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[Operation Nautilus] Andara-House

Mein letztes Jahr
von

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"Im Eis erstarrt"

Der Februar näherte sich dem Ende und da der Winter dieses Jahr sehr früh ins Land gezogen war, schien er seine Arbeit als getan zu betrachten. Der Schnee hatte vor etwa einer Woche begonnen, zu schmelzen, was jedoch nicht auf mein Verhältnis zu Jeffrey zutraf. Wenn es darum ging, schien eine neue Eiszeit angebrochen zu sein und nichts würde die Mauern um mein Herz so schnell wieder einreißen können.

Jeffrey hatte in den letzten zwei Monaten immer wieder versucht, das Gespräch mit mir zu suchen, aber ich hatte nicht vor, ihm eine Chance zu geben. Er hatte sie bereits gehabt und mich arg enttäuscht.

„Hey“, hörte ich eine geflüsterte Stimme hinter mir und versuchte, sie zu ignorieren. Bereits zum dritten Mal versuchte Paul, mir eines der kleinen Zettelchen zuzustecken, die Jeffrey mir andauernd schrieb. Zwei davon hatte ich bereits zerknüllt in meine Hosentasche gestopft. Ich hatte nicht gelesen, was darauf stand. Es interessierte mich nicht und es war mir auch zu riskant. Es war schon genug, wenn Mr. Wilson bemerkte, dass diese durch das Klassenzimmer wanderten und sie womöglich noch las. Inständig hoffte ich, dass Jeffrey so schlau war und nichts darauf schrieb, dass klarwerden ließ, was vor zwei Monaten im Westflügel passiert war. Andernfalls hätte er sich auch direkt auf das Lehrerpult stellen können, um es der ganzen Klasse zu erzählen.

Wann würde er mich endlich in Ruhe lassen? Es war doch schon genug gewesen, dass er mich so bloßgestellt hatte. Allein die Erinnerung daran ließ mir die Schamesröte ins Gesicht steigen und ich wollte nichts, außer es bald zu vergessen. Leider aber erinnerte Jeffrey mich fast täglich daran. Er hatte es anscheinend nicht ernst gemeint und der Kuss schien ihn abgeschreckt zu haben. Warum also ließ er es nicht endlich sein?

„Hey Mike“, versuchte Paul es erneut, aber diesmal war es dir Schulglocke, die mich rettete.

Verbissen raffte ich meine Bücher zusammen und achtete darauf, dass kein verräterisches Zettelchen zurückblieb. Dann sprang ich auf, als sei eine Horde Paviane hinter mir her und lief, ohne auf Paul oder Jeffrey zu achten, zur Tür.

„Na? Stress im Paradies?“, grinste Juan mich an, doch ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu und der Spanier verstummte sofort. Einen guten Aspekt schien die Sache mit Jeffrey jedoch zu haben. Ich strahlte wohl solchen Zorn aus, dass die meisten Schlägertypen mir lieber aus dem Weg gingen. Dafür stürzten sie sich nun zu gerne auf Jeffrey, der anscheinend meinen Platz eingenommen hatte und es stillschweigend erduldete.

Ich wurde einfach nicht schlau aus seinem Verhalten und es ärgerte mich, dass ich mich immer wieder damit befasste.

So schnell ich konnte, lief ich in unser Zimmer zurück, ließ mich auf das Bett fallen und überlegte, was ich mit den Zetteln in meiner Hosentasche tun sollte. Missmutig kramte ich sie hervor und ließ sie neben mir auf das Bett fallen. Lange starrte ich sie an, nahm immer wieder einen in die Hand und war einmal sogar drauf und dran, eines der Zettelchen aufzufalten. Mitten in der Bewegung hielt ich inne und dann wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte.

Mit mehr Energie, als ich mir nach all dem zugetraut hätte, sprang ich auf, nahm mir die Zettel und lief zum Waschbecken. Auf dem Weg dahin schnappte ich mir Kerze und Streichhölzer aus Pauls Regal und entzündete sie entschlossen. Da ich nicht vorhatte, das alte Schloss niederzubrennen, öffnete ich den Wasserhahn und faltete den ersten Zettel so auf, dass ich dessen Inhalt nicht sehen konnte. Es war beinahe befreiend, zu sehen, wie die Flamme der Kerze gierig danach griff und so die möglichen Beweise dieses Vorfalls vernichtete. Ich tat dies auch mit dem zweiten und schließlich mit dem dritten Zettel, bis alle nichts weiter waren als Asche.

Seufzend stellte ich das Wasser ab, löschte die Kerze und stellte sie behutsam zurück. Dabei versuchte ich, den Kloß, den ich im Hals spürte, zu ignorieren, aber es gelang mir kaum. Was ich getan hatte, war richtig. Warum fühlte ich mich dann jetzt so leer?

Wie in Trance lief ich erneut zum Waschbecken und betrachtete die Überreste der Nachrichten, in denen Jeffrey mir vermutlich sein Herz ausgeschüttet hatte. Ich würde es nie erfahren, schoss es mir durch den Kopf.

Frische Luft! Ich brauchte dringend frische Luft und mir wurde der beißende Brandgeruch in unserem Zimmer erst jetzt bewusst. Mit zittrigen Fingern entriegelte ich das Fenster und stieß es auf. Eiskalte Luft schlug mir entgegen und wie das Chaos in meinem Herzen, schien auch der Winter noch nicht aufgegeben zu haben.

Tief atmete ich ein und wieder aus, bis meine Gedanken wieder aufhörten, sich zu drehen. Ich kam zu dem Schluss, dass ich richtig gehandelt hatte und mich der Inhalt von Jeffreys Botschaften vermutlich noch verletzter zurückgelassen hätte. Es war in Ordnung, mich selbst zu beschützen und Jeffrey hatte seine Wahl getroffen, als er sich nach dem Kuss aus dem Staub gemacht hatte.

Noch einmal holte ich tief Luft, verschloss dann das Fenster und nahm mir, vor duschen zu gehen. Das warme Wasser würde mir helfen, zu entspannen und meine Gedanken wieder zu ordnen.
 

Schon als ich den Vorraum der Duschen betrat, wurde mir klar, dass ich mich da leider getäuscht hatte. Ich war nicht der Einzige, der eine Dusche um diese Zeit für eine gute Idee hielt und der Geräuschpegel versprach mir alles andere als Entspannung. Lautes Gelächter und Gespräche zeugten davon, dass so einiges hier los war und kurz überlegte ich, einfach wieder zu gehen. Doch ich hatte es wirklich dringend nötig und absolut keine Lust, ungewaschen ins Bett zu gehen.

Mit einem mulmigen Gefühl, aber trotzdem entschlossen, öffnete ich die ersten Knöpfe meines Hemdes und schob es mir von den Schultern. Als ich es gewissenhaft auf der Bank neben mir zusammenfaltete, verließ eine Gruppe Jungs, nur mit Handtüchern bekleidet, den Duschraum. Ich hatte wohl doch Glück, denn nachdem diese angezogen den Raum verließen, war es deutlich ruhiger.

Guten Mutes entledigte ich mich auch von Hose und Unterhose, wickelte mir das Handtuch um die Hüfte und betrat den Duschraum.

Tatsächlich befanden sich nur noch zwei andere Jungen hier, was ich durchaus als annehmbar empfand. Ich wählte eine der Duschen weiter hinten im Raum und ließ mich von den beiden anderen gar nicht stören. So wie ich stand konnten sie mich auch nicht anstarren und ich fühlte mich sicher.

Der eine stellte nun das Wasser ab und schien so gut wie fertig zu sein und der andere war so damit beschäftigt, sich den Kopf einzuseifen, dass er meine Anwesenheit gar nicht bemerkt zu haben schien. Selbst ich konnte aufgrund des vielen Schaums kaum etwas von ihm erkennen.

Nun doch entspannt legte ich das Handtuch auf einen Absatz, wo es nicht nass werden würde und stellte das Wasser an. Für ein paar Minuten genoss ich das heiße Wasser, schloss die Augen und streckte die Muskeln. Dann stellte ich die Dusche ab und seifte mich gründlich ein. Ich war damit so beschäftigt, dass ich erst sehr spät das seltsame Kribbeln auf meiner Haut wahrnahm und begriff, dass jemand mich anstarrte. Anscheinend hatte ich einen sechsten Sinn dafür.

Suchend glitt mein Blick zur Seite und ich erstarrte. Der Junge mit den eingeseiften Haaren war Jeffrey und er starrte mich permanent an. Außerdem waren wir alleine, wurde mir schmerzlich bewusst.

Demonstrativ starrte ich die Wand vor mir an und hoffte, dass Jeffrey die Botschaft verstand. Nämlich, dass mir nicht danach war, mit ihm zu reden.

„Mike?“, hörte ich seine Stimme und seufzte innerlich. Er hatte es nicht nur nicht verstanden, er stand anscheinend auch näher, als mir lieb war. Vielleicht würde er einfach aufgeben, wenn ich nicht reagierte?

„Mike, bitte. Ich muss dringend mit dir reden.“

Seine Stimme klang so flehend, dass es mir fast leidtat, ihn erneut abzuweisen und wenn er nicht den wohl schlechtesten Ort für ein Gespräch gewählt hätte, wäre mir das wohl nicht gelungen. Ich schüttelte nur den Kopf und hoffte, er würde es endlich verstehen.

„Ich verstehe“, murmelte Jeffrey und ich war froh, dass er es endlich eingesehen hatte und mich nun in Ruhe lassen würde. Vor allem hier, wo ich nackt in der Dusche stand und er auch. Nach dem was zwischen uns passiert war, war das wohl die schlechteste Grundlage, die Jeffrey für ein Gespräch suchen konnte. Das musste nun selbst ihm aufgefallen sein.

„Mike, ich kann verstehen, dass du sauer auf mich bist, aber ich kann dir das wirklich erklären.“

Ich zuckte innerlich zusammen, versuchte mich aber dennoch, darauf zu konzentrieren, fertig zu werden. Jeffrey hatte mir die Entspannung, die ich hier suchte, nun endgültig zerstört. Gerade als ich mir die letzten Seifenreste vom Körper spülte, bemerkte ich seine Hand an meinem Arm.

„Mike, bitte!“

Wütend riss ich mich von ihm los, drehte mich fast in der selben Bewegung zu ihm um und blitzte ihn zornig an. Was dachte er sich nur dabei, mich hier auch noch anzufassen?!

Das Gespräch, welches er führen wollte, konnte schon viel Schaden anrichten und nun kam er auch noch auf die Idee, mich in der Dusche anzufassen!

„Ich will aber nicht mit dir reden! Kapierst du das nicht?!“, schrie ich ihn an. Jeffrey zuckte zurück und der Ausdruck in seinen Augen tat mir weh, obwohl ich mir sicher war, dass ich eigentlich Triumph spüren sollte. Denn was ich in Jeffreys Augen gesehen hatte, machte mir klar, dass er dabei war, aufzugeben.

Unsicher glitt mein Blick über Jeffreys Gesicht und dann über seinen Körper. Er war wie ich vollkommen nackt und er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich ein Handtuch um die Hüfte zu wickeln. Stumm standen wir uns gegenüber und ich bemerkte, wie meine Wut immer mehr verrauchte. Mir tat es nun leid, ihn so angeschrien zu haben, aber ich konnte ihm auch nicht einfach so verzeihen.

Der Kuss im Westflügel hatte etwas in mir berührt und als er mich danach einfach stehengelassen hatte, war es, als wäre etwas in mir zerbrochen. Vielleicht hätte ich mich selbst akzeptieren können, wenn er nicht gegangen wäre. Denn für einen kurzen Moment war es so gewesen. Alles, was wichtig war, war das Gefühl, das wir teilten und ich fragte mich nicht länger, ob ich normal war.

Als er ging, verschwand diese Akzeptanz und mein Anderssein wurde mir mit einem Schlag bewusst.

Ich sollte also verdammt sauer auf ihn sein und er hatte meine Ablehnung verdient. Warum also verspürte ich jetzt diesen Drang, ihn in die Arme zu nehmen, nur, damit dieser traurige Blick verschwand?

Mir wurde bewusst, dass ich sofort gehen sollte, aber stattdessen spürte ich, wie mir das Blut ins Gesicht stieg und Jeffrey schien das als Aufforderung zu sehen, sich mir wieder zu nähern. Wenn ich nur einen Schritt gehen würde, dann könnte ich vielleicht diesen Groll hinter mir lassen und alles wäre wieder wie vorher. Wir wären wieder Freunde.

Aber waren wir je Freunde gewesen oder eigentlich schon länger mehr als das? Die wichtigste Frage war aber: Wollte ich, dass es mehr war?

Jeffrey lächelte mich an und ich konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren, auch wenn er nackt war. Vielleicht aber gerade deswegen. Sein Duft nahm mich gefangen. Es wäre ein Leichtes, ihn in die Arme zu schließen und seine Haut zu fühlen. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft uns zueinander hinziehen. Doch bevor die letzten Zentimeter überwunden waren, gewann die Realität wieder die Oberhand und mir wurde klar, welch seltsames Bild wir für jemanden abgaben, der gerade den Duschraum betrat.

Schnell griff ich nach meinem Handtuch, wickelte es um meinen Körper und verließ fluchtartig den Raum. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich das Wasser abgestellt hatte und teilweise klebte meine Kleidung an der Haut, weil ich mir kaum Zeit zum Abtrocknen gab.
 

Der Winter hatte nicht vor, so schnell sein Refugium aufzugeben und so hatte es in den letzten zwei Tagen wieder zu schneien begonnen. Die grauen Wolken, die dabei über das Land zogen und den Schnee vor sich hertrieben, schienen dabei widerzuspiegeln was ich fühlte. Denn innerlich war ich wie erstarrt und wusste nicht, was ich tun sollte. Zu gerne wollte ich Jeffrey verzeihen und wieder mit ihm befreundet sein, denn die Stimmung, die in unserem Zimmer herrschte, war mittlerweile unerträglich. Aber da ich noch immer nicht akzeptieren konnte welche Gefühle mich in seiner Nähe überkamen, hielt ich es für das Beste, ihn auf Abstand zu halten. Auch wenn es mir weh tat, denn das hatte ich mittlerweile begriffen: Es tat mir unglaublich weh, wenn ich nicht an seinem Alltag teilhaben konnte.

Ich mochte ihn wirklich sehr, dachte ich und kurz kam mir das Zettelchen aus Stans Kuchen wieder in den Sinn. „Du wirst Liebe finden“ hatte darauf gestanden.

Liebte ich Jeffrey etwa?

Nein, das konnte ich nicht glauben. Konnte man als Mann einen anderen Mann lieben? Nein, wir waren Freunde und nicht mehr. Und das letztens war einfach...

Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was es bedeuten sollte.

Es klopfte an der Tür und wenige Sekunden später steckte Paul seinen Kopf herein. Etwas verwirrt sah ich ihn an. Seit einiger Zeit klopfte Paul immer an, bevor er unser Zimmer betrat. Ich verstand nicht was das sollte, denn immerhin war es ja auch sein Zimmer. Warum also vor seiner eigenen Tür anklopfen?

„Hey Mike“, grüßte er mich gut gelaunt. Er trug seinen dicken Wintermantel, seine Wangen waren gerötet und um seine Schuhe herum bildete sich eine kleine Pfütze. Ich nickte ihm nur kurz zu und drehte mich dann zur Wand. Nur ungern wollte ich ihm seine Stimmung mit meinem miesepetrigen Gesicht kaputt machen und ich hing lieber weiter meinen Gedanken nach.

Es vergingen einige Minuten und ich wurde stutzig, dass ich gar keine Schritte hörte. Außerdem verspürte ich wieder dieses Kribbeln im Nacken.

Irritiert drehte ich mich herum und sah Paul nach wie vor an der Tür stehen.

„Lass uns spazieren gehen“, sagte Paul, als wäre die Situation eben total normal. Ich fand es eher befremdlich, dass er minutenlang dagestanden und mich angestarrt hatte.

„Hab keine Lust“, gab ich knapp zurück und wollte mich wieder meiner Wand zuwenden.

„Das war keine Bitte!“

Pauls Stimme war so scharf, dass ich tatsächlich zusammenzuckte und mir vor Überraschung der Mund offen stehen blieb. War das wirklich der flapsige Paul Winterfeld, der da vor mir stand?

Meinem Gesicht musste man wohl genau diese Verwirrung angesehen haben, jedenfalls ließen Pauls nächsten Worte darauf schließen.

„Du hast mich schon richtig verstanden, Mike. Ich habe es satt, dass du dich seit Wochen in unserem Zimmer vergräbst und Trübsal bläst. Wir gehen jetzt ein Stück und dann sagst du mir was los ist.“

Kurz überschlug ich meine Optionen und überlegte sogar, Paul zu ignorieren, aber mir wurde bewusst, dass ich so meinen besten Freund verlieren würde. In den letzten Wochen hatte ich auch ihn eher gemieden, wodurch Paul eher Kontakt zu Jeffrey, als zu mir hatte.

Wortlos stand ich auf, zog mir Stiefel und Winterjacke an und folgte Paul dann. Auf dem ganzen Weg durch das Schloss überlegte ich, was ich ihm sagen sollte. Ich hatte mich zunächst sehr überrumpelt gefühlt, doch je weiter wir gingen, umso mehr spürte ich, dass ich sehr gerne mit jemandem reden würde.

Paul war mein bester Freund, sollte ich dann nicht mit ihm reden können? Aber was, wenn ich ihn deswegen verlieren würde? Was, wenn er nicht akzeptieren konnte, wie ich war?

Wenn ich jedoch nichts tat, würde ich ihn auch verlieren.

Wir traten auf den Hof hinaus und eiskalte Luft schlug mir entgegen.

„Was meinst du, eine Runde um den See?“, fragte Paul und für einen kurzen Moment erschien mir alles so normal, als hätte es diese Verwirrung in mir nie gegeben.

„Gerne“, antwortete ich und auf meinen Lippen erschien zum ersten Mal seit Wochen ein Lächeln.

Wir bogen nach rechts ab und betraten den schmalen Schotterweg, der direkt in ein kleines Waldgebiet führte, welches Andara-House umgab. Es war wirklich nicht groß, brachte aber die nötige Erholung, die man nach tagelangem Pauken benötigte. In der Mitte des kleinen Mischwaldes befand sich ein See, welcher im Sommer Abkühlung versprach und im Winter zum Schlittschuhlaufen einlud.

Ich bezweifelte jedoch, dass die wenigen kalten Tage gereicht hatten, um die Eisdecke wieder so fest werden zu lassen, dass man sich gefahrenlos darauf bewegen konnte. Auch wenn der Wald aussah, als hätte jemand Puderzucker darüber gestreut: Der Winter neigte sich dem Ende zu.

„Sind wir noch Freunde, Mike?“, fragte Paul, nachdem wir schon ein weites Stück gegangen waren und niemand uns hören konnte.

„Aber natürlich!“, stieß ich aus und blieb abrupt stehen. „Wie... wie kommst du darauf, dass wir es nicht mehr sein könnten?“

Verwirrt sah ich Paul nach, der noch etwas weitergelaufen war und sich dann zu mir umdrehte, als er bemerkte, dass ich ihm nicht mehr folgte.

„Weil du mir nicht erzählst, was mit dir los ist“, erklärte Paul. Ich erkannte keinen Vorwurf in der Stimme meines besten Freundes, sondern nur eine tiefe Traurigkeit. „Früher, da haben wir immer jede Sorge geteilt. Warum redest du dann jetzt nicht mit mir?“

Unsicher trat ich von einem Fuß auf den anderen. Ich hatte mit so etwas gerechnet, denn mir war durchaus klar gewesen, dass ich Paul in den letzten Wochen sehr verletzt hatte. Aber ich wusste absolut nicht, was ich ihm jetzt sagen sollte.

Meine Probleme hatten nichts mit ihm zu tun und vielleicht nicht einmal mit Jeffrey. Wenn ich ehrlich war, dann hatte ich ein Problem mit mir selbst. Womöglich war es das Beste, Paul die Wahrheit zu sagen.

„Es tut mir leid“, sagte ich daher. „Ich würde gerne mit dir über meine Probleme reden, es ist nur...“ Ich stockte und Paul sah mich auffordernd an. Mich überfiel eine furchtbare Angst, dass Paul mich nicht mehr in seinem Leben wollte, wenn er wusste, was in mir vorging.

Die Wahrheit, schoss es mir durch den Kopf. „Es ist nur, ich habe Angst, was du über mich denkst, wenn ich dir sage was los ist.“

„Angst?“, wiederholte Paul. „Warum?“

„Weil ich anders bin, als die meisten Jungen auf Andara-House.“

Paul sah mich durchdringend an und in seinen Augen erschien ein Lächeln, schließlich zuckte er mit den Achseln. „Das weiß ich doch.“

Es vergingen ein paar Sekunden, bis wirklich zu mir durchdrang, was Paul gesagt hatte.

„Du weißt davon?“, entfuhr es mir entgeistert.

„Ja“, antwortete Paul trocken.

All die Zeit hatte ich mir Gedanken gemacht wie Paul reagieren würde und nun wusste er es bereits? Aber ich wusste ja gar nicht, was Paul glaubte, zu wissen.

„Du weißt was?“, fragte ich in der Hoffnung gleich schlauer zu sein.

„Na, dass du anders bist und Jeffrey übrigens auch. Aber ich denke, das weißt du ja schon. Er hat mir auch nicht erzählt, was wirklich im Westflügel passiert ist, aber ich denke, es hat etwas damit zu tun. Ich hoffe aber wirklich, dass ihr beide euch endlich versöhnen könnt. Was glaubst du, warum ich seit Tagen an meiner eigenen Zimmertür anklopfe? Jedenfalls wollte ich nicht plötzlich in der Tür stehen, wenn ihr gerade dabei seid, euch zu versöhnen.“

Mir war bewusst, wie dämlich ich aussehen musste, aber ich bekam einfach den Mund nicht mehr zu.

„Woher?“, stammelte ich.

Paul lachte und setzte sich wieder in Bewegung. Es war ein Lachen, das mir klarmachte, dass alles in Ordnung zwischen uns war und wir uns immer noch so nahe standen wie Brüder.

„Naja, ich bin nicht direkt darauf gekommen, falls dir das Sorgen bereitet. Aber es begann mit deinem Geburtstag. Zuerst dachte ich ja, deine Reaktion war nur so verhalten, weil du verklemmt bist. Dann jedoch ist mir aufgefallen, wie du Jeffrey ansiehst und er dich. Da wurde mir klar, dass du dich mehr für ihn interessierst, als für mein Geburtstagsgeschenk.“

„Oh.“ Mein Kopf hatte komplett ausgesetzt, mehr brachte ich irgendwie nicht heraus und auch Paul wirkte nun etwas verlegen.

„Ich gebe zu, die Vorstellung, dass mein bester Freund sich für Jungs interessiert, war zunächst etwas befremdlich, aber mir ist egal, wen du liebst. Hauptsache, dir geht es damit gut.“

Paul hatte mir mit diesen wenigen Worten eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen und zum ersten Mal seit Monaten konnte ich wieder richtig atmen. Ich war nicht mehr alleine mit meinen Gedanken und Gefühlen. Das war alles, was mir durch den Kopf ging. Was auch immer mit Jeffrey werden würde, ich stand nicht mehr allein damit und konnte Paul jederzeit mein Herz ausschütten.

„Danke“, brachte ich kaum verständlich hervor und musste mich zusammennehmen, nicht direkt in Tränen auszubrechen. Ich hatte gerade so viel von mir preisgegeben, dass ich mich schutzlos und nackt fühlte, wie eine Schnecke ohne Haus. Ich wollte mir lieber nicht die Blöße geben und vor Paul weinen wie ein kleines Kind.

„Magst du mir jetzt vielleicht erzählen, was Jeffrey im Westflügel angestellt hat?“, grinste Paul mich an. Ich wollte ihn gerade fragen, wie er darauf kam, dass es Jeffrey war, der etwas angestellt hatte, als ich eine Bewegung auf der anderen Seite des Sees sah.

Der See war an dieser Stelle nicht sehr breit und ich erkannte Jeffrey sofort. Leider hatte er mich auch erkannt und schien immer noch entschlossen, die Aussprache mit mir zu führen. Daher riss er die Arme in die Höhe und rief immer wieder nach uns. Mir stockte der Atem. Zwar wusste Paul nun, wie es in mir aussah, aber ich wusste nicht, ob ich schon bereit war, mit Jeffrey zu reden. Es war mir einfach zu viel; erst Paul und nun direkt Jeffrey. Also tat ich, was ich am besten konnte. Ich lief und versuchte, so schnell wie möglich den Abstand zu ihm zu vergrößern.

„Nein! Bleib stehen!“, hörte ich Paul rufen und dachte zunächst, er würde mich meinen. Aber etwas stimmte absolut nicht. Seine Stimme klang derart panisch, dass ich mich alarmiert umdrehte und erstarrte.

Jeffrey war in dem Versuch mich einzuholen mitten auf den See gelaufen! Er hätte auch um den See laufen können, hätte so aber länger gebraucht, als auf dem direkten Weg zu mir.

„Bist du verrückt geworden?!“, schrie ich vollkommen außer mir. Das Eis würde ihn nicht tragen und er konnte jeden Moment einbrechen, wurde mir eiskalt bewusst. „Jeffrey, geh zurück! Du wirst einbrechen!“

„Nein, dann gehst du wieder weg!“

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich zum Ufer lief und mich selbst wenige Schritte auf das Eis wagte. Aber Jeffrey dachte überhaupt nicht daran, umzudrehen und hielt weiter auf mich zu. Meine Knie wurden weich, als ich es unter meinen Stiefeln gefährlich knacken hörte und ich hoffte, dass der See an der Stelle nicht sehr tief war. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich Jeffrey, den nun nur noch wenige Meter von mir trennten und betete beinahe, dass er nicht einbrechen würde.

Entweder gab es keinen Gott oder er beachtete mich einfach nicht, aber ich hörte das Knirschen und Krachen, als das Eis unter Jeffrey brach. Sein überraschtes und mein entsetztes Schreien vermischten sich, als ich ohne Rücksicht nach vorne sprang und nach seiner Hand griff. Ich landete hart auf dem Bauch, hielt seine Hand umklammert und versuchte, ihn herauszuziehen. Jedoch konnte ich mich kaum bewegen und rutschte ihm eher entgegen. Der Riss im Eis vergrößerte sich, sodass ich jeden Moment drohte, ebenfalls im eisigen See zu versinken.

Jeffrey versuchte seinerseits, sich aus dem Wasser zu stemmen, doch das Eis brach einfach weg und seine Kräfte verließen ihn schnell.

„Lass los“, murmelte er mir schwach zu. Das kalte Wasser hatte bereits nach meiner Jacke gegriffen und gab mir einen Vorgeschmack, was mich erwarten würde.

„Vergiss es!“, gab ich trotzig zurück und klammerte mich noch stärker an ihn. Gerade, als ich glaubte, meine Kräfte würden mich verlassen, zog man mich an den Beinen zurück und jemand griff nach Jeffrey, um ihn endgültig aus dem kalten Loch zu ziehen.

Schwer atmend kam ich auf dem Ufer zum Liegen und beobachtete verschwommen, wie Paul Jeffrey in seine Jacke wickelte. Ich verstand nicht ganz, was passiert war, aber ich hätte Paul nie zugetraut, dass er so viel Kraft hatte, gleichzeitig Jeffrey und mich vom See zu ziehen. Der Gedanke zog aber sofort vorbei, als ich bemerkte, dass Jeffrey anscheinend bewusstlos war.

„Jeffrey! Geht es ihm gut?“, rief ich, doch Paul reagierte nicht auf mich, sondern sah an einen Punkt neben mir. Da ich es nicht auf die Füße schaffte, kroch ich auf allen Vieren zu ihm hin und zog ihn in meine Arme. „Jeffrey!“, rüttelte ich an seinen Schultern, doch er reagierte nicht und alles um mich herum begann sich zu drehen. Ich registrierte kaum, wie meine Zähne vor Zittern aufeinanderschlugen, bis jemand etwas Warmes und Weiches um mich legte.

„Versucht, ihn warm zu halten!“, sagte eine unbekannte Stimme zu mir und ich hob verwirrt den Kopf. Das Bild vor meinen Augen verschwamm immer wieder, aber ich erkannte ein dunkles Gesicht über mir und mir ging durch den Kopf, dass der Mann nur im Pullover unglaublich frieren musste. Warum trug er keine Jacke?

Mein Kopf sackte nach vorne und blieb auf Jeffreys Stirn liegen, alles drehte sich und ich wollte nur schlafen.

„Halte ihn wach!“, hörte ich den Mann wieder sagen und ich dachte mir, was er da von sich gab. Jeffrey war doch bereits bewusstlos, aber Pauls Rütteln an mir ließ mich vermuten, dass ich gemeint war.

„Ich gehe Hilfe holen!“



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