Ein Wimpernschlag der Ewigkeit
Lescale nippte an seinem Tee, während er auf Selys wartete. Er saß frisch
geduscht und halbnackt auf einem bequemen Sofa in ihrem Haus oben am
Gipfel des Stadtberges, und sah aus dem Fenster zu, wie die Stadt zum
Leben erwachte.
Selys war dabei, ihm neue Kleidung zu suchen. Die vielen Winter im
Freien hatten den Stoff dünn und spröde werden lassen und der holprige
Marsch den Berg hinab hatte einige Löcher hineingerissen. Sobald sie in
ihrem Haus angekommen waren, war Selys in ihr Schlafgemach gegangen
und hatte ihm eine Garnitur ihrer schmucklosen und allzweck-tauglichen
grauen Leinenhosen in die Hand gedrückt. Anschließend hatte sie ihn in
ihr Bad gescheucht und war erneut verschwunden, um ihm eine passende,
unauffällige Garderobe für ihn zusammenzustellen, während Lescale sich
unter dem plätschernden Quellwasser von Dreck und Staub befreite.
Als er wieder ins Wohnzimmer gekommen war, war Selys noch nicht
fertig gewesen, und so hatte er ihre Teevorräte geplündert, die noch immer
an derselben Stelle wie vor mehr als hundert Mitternachtssonnen lagerten,
und Tee zubereitet.
Der Tee schmeckte vorzüglich. Er erinnerte Lescale an den Tee von den
schwarzen Inseln vor ihrem Untergang, mit einer feinen Note von Zimt.
”Schwarz oder blau?“, klang Selys Stimme dumpf durch die Wohnräume.
”Mit Zucker oder pur?“, fragte Lescale zurück und griff nach der Teekanne,
um ihr ebenfalls eine Tasse Tee einzuschenken.
Statt einer Antwort waren leise Schritte auf den Holzdielen zu vernehmen
und Selys trat mit einem Arm voller Stoff ins Zimmer. Lescale schob
ihr die Tasse hin.
”Pur wie die Quelle des Nelar.“
Selys lächelte und warf ihm die Kleider zu.
”Schwarz wie die Nacht.“
Lescale streifte eine ungefärbte, langärmlige Tunika über seinen Kopf
und betrachtete den Umhang, ein schlichtschwarzes Modell mit einer verspielten
grauen Stickerei am Kapuzensaum.
”Danke.“
Selys hatte sich auf dem Sessel schräg gegenüber niedergelassen und
hielt ihre Teetasse in beiden Händen, während sie Lescale aufmerksam
musterte.
”Der Bann scheint funktioniert zu haben, ich könnte schwören, dass
deine Haare nicht einen Sickelbreit länger gewachsen sind.“
Sie trank einen Schluck Tee.
”Also, was ist dein Plan?“
Lescale legte den Umhang neben sich über die Sofalehne und lehnte
sich zurück.
”Nun, meine Verbannung ist offiziell abgelaufen. Es spricht also nichts
dagegen, nach und nach wieder in meine alten A¨mter zurückzukehren.“
Selys legte ihre Stirn in Falten.
”Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass die anderen das ohne Weiteres tolerieren
werden. Die Erinnerungen an deine Person sind bestenfalls gespalten.“
”Nichts, was meine sanguinische Pers¨ onlichkeit und ein bisschen Zeit
nicht beheben könnten“, erwiderte Lescale und lächelte entwaffnend.
Selys zog eine Augenbraue hoch.
”Les, niemand verwendet heutzutage noch das Wort sanguinisch.“
”Tatsächlich? Was sagt man denn stattdessen?“
Selys stellte ihre Tasse ab und dachte lange nach.
”Ich. . . denke es gibt kein Wort, dass alle Aspekte der Bedeutung angemessen
wiederspiegeln könnte. Eigentlich sehr schade.“
Sie verstummte kurz.
”Du solltest dir vielleicht die Chroniken der letzten zweihundertfünfzig
Jahre durchlesen. Nur um auf dem neuesten Stand zu sein.“
Lescale nickte langsam.
”Nicht die schlechteste Idee. Wer hätte gedacht, dass diese Idee mit der
Chronik mir irgendwann noch nutzen würde.“
Er stellte die leere Teetasse auf den Tisch und strich mit dem Zeigefinger
über die verschlungenen Schnitzereien im Holz.
”Überaus deplorabel, dass Scavy meine Möbel verbrannt hat, es waren
einige Antiquitäten darunter.“
”Bedauernswert. Man sagt heutzutage bedauernswert. Und vielleicht
solltest du mal in den Katakomben suchen. Womöglich konnte ich einige
Sachen retten.“
Lescale verharrte mitten in der Bewegung.
”Die Mauer im Abzweig. . . ?“
Selys nickte bedächtig.
”Die nächste Zusammenkunft des Rats ist erst in zehn Tagen. Hedun ist
zurzeit in Nordgelien, im Archiv frage also am besten nach Lady Jessamine
Caulon, sie hat den zweiten Sitz der Schriften zurzeit inne.“
”Wer hat die Leitung der Granida übernommen?“, fragte Lescale mit
wachem Interesse.
”Oh, bitte schlag es dir gleich aus dem Kopf. Deine Tochter leitet die
Granida seit. . . Nunja. Sie ist auch Sprecherin von Ostvandria, und ich
kann mich nicht über sie beklagen. Sie hat wohl mehr von euch gelernt,
als ihr dachtet.“
”Und der zweite Sitz für Schwert und Feder?“ Lescale lehnte sich zurück
und starrte die stuckverzierte Decke an.
”Lady Norvin Kijnsdotr, über einige Generationen verwandt mit der Kijna,
die du noch kanntest.“
Eine Erinnerung erhellte Lescales Miene.
”Hat Kijna es später geschafft, künstliche Blitze zu erzeugen?“ Ein mitleidiger
Blick traf ihn.
”Oh Les, du hast so viel verpasst. Die Blitze waren erst der Anfang.“
”Ich wäre enttäuscht, wäre es anders gewesen. Sie war wahrlich brilliant.“
”Im Nelar steht eine Statue von ihr. Sie hatte ein langes und erfülltes
Leben, und in der Bibliothek der Granida steht ein ganzes Regal mit ihren
Notizen, falls du Interesse hast.“
”Bedauernswert, dass ich es nicht miterleben konnte.“
”’Einen wahren Meister erkennt man daran, dass seine Schüler später
ohne seine Hilfe ihr ganzes Potenzial ausschöpfen‘, hat mal eine weise Person
gesagt.“ Selys lächelte. ”Zweihundertfünfzig Zyklen sind nur ein Wimpernschlag,
du wirst dich schnell wieder zurechtfinden.“
Die Straßen von Astarys waren mittlerweile vollends zum Leben erwacht
und so verließ Lescale Selys’ Haus durch die unterirdischen Katakomben.
Er hatte beschlossen, zuerst die Archive im Nordosten der Stadt
aufzusuchen, bevor er in die Südwestspitze zurückging. Dass Lord Hedun
nicht in Astarys verweilte, kam ihm sehr gelegen. Sie hatten einander schon
zu besten Zeiten nicht leiden können, und er hatte damals im Prozess gefordert,
ihn für immer vom Kontinent zu verbannen.
Die Katakombengänge waren hier oben etwas breiter und weniger verzweigt
als in den unteren Stadtbezirken. Wenige Abzweige und fünf Treppen
später war Lescale am oberen Ausgang der Nordostspitze angelangt
und trat in einer versteckten Felsnische unweit der schwarzen Granitfassade
des zentralen Archivkomplexes ins Freie.
Die Straßen der Nordostspitze waren fast leer im Gegensatz zum Zentrum.
Die Skriptoren waren längst in ihren Schreibstuben und der Verkehr
beschränkte sich auf Papierlieferungen und Aktentransporte, deren
Gefährte noch immer aussahen wie vor zweihundertfünfzig Zyklen, sah
man von den leicht veränderten Rädern ab, die nun aus schimmerndem
Metall mit einer federnden Schicht drumherum bestanden.
Lescale schulterte die Dokumententasche, die Selys ihm geliehen hatte,
schritt die fünf Treppenstufen hinauf und verschwand zwischen den
dunklen Säulen, in deren Schatten sich die schwere Eingangstür des Zentralarchivs
befand. Sie war unverschlossen und schwang lautlos auf; natürlich,
es wurde im gesamten Archiv besonderen Wert auf Stille gelegt.
Die Empfangshalle war trotz der kleinen gläsernen Kuppel, die das Tageslicht
von oben in den Raum fallen ließ, düster und verlassen. Das Echo
der spröden Lederstiefel – Selys hatte auf die Schnelle keinen passenden
Ersatz für ihn auftreiben können – auf dem blankpolierten Steinboden hallte
mahnend von den kahlen Wänden wider.
Der Tresen an der gegenüberliegenden Wand war nicht besetzt, lediglich
eine kleine silberne Glocke stand einsam auf dem schweren Holzmöbel.
Ihr Ton klang schneidend, beinahe gläsern, und schien durch das gesamte
Gebäude zu dringen. Lescale lauschte dem Ton nach, bis er verklungen
war und wieder die kontemplative Stille eingekehrt war. Gerade als
er erwog, die Glocke erneut zu betätigen, waren leise Schritte aus dem
unauffälligen Torbogen hinter dem Tresen zu vernehmen.
Eine Frau trat aus dem Torbogen, Lescale schätzte sie auf etwa dreißig
Zyklen. Ihr schwarzes Haar war straff im Nacken hochgesteckt und ihre
schlanke Gestalt war in die mit traditionellen Runen verzierten papierfarbenen
Roben der Skriptorei gehüllt.
”Was kann ich für sie tun?“, fragte sie und griff nach einem Blatt Papier
und einem Stift vom Tresen.
”Ich suche eine gewisse Lady Jessamine Caulon, auf Empfehlung von
Lady Selys.“
Ein kurzer Ausdruck der Irritation glitt über ihr Gesicht.
”Das bin ich. Wie kann ich helfen?“
”Ich hoffe, ich st öre sie gerade nicht bei etwas Wichtigem. Ich würde
gerne die Chroniken ungefähr ab dem Beginn des Kriegs ausleihen. Und
vielleicht ein paar zusätzliche Dokumente einsehen, wenn das möglich ist.“
Lescale lächelte entwaffnend.
Jessamine deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die leere
Halle.
”Nun ja, am Tag vor den Aphelionfeiern rennen mir die Leute traditionell
die Tür ein“, bemerkte sie mit sarkastischem Unterton, ”also die Jahreschroniken
der letzten zwei- bis dreihundert Jahre? Das ist ein ganz schöner
Stapel Papier.“
”Mir reicht die Kurzform. Diese kleinen Bücher“, Lescale deutete mit
den Händen ein Rechteck von der Größe einer halben Elle an, ”wo nur das
wichtigste drinsteht.“
Jessamines Gesicht erhellte sich, als sie verstand, was er meinte und
sie kritzelte etwas auf ihren Papierbogen.
”Und die anderen Dokumente?“
Lescale überlegte kurz, bevor er antwortete.
”Die Akten vom Konzil nach dem Kriegsende. Und gegebenenfalls Dokumente
von der Antizipation desselben in der Öffentlichkeit.“
Jessamine zog eine Augenbraue hoch, als sie sich seine Wünsche notierte.
”Warum interessieren sie sich dafür? Meines Wissens nach hat sich
noch nie jemand danach erkundigt, seit ich hier arbeite.“
Lescale zuckte mit den Achseln.
”Nennen sie es persönliches Interesse.“
Jessamine faltete ihren Zettel zusammen und legte den Stift zurück auf
den Tresen.
”Persönliches Interesse, aha. Ich werde nachsehen, ob die Akten zugänglich
sind und ein Ausleihformular besorgen. Es könnte einen Augenblick dauern,
ich bin heute alleine hier.“
Lescale lächelte und antwortete: ”Keine Eile, ich habe Zeit.“
Es dauerte tatsächlich eine Quintel, bis sie wieder in die Eingangshalle
kam, bewaffnet mit einem großen Blatt Papier und ihrer gefalteten Notiz.
”Sie haben Glück, ich habe die Akte gefunden. Das Papier ist natürlich
etwas empfindlich, aber sie können es sich gerne im Lesesaal bequem machen
und darin lesen. Für die Chroniken müssten sie noch dieses Formular
ausfüllen, ich werde ihnen die entsprechenden Bände heraussuchen.“
Sie reichte ihm das Blatt.
”Ansonsten finden sie weitere Dokumente im öffentlichen Bereich des
Archivs im Regal des jeweiligen Jahres. Bitte folgen sie mir.“
Jessamine führte Lescale durch den Torbogen und einige Gänge in den
leeren Lesesaal. Er war deutlich heller als die Eingangshalle, was an den
zahlreichen Fenstern an der Ostseite lag, und beherbergte nebst zahlreichen
Lesepulten Regale mit Dialekt- und Sprachlexika sowie etymologischen
Werken an den Wänden. Auf einem der Pulte nahe der Tür stand
ein geöffneter Dokumentenkasten.
”Falls sie Hilfe benötigen, rufen sie einfach, ich bin nebenan im Katalogregister.“
Jessamine warf ihm einen letzten, neugierigen Seitenblick zu, bevor sie
den Raum verließ.
Lescale schlenderte langsam zu dem Pult mit dem Dokumentenkasten,
blieb einen Moment stehen und atmete tief durch, bevor das leere Formular
obenauf legte und den Kasten zu einem der Pulte am Fenster trug.
Das Formular war schnell ausgefüllt, achtlos legte er es beiseite und
widmete sich dem Kasten voller vergilbten Papier. Wann immer ein Konzil
stattfand, wurde großen Wert darauf gelegt, sämtliche Vorgänge schriftlich
festzuhalten, und so war auch damals ein Skriptor bei den Beratungen
dafür zuständig gewesen, jeden Satz zu protokollieren.
Die säuberlichen Abschriften des Protokolls waren zu Heftern gebündelt,
deren Deckblätter Auskunft über Thema des Inhalts, Anwesende, und Datum
gaben. Lescale zog den ersten Hefter aus dem Kasten.
”Großes Konzil von Astarys zur Ahndung der schändlichen Taten des
Lescale Garelon, Teil 1: Öffentliche Sammlung der Anklage im Hohen Rat“,
las er.
Er schob den fingerdicken Band zurück in den Kasten und griff nach
dem nächsten. Teil zwei, Formulierung der Anklage; Teil drei, vier und fünf,
öffentliche Befragung der Zeugen; Teil sechs, öffentliche Anhörung. Lescale
verzog das Gesicht.
”Ich bekenne mich schuldig am Tod von Scayes Lorande.“
Teil sieben, Plädoyer der Fürsprecher; Teil acht, Plädoyer der Ankläger;
Teil neun, Urteilsfindung des Rats.
Lescale stellte fest, dass der Hefter einer der gr ößeren in der Box war,
als er ihn herauszog und auf das Lesepult legte.
”Interne Beratung zur Urteilsfindung im Kreise des vollzähligen hohen
Rats von Astarys, am vierundzwanzigsten Tag nach dem 4226. Perihelion
seit Gründung, Band A.“
Lescale griff sich einen Graphitstift und einen Bogen Papier aus dem
Fach unter dem Pult und begann zu lesen.
Es war bereits später Nachmittag, als Lady Jessamine den Lesesaal
betrat und zu Lescales Lesepult schritt, auf dem sich mittlerweile Teil neun
Band E befand nebst einigen Blättern seiner Notizen.
”Es sieht aus, als seien sie fündig geworden.“ Sie deutete auf die eng
beschriebenen Seiten, die ungeordnet neben dem Dokumentenkasten lagen.
Lescale hob den Kopf.
”Es sind einige interessante Details zutage gekommen. Aber inzwischen
flacht die Spannungskurve stark ab, mehr werde ich wohl nicht lesen. Teil
zehn ist wahrscheinlich inhaltlich redundant zu den vorigen Bänden.“
Jessamine lachte.
”In der Tat. Ich habe damals mal alle Konzilprotokolle lesen müssen.
Wenn sie mich fragen, ist dieses Konzil mit Abstand das Interessanteste,
obgleich es eine einzige Tragödie gewesen ist.“
Lescale zog eine Augenbraue hoch.
”Eine Tragödie?“
”Nunja, wenn sie mich fragen, das Urteil des Rats berücksichtigte weder
die Wahrheit noch waren die Richter neutral. Eine Tragödie des Rechts.“
Lescale schmunzelte.
”Tragödien sind bloß Komödien, deren Zeit noch nicht gekommen ist.
Hätten sie einen Massenmörder einfach laufen lassen?“
”Das habe ich nicht gesagt. Ich bin Historikerin und Archivarin, keine
Richterin. Ich maße mir nicht an, ein Urteil über jemanden zu sprechen. Ich
erzähle nur die Geschichte und bewahre sie auf.“
Lescale klappte schwungvoll den Hefter zu, mit dem Effekt, dass eines
der Notizblätter zu Boden segelte.
”Eine seltene Einstellung.“
Jessamine hob das Blatt auf und warf einen Blick darauf.
”Amüsant. Wenn ich nicht genau wüsste, dass das nicht sein kann,
würde ich sagen, dass ihr ihre Handschrift schon einmal irgendwo gesehen
habe.“
”Nun, das kommt ganz darauf an, was sie so lesen“, erwiderte Lescale
und fischte das ausgefüllte Formular unter den Notizen hervor.
”Ihr Formular. Ich bin hier soweit fertig.“
Jessamine legte das Notizblatt auf das Pult und nahm das dünne Papier
mit einem irritierten Blick entgegen.
”Wieso, sind sie Skriptor?“
Lescale schüttelte den Kopf und lächelte leicht.
”Nein, aber in diesen Archiven ist so gut wie alles zu finden.“
”Wie auch immer, ich hole ihre Bücher.“
Jessamine drehte sich achselzuckend um und verließ den Lesesaal,
während Lescale den Hefter wieder an seinen Platz im Dokumentenkasten
schob und seine Notizen ordnete.
Er hatte sie gerade in Selys’ Tasche verstaut, als Jessamine mit zwei
handbreiten, unterarmgroßen Bänden und einigen jeweils fingerbreiten Bänden
desselben Formats auf dem Arm wiederkam.
”Persönliches Interesse also.“ Sie blieb in der Tür stehen und musterte
ihn eingehend.
”Würden sie es anders formulieren, Lady Jessamine?“
Sie legte den Kopf schräg und dachte kurz nach.
”Vermutlich nicht. Ihre Aufzeichnungen über die alten Schriften aus Sannord
sind übrigens überaus informativ, Lo. . .“, sie unterbrach sich, ”Lescale
Garelon.“
Sie trat langsam näher, die Bücher wie ein Schutz vor der Brust.
”Ihr Vorgänger von damals war in der Tat sehr erfreut über meine Hilfe.
Freut mich, dass es immer noch gelesen wird.“
Jessamine legte die Bücher auf dem Tisch ab und trat einen Schritt
zurück.
”Ich war so frei und habe ihnen soweit möglich die gebündelten Ausgaben
gebracht. Ist handlicher als dreihundert kleine Bücher.“
Sie verstummte.
”Danke.“
Eine unbequeme Stille entwickelte sich, als Lescale die Bücher zu den
Notizen in die Tasche schob.
”Sie werden mit ihrer Rückkehr den Rat spalten.“ Jessamine knetete
unruhig ihre Finger.
Lescale erhob sich und schulterte die Tasche.
”Nach dem, was ich gelesen habe, ist das wahrscheinlich. Und auf welcher
Seite werden sie stehen?“
”Ich sitze nicht im Rat, um auf irgendjemandes Seite zu stehen. Aber
vielleicht. . . stehen sie ja ab und an zufällig auf meiner Seite.“
Lescale nickte langsam und deutete eine leichte Verbeugung an.
”Ich verstehe. Es war mir eine Ehre, sie kennenzulernen, Lady Jessamine.“
Sie lächelte.
”Ich bringe sie zur Tür.“
Lescale nahm seinen Mantel und folgte Jessamine zurück zur Eingangshalle,
wo Jessamine stehen blieb.
”Ich wünsche ein frohes Aphelionfest.“
”Ich ihnen ebenfalls. Lassen sie mich wissen, wann immer ich ihnen
helfen kann.“
Lescale setzte die Kapuze auf und verließ die düstere Halle, aus der
Jessamine ihm nachdenklich hinterherblickte.
Einen Fußmarsch durch die Katakomben später stand Lescale erneut
an der versperrten Abzweigung. Seit seiner Ankunft in Astarys war ein steter
Strom von freier Magie in ihn hineingesickert, sodass er keine Schwierigkeiten
hatte, ein Leuchtplasma zu erzeugen, dessen kaltweißes Licht
einen unwirklichen Lichtschein auf die dunkelgraue Mauer aus sorgfältig
verfügten Steinen warf.
Lescale inspizierte die Mauertechnik, dann konzentrierte er sich auf die
Magie. Er sammelte sich, formte die Magie in einen Impuls und ließ sie frei.
Die Mauer war stabiler, als es von außen aussah, dennoch stürzten die
mittleren Steine in den Gang dahinter und gaben einen Durchgang frei, der
gerade breit genug war, dass Lescale hindurchschlüpfen konnte.
Erst dachte Lescale, der Gang sei leer, doch dann fiel das Licht auf
mehrere Truhen, die ein paar Meter weiter mitten im Gang standen. Er trat
näher heran.
Die erste Kiste erkannte er sofort. Seine Waffenkiste aus den Lagern
der Granida. Er ließ das Licht heller leuchten. Die anderen Kisten waren
schmucklos und waren ihm unbekannt.
Vorsichtig stieg er über die Waffenkiste, die von einer dichten Staubschicht
bedeckt war und trat an die hüfthohe Kiste dahinter. Der Deckel
quietschte ein wenig und im kalten Licht waren wild durcheinander geworfene
Gegenstände zu erkennen. Eine bemalte San-Vase, das kunstvoll geschnitzte
Kästchen, in dem er Schreibutensilien aufbewahrt hatte, der niedrige
Tisch aus ostvandrischem Zedernholz, der vor dem Diwan gestanden
hatte – Selys musste wahllos irgendwelche Dinge in die Kiste geworfen
haben.
Lescale schloss die Truhe wieder und zwängte sich an ihr vorbei, um die
Nächste zu inspizieren. Es bot sich einähnliches Bild, Kissen, ein Wand-
spiegel, eine archaische Katzenskulptur aus Nˆın und Schriftrollenhülsen
zwängten sich zwischen einem Hocker und einer kleinen Kommode.
Die letzte Truhe war etwas kleiner und mit einem Hinweis versehen,
einer handschriftlichen Notiz, die lose zusammengefaltet obenauf lag. Lescale
griff danach und entfaltete das brüchige Papier.
Les, falls du dies irgendwann liest, ich habe gerettet, was ich
retten konnte. Hierdrin sind einige von Scayes’ Sachen. Irgendwann
wirst du bereit dafür sein.
– S.
Lescale biss die Zähne zusammen und faltete die Notiz wieder zusammen.
Einen Moment zögerte er, dann legte er den Zettel achtlos auf die
Truhe und ging an ihr vorbei, ohne sie zu öffnen. Der Gang knickte wenige
Schritt weiter scharf nach links ab und endete an einer versteckten Tür in
einem Weinregal im Keller seines Hauses.
Der Mechanismus öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Kühle, abgestandene
Luft wehte Lescale aus dem Weinkeller entgegen, der wie erwartet
ebenfalls leergeräumt war.
Lescale schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Truhen im
Gang hinter sich. Sie zum Schweben zu bringen erforderte mehr Magie als
erwartet und es forderte seine gesamte Konzentration, sie ohne Kollisionen
durch den engen Gang in den Weinkeller zu bugsieren.
Schließlich standen die Truhen nebeneinander im Keller und die Tür im
Weinregal schloss sich mit einem leisen Klicken hinter Lescale. Er l öschte
das mittlerweile flackernde Leuchtplasma und trat in den dunklen Kellerflur,
von wo aus eine Treppe hoch in die schwarzweiß geflieste Eingangshalle
führte. Der Raum lag im Halbdunkeln, von außen drang vereinzelt das
goldene Licht der untergehenden Sonne ins Haus.
Lescale hängte die Dokumententasche über das Treppengeländer, ging
zur Eingangstür und öffnete sie weit, dann ging er durch das Haupthaus
und tat er dasselbe mit allen anderen Türen und Fenstern, bevor er zuletzt
die Tür zum Garten öffnete und sich auf die Treppe setzte, um den
Sonnenuntergang zu betrachten.
Die Sonne verfärbte sich langsam von orange zu rot, und nachdem sie
ganz verschwunden war, konzentrierte Lescale sich auf das Haus. Seine
Magie hatte sich noch nicht vollständig von den schweren Truhen erholt,
aber für diesen Zweck würde es ausreichen.
Er versetzte die Luft in Bewegung, erst nur langsam, dann immer schneller,
bis der Staub auf dem Fußboden sich widerwillig in den Luftstrom
einfügte und durch die Fenster und Türen seinen Weg nach draußen fand.
Lescale wartete ein halbes Quintel, bevor er den Luftstrom versiegen und
Fenster für Fenster mit einem leichten magischen Stoß zufallen ließ.
Als er fertig war, ging er nach drinnen, wobei er die Gartentür und die
Eingangstür verschloss, und griff nach der Dokumententasche, die unbeeindruckt
an dem Treppengeländer baumelte. Der Staub der hundert Mitternachtssonnen
war aus dem Haus verschwunden und es wurde Zeit, dass
er auf den neusten Stand der Dinge kam. Papier mochte geduldig sein, er
war es heute nicht.
Der Nachthimmel war sternenübersät. Lescale saß mit dem Rücken an
die Mauer gelehnt auf einer Fensterbank im oberen Stockwerk und war in
einen der beiden großen Chronikbände vertieft.
Ohne das Licht der Mitternachtssonne war es zu dunkel, um zu lesen,
daher hatte Lescale ein kleines Leuchtplasma erschaffen. Er überflog Seite
für Seite, verharrte an manchen Vermerken etwas länger als bei anderen,
notierte sich einzelne Stichpunkte auf einem leeren Blatt Papier und war so
darin vertieft, dass er Selys’ Schritte erst hörte, als sie durch die Tür des
Zimmers kam.
”Hier bist du also.“
Sie stellte einen Korb auf ein freies Stück Fensterbank.
”So wie ich dich kenne, liegt deine letzte richtige Mahlzeit exakt einhundert
Mitternachtssonnen und anderthalb Zyklen zurück.“
”Du kennst mich zu gut, Selys“, seufzte Lescale und klappte das Buch
zu.
Selys f örderte eine Weinflasche zutage.
”Wahrscheinlich.“ Sie lächelte, während sie die Weinflasche öffnete.
”Ich hoffe, du bist immer noch diesem billigem carischen Gesöff so zugetan
wie damals.“
”Nenn mich rührselig, aber es erinnert mich an alte Zeiten.“
Selys hatte unterdessen ein halbes kaltes Buffet auf der Fensterbank
angerichtet, noch ofenwarmes Weißbrot, mehrere Schalen mit Dips, marinierte
Rikaschoten, etwas Käse und sogar einige Carafrüchte hatte sie
mitgebracht.
Lescale legte die Chronik weg und erhob sich.
”Danke. Das hättest du nicht tun müssen.“
Beim Anblick der Rikaschoten lief ihm das Wasser im Munde zusammen.
”Andererseits – ich bin froh, dass du es getan hast.“
Selys öffnete eine zweite Flasche Wein und goss etwas davon in einen
silbernen Kelch.
”Nichts zu danken.“ Sie drückte ihm die Flasche carischen Weins in die
Hand und hob ihren Kelch. ”Auf deine Rückkehr. Das Buffet ist eröffnet.“
Eine Weile aßen sie schweigend nebeneinander auf der Fensterbank
sitzend. Das Brot war köstlich, und die Rikaschoten waren knusprig und
pikant.
”Kommst du klar mit. . .“, Selys machte eine unbestimmte Handbewegung,
”dem allen?“
Lescale ließ sich Zeit mit der Antwort.
”Ich hatte viele Zyklen zum Nachdenken.“ Er trank einen Schluck Wein
aus der Flasche.
Selys schnaubte belustigt. ”Das ist keine Antwort, Les.“
Sie nahm ein Stück Käse und betrachtete es.
”Ich kenne dich fast dein gesamtes Leben lang. Du hast Verluste noch
nie gut verkraftet. Und du hattest gehofft, nie mehr einen solchen erleiden
zu müssen.“
Ihr Blick wanderte zu Lescale.
”Und dann noch auf diese Art und Weise.“
Selys biss ein Stück vom Käse ab und schwieg.
”Was auch immer du tust, um wieder in die Reihen des Rats aufzusteigen,
einige von uns Atachronai vermissen Scayes schmerzlich. Und die
meisten werden dich das spüren lassen. Darauf musst du vorbereitet sein.“
Lescale trank einen weiteren Schluck Wein.
”Weißt du, was das Schlimmste ist?“ Seine Stimme klang düster. ”Jedes
Mal, wenn ich die Augen schließe, ist ein Teil von mir wieder dort im Ödland.
Ich sehe mich diese Dinge tun, und bin wieder genauso machtlos.“
Selys runzelte besorgt die Stirn.
”Scayes war die einzige, die dir im Kampf gewachsen war. Und sie hätte
dich töten können. Aber es hätte ihr das Herz gebrochen, deswegen hat sie
es nicht getan. Sie glaubte bis zuletzt, dass sie dich retten konnte.“
”Sie ist in meinen Armen gestorben.“
Selys legte behutsam ihre Hand über Lescales.
”Und es waren die Arme ihres Geliebten, nicht ihres Mörders.“
Sie erhob sich schweigend und betrachtete Lescale, der zusammengesunken
auf der Fensterbank saß.
”Dich trifft keine Schuld.“
Lescale lehnte sich gegen die Fensterscheibe und schaute Selys direkt
in die Augen.
”Schuld ist nicht objektiv.“
Seine Augen glänzten feucht. Selys presste ihre Lippen zu einem Strich
zusammen.
”Kommt du klar mit dem allen?“, wiederholte sie ihre Frage mit Nachdruck
und streckte ihm ihre Hand entgegen.
Lescale drehte unschlüssig die fast leere Weinflasche in seiner Hand,
dann setzte er sie an seine Lippen und leerte sie in einem Zug.
”Es bleibt mir nichts anderes übrig“, antwortete er und ergriff die angebotene
Hand.
Selys lächelte und zog ihn auf die Beine.
”Nichts anderes wollte ich hören.“
Sie legte den Kopf schief und taxierte Lescale.
”Es ist keine Schande, um Hilfe zu fragen, vergiss das nicht. Aber zu
einem erfreulicheren Thema: Interesse an einer nächtlichen Führung durch
die Granida? Es hat sich einiges verändert.“
Lescale stellte die leere Weinflasche auf die Fensterbank.
”Ich bin ganz Ohr.“