gehen, denn er kam grinsend auf mich zu, griff mich am Kragen und zog mich für einen Kuss zu sich.
 

„Du siehst wirklich unglaublich verlockend aus. Nicht, dass jeder dir dort hinterherläuft“, sagte er mit rauer Stimme. Ich lächelte und gab das Kompliment zurück. Er sah wirklich gut aus, aber ich glaubte, dass er bei mir eindeutig übertrieb. Seine Finger fuhren an meinem Hals entlang, bis sie an meiner Kette stoppten und er sich auf die Unterlippe biss. „Ich glaube, die solltest du ablegen.“
 

Zunächst blickte ich etwas irritiert auf das Schmuckstück, doch dann ging mir auf, dass er wohl recht hatte. Alles, was unsere Identität verraten konnte, musste hierbleiben. Auch wenn es sicher ein riesiger Zufall gewesen wäre, würde mich jemand im Nachhinein vielleicht an der Kette, die ein Unikat war, erkennen können. Mit bedächtigen Handbewegungen zog ich sie mir über den Kopf und legte sie sanft neben dem Karton auf der Kommode ab.
 

„Lass uns gehen“, meinte ich schließlich und folgte Jeffrey nach unten in das dunkle Ladengeschäft, wo Stan schon auf uns wartete.
 


 

Wir liefen eine Weile durch leere Straßen, die von Gaslaternen erleuchtet wurden. Unser Weg führte uns jedoch immer weiter in abgelegenere Straßen, sodass diese Laternen schließlich weniger wurden und die Dunkelheit zusehends nach uns griff. Mir fröstelte es und das nicht nur, weil es gegen Abend doch wieder recht kühl geworden war und mein dünner Mantel nur bedingt dagegen half. Ich machte mir Sorgen, wie sicher diese dunklen Straßen und Gassen waren. Aber Stan schien in keinster Weise beunruhigt zu sein und ich beschloss, ihm zu vertrauen. Seufzend presste ich den Mantel mit meinen Armen enger an mich. Damit versuchte ich nicht nur, mir mehr Wärme zu verschaffen, sondern ging auch sicher, dass ich die Maske, die ich unter meinem Mantel versteckt hielt, nicht verlor.
 

Es dauerte jedoch nicht lange, bis Stan unvermittelt stehen blieb.
 

„Wir warten jetzt hier“, verkündete er uns, nachdem er auf dem gesamten Weg allgemein wenig gesprochen und uns auch nicht gesagt hatte, wo es eigentlich genau hinging.
 

„Und wie lange?“, maulte Jeffrey, der sichtlich fror und von einem Bein auf das andere sprang.
 

„So lange wie es eben dauert. Aber vermutlich nicht lange“, gab Stan genervt und recht vage zurück. Aufmerksam musterte ich ihn und war mir nicht mehr sicher, ob er sich auf die Festlichkeiten freute. Je näher wir dem Ganzen kamen, desto stiller und miesepetriger wurde er. Was absolut untypisch war. Während Jeffrey sich abwandte, um einige Meter entfernt mehr Luft zum Maulen zu haben, machte ich einen zögerlichen Schritt auf Stan zu und legte ihm eine Hand auf den verschränkten Unterarm.
 

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich leise.
 

„Aber ja. Mach dir keine Sorgen“, sagte er lächelnd und diesmal war ich mir sicher, dass das nicht stimmte. Bevor ich jedoch energischer nachhaken konnte, hellte sich sein Gesicht auf und er blickte die Straße hinab. „Da ist er ja schon.“
 

Tatsächlich hielt eine dunkle Kutsche mit rasantem Tempo und unglaublichem Krach auf uns zu. Obwohl mir so unglaublich kalt war, freute ich mich nun gar nicht darüber. Denn ich hatte gehofft, mit Stan reden zu können. Das konnte ich nun aber vergessen und wollte es auch nicht im beengten Raum der Kutsche tun.
 

Der Kutscher ließ das Gefährt direkt neben uns stoppen und wies uns mit einem knappen Kopfnicken an, dass wir einsteigen sollten. Er wirkte genauso ungeduldig wie seine stämmigen, schwarzen Pferde, die aufgeregt die Nüstern blähten und mit den Hufen scharrten.
 

Skeptisch betrachtete ich die geschlossene, ebenso schwarze Kabine, deren Fenster mit dunklen Vorhängen verhangen waren. Doch als ich hinter Stan und Jeffrey an die Kutsche herantrat, bemerkte ich auch, dass nicht nur die Vorhänge den Blick in die Kutsche abwehrten. Man hatte die Fenster direkt mit einer dunklen Farbe bepinselt. Zwar machte diese die Fenster nicht direkt undurchsichtig – etwas schummeriges Licht wäre wohl durchgekommen, wenn es nicht gerade stockfinster war – aber man erkannte die Umgebung aus dem Inneren der Kutsche so gut wie überhaupt nicht. Jedenfalls stellte ich das fest, als wir durch einige mit Gaslaternen erleuchtete Straßen fuhren. Ich erkannte, dass da Licht war, aber von der Straße sah ich nichts.
 

„Und du weißt nicht wo wir hinfahren?“, fragte ich an Stan gewandt. Wir fuhren nun schon seit gut zwanzig Minuten und ich hielt das Schweige einfach nicht mehr aus.
 

„Nein. Und wir sollen es auch nicht wissen“, gab er zurück und deutete auf die dunkle Scheibe der Kutsche. Der Gedanke machte mich absolut nervös. Immerhin saß ich in der Kutsche eines fremden Mannes, der uns nicht erlaubte, einen Blick nach draußen zu riskieren und uns sonst wo hinfahren konnte. Vielleicht in das nächste abgelegene Moor, um uns auszurauben und dann loszuwerden.
 

„Man kann ihnen vertrauen und das alles hier ist nur zu unserem Schutz“, fügte Stan hinzu, als hätte er meine Gedanken gelesen. Aber sicher waren die mir deutlich anzusehen.
 

„Außerdem ist es doch aufregend!“, stieß Jeffrey aus. Er grinste und seine Wangen glühten regelrecht vor Erregung. Ich sagte nichts dazu, aber teile konnte ich seine Gefühle nicht. Stattdessen war ich es, der jetzt lieber schweigen und seinen Gedanken nachhängen wollte. Und das tat ich noch eine gute Stunde. Wo zum Teufel fuhren wir hin?
 

Ich war nicht einmal sicher, ob wir noch in London waren. Gerade, als ich nicht mehr daran glaubte, wurde die Kutsche angehalten und wenige Minuten später tauchte der Kutscher an der Tür auf. Er lächelte freundlich, aber in seinem Blick lag auch etwas Anderes. Irgendetwas schien ihm absolut unangenehm zu sein.
 

„Hier kommt der Teil, den ich eigentlich nicht so mag. Aber es muss sein“, meinte er nach einem knappen Räuspern und reichte uns drei schwarze Stoffstreifen. „Könnt ihr euch damit bitte die Augen verbinden?“ Er zuckte mit den Schultern und betrachtete dann Stan. „Du kennst das ja.“
 

Jetzt fiel mir auch auf, dass die Kutsche so stand, dass ich durch die geöffnete Tür absolut nichts erkennen konnte. Nur Bäume, sonst nichts. Kein Haus, kein gar nichts. Aber anscheinend waren wir da.
 

Zögerlich tat ich es Stan und Jeffrey gleich und band mir das Stück Stoff um. Nun sah ich wirklich nichts und machte mir Gedanken, wie ich aus der Kutsche kommen sollte. Aber der fremde Mann nahm beherzt meine Hände und lotste mich sicher aus dem Gefährt. Schließlich konnte ich nichts anderes tun, als ihm zu vertrauen. Daher nahm ich auf sein Geheiß Stans und Jeffreys Hände in meine und wir bildeten so eine Kette. Unter meinen Füßen fühlte ich Kies und ich nahm an, dass man uns eine kurze Auffahrt hochführte. Der Mann klärte uns auf, dass es nur noch wenige Schritte weit war und wir dann stehenbleiben sollten. Etwas quietschte und knarrte, dann ging es wenige Treppenstufen hinauf. Der Boden unter meinen Füßen war jetzt anders. Fester, glatter. Aber wenn ich meinen Ohren vertrauen konnte, wurden wir noch durch eine weitere Tür geführt und dann durften wir die Augenbinden abnehmen.
 

Der Raum war klein und wie in der Kutsche zuvor, waren die Fenster mit schwarzen Vorhängen verhüllt. Es herrschte hier nur ein schwaches Licht, aber das war egal. Soweit ich sehen konnte, gab es in diesem Raum absolut nichts zu entdecken. Er schien bis auf den einen oder anderen Stuhl vollkommen leer zu sein. Eine weitere Tür an der gegenüberliegenden Wand führte wieder hinaus.
 

„Setzt die Masken auf, dann können wir weiter“, sagte Stan und ging uns mit gutem Beispiel voran. Neugierig betrachtete ich ihn in dem schwachen Licht. Seine Maske war schwarz-braun mit zwei helleren Flecken über den Augen und an der Stirn war sie leicht geriffelt. Unwillkürlich musste ich schmunzeln, denn er erinnerte mich an einen Rottweiler. Es fehlten nur die Ohren. Aber ich fand, dass es zu Stan passte. Er schien so liebenswürdig und treu zu sein wie ein Hund. Jedoch, wenn er seine Lieben in Gefahr sah, konnte er deutlich anders sein.
 

Mein Blick wanderte weiter zu Jeffrey, der schon wieder den Tiger rausgelassen hatte und ruhelos auf und ab sprang. Seufzend musterte ich meine Maske. Ein Pfau. Warum musste es ausgerechnet ein Pfau sein?, dachte ich resigniert. Die Farben und die Umrandung an den Augen hatten fast schon etwas Feminines. Ich war doch keine Frau. Wie es schien, hatte ich jedoch keine Wahl und seufzte erneut, als ich mir das Ding schließlich aufsetzte.

"Fünf Räder sind eins zuviel"

Die Nervosität in meinem Bauch steigerte sich unerträglich und mir wurde immer deutlicher klar, dass ich eigentlich nicht hier sein sollte. Zweifel und Schuld plagten mich. Ich hätte ehrlich sein und zugeben sollen, dass mir das unangenehm war – von Anfang an. Umkehren war jedoch keine Option. Außerdem war da noch diese leise Stimme, die mir zuflüsterte, dass ich vielleicht wirklich etwas verpassen würde. Womöglich war das heftige Klopfen meines Herzens keine Angst, sondern eine leise Vorfreude.
 

Stan lief zielsicher zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. Bevor er sie jedoch hinabdrückte und uns offenbart werden würde, was sich dahinter befand, drehte er sich noch einmal zu uns um. Selbst mit der Maske erkannte man, dass er uns einen nach dem anderen strengt musterte und sein Blick fixierte schließlich speziell Jeffrey.
 

„Eine Sache noch“, sagte er und aus seinem Gesichtsausdruck war jedes Kameradschaftliche gewichen. Er wirkte nun beinahe strenger als Mr. McIntire. „Wenn ich einen von euch erwische, wie er Alkohol trinkt, könnt ihr was erleben!“
 

Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte zustimmend. Mir wäre wohl nie im Leben eingefallen, alkoholische Getränke zu mir zu nehmen. Selbst, wenn man sie mir anbot. Aber bei Jeffrey war ich mir nicht sicher, ob er der Versuchung widerstanden hätte. Sein Onkel legte aber eine solche Autorität an den Tag, dass es selbst ihm verging, sich über dieses Verbot hinwegzusetzen.
 

„Sehr gut“, meinte Stan, wobei er mir wissend zulächelte. „Dass ihr über das hier außerhalb unserer kleinen Runde nicht sprecht, muss ich sicher nicht erneut erwähnen. Sonst könnt ihr da drin machen was ihr wollt. Ich bin immerhin nicht eure Anstandsdame.“
 

Diesmal ersparte ich mir das Nicken, aber die versteckte Botschaft dahinter verstand ich allemal: Hängt mir nicht am Rockzipfel. Und ich fühlte mich davon keinesfalls vor den Kopf gestoßen. Immerhin war Stan alleinstehend und die Gefahren, von denen er mir erzählt hatte, galten natürlich auch für ihn. Wahrscheinlich war, dass es auch für ihn die einzige Gelegenheit war, vollständig er selbst zu sein und sich zu holen, was er brauchte.
 

Dicht neben Jeffrey trat ich hinter Stan durch die Tür und traute anschließen kaum meinen Augen. Ich hatte erwartet, vielleicht in einen weiteren Flur zu gelangen oder noch eine Eingangshalle zu betreten, stand jedoch direkt in einem riesigen Ballsaal.
 

Das Parkett unter meinen Füßen war auf Hochglanz poliert und die Wände mit Spiegeln in schnörkeligen Rahmen behangen. Darin brach sich das Licht der zwei kristallenen Kronleuchter und der Kerzen, die mit ihrem flackernden Licht für eine behagliche Stimmung sorgten. An der Stirnseite standen ein riesiger Flügel in Mahagoni, der ebenso blitze und blinkte, sowie Musiker mit Streichinstrumenten. Die musikalische Untermalung des Raumes wurde von einigen wenigen zum Tanzen genutzt, doch die meisten standen aufgrund der frühen Stunde in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Die an den Seiten aufgebauten Tische mit Leckereien und Getränken waren aber auch gut besucht.
 

Nicht nur der Raum, von dem zwei geschwungene Treppen in ein weiteres Stockwerk führten, war beeindruckend, sondern auch das bunte Sammelsurium an Masken und Anzügen. Einige trugen Fracks in elegantem Schwarz oder sogar Weiß, andere – so wie wir – Anzüge, die ihre Träger nicht weniger geschmackvoll aussehen ließen. Wenn man von den Masken absah, hätte man dies für einen normalen Ball eines vermögenden Grafen halten können. Aber eben nur, bis mir die farbenfrohen Seidenschals oder andere Accessoires auffielen, die man eher an Frauen erwartet hätte. Einige trugen auch Kleider und es fiel teilweise nur an der Statur auf, dass man eben keine Frau vor sich hatte. Jedoch gab es hier nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die sich in den Armen lagen oder die Hosen trugen.
 

Alle wirkten ausgelassen und gelöst – lachten, tanzten oder verschwanden tuschelnd in Seitengängen oder in Richtung des oberen Stockwerks.
 

Stan hielt auf eine Gruppe Männer zu, die sich in diesem Moment umdrehten und ihm lachend zuwinkten. Obwohl sich hier keiner wirklich kannte, wirkten sie wie enge Freunde und vermutlich waren sie das trotz allem auch. Wie es schien, war Stan so oft hier, wie er konnte und auch, wenn man die Gesichter und Namen der anderen nicht kannte, bildeten sich Freundschaften und gar Liebschaften. Sie nahmen sich gegenseitig in die Arme und es entstand schon recht bald eine anregende Unterhaltung. Ich bewunderte das ganze Schauspiel von Weitem und war froh, dass ich Jeffrey noch neben mir hatte. Denn ich wusste absolut nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich mich dazugesellen oder die Gruppe lieber allein lassen?
 

Ich wollte Stan ungerne im Weg stehen oder gar störend auffallen. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen, bis Jeffrey mir einen Arm um die Schultern legte. Mein erster Impuls war, zurückzuzucken und einen anständigen Abstand zwischen uns zu bringen. Denn immerhin waren wir hier umringt von anderen Menschen, die uns so sehen würden. Dann wurde mir jedoch bewusst, wo wir waren. Zwar widerstand ich jetzt der Versuchung, direkt wegzulaufen, aber das steife Gefühl aus meinen Gliedern wich einfach nicht.
 

„Lass uns heute einfach Spaß habe“, raunte Jeffrey nahe an meinem Ohr. Ich bemerkte, dass er irgendeine Reaktion von mir erwartete, aber ich war schlicht überfordert. „Was immer hier heute auch passiert, wir lassen es einfach hier. In Ordnung?“ Es folgte wieder eine Pause, in der ich seinen Blick brennend auf mir spürte. „Wir können also machen, was wir wollen!“
 

Da ich weiterhin verbissen schwieg, drehte er irgendwann meinen Kopf zu sich und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Aber für mich war es, als wären tausende Blicke auf uns gerichtet und ich brachte daher nur einen kurzen Kuss zustande, den man eher seiner kleinen Schwester zugedacht hätte.
 

Jeffrey sagte nichts dazu, aber das brauchte er auch gar nicht. Ich sah an seiner Körperhaltung und an dem dünnen Strich, den seine Lippen bildeten, wie unzufrieden er war. Entschuldigend zuckte ich nur mit den Schultern. Möglicherweise wäre es besser gewesen, etwas zu sagen – mich zu erklären. Aber mir war einfach alles zu viel.
 

Daher war es für mich eine willkommene Abwechslung, als zwei junge Männer lächelnd auf uns zukamen und uns in ein Gespräch verwickelten. An ihren Stimmen erkannte ich, dass sie nicht älter als achtzehn oder vielleicht zwanzig Jahre alt sein konnten. Also in unserem Alter, weshalb schnell unverfängliche Gesprächsthemen gefunden wurden. Jedoch eher spannende Themen für Jeffrey, denn ich hatte weiterhin Probleme damit, mich zu lösen und locker zu sprechen. Ich wusste nicht, was ich sagen konnte, ohne zu viel über mich zu verraten und interessierte mich außerdem nicht im Geringsten für Fußball oder Cricket. Bei Literatur hätte ich vielleicht mitreden können, aber die beiden schlugen eher in Jeffreys Richtung und waren vollkommen begeistert, als dieser von seinen Reitkünsten prahlte. Zwar konnte ich auch reiten, aber nur, wenn es darum ging, von A nach B zu kommen und war kein halber Cowboy, wie sich das bei Jeffrey anhörte.
 

Ich bewunderte ihn übrigens: Er schaffte es, so viele spannende Geschichten zu erzählen und trotzdem gab er nichts Genaues von sich preis. Die drei lachten und scherzten schon nach kurzer Zeit, als wären sie sich bereits seit zehn Jahren bekannt. Da ich nur hin und wieder etwas zu diesem Gespräch beitragen konnte, fühlte ich mich schnell überflüssig und wahrscheinlich war ich es auch. Anfangs versuchte Jeffrey, mich noch verstärkt in das Gespräch einzubinden, aber ich nahm es ihm nicht übel, dass er dieses Vorhaben schnell aufgab.
 

Suchend blickte ich mich in dem großen Saal um und suchte nach einer Möglichkeit, mich nach und nach abzusondern. Ich fand keinen Sinn darin, noch länger hier zu stehen und das fünfte Rad am Wagen zu sein. Aber ich wollte auch nicht einfach so fluchtartig verschwinden und ein Vorwand war mir da gerade recht.
 

Kurz überlegte ich, mich eher an Stan zu halten, jedoch kam mir seine unausgesprochene Botschaft wieder in den Sinn und ich fand ihn recht eng mit einem anderen Mann im Gespräch. Auf keinen Fall wollte ich mich dazwischendrängen und fand schließlich doch einen geeigneten Weg für mich.
 

„Wo finde ich hier das WC?“, fragte ich nach einem kurzen Räuspern. Einer der jungen Männer lächelte mich verschmitzt an und deutete dann in eine Richtung mitsamt einer knappen Wegbeschreibung. „Danke“, sagte ich nickend und warf einen kurzen Blick zu Jeffrey. „Bis später“, verabschiedete ich mich, wissend, dass ich mir Zeit lassen würde.
 

Jeffrey warf mir nur einen kurzen irritierten Blick und schließlich ein Nicken zu, aber ich machte mich bereits in einen der Nebengänge auf, in welche die Beschreibung mich führte. Das Anwesen schien sehr groß zu sein und ich würde hier sicher die restliche Zeit herumbekommen. Wenn keine Türen oder Gänge abgesperrt waren, konnte ja wohl niemand etwas dagegen sagen, wenn ich mich etwas umsah. Jedoch spürte ich schon nach wenigen Metern tatsächlich einen unangenehmen Druck in der Blase und hielt mich daher exakt an die Wegbeschreibung. Außerdem war es glaubwürdiger, wenn ich tatsächlich das Badezimmer aufsuchte. Kurz musste ich über diesen Gedanken lachen, denn es war immerhin nicht so, dass ich jemandem Rechenschaft darüber ablegen musste, wo ich hinging. Seufzend setzte ich den Weg fort, bis ich einen unangenehmen Blick auf mir spürte. Suchend sah ich auf und gewahrte einen Mann, der mich interessiert musterte. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte er mich an und bewegte sich genau in meine Richtung. So schnell ich konnte, wandte ich den Blick ab und blieb vor einem der Gemälde an der Wand stehen. Es zeigte eine Landschaft, die mich nicht im Geringsten interessierte, aber ich hatte mein Ziel fast erreicht und es war mir unangenehm, vor diesem Mann ins Badezimmer zu laufen. Wahrscheinlich war es paranoid, aber ich hatte Angst, dass er mir folgen würde. Daher tat ich so, als würde das Bild mich komplett fesseln und ich ihn gar nicht bemerken. Meine Hoffnung war, dass er einfach weiterlief. Wie sich aber herausstellte, war er zu unsensibel, meine Körpersprache richtig zu deuten oder es war ihm schlicht egal. Denn er sprach mich trotzdem an.
 

„Hallo. Bist du ganz allein hier?“, fragte er mich. Ich warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu und konzentrierte mich dann weiterhin auf das Bild. Seine Stimme war zwar nicht unangenehm, dennoch störte seine Anwesenheit mich und ich fühlte mich gar bedrängt. „Möchtest du vielleicht eine Kleinigkeit mit mir trinken gehen?“
 

„Nein, bin ich nicht!“, stieß ich verspätet und gepresst aus. Dabei funkelte ich ihn so böse an, wie ich nur konnte. Verwirrt, aber dennoch lächelnd sah er mich an.
 

„Wie?“
 

„Ich bin nicht allein hier und ich möchte nichts trinken!“ Zwar war das sicherlich etwas zu schroff und er tat mir irgendwie auch leid, aber ich fühlte mich besser, nachdem seine Schritte im Gang verhallt waren. Der Blick, den er mir zugeworfen hatte, war vielsagend gewesen. Dennoch war es mir lieber, als seltsam wahrgenommen zu werden, als meine Zeit mit einem Mann zu verbringen, der ein unangenehmes Gefühl in mir hervorrief.
 

Nachdem ich mir sicher sein konnte, dass er weg war, machte ich mich auf in das Badezimmer und ließ mir so viel Zeit dabei, bis ich mir fast selbst albern vorkam. Seufzend verließ ich dieses schließlich wieder, blieb aber direkt unschlüssig stehen. Ich wusste nicht wirklich, wohin mit mir und entschloss kurzerhand, doch in den großen Saal zurückzugehen. Vielleicht sollte ich versuchen, bei der kleinen Gruppe um Jeffrey Anschluss zu finden und mich etwas kommunikativer zu geben. Zielstrebig lief ich den ganzen Weg wieder zurück, aber ein flaues Gefühl im Magen ließ mich innehalten, bevor ich ihn schließlich betrat. Etwas versteckt stand ich neben einer riesigen Topfpflanze und suchte den gesamten Saal ab, aber ich konnte weder Jeffrey, noch die zwei jungen Männer entdecken. Wahrscheinlich befanden sie sich irgendwo dort, aber der Saal war mittlerweile so voll, dass ich mir da absolut nicht sicher sein konnte. Vermutlich hätte ich mich ganz in den Raum wagen sollen und so eine größere Möglichkeit gehabt, ihn zu finden, aber ich traute mich absolut nicht.
 

Wen ich entdeckte, war Stan. Aber gerade als er den Kopf drehte und in meine Richtung blickte, zog ich mich reflexartig hinter der Pflanze zurück. Ich wollte nicht, dass er mich sah und das Gefühl bekam, er müsse mich unterhalten. Denn ich hatte ihn einige Zeit beobachten können und er schien vollkommen fasziniert von seinem Gegenüber zu sein. Um nichts in der Welt wollte ich ihm das vermiesen, also versteckte ich mich lieber.
 

Nervös lief ich ein Stück in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Nur, um direkt zu erstarren, als ich einige Stimmen hörte. Hier und da ein vergnügtes Lachen und da ein wohliges Stöhnen – aber es führte alles zu einem Ergebnis: Ich fühlte mich absolut fehl am Platz.

"Als der Pfau den Löwen traf - Teil 1"

Ich langweilte mich sehr. Bereits vor einer Weile hatte ich Jeffrey in der Masse der feiernden Leute, in der ich mich mehr als unwohl fühlte, verloren. Auch, wenn man durch die Masken nicht wusste, wer der jeweils andere war, hatten Stan und Jeffrey den Vorteil, dass sie viele hier kannten oder einfach schneller Vertrauen fassten. Schon bald waren sie in unzählige Gespräche vertieft, die mir zu persönlich waren, als dass ich ihnen hätte folgen können und zog mich daher zurück. Jeffrey schien es gar nicht zu bemerken und ich hatte nicht vor, ihm am Rockzipfel zu hängen. Auch an Stan wollte ich mich nicht heranwerfen. Ihn hatte ich erst kürzlich recht innig mit einem anderen Mann sprechen sehen und die beiden sahen aus, als benötigten sie Zeit nur zu zweit.
 

Auf keinem Fall wollte ich ihm da im Weg stehen und schon gar nicht etwas davon mitbekommen. Er konnte sich hier vergnügen wie er wollte, sehen wollte ich es auf keinen Fall. Dass hier durchaus mehr passieren konnte, war mir schnell bewusstgeworden und zum ersten Mal war ich froh, diese Maske zu tragen. Denn sie versteckte mein rot glühendes Gesicht, als ich die ersten Männer eng umschlungen und küssend vorfand oder gedämpftes Stöhnen aus einem der Zimmer wahrnahm. Oder kam es nur aus einer dunklen Nische?
 

Mir war das nicht ganz klar, aber niemand hier war gewillt, seine Zuneigung vor den anderen zu verbergen.
 

Ich jedoch hatte bisher niemanden gefunden, mit dem ich eine anregende Unterhaltung führen oder dem ich mich gar an den Hals werfen würde.
 

Außerdem war ich ja mit Jeffrey zusammen. Jeffrey. Innerlich krampfte sich in mir etwas zusammen. Sicher, ich hatte es selbst gedacht: Ich wollte ihn mit meiner verklemmten, unsicheren Art nicht stören. Aber je mehr ich ineinander verschlungene Leiber sah, umso mehr sorgte ich mich, dass er etwas Interessanteres als mich fand und musste an die beiden Männer denken. Ich war eifersüchtig, stellte ich mit einem schweren Seufzen fest.
 

„Ich bin also nicht der Einzige, der sich nicht amüsiert“, hörte ich eine ruhige und angenehme Stimme neben mir. Erstaunt drehte ich mich zu dem Mann um und musterte ihn neugierig. Er trug ein knielanges, indisches Gewand, dessen Farbe – weiß, mit den eingearbeiteten Verzierungen aus silbernen Fäden – in krassem Gegensatz zu seiner dunklen Haut stand. Unter seinem Turban ging ein rabenschwarzer Pferdeschwanz bis zur Mitte seines Rückens hervor. Sein sanftes Lächeln war alles, dass ich von seinem Gesicht erkannte, denn der Rest war von einer kunstvollen Löwenmaske verdeckt.
 

Der Mann war eine Erscheinung, wie ich sie noch nie gesehen hatte und mein Kopf begann bereits, wilde Vermutungen anzustellen, wer er sein könnte. Er musste ein machtvoller Mensch sein, womöglich reich. Vielleicht war er gar ein Maharadscha. Warum sollte sich so jemand mit mir abgeben? Warum verschwendete er ein einziges Wort an mich?
 

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und zu spät bemerkte ich, dass ich ihn die ganze Zeit anstarrte. Peinlich berührt drehte ich den Kopf weg und starrte auf meine Fußspitzen.
 

„Verzeiht“, murmelte ich und war froh, dass die furchtbare Pfauenmaske mein Gesicht verbarg. Das einzige, was er von mir sehen konnte, waren meine Lippen. Und nur sie verrieten, dass ich mich mehr als unwohl fühlte, aber ich konnte das ständige Knabbern darauf nicht unterdrücken.
 

„Deine Maske ist das Schönste, das ich hier bisher gesehen habe“, begann er wieder das Gespräch mit mir. Kurz schielte ich wieder zu ihm herüber, vernahm jedoch weder in seiner Stimme, noch auf seinen Lippen Spott. Er musste das tatsächlich ernst meinen.
 

„Ich ...“ Meine Stimme war kratzig und ich musste mich räuspern, um sie klar zu bekommen. Dennoch fand ich einfach meine Sicherheit nicht und konnte absolut nicht verstehen, was mit mir los war. „Ich finde sie ehrlich gesagt schrecklich. Ich trage sie so freiwillig, wie ich hier bin.“
 

„Hm“, machte er nachdenklich und der Laut jagte mir eine Gänsehaut über den gesamten Körper. Seine Stimme war dabei so tief. Ein Brummen tief aus seiner Brust, dass ich mir das Vibrieren, welches durch seinen Körper gehen musste, nur zu gut vorstellen konnte. „Und dennoch bist du hier“, stellte er lächelnd fest. „Vielleicht ist das Vorsehung? Immerhin würde ich mich allein langweilen, wenn du nicht hier wärst.“
 

Ich lachte. Es kam so spontan aus mir heraus, dass ich mich selbst verwundert angeblickt hätte.
 

„Ich glaube nicht, dass ich so eine gute Gesellschaft bin“, versuchte ich zu erklären. Wie sollte ich mir mit diesem Mann die Zeit vertreiben, wenn ich nicht einmal sprechen konnte, ohne dass mir die Stimme versagte?
 

„Bisher empfinde ich es als recht angenehm“, gab er zu und ich horchte verwundert der leisen Freude in mir nach.
 

Schüchtern musterte ich wieder den teuren Marmorboden unter meinen Füßen und zuckte zusammen, als ich ein langgezogenes Stöhnen hörte. Stan hatte es mir erklärt. Aber ich konnte dennoch nicht damit umgehen, dass alle hier so offen mit ihrer Sexualität umgingen und sich hemmungslos liebten. Ihnen musste klar sein, dass jeder sie hören und sich vorstellen konnte, was sie taten. Jedoch war dies hier für die meisten, die dieses Fest besuchten, die einzige Möglichkeit, sie selbst zu sein. Viele hatten sogar Ehefrauen und Familien, aber hier konnten sie sich einem anderen hingeben, ohne Angst vor Verurteilung zu haben. Es war weitestgehend sicher, da niemand wusste, wer der andere war. Bis auf wenige Ausnahmen, wenn ich an Stan, Jeffrey und mich dachte. Aber keiner von uns würde die Identität des anderen verraten.
 

War das meine Zukunft? Würde sich Jeffrey und ich Ehefrauen nehmen und uns immer nur hier treffen können? In der Hoffnung, dass keiner dieses Fest verriet und damit alle in Gefahr brachte. Oder gab es eine Möglichkeit, dass wir zusammen sein konnten. Dann jedoch wären wir dem permanenten, gesellschaftlichen Starren ausgesetzt. Eine Abscheulichkeit, der man aus dem Weg ging oder besser noch, versuchte, sie zu tilgen. Wieder entfuhr mir ein schwerer, trauernder Laut. Ich wollte kein Doppelleben, keine ständige Gefahr um mich herum, aber ich wollte ich selbst sein.
 

„Wollen wir vielleicht irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist?“, fragte mich der Mann mit der Löwenmaske und ich blickte ihm geschockt entgegen. Wieder hörte ich eine Stimme lustvolle Geräusche ausstoßen und kurz darauf eine zweite. Meine Gedanken gingen unwillkürlich in die Nacht zurück, in der Jeffrey und ich uns geliebt hatten. Zum ersten Mal auf diese Art, die mich noch immer ziemlich verwirrte. Es war mir zuerst unvorstellbar erschienen, die Männlichkeit eines anderen in sich aufzunehmen und ich erinnerte mich auch an den Schmerz, der damit verbunden war. Doch dass dieses Gefühl ebenso in Lust umschlagen konnte, war eine verwirrende Erfahrung gewesen, die ich noch nicht ganz verarbeitet hatte. Auch wenn ich diese Lust eben nur kurz gefühlt hatte.
 

„Ich … ich weiß nicht … ob ich das kann“, murmelte ich und damit wurde mir eine ganz andere Sache bewusst. Ein gewisser Teil in mir, war durchaus bereit, mit diesem vollkommen fremden Mann mitzugehen. Aber war er wirklich ein Fremder?
 

Verstohlen musterte ich ihn und fragte mich, woher das vertraute Gefühl kam. Ich fühlte mich in keinster Weise unwohl in seiner Nähe. Es war eher so, dass meine Empfindungen mich verunsicherten.
 

„Ich denke, dass du es schaffen kannst, eine Tasse Tee mit mir zu trinken.“ Er zwinkerte – ich erahnte es mehr, als dass ich es sah – aber die Geste zauberte mir ein verhaltenes Lächeln auf die Lippen und ich konnte es nicht über mich bringen, abzulehnen. Und wenn ich es nüchtern betrachtete: Ich hatte die Wahl zwischen hier weiter nutzlos herumstehen oder einen Tee mit einem äußerst sympathischen Mann zu trinken. Ich wusste nicht, woher die Sicherheit kam, aber ich war fest davon überzeugt, dass er nichts gegen meinen Willen tun würde.
 

„Also gut.“
 

„Schön!“ Sein strahlendes Lächeln offenbarte weiße, makellose Zähne und ich konnte mir vorstellen, dass dieser Mann wunderschön aussehen musste. Die geschwungenen Lippen, sein dunkelbrauner Hautton und die Form seines Gesichtes – auch wenn ich nur die Kinnpartie sah – erfüllten mich mit tiefer Zuneigung. „Ich glaube, die Küche war in dieser Richtung.“
 

Mit einer geschmeidigen Bewegung, die mich an eine Katze erinnerte, drehte er sich um und deutete den Gang hinab. Ich nickte und folgte ihm dann. Während wir eher still nebeneinander hergingen, stellte ich fest, dass die Küche tatsächlich recht abseits von allem lag. So wären wir auf jeden Fall sicher vor den anderen Partygästen und ihren Ausschweifungen. Der Gedanke erfüllte mich mit einer angenehmen Ruhe, bis mir bewusstwurde, dass ich weit ab von allem und in der Gesellschaft eines fremden Mannes war. Dazu kam, dass weder Jeffrey, noch Stan wussten, wo ich hingegangen war.
 

Ich konnte nicht genau ausmachen, wie alt er wohl war – wobei er mir noch recht jung erschien – aber er überragte mich um gut einen Kopf und auch wenn sein Körper schlank war, erahnte ich seine Muskeln an seiner breiten Schulterpartie. Wenn er vorhatte, mich zu überwältigen, würde ich nichts dagegen tun können.
 

Eigentlich hätte ich von Angst erfüllt sein müssen, aber ich spürte nur eine leichte Nervosität. Mehr nicht. Etwas tief in mir war fest überzeugt, dass mir keine Gefahr drohte. Sonst hätte ich nicht eingewilligt, mit ihm zu gehen.
 

Ich war so in meinen Gedanken vertieft, dass ich in ihn hineinlief, als er vor einer der Türen stoppte. Erschrocken taumelte ich zur Seite weg und wäre sicherlich gestürzt, wenn er nicht beherzt zugegriffen hätte. Sicher landete ich in seinen Armen und wunderte mich erneut, wie schnell und grazil er sich bewegen konnte. Ich hatte auf dem ganzen Weg hierher seine Schritte kaum vernommen und daher auch nicht bemerkt, dass er schon längst angehalten hatte. Dieser Mann war nicht nur durch seine Maske ein Rätsel, das mich beschäftigte. Alles an ihm machte mich neugierig.
 

„Bist du in Ordnung?“, fragte er in einem leicht erschrockenen Tonfall. Ich holte tief Luft und nickte, bevor ich mich langsam aus seinem Griff befreite. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, hatte ich angefangen, leicht zu zittern. Ich biss die Zähne fest aufeinander und schlang die Arme um mich, aber es hörte einfach nicht auf. Immer wieder hörte ich das Knacken von brechendem Eis und fühlte das eisige Wasser, das mich umspülte. Warum kamen diese Erinnerungen gerade jetzt wieder in mir hoch? Seit Tagen hatte ich nicht mehr daran gedacht und nun, mitten aus dem Nichts, kam alles wieder hoch.
 

„Komm.“ Ich fühlte seine Hand in meinem Rücken, die mich sanft in den Raum hineinschob und wie er mich schließlich auf eine Bank, nahe neben dem Ofen, hinabdrückte. „Ich mache schnell Feuer, dann wird es gleich wärmer.“
 

Mit keiner Silbe hatte ich erwähnt, dass ich fror, doch er hatte die Situation sofort richtig eingeschätzt.
 

Mit fliegenden Fingern legte er kleine Holzscheite und einiges an Altpapier, das neben dem Ofen stand, in das Innere und entzündete ein weiteres zusammengeknülltes Papier. Einige Sekunden hielt er es in der Hand, ging sicher, dass es richtig Feuer gefangen hatte und legte es dann schon fast bedächtig in die Öffnung. Nachdem er den Ofen sorgfältig verschlossen hatte, sprang er auf die Füße und durchsuchte die Schränke. Während er dies tat, beobachtete ich ihn unauffällig und wunderte mich, wie gut er sich damit auskannte. Er bereitete Teetassen und die Kanne auf einem Tablett vor, während er Holz in den Ofen zugab und sich immer wieder erkundigte, ob ich mich besser fühlen würde.
 

Vor wenigen Minuten hatte ich noch gedacht, es mit einem König zu tun zu haben, nun erschien er mir, als hätte er seinen Lebtag nichts Anderes gemacht, als zu dienen. Aber er strahlte dabei eine Würde aus, die der eines Maharadschas ebenbürtig war und ich wäre nie auf die Idee gekommen, etwas Geringes in ihm zu sehen.
 

Ich rieb mir die kühlen Hände und jetzt, wo das Feuer behaglich im Ofen knackte, merkte ich erst, dass die Kälte nicht nur von meinen Emotionen kam. Es war hier tatsächlich sehr kalt gewesen und ein Blick durch den kargen Raum sagte mir auch, warum. Anders als der Rest des Anwesens bestand dieser Raum nur aus puren Backsteinwänden, die auch fast alle Außenwände sein mussten. Daher musste der Raum im Winter einem Eisschrank ähneln und auch jetzt, im Frühling, war es hier sehr kalt. Das Gute daran war, dass Vorräte nicht so schnell verderben konnten, aber bis der Ofen den Raum aufgeheizt hatte, zitterte ich wie Espenlaub.
 

Der Mann füllte Wasser in einen Kessel und stellte ihn dann auf die nun glühende Kochstelle, während er den Rest des Service auf dem Küchentisch anrichtete. Mit einer knappen Handbewegung deutete er mir an, dass ich zu ihm herüberkommen sollte. Etwas wehmütig ging mir dabei durch den Kopf, dass ich dann weiter weg von dem warmen Feuer sein würde.
 

Aber wieder überraschte der Fremde mich. Kaum war ich aufgestanden, sah ich, dass er eine säuberlich zusammengefaltete Decke in den Händen hielt. Diese legte er mir um die Schultern, als ich mich auf dem Stuhl, auf den er deutete, niedergelassen hatte.
 

Mir wurde angenehm warm. Es war wie vorhin mit der Kälte. Das Gefühl wurde nicht nur durch die äußeren Gegebenheiten hervorgerufen, sondern kam tief aus mir. Nur dass es diesmal nicht unangenehm war.
 

Obwohl ich ihm vollkommen egal sein konnte, kümmerte er sich um mich, als hinge sein Leben davon ab. Außerdem hatte er mich auf den Stuhl dirigiert, der am nächsten am Ofen war.
 

Sozusagen der beste Platz hier in der Küche, den er durchaus auch für sich hätte beanspruchen können.
 

„Es tut mir leid“, murmelte er, während er sich neben mich an die Stirnseite des Tisches setzte. „Der Raum ist wahrscheinlich der ruhigste von allen. Leider ist er wohl auch der kälteste.“
 

Ich konnte nicht anders, als nur zu nicken, während ich mich von seinem Blick sanft gemustert fühlte. Leider konnte ich nicht viel von seinen Augen erkennen. Sie schienen recht dunkel zu sein, fast schon schwarz. Aber das konnte auch an den Schatten liegen, die seine Maske warf. Möglicherweise hatte er eine ganz andere Augenfarbe, als ich dachte. Jedoch bezauberte mich dieses tiefe Schwarz, das so unergründlich war, wie er selbst.
 

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus und ich suchte fieberhaft nach einer Antwort, die ich ihm geben sollte. Aber alles, was mir einfiel, war zu belanglos, um ihn damit zu langweilen. In mir wuchs die unangenehme Angst, dass er das Interesse an mir verlieren könnte und einfach gehen würde. Das wollte ich nicht.
 

Mir war bewusst, wie unwirklich diese Situation war. Wir waren beide hier auf dieser Feier, auf der niemand vom anderen erkannt werden wollte. Es gab keine Verpflichtungen an die andere Person und wenn der Abend endete, würde ich ihn nie wiedersehen. Daher wäre es klug gewesen, ihn gehen zu lassen. Mich gar nicht erst mit ihm in Verbindung zu bringen. Aber ich konnte nicht. Wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, die Ewigkeit mit ihm in dieser Küche zu verbringen, hätte ich sie genutzt.
 

Der Wasserkessel pfiff.
 

Also wollte das Pfeifen mich ermahnen, wer ich war und wo ich mich befand. Ich war im Vergleich mit ihm ein törichter Junge. Unselbstständig, unerfahren und dumm. Außerdem hatte ich mein Herz einem anderen geschenkt.
 

Auch der Fremde sah aus, als würde er für einige Sekunden nicht begreifen, was das für ein Geräusch war, bis er schließlich aufsprang und, mit Hilfe eines Tuches, den heißen Kessel von der Feuerstelle nahm.
 

„Vorsichtig“, warnte er mich und schob sich neben mich, um die Teekanne aufzufüllen. Wieder einmal hatte ich seine Bewegungen kaum wahrgenommen und ohne seinen Hinweis hätte ich ihm vermutlich wirklich vor Schreck den Kessel aus der Hand geschlagen.
 

„Danke“, sagte ich und ließ mit Absicht aus, was ich damit genau meinte. Danke, dafür dass er mich vor der beängstigenden Feier gerettet hatte? Dafür, dass er für Wärme sorgte oder dass er stets so vorausschauend war?
 

Ich wusste es selbst nicht genau, aber ich fühlte Dankbarkeit und wollte ihn daran teilhaben lassen.
 

„Wie kommt es, dass du hier bist, wenn das alles dir so unangenehm ist?“, fragte er mich jetzt sehr offen, jedoch nicht lauernd. Aus seiner Stimme sprach reines Interesse.
 

Gerade, als ich antworten wollte, unterbrach er mich noch einmal; selbst dabei war er nicht forsch, sondern einfühlsam. „Vergiss nicht: Sage nichts, was mir einen Hinweis darauf geben könnte, wer du bist.“
 

Ich nickte. Tatsächlich hätte es mir passieren können, dass mir ohne, dass ich es wollte, ein Name oder ein Ort herausgerutscht wäre, der mich verraten hätte.
 

„Ich bin hier mit … zwei Freunden“, sagte ich stockend und überlegte mir, was ich sagen konnte und was nicht. „Sie … sind mit dem allen sicherer als ich und es bedeutet ihnen viel, daher wollte ich sie nicht davon abhalten.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn ich mich dagegen ausgesprochen hätte, wären wir wohl alle nicht hier und ich wollte ihnen das nicht nehmen.“
 

„Also hast du dich selbst zurückgestellt, um es anderen recht zu machen“, stellte er treffend fest, während er uns beiden Tee eingoss. Ich verzog die Lippen, denn seine Aussage stellte Jeffrey und Stan in einem schlechteren Licht dar, als sie es verdient hatten. Sie zwangen mich zu nichts und wollten nur, dass ich das alles einmal kennengelernt hatte. Um zu sehen, dass ich nicht allein war. Dass es noch so viele gab, wie ich war, auch wenn sie sich hinter unzähligen falschen Leben versteckten.
 

„Nein, ich wollte nur nicht ...“
 

Ich brach ab. Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte und wenn ich es genau betrachtete, hatte ich es den beiden rechtmachen wollen. Oder vielmehr Jeffrey. Die Angst, er könnte mich als verklemmten Langweiler sehen, war zu groß gewesen, als dass ich klar sagen konnte, mir würde eine Feier, in der alle sich offen lieben konnten, Angst machen.
 

Nun saß ich hier und wusste nicht, wohin mit mir. Erschrocken sah ich auf, als ich seine Hand auf meiner fühlte.
 

„Diese Eigenschaft ehrt dich. Sie zeigt, dass du ein gutes Herz hast. Aber pass auf, dass niemand das ausnutzt. Nicht jeder ist so rein wie du. Selbst ich nicht.“
 

Erstaunt sah ich ihn an und konnte nicht recht glauben, was er mir damit zu verstehen geben wollte. Nach wie vor war er mir fremd, aber ich konnte nicht glauben, dass er mir etwas antun könnte. Wollte er mir gerade sagen, dass er trotz allem dazu in der Lage wäre? Dass die Sicherheit, die ich fühlte, trügerisch war?
 

Er nahm die Hand nicht etwa von meiner, sondern umschloss sie fester. Jedoch so, dass ich jederzeit in der Lage war, Abstand zwischen uns zu bringen. Dennoch tat ich es nicht. Die Berührung war unerwartet, aber nicht etwa unangenehm.
 

„Ich habe dich nicht nur angesprochen, weil wir beide uns vollkommen fehl am Platz gefühlt haben“, offenbarte er mir jetzt und ich hing gebannt an seinen Lippen. „Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin und normalerweise halte ich mich dennoch von allem fern. Nur einmal habe ich es nicht getan und mich auf etwas eingelassen.“ Nun war er es, der kurz schwieg und zu überlegen schien, was er mir sagen konnte, bevor er mit Bedacht die nächsten Worte wählte. „Nur so viel: Es ging nicht gut aus und das ist eigentlich noch untertrieben. Dennoch komme ich her, auch wenn ich nichts suche.“
 

Er nippte an seinem Tee und ich fragte mich, was das mit mir zu tun hatte, wagte es jedoch nicht, ein Wort zu sagen.
 

„Ich habe eine Aufgabe, von der ich mich nie abwenden werde, weil die Person mir mehr bedeutet als alles auf der Welt. Aber gleichzeitig könnte er nicht weiter von mir entfernt sein. Er ist unerreichbar, weißt du? Nie würde ich es wagen, meine Hand an ihn zu legen und ihn mit dem zu besudeln, was ich bin.“
 

Seine Beichte jagte mir einen Schauer über den gesamten Körper und ich fragte mich unwillkürlich, wer diese Person war, der er solch eine Liebe entgegenbrachte. Mein Herz schlug schneller.
 

„Als ich dich da so einsam hab stehen sehen, musste ich an ihn denken. Natürlich ist es ausgeschlossen, dass er hier sein könnte. Wenn dem so wäre, hätte ich wohl versagt, denn er sollte jetzt ...“ Er brach mit einem Mal ab und mir wurde bewusst, dass er mir fast verraten hätte, wo die Person, die er liebte, sich befand. Ich errötete, während er sich neu sortierte. „Mir ist gerade bewusstgeworden, dass ich dabei bin, dich auszunutzen. Du bist nicht er und dennoch ist die Vorstellung gerade zu verlockend, aber ich bin nicht wie viele andere hier. Also verzeih mir, was ich gesagt habe. Ich werde es nicht ...“
 

Als würde mein Körper sich von selbst bewegen, sprang ich auf und erstickte seine Worte mit meinen Lippen.

"Als der Pfau den Löwen traf - Teil 2"

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

"Phönix aus der Asche"

Mit weichen Knien ließ ich mich am Küchentisch nieder, der frisch geputzt erstrahlte, und umklammerte die warme Teetasse. Es fühlte sich an, als hätte ein Teil von mir die ganze Zeit über geschlafen und war nun dabei, wieder aufzuwachen. Siedend heiß wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Obwohl es sich so gut und richtig angefühlt hatte, machten sich nun doch Zweifel in mir breit. Auch wenn diese Feier dafür gedacht war, den starren Zwängen der Gesellschaft zu entfliehen, blieb es doch, was es war. Ich hatte Jeffrey betrogen!
 

Dass Jeffrey es vielleicht auch getan hatte, ließ mich in keinem besseren Licht dastehen. Außerdem hatte ich keinerlei Beweise dafür. Nur weil er mit diesen zwei Männern eine anregende Unterhaltung geführt hatte und dann verschwunden war, hieß das nicht, dass es tatsächlich zu so etwas gekommen war. Aber ich hatte es getan!
 

Seufzend vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und wünschte mir das sichere Gefühl, das ich in der Gegenwart des Fremden hatte, zurück. Im Nachhinein konnte ich nicht verstehen, was in mich gefahren war. Warum hatte ich mich bei ihm so wohlgefühlt, dass es mir vollkommen richtig erschien, mit ihm zu schlafen?
 

Mir wurde heiß und kalt, als mir plötzlich ein anderer Aspekt in den Sinn kam. Mein Traum fiel mir wieder ein und damit taten es auch die Schlüsse, die ich daraus gezogen hatte. Als wäre dies der Startschuss gewesen, begann mein Kopf, automatisch Wahrscheinlichkeiten zu überschlagen.
 

Die Schrift auf dem Zettel des Fremden war Stans gewesen – da war ich mir jetzt sicher – und das hieß, mein dunkelhäutiger Retter stand in einer Beziehung zu Stan. Damit drängte sich mir die Frage auf, wie viele dunkelhäutige Menschen auf dieser Feier wohl so herumliefen?
 

Ich hatte, außer ihm, keinen gesehen. Mein Mund wurde ganz trocken, während mein Herz noch einige Takte schneller schlug. Mit einem Stöhnen vergrub ich die Hände in den Federschmuck und meine Haare.
 

„Scheiße!“, murmelte ich immer wieder und hätte am liebsten geheult. Die Vermutung, dass ich gerade mit Stans Exfreund geschlafen hatte, wurde mit jeder Sekunde, die verstrich, wahrscheinlicher. Ich hatte also nicht nur Jeffrey betrogen, sondern auch den Mann angefasst, den Stan über alles liebte. Aber ich auch, dachte ich. Ich liebte ihn auch.
 

Jedoch waren Stan und Jeffrey mittlerweile zu so etwas wie eine Familie geworden und ich wollte sie nicht verlieren. Es lag mir auch fern, sie zu verletzen, aber das hatte ich. Auf keinen Fall durften sie erfahren, was hier passiert war!
 

Ich würde den Verstand verlieren, wenn sie sich von mir abwenden würden. Aber was hatte Jeffrey gesagt? Was auf der Feier geschah, blieb auch da? Entschlossen nickte ich und schluckte den festen Kloß in meinem Hals herunter. Das war die einzige Lösung, bei der keiner von uns verletzt werden würde.
 

Dennoch wollte ich diese Nacht nicht als Fehler ansehen, denn ich hatte es wirklich genossen und wenn ich ehrlich war, sehnte ich mich zurück in die Arme des Fremden. Ich wollte es nicht nur negativ sehen und beschloss, es als eine schöne Erinnerung zu vermerken, die ich mit niemandem teilen konnte. Langsam ließ ich die verkrampften Hände wieder sinken, straffte die Schultern und stand auf.
 

Sorgfältig wusch ich das Geschirr aus und stellte es an seinen angestammten Platz zurück. Dann drehte ich mich seufzend um meine eigene Achse und betrachtete den Raum eingehend. Nichts gab mehr einen Hinweis darauf, was hier geschehen war. Nur die Erinnerungen in meinem Kopf verrieten es mir.
 

Ob ich wollte oder nicht.
 

Es war besser, sie dort zu lassen. Tief in meinem Gedächtnis, wo niemand sie finden würde. Vielleicht würde mein Gewissen sich daran gewöhnen und aufhören, in meinem Kopf umherzuschreien.
 

Wie in Trance lief ich zur Tür und wiederholte immer wieder, dass es in Ordnung war. Ich hatte nur das gemacht, was mein Herz mir gesagt hatte. Wer sollte mich dafür verurteilen?
 

Mit raumgreifenden Schritten durchquerte ich die Gänge und kam schon bald in dem Teil des Gebäudes an, wo sich der große Festsaal befand. Es war schon sehr spät – oder eher früh am Morgen – und die Masse der Menschen war überschaubar geworden. Schon von Weitem erkannte ich Jeffrey und Stan, die beieinanderstanden und sich unterhielten. Beide wirkten vollkommen gelöst und entspannt. Automatisch stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht, doch dann zog sich etwas in mir zusammen, als hätte mir jemand eine Faust in den Bauch gerammt. Mit einem schnellen Schritt zog ich mich hinter einer großen Topfpflanze zurück.
 

Mit Ironie stellte ich fest, dass es die gleiche war, mit der das Ganze irgendwie angefangen hatte. Geflissentlich überprüfte ich den Sitz meiner Kleidung und war dankbar für den Spiegel an der Wand, in dem ich nach weiteren verräterischen Spuren suchte.
 

Da war absolut nichts – außer meinem nagenden Gewissen.
 

Tief einatmend befahl ich der Stimme, zu schweigen und lächelte. So lange, bis es für mich natürlich und überzeugend aussah. Na also, es ging doch!
 

Ohne weiteres Zögern und Zaudern trat ich aus meinem Versteck und lief den beiden entgegen. Stan erblickte mich zuerst und die Freude auf seinem Gesicht war absolut echt.
 

„Da bist du ja“, rief er aus, als ich noch wenige Meter entfernt war. „Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst.“
 

Während mein Kopf seine Stimme und Worte nach einem stummen Vorwurf absuchte, legte sich ein verlegenes Lächeln auf meine Lippen. Ohne dass ich viel dazutun musste, schnellte eine Hand nach oben und ich kratzte mich peinlich berührt am Kopf.
 

„Hast du die Party irgendwo anders hinverlegt?“, fragte Jeffrey grinsend. Ein Scherz, eindeutig. Aber er konnte ja auch nicht ahnen, wie richtig er damit lag.
 

„Als ob!“, stieß ich aus und hoffte, dass das Timing stimmte. Zu schnell oder zu langsam könnte vielleicht verdächtig wirken. „Nein, ich hatte mir das Haus etwas angesehen und mich dabei wohl etwas verirrt.“ Mit gequältem Gesichtsausdruck zuckte ich mit den Achseln und war froh, als Stan verkündete, dass wir nun aufbrechen würden.
 

Wir verließen die Feier auf die gleiche Art, wie wir sie betreten hatten. Der einzige Unterschied war, dass mir nun die Fahrt mit der Kutsche länger vorkam als am Abend zuvor. Der enge Raum und das Fehlen von Ablenkungen ließen mir kaum Möglichkeiten, die Stimme meines schlechten Gewissens zu überhören.
 

Mehr als einmal überlegte ich, den beiden alles zu beichten, nur damit ein Teil des Drucks von meinen Schultern genommen würde. Aber ich mochte mir nicht ausmalen, was dann geschehen könnte. Also biss ich mir auf die Zunge und schwieg. Irgendwann lehnte ich den Kopf gegen die Seitenwand der Kabine und döste vor mich hin. Ich hatte den Vorteil, dass Jeffrey und Stan, die sich leise unterhielten, schlicht dachten, ich sei müde. Und das war ja gar nicht so falsch.
 

Ich war absolut erschöpft und schon bald waren meine Augenlider so schwer, dass ich darauf verzichtete, sie offenhalten zu wollen.
 

„Mike, wir sind da“, hörte ich eine entfernte Stimme und jemand begann sanft, aber nachdrücklich, an mir zu rütteln. Murrend rückte ich weiter von Stan weg und drückte mich mehr gegen die Wand. Ich wollte noch schlafen und sah es gar nicht ein, jetzt wieder in die Realität zurückzukehren. „Mike“, vernahm ich wieder Stans Stimme. „Wir müssen aussteigen. Jeffrey wartet schon und der Kutscher hat auch nicht mehr viel Geduld. Wach auf! Ich würde dich ja tragen, aber das ist mir auf Dauer zu schwer und sieht auch komisch aus.“
 

Mit einem Schlag wurde mir erst so richtig bewusst, wer mir so nahe war und die Vorstellung, Stan würde mich auf den Arm nehmen, ließ mich entsetzt aufspringen. „Argh!“, entfuhr es mir, als ich mir mit voller Wucht den Kopf am Kabinendach anschlug, sodass ich Sternchen sah. Jammernd umklammerte ich meinen Hinterkopf mit den Händen und brauchte einige Sekunden, bis ich es schaffte, die Tränen wegzublinzeln.
 

„Verdammt Mike. Ist alles in Ordnung?“, hörte ich Stan erschrocken fragen und fühlte seine Hände an meinen Schultern. Es brannte sich wie Feuer in mein Gewissen. Schnell drehte ich mich so, dass seine Hände von mir glitten und hastete aus dem Wagen.
 

„Schon gut. Ist nichts passiert“, beschwichtigte ich ihn dabei. Dass der Kutscher deutlich entnervt an seiner Zigarette zog und die Zügel knallen ließ, sobald Stan hinter mir ausgestiegen war, kaschierte, dass mein Verhalten etwas übersteigert war. „Voll blöd von mir!“, lachte ich und sah die 1000 Fragezeichen in Stans Augen weichen. „Ich hatte vergessen, wo ich war und hab nicht damit gerechnet, dass die Decke so tief hängt.“
 

„Na, solange du dich nicht ernsthaft verletzt hast. Lasst uns gehen. Ich bin auch ziemlich müde und freue mich auf mein Bett.“
 

Der Gedanke an eine ausgedehnte Mütze Schlaf beflügelte auch mich und ich schaffte es, die letzten Kraftreserven aus meinen müden Knochen zu holen. Der einzige, der noch voller Energie zu sein schien, war Jeffrey und ich fragte mich ernsthaft, wo er die hernahm.
 

Nach allem was passiert war, hatte ich nicht damit gerechnet, aber als mein Kopf das Kissen berührte, fiel ich sofort in einen traumlosen, tiefen Schlaf. Ich erwachte erst spät am Nachmittag, eingekuschelt in Jeffreys Armen. Die wohlige Wärme nahm mich im ersten Moment so gefangen, dass ich die Augen wieder schloss und weiterschlafen wollte. Doch dann fiel mir ein, was ich in der vergangenen Nacht getan hatte und ich versteifte mich innerlich. Nur mit Mühe widerstand ich dem Drang, von ihm wegzurücken und eigentlich wollte ich es auch gar nicht.
 

Ich konnte absolut deutlich fühlen, dass mein Herz nicht nur vor Scham so heftig schlug. Trotz allem was passiert war, liebte ich Jeffrey wie am ersten Tag. Auch wenn mir nicht klar war, wie meine Taten dazu passen sollten.
 

Während ich ihn so musterte, kam wieder Leben in Jeffreys schlafende Gestalt und er öffnete die Augen. Was ich in seinem Blick erkannte, ließ mich erschrecken. Es war nur für einen klitzekleinen Moment, aber ich kannte diesen Blick von ihm. Schuld. Und nicht etwa die, die er anderen gab und welche eher in Zorn gipfelte. Nein, es war der Blick, den er bekam, wenn er etwas ausgefressen hatte.
 

Jedoch verschwand der Ausdruck schnell und es machte für mich eher Sinn, dass ich mich in seinen Augen gespiegelt hatte.
 

„Guten Morgen“, sagte er. Hatte seine Stimme gezittert? Oder übertrug ich meine Empfindungen sogar bis in seine Stimme, in die ich alles Mögliche hineintransportierte?
 

Eine steile Falte bildete sich zwischen meinen Augen, während er mich genauso prüfend musterte, wie ich ihn.
 

„Es müsste eher heißen: Guten Abend“, meinte ich und fühlte deutlich, wie ich meine Worte hinausschickte, damit sie von mir ablenkten. Und Jeffrey schien seine ebenso mit Bedacht zu wählen.
 

„Ist nicht immer Morgen, nachdem man aufwacht?“
 

Es waren belanglose Worte, die wir tauschten. Aber es war, als wären wir Raubkatzen, die sich lauernd umschlichen und darauf warteten, wer zuerst den Sprung wagen würde, um den anderen seine Krallen fühlen zu lassen.
 

Zwei Sekunden.
 

So lange schwiegen wir uns an, bis wir plötzlich beide nach vorne schossen und den anderen in einen Kuss verwickelten. Und es war der verrückteste und erotischste Kuss, den ich jemals erlebt hatte. Frei von Rücksicht auf den anderen und dennoch voller verquerer Liebe. Als würden wir versuchen, den anderen damit zum Schweigen zu bringen. Oder etwas in uns.
 

Meine Finger fuhren mit mehr Druck, als angenehm sein konnte, über seinen Körper und folgten dabei Jeffreys Beispiel. Und obwohl ich mich an die missglückte Nacht mit ihm erinnerte, machte mir das nichts aus. Es versetzte mich sogar in Aufregung.
 

Wie es schien, hatte ich einen Teil von mir auf der Feier zurückgelassen und Platz für etwas Neues gemacht. Ein Vertrauen in mich, das sich nicht so einfach erschüttern lassen wollte.
 

In den folgenden Minuten liebten wir uns mit einer Intensität, die nicht nur mich überraschte, sondern auch Jeffrey. Sein überraschter Gesichtsausdruck wich jedoch schnell einem breiten Grinsen, während wir uns beide erbarmungslos zum Höhepunkt trieben.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  MarryDeLioncourt
2019-08-10T05:55:01+00:00 10.08.2019 07:55
Hey, bisher sehr schön. Mit Witz , Humor und liebe. Aber ich hoffe es geht schnell weiter. Und was ist wirklich in dem besagten Flügel der Schule, den man nicht betreten darf? Bin sehr gespannt ☺️.
LG Marry
Antwort von:  MarySueLosthername
04.09.2019 21:48
Hey. Irgendwie hab ich das seit Wochen verpeilt mich hier anzumelden.^^' Ich werd dann mal nen paar Uploads machen. Erst bis Kapitel 8... Na sowas...


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