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Something Strange

Vanished
von

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Prolog

Weiß.

Funkelndes, strahlendes Weiß, überall um ihn herum.

Das war alles, was er sah, als er die Augen öffnete, eine Handlung, die ihn eine unglaubliche Menge an Kraft kostete, als habe jemand Gewichte an seinen Lidern befestigt, um sie in jedem Fall geschlossen zu halten.

Sein Kopf dröhnte, schmerzte, ein seltsames, brennendes Stechen, das seinen Schädel zu durchbohren schien wie glühenden Metall.

Dieses Weiß...Es war so unfassbar grell, dass es schmerzte. Ihn dazu zwang, die Augen nach wenigen Sekunden wieder zusammenzukneifen, er hatte den Eindruck, als würde seine Netzhaut bei seinem Anblick verbrennen und der pochende Schmerz in seinem Kopf schwoll an, grenzte nun an die Schwelle zur Unerträglichkeit, bei deren Übertretung man sich lieber den Tod wünschen würde als diese Qualen weiterhin zu ertragen.

Er fühlte sich grauenhaft.

Etwas berührte seine Haut, etwas kaltes, feuchtes, flüchtig spürbar und dann verschwunden, um diesen Prozess dann in immer kürzeren Abständen und in steigender Zahl zu wiederholen, und jetzt erst wurde ihm bewusst, wie frostig die Luft um ihn herum eigentlich war.

"Schnee.", schoss es ihm durch den Kopf, ein Gedanke, der ihn gleichermaßen beruhigte wie ängstige. "Es schneit...Darum ist...Alles weiß…"

Das ergab Sinn, keine Frage, es war Mitte Dezember und Schnee war zu dieser Zeit alles andere als ungewöhnlich in diesem Teil Colorados, doch warf diese Erkenntnis mehr Fragen auf, als sie beantwortete:

Wo war er?

Warum lag er hier, draußen, während offensichtlich ein Schneeschauer gerade seinen Anfang nahm, und dann noch mit diesen entsetzlichen Kopfschmerzen?

Wie lange lag er schon hier?

Und...War er alleine?

Er spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte, der Versuch, irgendetwas hervorzubringen; einen fragenden Satz oder wenigstens doch ein einzelnes Wort, misslang kläglich...doch um ehrlich zu sein, hätte er auch nicht wirklich erwartet, eine Antwort zu bekommen.

Selbst mit geschlossenen Augen und der Dunkelheit, die infolgedessen der einzige Anblick war, der sich ihm bot, wusste er mit geradezu unheimlicher Sicherheit, dass er allein war.

Allein in diesem grellen Meer aus Schnee, umgeben von Luft, die mit jedem Atemzug eisiger zu werden schien.

Die Kälte brachte seine Lungen zum Brennen und ein Husten bahnte sich seinen Weg nach draußen, ließ seinen Körper erzittern und seine Rippen schmerzen als habe er Seitenstechen.

Erst mit dem kratzenden Klang seines Hustens wurde ihm klar, wie still es um ihn herum war.

Zwar konnte er nicht wirklich sagen, was für eine Geräusch Kulisse er erwartet hatte, denn dafür hätte er schließlich zuerst einmal wissen müssen, wo er sich eigentlich befand, doch diese vollkommene Stille schien zu absolut keinem ihm bekannten Ort zu passen.

Der Garten seines Hauses?

Hier würde man nahezu unterbrochen die Motorengeräusche vorbeifahrender Autos hören, lag der neumodische Bungalow, in welchem er wohnte, so lange er denken konnte, doch direkt an der viel befahrenen Main Street des kleinen Städtchens Clover Rocks.

Doch selbst in abgelegeneneren Stadtteilen war eine solch vollkommene Stille unvorstellbar, irgendeine Geräuschkulisse war immer vorhanden; Autos, Hundegebell, sich beim Spazierengehen unterhaltende Leute, spielende Kinder, zwitschernde Vögel…

...Ja. Das war es. Das störte ihn so sehr.

Sicher, es war Winter, und trotzdem gab es auch zu dieser Jahreszeit Vögel, die oftmals einen nicht zu verachtenden Lärm verursachen konnten.

Und wenn es nur die Krähen waren, die man häufig in den Baumwipfeln hocken sah und die einen immer mit Blicken zu beobachten schienen, die viel zu wissend für solch primitive Tiere zu sein schienen.

Und hier?

Keine Spur von ihren krächzenden Lauten, die ihm als Kind immer einen Schauer über den Rücken gejagt hatten, und urplötzlich, als sei diese ganze Situation nicht bereits beängstigend genug, schoss ihm eine Erinnerung durch den Kopf, an eine Geschichte, die seine Großmutter ihm früher einige Male erzählt hatte, und in der ein Satz vorgekommen war, der sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte und diesem Szenario eine noch unheilvollere Note verlieh:

"Und als die Krähen schließlich schwiegen, zog der Tod ins Land."

Übelkeit stieg in ihm auf, gemischt mit kindlicher, tiefsitzender Furcht.

Früher hatte diese Erzählung ihm Angst gemacht, doch aus diesem Alter war er längst heraus, er war kein Kind mehr; und dennoch…

"Als die Krähen schwiegen, zog der Tod ins Land."

Es kostete ihn weniger Anstrengung als beim ersten mal, seine Augen zu öffnen, doch die Wucht, mit dem ihn das grell strahlende Weiß traf war nicht weniger intensiv.

Mit aller Macht widerstand er dem Bedürfnis, die Lider wieder zu senken, dieses Schmerzhafte Weiß auszusperren und sich zurück in die Dunkelheit fallen zu lassen, so verlockend dieser Gedanke auch war, doch da war diese leise, bittere Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm zuwisperte, ihn zu warnen schien, mit kratziger, androgyner Stimme: "Wenn du sie wieder schließt, wirst du nicht mehr die Kraft haben, sie noch mal zu öffnen!"

Der Schmerz ließ nach. Das Weiß schien einen Teil seines Glanzes zu verlieren; es war immer noch hell, doch nicht mehr in dem Ausmaß, bei dem er das Gefühl gehabt hatte, bei seinem Anblick erblinden zu müssen.

Langsam, ganz langsam, mit Rücksicht auf seine schmerzenden Rippen, die seltsam steife Wirbelsäule sowie die noch immer vorhandene Übelkeit richtete er sich auf, fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, um die Schneeflocken zu entfernen, die nicht bei ihrer ersten Berührung mit der vergleichsweise warmen Haut geschmolzen waren, und ließ den Blick über die dicke Schneedecke schweifen, die alles um ihn herum unter sich zu begraben schien. Allerdings gab es offensichtlich nicht sonderlich viel, was sich großartig von dem flachen, ebenen Boden hätte abheben können, abgesehen von den hohen, immergrünen Fichtenbäumen, die sich ein paar Meter entfernt sowohl vor, als auch rechts und links neben sowie hinter ihm in großer Anzahl in den Himmel erstreckten.

Auch auf ihren Nadeln lag Schnee, doch immer wieder durchbrochen von dem Anblick dunkelgrüner Nadeln, die in dem ansonsten so makellos weißen Winterwunderland fehl am Platz wirkten wie ein falsch gewählter Kontrast auf einem Gemälde.

Sie umgaben ihn in einem nahezu perfekten Kreis, wirkten an einigen Stellen beinahe undurchdringlich und schienen das Licht der tiefstehenden Wintersonne zu absorbieren und so einen Ort der Finsternis zu erschaffen, in dessen Schatten Kreaturen lauerten, die kein Mensch jemals zu Gesicht bekommen sollte, der Wert darauf legte, seinen Verstand oder gar sein Leben zu erhalten.

Das Zittern, das bei diesem Anblick von seinem Körper Besitz ergriffen hatte, kam nicht von der Kälte.

Das hier war weder der Garten seines Hauses noch irgendein Ort im für die kleine Stadt recht großen Park, in dem es zwar durchaus einige Baumgruppen gab, jedoch keinesfalls in dieser Größe. Nicht so, dass es in ihnen eine Lichtung gegeben hätte wie diese hier, auf der er sich befand, und wenn, dann hätte man durch die Fichten hindurch etwas anderes erblicken müssen als weitere Bäume und Finsternis, einen Pfad, eines der Schilder, auf denen verschiedene in diesem Gebiet vorkommende Tiere aufgelistet waren, Bänke, Laternen, irgendetwas.

Doch von solchen Dingen gab es keine Spur.

Weshalb auch. Das hier war nicht der Park, ganz eindeutig nicht, dass er diese Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen hatte erschien ihm jetzt, wo er die richtige Lösung endlich zumindest ungefähr erkannt hatte, unfassbar dumm, doch war es in solch einer Situation nicht verständlich, ein wenig verwirrt zu sein?

Und wenn es nicht der Park war, dann gab es bloß eine Möglichkeit.

"Kempton Forest.", flüsterte er, Worte, die an niemand bestimmten gerichtet waren, und der Klang seiner eigenen Stimme ließ ihm im ersten Moment vor Schreck zusammenzucken. Diese vollkommene Stille zu durchbrechen erschien ihm auf groteske Art und Weise vollkommen falsch, dennoch sprach er weiter, vor allem, um sich selbst zu beweisen, dass er sich nicht einschüchtern ließ von solch einem seltsamen, irrationalen Gefühl, ausgelöst durch irgendwelche surrealen Hirngespinste: "Was soll das? Was...mache ich hier…"

Ein Windhauch fuhr über sein Gesicht.

Er war ganz schwach, keinesfalls in der Lage, beim Durchdringen der Baumstämme ein Pfeifen zu verursachen oder Zweige und Äste zum ächzen zu bringen; doch fühlte es sich an, als striche jemand mit eisigen, scharf geschliffenen Klauen über seine Haut.

Kempton Forest.

Was zur Hölle hatte er hier zu suchen? Wieso war er hier?

Je mehr er sich auf diese Fragen konzentrierte, desto deutlicher wurde ihm bewusst, dass er überhaupt nichts wusste, eine Tatsache, die er bis eben einfach als selbstverständlich hingenommen und nicht weiter beachtet hatte, die jedoch jetzt, wo er darüber nachdachte, harmlos ausgedrückt ausgesprochen beunruhigend war.

Er wusste, wer er war, seinen Namen, sein Alter, all diese Dinge, die man nun einmal wusste und die man in seine Biographie schreiben würde, und er konnte sich auch vage daran erinnern, am heutigen morgen das Haus verlassen zu haben (wobei er sich nicht sicher sein konnte, dass es wirklich der heutige Tag gewesen war).

Aber dann?

Was war dann gewesen?

So sehr er auch versuchte, in seinem Gedächtnis dieses fehlende Stück Zeit, in dem er irgendwie an diesen Ort gelangt sein musste, hervorzukramen, scheiterte dieses Unterfangen kläglich.

Da war einfach nichts.

Als hätte jemand diese Erinnerungssequenz mit äußerster Sorgfalt herausgeschnitten und dabei alles andere intakt gelassen. Sie war einfach...weg. Wie eine von einer Festplatte gelöschte Datei.

Fort. Und ohne die Hoffnung, sie wiederherstellen zu können.

"Das ist doch unmöglich...", wisperte er, und seine Worte verklangen ungehört in der eisigen Winterluft. "Was verdammt nochmal ist hier…"

Dann verstummte er. Sein Blick war zu ersten Mal, seit er die Augen geöffnet und das Schmerzhafte Weiß erblickt hatte, auf seine Hände gefallen, die er, ohne es wirklich zu registrieren, ineinander geknallt hatte, sodass seine Fingernägel sich in seine Haut bohren und halbmondförmige Abdrücken hinterließen.

Sie schmerzten, das merkte er erst in dem Augenblick, indem er sie bemerkte, doch das war es nicht, was ihn hatte verstummen lassen; nein, wäre es nur das gewesen, dann hätte er nicht diese durchdringenden Panik verspürte, die langsam wie ein boshaftes lauerndes Tier durch die Windungen seines Gehirns kroch und gleichzeitig seine Eingeweide scheinbar zum Brennen brachte.

Seine Hände waren rot.

Es war kein grelles rot, ging eher ins bräunliche, erinnerte an die Farbe von Rost, doch spielte das keine Rolle, denn er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass es das war, was ihm als erster Impuls durch den Kopf geschossen war:

Blut.

Bräunlich-rotes, bereits getrocknetes und sich daher wohl schon seit einiger Zeit dort befindendes Blut.

Der Gestank von Metall stieg ihm zeitgleich mit dieser Erkenntnis in die Nase, war wohl eher Einbildung als wirklich vorhanden, doch war deshalb nicht weniger Ekel erregend, und die Panik, die sich durch ihn hindurch fraß, wurde immer und immer stärker.

Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf. Schwankte, seine Beine drohten, unter ihm wegzuknicken, und wäre er gestürzt, wäre er womöglich einfach liegen geblieben, zitternd und keuchend, doch es gelang ihm, daß Gleichgewicht zu bewahren, und so stolperte er ungelenk nach vorne, ohne sich auch nur im geringsten Gedanken darüber zu machen, in welche Richtung er eigentlich wollte; einfach weg, weg von diesem Ort, raus aus dem Wald, hin zu irgendjemandem, der ihm helfen konnte…

Seine Schritte verursachten knirschende Lauten im tiefen Schnee, die die noch immer herrschende Stille durchschnitt en wie Pistolenschüsse; Zweige von Fichten schlugen ihm ins Gesicht und gegen Schultern und Arme, doch das kümmerte ihn nicht, ebenso wie seine schmerzenden Rippen und die Lunge, die unter der Anstrengung, die er bereits aufbringen musste, um sich überhaupt auf den Beinen zu halten, scheinbar zu explodieren drohte.

Alles, woran er denken konnte, war das Blut. Dieses gottverdammte, getrocknete Blut, das sich, wie er beim Aufstehen festgestellt hatte, nicht nur an seinen Händen befand, sondern auch auf seinem grünbraunen Mantel und seiner Jeans.

So unfassbar viel Blut.

Mit einem Mal, von einer Sekunde auf die andere, lichtete sich der Wald.

Perplex lief er noch einige Meter weiter, bevor er schließlich stehen blieb, und ein weiteres Mal an diesem Tag musste er die Augen zusammenkneifen, als die vorherige Dunkelheit des Waldes hellem Sonnenlicht wich, in dem der Schnee noch intensiver zu leuchten schien, als er es auf der Lichtung im Wald getan hatte.

Wie es schmerzte, dieses grelle Weiß.

Wie Nadeln, die in den Sehnerv und das Gehirn fuhren. Wie konnte ihn der Schnee hier auf einmal so sehr stören, wo er doch nicht anders war, als all die Jahre zuvor?

Doch diese Frage war nicht wichtig. Ebenso wenig wie der Schmerz. Alles was zählte, war, dass er heraus war aus diesem gottverdammten Wald, dass er, sobald er die Augen wieder öffnen würde, irgendeinen Weg erblicken würde oder eine Straße oder irgendetwas, dass er wissen würde, wo er war, und wie er nach Hause kommen konnte, zu seinen Eltern, die ihm helfen würden, wo er sich beruhigen konnte, und wo er dieses furchtbare Blut…

Und dann war da ein lautes Quietschen. Das Kreischen von Metall, ein Hupen, und, bevor er auch bloß die Chance hatte, die Augen zu öffnen und zu begreifen, was vor sich ging, ein unfassbarer, unerträglicher Schmerz.

Chapter 1

"Randall, kommst du jetzt endlich?"

Ungeduldig trat Felix von einem Bein auf das andere, die Hand bereits auf den kühlen Griff der Haustürklinke gelegt, während er seinem Cousin dabei zusah, wie dieser sich in gefühltem Zeitlupentempo seinen Mantel anzog, ohne dabei auch nur die geringsten Anstalten zu machen, sich zu beeilen. Bereits vor einer halben Stunde hatten sie sich ursprünglich auf den Weg machen wollen. Mittlerweile war es kurz vor halb zwei, die Hälfte des Tages war bereits rum, und so früh, wie es so dieser Jahreszeit dunkel wurde, blieb ihnen nicht mehr allzu viel Zeit…

Wie lange konnte man eigentlich brauchen, um sich seine Winterklamotten überzuziehen? Wenn man Randall so zusah, scheinbar eine Ewigkeit...dass er nicht allzu begeistert von der ganzen Idee war, war Felix von Anfang an bewusst gewesen. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, seinen jüngeren Cousin davon zu überzeugen, ihn zu begleiten, ihn zu unterstützen bei diesem außergewöhnlichen Vorhaben, das er alleine niemals würde bewältigen können.

Randall hob den Blick von seinem Reißverschluss, den er gerade im Begriff war, zuzuziehen und betrachtete Felix mit einer Mischung aus Argwohn, Gereiztheit und etwas, das womöglich so etwas wie Schuldbewusstsein ausdrücken mochte, vielleicht aber auch nicht. "Ich bin doch gleich so weit. Bleib doch ruhig…"

Innerlich musste Felix seufzen. Hätte er die Wahl gehabt, so hätte er sich eindeutig jemand anderen als Begleiter ausgesucht, jemanden, der ein wenig begeisterungsfähiger war, nicht so desinteressiert und geradezu gelangweilt. Jemanden, der in der Lage war zu begreifen, worum es hierbei eigentlich ging, was das für eine große Sache war, welche Auswirkungen ihre Erkenntnisse haben würden.

"Du erzählst mir seit einer dreiviertel Stunde, dass du gleich soweit bist! Wenn du so weitermachst, ist es dunkel! Also mach endlich hinne, Randy!"

Das letzte Wort zog er künstlich in die Länge, beobachtete dabei, wie Randall das Gesicht verzog, als er den ihm so sehr verhassten Spitznamen vernahm, mit dem man ihn ganz wunderbar provozieren konnte, wenn man denn wollte. Gereizt wandte der Angesprochene sich ab und griff nach seinem Schal, dabei in scharfem Tonfall entgegnend: "Ich bin gleich soweit, okay? Sei froh, dass ich überhaupt mitkomme!"

Das war Felix allerdings in der Tat. Alleine hätte er dieses Unterfangen wohl niemals gewagt, hätte er sich diese Tatsache auch unter keinen Umständen eingestanden, und Freunde, die sich dazu bequemt hätten, ihn zu unterstützen, besaß er keine. Aus diesem Grund hatte er alles daran hatte setzen müssen, Randall zu überreden, ihn zu begleiten. Was nicht gerade leicht gewesen war.

Letztendlich hatte Randall wohl vor allem deshalb zugestimmt, bei dem Ganzen mitzumachen, damit Felix endlich damit aufhörte, ihm in jeder freien Minute damit auf die Nerven zu gehen, und Ruhe gab. Ein verschwendeter Nachmittag war immer noch besser, als sich von den ständigen Betteleien langsam in den Wahnsinn treiben zu lassen. Eine traurige Motivation zwar, aber besser, als gar keine.

Dennoch ging Felix nicht weiter auf diese Aussage ein. Verdrehte lediglich die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust, mittlerweile sichtlich genervt, drehte sich um und warf einen Blick aus dem Fenster, auf den mit Schnee bedeckten Vorgarten des Hauses, der in der frühen Nachmittagssonne funkelte wie ein Haufen Diamanten.

"Hast du eine Ahnung, wo der Hausschlüssel ist?", hörte er Randall hinter sich fragen. "Ich hab keine Lust, heute Abend vor der Tür zu stehen und zu erfrieren!"

Felix öffnete den Mund, um etwas zu erwidern; er hatte keine Ahnung wo der blöde Schlüssel war und es war ihm auch herzlich egal, doch kein Laut drang aus seiner Kehle hervor.

Verwirrt löste er den Blick vom Fenster. Legte eine Hand auf seinen Hals, versuchte noch ein Mal, eine Antwort hervorzubringen, doch erfolglos.

Angst stieg in ihm auf. Was zur Hölle war das? Er konnte unmöglich von einer Sekunde auf die andere verlernt haben, zu reden, so etwas war nicht möglich, und bis eben war mit seinen Stimmbändern alles in bester Ordnung gewesen. Also was...

"Felix?" Randall war die Irritation deutlich anzuhören; es war absolut ungewöhnlich für Felix, auf eine Frage nicht zu antworten, oder überhaupt so lange zu schweigen. "Hast du mir Grad zugehört?"

Felix wollte nicken, doch nicht einmal mehr diese Handlung schien ihm nun noch möglich zu sein. Stattdessen krampfte sich sein gesamter Körper seltsam zusammen als habe er einen epileptischen Anfall, seine Hände zitterten unkontrolliert und seine Beine schienen zu drohen, unter seinem Gewicht wegzubrechen. Etwas knackte. Es war ein lautes, ein widerliches Knacken, gefolgt von einem Geräusch, das so klang, als würde irgendetwas entzwei gerissen, und ein unfassbarer, betäubender Schmerz fuhr Felix' Rückgrat hinauf.

"Felix? Was...Was ist los?"

Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen stand Randall jetzt direkt neben ihm; Felix wollte sich zu ihm drehen, oder ihm zumindest zubrüllen, dass er verdammt noch mal irgendetwas tun sollte, doch alles, wozu er in der Lage war, war ein seltsames, kehliges Stöhnen, das klang als habe man es direkt aus irgendeinem drittklassigen Zombiefilm herausgeschnitten.

Der metallische Geschmack von Blut erfüllte von einer Sekunde auf die andere seinen Mund, unfassbar intensiv und Übelkeit erregend, und nur wenige Augenblicke später ertastete seine Zunge einen harten, klebrigen Klumpen im hinteren Teil seines Rachens, der sich anfühlte wie eine skurrile Mischung aus Gummi und Schleim.

"Felix!"

Und dieses Mal gelang es Felix, sich Randall zuzuwenden.

Sein Kopf ruckte in einer unnatürlichen Drehung herum, während der Rest des Körpers vollkommen unbeweglich verharrte, und das Knirschen der brechenden Knochen und das Reißen von Sehnen und Muskeln fuhr ihnen beiden durch Mark und Bein.

Randall hatte das vollkommen sichere Gefühl, jeden Moment ohnmächtig werden zu müssen. Er starrte in das grauenhaft verzerrte Gesicht seines älteren Cousins, der mit weit aufgerissenem Mund vor ihm stand und ihm anstarrte mit einem Blick, in dem sich Wahnsinn und Urangst mit einer Leere vermischten, die Toten eigen war, denen noch niemand die Augen geschlossen hatte.

Felix' Kopf hing auf seiner rechten Schulter, nur noch von Haut und einigen wenigen Muskeln daran gehindert, zu Boden zu fallen, aus dem offenen Hals ragte ein offen liegendes Stück Wirbelsäule. Sein Mund öffnete und schloss sich tonlos wie bei einem Goldfisch, dünne Blutfäden hingen zwischen seinen Zähnen und erzitterten bei jedem Atemzug. Das Ganze hätte ein ausgesprochen gut gemachtes Halloween-Konstüm sein können, oder gar das Werk eines Maskenbildners aus Hollywood, doch war Randall selbstverständlich vollkommen bewusst, dass es nichts dieser Art war.

Felix begann zu schwanken, seine Pupillen und die Iris wanderten blicklos in Richtung Decke, dann drang ein grauenerregendes, widerliches Gurgeln aus seiner Kehle, gefolgt von dem intensiven Gestank von Blut, Galle und Verwehsung.

Etwas klatschte auf den Boden. Ein seltsam rötlich-grün schimmernder Klumpen von der ungefähren Größe eines Tennisballs, bedeckt von schimmerndem Blut und überzogen von bläulichen, pulsierenden Adern. So etwas hatte Randall noch niemals zuvor gesehen. Er wollte zurückweichen, fort von diesem seltsamen Ding, das, was auch immer es sein mochte, nichts gutes bedeuten konnte, und fort von Felix, der, nachdem er diesen eigenartigen Fremdkörper, der nichts, aber auch gar nichts im Körper eines Menschen zu suchen haben dürfte, ausgewürgt hatte, reglos wie eine Statue dastand und kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Doch seine Beine gehorchte ihm nicht. Wie eingefroren stand er da, mit wild pochendem Herzen und vor unfassbarer Panik zitternd, und starrte die deformierte Gestalt an, die einst sein Cousin gewesen war, die nun jedoch, verdreht, mit beinah abgerissenem Kopf, diesem leeren, toten Blick und blutbefleckten Klamotten, kaum noch etwas menschliches an sich zu haben schien.

"F...Felix...?" Seine Stimme war kaum mehr, als ein tonloses Raunen, kaum hörbar, verklungen, bevor die Worte jemanden hätten erreichen können, und dennoch schien Felix sie vernommen zu haben.

Sein Oberkörper ruckte herum, wie zuvor sein Kopf, wieder erklang das Knacken und Reißen, doch registrierte Randall es dies Mal kaum, er befand sich in einer Art vollkommenen Schockstarre, die ihm nicht nur kontrollierte Handlungen, sondern auch weitere Gefühlsregungen und Reaktionen unmöglich zu machen schien.

Zitternde, sich spastisch verkrampfende Hände packten ihn an den Oberarmen und hielten ihn fest, zerrten ihn nach vorne, zu diesem Ding, das einst sein Cousin gewesen war, nun jedoch zu etwas geworden war, das man nicht mit Worten zu beschreiben vermochte.

Keine fünf Zentimeter trennten Randall mehr von dem unmöglich verdrehten Körper, und ein leises, furchtbar hohes und von einer tiefen Urangst erfülltes Wimmern drang aus seiner Kehle.

"Es wird mich töten!", schoss es ihm durch den Kopf, und ein eisiger Schauer fuhr ihm den Rücken hinab. "Keine Ahnung, was es ist, aber es hat Felix getötet, und jetzt..."

Unmöglich zu beschreiben, wie diese Handlung vonstatten ging, doch irgendwie gelang es dem Ding, den beinahe abgetrennten Kopf nocheinmal herumzudrehen, sodass es in der Lage war, Randall direkt in die Augen zu blicken. Die Lippen verzogen sich zu einem widerwärtigen Grinsen, Blut floss ihm übers Kinn und tropfte auf den Boden, der nach Verwehsung stinkende Atem strich über Randalls Gesicht und brachte ihn dazu, sich unter einem Würgen zusammenzukrümmen, soweit es die ihn festhaltenden Hände seines Gegenübers eben zuließen. Er merkte, wie seine Augen zu tränen begannen, ob vor Ekel oder Angst, konnte er nicht sagen, doch was spielte das auch für eine Rolle? Keine. In diesen letzten Sekunden, die ihm noch blieben, spielte nichts mehr eine Rolle.

Während der Würgens hatte er den Kopf gesenkt und war so Felix' stechendem Blick ausgewichen, und das schien diesem ganz und gar nicht zu gefallen. Eine seiner Hände löste sich von Randalls Arm, legte sich dafür unter dessen Kinn und drückte es nach oben, sodass ihre Blicke sich erneut begegneten; tote Leere und Todesangst.

Randall schwankte. Hatte das Gefühl, dass seine Beine nicht mehr in der Lage waren, sein Gewicht zu tragen, und nur zu gern hätte er sich einfach zu Boden fallen lassen und wäre dort reglos liegen geblieben. Für den Rest seines Lebens. Nicht mehr als wenige Sekunden also.

Doch Felix' schien dies nicht zulassen zu wollen, schien größten Wert darauf zu legen, dass Randall ihn ansah, und so verstärkte er seinen Griff, stützte seinen Gegenüber, bevor er schließlich tief Luft holte und mit einer Stimme, die nicht der Person gehörte, die einst der Eigentümer dieses Körpers gewesen war, erfüllt von Schmerz und unendlichem, tiefschwarzem Hass flüsterte:

"Mörder!"

Dann schlug er zu.

Und endlich konnte Randall schreien.

Chapter 2

In der Sekunde, in der Liv verschlafen die Augen öffnete und orientierungslos in die Dunkelheit ihres Zimmers starrte, die lediglich leicht von den Ziffern ihres Radioweckers durchbrochen wurde, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was genau sie aus ihren Träumen gerissen hatte. Eben noch hatte sie tief und fest geschlafen, davon träumend, wie sie in wenigen Tagen das Haus ihrer Kindheit verlassen und in ihre eigenen Wohnung ziehen würde, wie sie es sich seit Jahren so sehr wünschte, und urplötzlich war da irgendetwas gewesen, ein Geräusch oder was auch immer, das ihre Ruhe gestört und sie hatte aufschrecken lassen, und nun saß sie aufrecht im Bett, sich perplex umblickend, ohne viel zu erkennen, und dabei lauschend. Sie konnte den Wind hören, der pfeifend um die Mauern des Hauses wehte, doch dieser Klang war ihr so vertraut, dass er es niemals geschafft hätte, sie zu wecken.

Die giftgrüne Anzeige des Weckers, die sie immer an radioaktives Material erinnerte, teilte ihr mit, dass es 2:38 Uhr war, und Liv, sollte sich gleich wieder hinlegen, noch gut vier Stunden würde schlafen können, bevor sie aufstehen musste...

Angestrengt dachte sie nach. Ihr Gehirn schien noch nicht ganz begriffen zu haben, dass es sich nicht mehr im Land der Träume befand, sondern in der Realität, und so kostete es sie eine Unmenge an Anstrengung, um auch nur einen klaren, vernünftigen Gedanken zu fassen. Da war etwas gewesen, definitiv, etwas, das sich ganz knapp außerhalb des für sie Greifbaren befand, ähnlich den sich flink bewegenden Schatten, die man manchmal im Augenwinkel wahrnahm, etwas, von dem sie eigentlich wissen müsste, was es war, wenn sich ihr dämliches Hirn nur endlich einmal dazu bequemen würde, in einem normalen Tempo zu arbeiten...

Und dann hörte sie etwas.

Ganz leise war es, kaum hörbar durch das laute Heulen des Windes, und dennoch eindeutig vorhanden; ein kratziges, verzweifeltes Wimmern, das klang wie das eines verwundeten hilflosen Tieres, doch Liv war auf der Stelle klar, dass es das nicht war. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter als sie endlich begriff, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte; ohne zu zögern warf sie die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante, sich selbst dabei Innerlich fragend, wie sie so lange hatte brauchen können, um zu erkennen, was vor sich ging.

Es war schließlich nicht das erste Mal.

Der Boden unter ihren nackten Füßen fühlte sich eisig kalt an und die alten Holzdielen knarrten unter ihrem Gewicht, doch weder das eine noch das andere störte sie, sodass sie unbeirrt weiter zu ihrer Zimmertür ging und die Hand auf die kühle Klinke legte.

Die Scharniere waren seit Jahren nicht geölt worden, und so durchschnitt ein lautes, schrilles Quietschen die ansonsten ruhige Geräuschkulisse, das klang, als kratze jemand mit den Fingernägeln über eine Kreidetafel.

Angewidert schüttelte Liv sich.

Der Gang vor ihr lag vollständig im Dunkeln, es gab keine Fenster, durch die ein wenig blasses Mondlicht hätte hineinscheinen und Licht spenden können, und so tastete sie sich vollkommen blind vorwärts, nicht wagend, die Deckenlampen einzuschalten, auch wenn sie nicht sagen konnte, was genau sie davon abhielt.

Es dauerte keine zehn Sekunden, bis sie zum ersten Mal mit dem Schienbein gegen etwas hartes prallte. Ein stechender Schmerz durchzuckte sie, gleichzeitig fiel der dafür verantwortliche Gegenstand - ein Stuhl, wie sie am nächsten Morgen feststellen würde - mit einem lauten Poltern zu Boden, und ein lautes "Scheiße!" entschlüpfte ihrem Mund.

Wie eingefroren hielt sie inne, lauschte, doch nichts hatte sich verändert, da war immer noch bloß das Heulen des Windes und das nun etwas lauter klingende Wimmern, das vom anderen Ende des Ganges zu ihr drang.

Keine Tür öffnete sich. Niemand fragte verschlafen, was zur Hölle denn los sei. Wie denn auch?

Ihre Mutter hatte in dieser Woche Urlaub und verbrachte drei Tage mit einer Freundin in irgendeinem Wellness Hotel, ihr Vater hatte wieder einmal Nachtschicht, und die einzige Person, die sich abgesehen von Liv derzeit im Haus aufhielt, war entweder bereits wach und zu nichts weiter fähig, als zitternd im Bett zu kauern, oder aber, es würde ihr gut tun, geweckt zu werden.

Mit Bedacht setzte Liv ihren Weg fort. Es war nicht mehr weit, auch wenn es sich in der Dunkelheit anfühlte wie ein fünf-Kilometer-Marsch, und sie hatte diese Strecke bereits so oft unter gleichen Bedingungen zurückgelegt, dass sie keine weiteren Schwierigkeiten hatte, die Türe zu finden, hinter der sie das Wimmern nun ganz deutlich vernehmen konnte.

Ein weiteres Quietschen von Scharnieren. Wann hatte ihr Vater gesagt, dass er sich darum kümmern würde? Vor fünf Monaten?

Das Licht der auf dem Nachttisch stehenden, brennenden Lampe ließ die Dunkelheit des Fluges zurückweichen, reflexartig kniff Liv die Augen zusammen, der Kontrast des warmen Leuchtens zu der vorherigen tiefen Finsternis hätte kaum größer sein können. Eigentlich hätte sie darauf vorbereitet sein müssen. Die Lampe brannte immer, jede Nacht, seit einem dreiviertel Jahr nun, doch hatte sie schlicht und ergreifend nicht daran gedacht.

Es dauerte einige Sekunden, bis ihre Augen sich an die doch eigentlich recht gedämpfte Helligkeit, die das Zimmer erfüllte, gewöhnt hatten. Sobald es jedoch so weit war, fiel ihr Blick sofort auf den zuckenden, wild um sich schlagenden Körper, der auf dem Bett direkt unter dem großen Erkerfenster lag, durch das der Mond seinen silbrigen Schein warf und so zusätzlich zu der elektrischen Nachttischlampe Licht spendete.

Liv spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde.

Sie hatte diesen Anblick schon so viele Male vor Augen gehabt, doch jedes Mal wieder war es grauenhaft. Fühlte sich an wie ein seelischer Schlag ins Gesicht unfassbar ließ sie sich so unendlich hilflos vorkommen, ihr das Gefühl gebend, dass sie nichts, aber auch gar nichts tun konnte, dass es nichts gab, was in ihrer Macht stand, um irgendwie hilfreich zu sein...

Nun, das stimmt nicht ganz. Auf kurze Sicht konnte sie sehr wohl etwas tun. Dieses furchteinflößende Szenario beenden, versuchen, irgendwelche beruhigenden Worte zu finden, die zwar letztendlich kaum von Bedeutung, letztendlich jedoch besser als nichts waren.

Nur verhindern, dass es sich wiederholte, das konnte sie nicht.

Versuchend, so ruhig zu bleiben wie nur irgend möglich, durchquerte sie das Zimmer, ignorierte ihre weichen Knie und das schnell pochende Herz, das ihr so laut vorkam, dass es in jedem Haus der Straße zu hören sein musste, und blieb schließlich neben dem Bett ihres Bruders stehen.

Ein Blick in sein vor Panik verzerrtes Gesicht verriet ihr, dass er noch schlief; ob das nun gut oder schlecht war war eine Frage, die sie sich schon lange nicht mehr stellte.

Die Alpträume, von denen er nur selten wirklich etwas erzählte, mussten unfassbar grauenhaft sein, doch der einer Schlafparalyse ähnelnde Zustand, in dem sie oder ihre Eltern ihn bereits einige Male angetroffen hatten; wo er mit weit aufgerissenen Augen und vollkommen bewegungsunfähig da lag und an die Decke starrte, erschien ihr nicht wirklich angenehmer.

Sanft und vorsichtig berührte sie ihn an der Schulter, ganz leicht nur, obwohl sie ihn am liebsten gepackt und so lange geschüttelt hätte, bis er endlich aufwachte; doch sie wusste sowohl durch die Aussagen des Arztes als auch aus eigener Erfahrung, dass ihn das nur noch mehr in Panik versetzen würde.

"Hey!", flüsterte sie, und der Versuch, die Angst und Nervosität, die ihren gesamten Körper erfüllten, nicht in ihre Stimme mit einfließen zu lassen, misslang kläglich. "Ich bin's! Liv! Wach auf!"

Seine Augenlider zuckten, der Blick dahinter war leer, ausdruckslos und blind, doch würde sich das bald ändern, wenn sie nur dafür sorgte, dass er sich nicht zurück in den Traum fallen ließ.

"Hörst du mich?", fuhr sie daher fort, sie merkte selbst, wie aufgebracht sie klang, doch konnte sie nicht viel dagegen tun. "Ich weiß, dass du das tust! Wach auf, komm schon."

Keine Antwort.

Mit immer weiter steigender Panik beobachtete Liv, wie ihr Bruder hektisch nach Luft schnappte, wie ein Taucher, der seine Sauerstoffflasche verloren und es gerade noch so wieder an die Oberfläche geschafft hatte; eine Hand hatte er auf seine Kehle gelegt, mit der anderen schlug er weiter wild in der Luft herum.

"Randall! Wach auf!"

Nichts.

Was, wenn er nicht aufwachte? Was sollte sie dann tun? Bisher hatten sie es immer irgendwie geschafft, ihn zu wecken, allerdings hatte sie mit einem Mal das sichere Gefühl, dass es bisher auch noch nie so schlimm gewesen war.

Und ausgerechnet heute Nacht war sie allein Zuhause.

Sie würde einen Krankenwagen rufen müssen. Das war die einzige sinnvoll Option, die ihr in diesem Augenblick einfallen wollte; mochte es vielleicht auf Außenstehende übertrieben wirken, so wusste sie selbst, welche Ausmaße derartige Anfälle annehmen konnten. Doch wäre sie bei all der Panik, die von ihr Besitz ergriffen hatte und ihr fiel Kehle zuschnürte als sei sie eine sich zu ziehende Schlingen überhaupt in der Lage, einen vernünftigen Satz hervorzubringen? Wie schafften es all die Leute, die Zeugen eines grausamen Unfalls oder eines anderen schrecklichen Ereignisses wurden, die Fragen, die ihnen am Telefon gestellt wurden, zu beantworten?

Wie war überhaupt die richtige Nummer? Ihr Kopf war mit einem Mal wie leergefegt, kein klarer Gedanke schien mehr darin vorhanden zu sein, keine Spur der Notrufnummer, die man ihr als Kind so häufig eingetrichtert hatte...

Eine leise Stimme riss sie aus ihren von Furcht vernebelten Überlegungen. Sie war schwach und immer wieder von Wimmern und Keuchen unterbrochen, und klang so unfassbar seltsam, dass Liv im ersten Moment gar nicht begriff, dass sie von ihrem Bruder kam.

"Nein! Hör auf! Ich war das nicht..."

Liv spürte, wie eine Gänsehaut ihre Arme überzog. Eine Welle des Mitleids überrollte sie innerlich, mischte sich mit dem unendlich widerlichen Gefühl der Hilflosigkeit, und sie musste die Zähne fest zusammenbeißen, um nicht selbst ein lautes Schluchzen auszustoßen.

"Du träumst!", versuchte sie noch einmal, ihn aus seinem Alptraum zu reißen, mit lauterer Stimme diesmal als zuvor, doch mit eben so wenig Erfolg. "Hörst du mich? Wach auf!"

"Ich hab das nicht getan!"

Er reagierte wirklich nicht auf ihre Worte. Schien ganz in seinem Traum gefangen zu sein, trotz der Tatsache, dass seine Augen sich immer wieder kurz öffneten, und Liv hatte das dringende Bedürfnis hier und jetzt auf der Stelle in Tränen auszubrechen. Reiß dich gefälligst zusammen! Der Gedanke klang laut und harsch in ihrem Kopf, streng wie eine verbittert Lehrerin, und fast wäre sie leicht zusammen gezuckt in dem Moment, in dem er ihr kam, doch es gelang ihr gerade noch, zumindest äußerlich die Fassung zu bewahren.

Es stimmte. Sie musste sich zusammenreißen. Am besten einmal tief durchatmen, versuchen, wieder klar zu denken, ihre Optionen durchgehen, überlegen, ob es nicht doch irgendetwas gab, was ihr in ihrer Panik nicht in den Sinn gekommen war, etwas, das...

Weiter kam sie nicht in ihrem Gedankenfluss.

Als wäre er eingefroren, verharrte Randall mitten in der Bewegung, seine Lider öffneten sich wieder und er starrte einige Sekunden lang scheinbar blicklos ins Nichts, ohne dabei wirklich etwas wahrzunehmen, dann ließ er den Arm, mit welchem er eben noch um sich geschlagen hatte sinken, löste den anderen von seiner Kehle, richtete sich ein wenig auf und krallte seine Finger in die weiche Decke, unter der er sich wahrscheinlich am liebsten verkrochen hätte.

Nur zu gerne hätte Liv laut aufgeatmet. Er war endlich aufgewacht! Wirkte zwar noch ein wenig desorientiert und apathisch, doch das war nichts ungewöhnliches nach derartigen Anfällen; es würde vorüber gehen, und davon einmal abgesehen schien es ihm, den Umständen entsprechend selbstverständlich, regelrecht gut zu gehen.

Er hatte aufgehört, zu zittern. Ebenso, zu wimmern und zu zucken, und sein Blick wurde mit jeder Sekunde im Wachzustand klarer, seine verkrampfte Körperhaltung löste sich ein wenig und die Furcht, die sich deutlich auf seinem Gesicht abgezeichnet hatte, verblasste, wich langsam aber stetig der Gewissheit darüber, wo er sich befand, dass das, was auch immer er gesehen und gehört hatte, nicht real gewesen war; bloß ein Traum. Nichts weiter.

Chapter 3

"Du...Du bist wach!"

Es war nicht so, dass Liv sich nicht bewusst war, wie unfassbar überflüssig diese Feststellung war, beschrieb sie doch etwas vollkommen offensichtliches, jedoch spielte diese Tatsache für den Moment in ihren Augen keine Rolle. Hauptsache, ihr fiel irgendetwas ein, was sie sagen konnte. Weiterhin zu schweigen hätte sie schier um den Verstand gebracht; sie musste der Erleichterung, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte, auf irgend eine Weise Ausdruck verleihen, andernfalls würde sie sich ihren Weg suchen wie ein Wasserlauf, und sich dabei früher oder später gnadenlos ins Freie sprengen.

Randall starrte sie an, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, auf ihre Bemerkung einzugehen, sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt wahrgenommen hatte, und ihr frisch gewonnener Optimismus sank bereits wieder um ein gutes Stück.

Und dann, ganz schwach, so leise, dass Liv es mit Sicherheit überhört hätte, wären all ihre Sinne nicht in diesem Moment bis ans äußerste geschärft wie die einer Katze, die gerade im Begriff war, sich an eine ahnungslose Maus heranzuschleichen, brachte er noch einmal derartige Worte hervor, welche genau zu denen aus seinem Traum zu passen schienen:

"Ich bin kein Mörder!"

Wie scharfe Klingen drangen sie ins Livs Gehirn. Ließen sie erzittern wie unter einem Kälteschauer, ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal unfassbar trocken an und in ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen, die sie nur durch schnelles, leichtes Blinzeln daran hindern konnte, verräterisch über ihr Gesicht zu laufen.

Ich bin kein Mörder.

Worte, die sie ihn im Laufe der letzten Monate so oft hatte sagen hören, und das nicht in Zusammenhang mit irgendwelchen Alpträumen oder Anfällen; nein. Sondern in Gegenwart von Polizisten und Verwandten. Vor Reportern und Schaulustigen, und vor dem Psychologen. Vor Freunden und Mitschülern und Lehrern.

Vor seiner Familie. Mom, Dad. Liv.

Monatelang hatten diese Worte ihn durch seinen Alltag begleitet; nein, nicht bloß begleitet, verfolgt. Mit der Zeit hatte es nachgelassen, die Neugierigen hatten sich anderen Dingen zugewandt, die Presse neue Skandale und Themen gefunden. Auf der Straße warfen die Leute ihm manchmal noch seltsame Blicke zu, doch sie schwiegen, Taten höflich und normal, obwohl ihre Fassade nicht bloß bröckelte, sondern geradezu einsturzgefährdet war, und es gar nicht möglich war nicht mitzubekommen, wie sie sich unter sich das Maul zerrissen.

Ein dreiviertel Jahr war objektiv betrachtet vielleicht recht viel Zeit. In solch einer Situation jedoch so gut wie nichts.

Einem inneren Instinkt folgend legte Liv eine Hand um Randalls Schulter, wobei sie unter dem dicken Stoff des Pyjamas seine Knochen spüren konnte (er ist so dünn geworden in den letzten Monaten!, wurde ihr wieder einmal bewusst) und zog ihn zu sich heran; halb hatte sie erwartet, dass er sich wehren würde, dass die Berührung ihm womöglich sogar Angst machen könnte, wie Dr. Parker einige Male in den Besprechungen in Erwägung gezogen hatte, doch sie stieß auf keinerlei Widerstand.

Der dünne Körper ließ sich so leicht bewegen wie eine Schaufensterpuppe, schien überhaupt kein Eigenleben zu besitzen, und einen kurzen, kaum wenige Millisekunden andauernden, aber dafür unfassbar intensiven und grauenhaften Moment lang glaubte Liv mit unerschütterlicher Sicherheit zu wissen, dass Randall tot war.

Ein leichtes Zittern unter ihrer Handfläche durchbrach die Starre des Schocks, in die dieser furchteinflößende Gedanke sie versetzt hatte und ließ sie innerlich erleichtert aufatmen. Ihr Blick, den sie bis eben seit irgendeinem ihr unbekannten Zeitpunkt irgendwann in den letzten Minuten unbewusst auf das graublaue Muster der Bettdecke konzentriert hatte und nun von eben diesem gelöst hatte, kreuzte sich mit dem ihres Bruders, und zum ersten Mal in dieser Nacht war die sicher, in seinen dunkelgrünen Augen wirkliche Klarheit erkennen zu können.

"...Liv?"

Es schmerzte, seine Stimme so zu hören. Nicht wegen der Tatsache, dass sie noch immer so unglaublich schwach klang, an einen Sterbenden erinnerte, dem nur noch wenige, anstrengende Atemzüge blieben, auch nicht wegen der Angst, die ganz deutlich aus fiesen einen kurzen Wort herauszuholen war, Obgleich fiese Faktoren das Ganze selbstredend nicht angenehmer machte. Es war die Frage, die darin steckte. Diese Ernst gemeinte, keinesfalls rhetorische Frage, die sie nicht nur entsetzte und traurig, sondern, wenn sie ganz ehrlich war, sogar ein wenig wütend machte.

Er war sich nicht sicher, ob sie es war.

Trotz ihrer gemischten Gefühle bezüglich dieser für sie unerwarteten Reaktion lächelte Liv. Strich ihrem Bruder beruhigend übers Haar - und nicht einmal dagegen wehrte er sich - während sie mit so ruhiger Stimme wie es ihr nur irgend möglich war, erwiderte: "Ja, genau! Ich bin's! Und du hattest wieder einen Alptraum! Erinnerst du dich da dran? Du hast mich geweckt..."

Keine Antwort.

Randall starrte sie an, als habe er große Schwierigkeiten, sie zu verstehen, als kämen ihre Worte nicht vollständig bei ihm an, als gelangten nur Bruchstücke von dem was sie sagte, in sein Hirn, Fragmente, aus denen er sich das große Ganze selbstständig zusammenreimen musste, wie bei einem Puzzle mit fehlenden Teilen.

Ohne es wirklich zu registrieren oder etwas dagegen tun zu können, stieß Liv ein tiefes, lautes Seufzen aus. Wieder hatte sie das dringende Bedürfnis, einfach loszuschreien. Ihren Bruder zu packen und zu schütteln und ihm zuzubrüllen, er solle endlich aufwachen aus seinem apathischen Zustand, ihr zuhören, und verdammt noch mal, mit ihr reden! Ihre Fragen beantworten. Ihr erzählen, was für ein Traum es gewesen, was darin passiert war, dass er so sehr in Panik geraten war.

"Wann auch immer so etwas vorkommen sollte, sollten Sie ihn dazu anregen, darüber zu reden!", hörte sie Dr. Parker Stimme in ihrem Kopf; Worte, die sie in ihren eigenen Ansichten bestärkte und sie beinah noch mehr aufbrachte. "Er muss darüber reden, andernfalls frisst er es nur noch tiefer in sich hinein, und die Träume werden womöglich immer intensiver!"

Es war schwer zu glauben, dass es da noch eine Steigerung geben konnte.

Lange dauerte es, bis sie eine Antwort bekam. So kam es ihr zumindest vor. Eigentlich waren es bloß wenige Sekunden, doch zogen diese sich zäh in die Länge wie Honig, schienen eine Ewigkeit lang zu dauern, und Liv bezweifelte bereits insgeheim, dass ihr Bruder überhaupt gehört, geschweige denn verstanden hatte, was sie gesagt hatte, und hätte ihre Worte wohl noch einmal wiederholt, doch in genau diesem Moment kam endlich die von ihr gewünschte Reaktion.

"Tut mir leid."

Seine Worte klangen kränklich und monoton, und Liv biss sich unvermittelt auf die Unterlippe ohne es wirklich zu bemerken, eine Handlung, die ihr als kleines Kind zu Eigen gewesen war, und mit der sie ihre Eltern und auch ihre Lehrer regelmäßig zur Weißglut getrieben hatte.

Ein Zeichen von Unsicherheit und Nervosität.

Tut mir Leid.

Randalls Stimme war keinerlei Gefühlsregungen anzuhören gewesen, hatte kühl und distanziert geklungen, als ginge ihn das alles gar nichts an, als hätte diese Situation nichts mit ihm zu tun, als wäre er lediglich ein Zuschauer, der im Livepublikum einer Show saß, die über keinerlei emotionale Tiefe verfügte.

Als wäre es nichts von Bedeutung.

"Das muss dir nicht leid tun!", gab Liv zurück, eine Spur schärfer vielleicht, als sie beabsichtigt hatte, und ihr war selbst nur allzu gut bewusst, wie lahm diese bereits so viele Male zuvor verwendete Floskel klingen musste. "Ich hatte nur echt Angst, dass ich dich nicht wach kriege!"

Ein Ausdruck des Erstaunens blitzte in seinen Augen auf, irritiert hob er den Kopf, schien sie zum ersten Mal in dieser Nacht wirklich anzusehen. Selbst im gedämpften Licht der Nachttischlampe konnte Liv die tiefen Ringen unter seinen Augen sehen, Zeugen des unruhigen Schlafes, den er im besten Falle bekam, und von den wirklich furchtbaren Alpträumen, deren Ausmaß sie in den letzten Minuten wieder einmal hatte beobachten können.

"Hast du das versucht? Ich hab dich nicht gehört..."

Die Gänsehaut, die sich nach Randalls Aufwachen ein wenig abgeschwächt hatte, wurde wieder stärker, prickelte wie Säure und ließ Liv erschaudern, wieder biss sie sich auf die Unterlippe und registrierte gleich darauf einen starken, metallischen Geschmack im Mund.

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor von ihrem Bruder erzählt bekommen zu haben, dass er sie nicht gehört hatte.

Normalerweise - wobei Normal in diesem Kontext immer einen äußerst faden Beigeschmack besaß - berichtete er, dass er ihre Stimmen in seinem Traum gehört hatte, dass er daraufhin versucht hatte, aufzutauchen, aufzuwachen, den Stimmen durch den dicken Morast seiner Traumwelt in die Realität, in Sicherheit zu folgen, was ihm früher oder später auch jedes Mal gelungen war.

Und jetzt?

Jetzt erzählte er ihr allen ernstes, dass er kein einziges Wort von dem, was sie zu ihm gesagt hatte vernommen hatte, dass das alles ungehört verklungen war? Dass nichts davon zu ihm gedrungen war?

War sein Schlaf so tief gewesen, tiefer als jemals zuvor?

Und wenn ja...War es dann bloßer Zufall gewesen, dass er letztendlich doch aufgewacht war?

Dieser Gedanke ließ die brennende Panik, die sich in ihren Eingeweiden eingenistet hatte wie ein boshafter Parasit und gerade etwas abgeebbt war, wieder hochkochen. Da war sie wieder, diese Hilflosigkeit; die Befürchtung, dass es nichts in ihrer Macht stehende gegeben hatte, mit dem sie Randall hätte helfen können, dass der Anfall, hätten sie Pech gehabt, noch länger andauern, noch stärker hätte werden können, bis hin zu einem Punkt, den sie sich noch nicht einmal auszumalen wagte.

Nicht einmal Dr. Parker hatte ihnen mit Sicherheit sagen können, wie schlimm es im Extremfall werden könnte.

"Man sollte vorsichtshalber immer vom Schlimmsten ausgehen, als hinterher zu fahrlässig gewesen zu sein.", hatte er einmal erläutert und dabei augenscheinlich hoch konzentriert in seinem Notizbuch herum geblättert, in dem er ständig, wenn sie sich in Gesprächen befanden, so voller Elan mit einem winzigen Bleistift herumkritzelte, als verfasse er gerade eine Rede für die Nobelpreisverleihung. "Ein - wenn auch sehr geringes - Risiko bei vergleichbaren Anfällen sind zum Beispiel Herzrhythmusstörungen oder ein versagendes Atemzentrum. Hirnschwellungen oder -ödeme...Die eben in seltenen Fällen zum Tod führen können."

Liv erinnerte sich noch genau daran, wie die Worte eine Übelkeit in ihr verursacht hatten, die sie um ein Haar hätte aufspringen und aus dem Raum rennen lassen. Sie erinnerte sich an das bleiche, beinahe schon weiße Gesicht ihrer Mutter, dem die Spuren unzähliger schlafloser Nächte, die sie in Sorge und Angst verbracht hatte, sowie die Strapazen der letzten Wochen deutlich anzusehen waren, an die Schatten in den Augen seines Vaters, der zwar wohl insgeheim bereits ähnliche Vermutungen gehegt hatte, doch nicht wirklich zu glauben schien, eben diese nun aus dem Munde des Arztes zu vernehmen. Und natürlich an Randall.

Randall, der auf dem blanken Klinikstuhl zusammengekauert dasaß, mit einem Ausdruck im Gesicht, als habe er gerade einen Geist gesehen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Fingernägel tief in die bleiche Haut seiner Arme bohrend, dabei Abdrücken hinterlassend, die selbst Tage später noch deutlich zu sehen gewesen waren.

Den Schmerz, den diese Handlung ihm ganz offensichtlich hatte zufügen müssen, hatte er nicht gespürt, oder zumindest keine Reaktion dafür verschwendet, um ihn zu zeigen, und erst nach einem leichten Stoß seitens Mom schien er es bemerkt zu haben.

Dr. Parker hatte sich indes geräuspert und mit sachlicher, trockener Akademikerstimme wiederholt: "Aber wie gesagt: das ist äußerst unwahrscheinlich."

Äußerst unwahrscheinlich. Ein Flugzeugabsturz war ebenfalls äußerst unwahrscheinlich, doch brachte das den Passagieren, die sich dann doch in einer der Maschinen befanden, die ein solches Schicksal traf, herzlich wenig; für sie spielte es keine Rolle, ob es nun wahrscheinlicher war vom Blitz getroffen zu werden oder beim Wände streichen von der Leiter zu fallen.

Sie waren - in den meisten Fällen - tot.

Tot.

Nichts konnte sie dagegen ausrichten, dass diese Vorstellung sich tief in ihrem Gehirn festsetzte wie eine Zecke, die statt Blut zu saugen ein vergiftetes Sekret bestehend aus Furcht und Panik abgab und sie damit infizierte.

Wieder fröstelte sie, diesmal jedoch nicht aufgrund von Gänsehaut.

"Eh...Liv?" Der, nun bereits ein wenig gefasster als zuvor wirkende, Klang von Randalls Stimme machte Liv bewusst, dass sie ganz offensichtlich viel zu lange geschwiegen und ihren Gedanken an vergangene Ereignisse nachgehangen hatte, ohne eine Antwort auf seine vormals gestellte Frage zu geben. So tief war sie in eben diese Gedanken versunken gewesen, dass sie kurzzeitig nicht einmal mehr wusste, was eigentlich seine Frage gewesen war, und als sie sich schließlich erinnerte, nickte sie letztlich. Eher eine instinktive Reaktion als eine wirklich durchdachte Handlung, doch gab es in dieser Situation kaum etwas, was ihr egaler hätte sein können.

"Ja, ich hab’s versucht! Aber ohne großen Erfolg."

Welch Untertreibung. Selbst mit einem kleinen Erfolg wäre sie wohl halbwegs zufrieden gewesen.

Randall blickte sie weiterhin schweigend an. Schien zu überlegen, welche Möglichkeiten der Erwiderungen sich ihm boten, sein Gesicht wirkte indes nahezu vollkommen ausdruckslos...nahezu.

Irgendetwas war da, etwas, das Liv weder richtig zu beschreiben noch im eigentlichen Sinne zu sehen vermochte; wie ein dezenter Schatten unbekannter Ursache, der einem zu betrachtenden Subjekt einen neuen, lediglich subtil vorhandenen Eindruck verleihen konnte.

Doch bevor sie in der Lage war, sich darüber weiterhin großartige Gedanken zu machen, hatte ihr Bruder sich für eine Antwort entschieden; eine, die einerseits kaum nichtssagender hätte sein können, andererseits jedoch dafür sorgte, dass Liv sich auf unangenehme Weise ertappt fühlte, als wäre sie soeben beim Lügen erwischt worden.

"Aber scheint ja dann doch irgendwie geklappt zu haben."

Nun war es Liv, die schwieg. Sie wusste nicht, was sie hätte erwidern sollen, und sie wollte auch gar nicht weiter darüber nachdenken. Nicht über seine Worte und noch weniger über die Situation; es brachte doch nichts, nichts weiter als sinnlose Panik, die alles andere als hilfreich war und zu nichts führen würde.

Alles, was sie zustande brachte, war ein leichtes Nicken.

Mehr schien Randall auch gar nicht zu erwarten, er wandte den Blick wieder ab, fixierte seine sich noch immer verkrampft in die Decke krallenden Hände; es wirkte ein wenig so, als erhoffe er sich, dass sie ihm Halt geben würde. Ihn am Fallen hindern würde.

Stille erfüllte den Raum. Eine schwere, durchdringende Stille, nur das laute Heulen des Windes, der um sie Fassade zog, war zu hören, minutenlang; Minuten, die sich anfühlte wie Stunden, wie Tage, wie Wochen. Keiner der Beiden schien so recht zu wagen, eben diese Stille mit seinen Worten zu durchbrechen, auch wenn es keinen wirklichen Grund gab, sie beizubehalten. Eher war das Gegenteil der Fall. Nahezu synchron verspürte sie ein gleichermaßen starkes Gefühl des Unwohlseins, hatten das übermächtige Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, als würden ihre Lungen von irgendwelchen Gewichten zusammengedrückt und die Atemwege blockiert.

Es war keine angenehme Stille. Sondern eher wie die Ruhe vor einem Sturm.

"Was war das für ein Traum?"

Weshalb Liv gerade diese Frage stellte, um die angespannte Atmosphäre mit ihrer Stimme zu durchbrechen, konnte sie selbst nicht sagen. Sie war wie von selbst über ihre Lippen gekommen, unbeeindruckt von jedem Versuch, sie zu unterbinden, und sie sah mit beschämter Betroffenheit, wie Randall zusammenzuckte, als er sie vernahm.

Sein Blick nahm einen Ausdruck an, der ihr unmissverständlich klar machte, wie grauenhaft es für ihn war, daran zurückzudenken, wie wenig er das tun wollte und wie sehr er sich durch ihre unbedachte Frage dazu gezwungen fühlte.

Es schmerzte sie selbst, diese Reaktion zu beobachten.

Doch konnte sie ihre Worte nicht zurücknehmen, so sehr sie sich es in diesem Moment auch wünschte; sie musste es wissen, wenn sie nicht wollte, dass ihr Bruder seine Ängste und die wenigen Erinnerungen an das, was all diese Träume und Anfälle letzten Endes auslöste, die er besaß, tief in sich hinein fraß, wo sie wachsen und gedeihen konnten zu Kreaturen, die ihn irgendwann mit größter Wahrscheinlichkeit um den Verstand bringen würden.

Also schwieg sie. Sah Randall abwartend an, mit, wie sie selbst nur hoffen konnte, unbeeindruckter, ruhiger Mimik, und schließlich, endlich, stieß der Angesprochene ein leises, resigniert klingendes Seufzen aus.

"Ich hab Felix gesehen.", murmelte er, dann löste er die Hände zum ersten Mal wieder von seiner Decke und presste sie sich nun stattdessen vors Gesicht.

Etwas, was er oft tat, wenn er über seine Alpträume sprach, und Liv wusste nur zu genau, warum.

Er weinte. Lautlos, ohne zu Schluchzen und zu wimmern, wie er es zuvor im Schlaf getan hatte, da waren einfach bloß Tränen, die ihm übers Gesicht liefen und die er nicht unterdrücken konnte.

Und von denen er nicht wollte, dass irgend jemand sie sah.

"Wir...Wir wollten...irgendwas tun...irgendwo hin...Aber ich...Ich weiß nicht...Und dann war er...Er...Er ist..."

Seine Stimme versagte. Bloß ein leises Krächzen war er noch in der Lage, hervorzubringen, Liv sah, wie sein Körper wieder zu zucken begann, doch dieses Mal nicht aufgrund eines Anfalls, sondern unter den stummen Schluchzern, die er um jeden Preis versuchte, zurückzuhalten.

Wieder war das einzige hörbare Geräusch das Pfeifen des Sturmes.

Es klingt unheimlich., schoss es Liv durch den Kopf, ein Gedanke, für dessen Ursprung es keine wirkliche Erklärung gab. Der Wind klang nicht anders als in so vielen anderen Nächten, sie war praktisch mit diesem Klang aufgewachsen wie die Leute an der Küste mit dem Rauschen des Meeres, und derartige Überlegungen hatte sie noch nie zuvor angestellt.

Doch je mehr sie darüber nachdachte, sich geradezu hineinsteigerte, desto mehr konnte sie dem zustimmen.

Irgendwie erinnerte sie das Pfeifen und Heulen, dass die Mauern und die Dachziegel zum knarren brachten wie ein verwittertes Baumhaus, an die verzweifelten Stimmen verlorener Seelen, die in irgendeiner Zwischenwelt gefangen waren und um Erlösung schrien.

Wow, du ließt zu viele Horrorgeschichten!, schalt die sich selbst für diese seltsamen, abwegigen Gedanken; und das stimmte wohl, sie besaß kaum andere Bücher als solche von Edgar Allan Poe, Stephen King, H. P. Lovecraft und Bram Stoker, aber trotzdem besaß diese Vorstellung irgend etwas, das über die durch fiktionale Werke ausgelöste Paranoia eines Menschen mit einer lebhaften Fantasie hinaus ging.

"Er ist gestorben."

Diese Bemerkung kam so überraschend, so unerwartet, dass Liv vor Schreck zusammenzuckte und den Blick von der Wanduhr löste, die sie irgendwann in den letzten Minuten unbewusst begonnen hatte, anzustarren. Sie wandte sich wieder ihrem Bruder zu, und dessen Gesichtsausdruck wirkte eben so kühl und emotionslos wie die Worte, die er so eben ausgesprochen hatte. Seine Augen waren gerötet und glänzten noch immer aufgrund der Tränen, die sich darin sammelten, doch war die vorherige Angst darin verschwunden und einer Leere gewichen, die stark der ähnelte, den sie während seines Anfalls darin gesehen hatte, nur weniger wirklich abwesend, sondern eher...unbeeindruckt.

Als hätte dieser Satz nicht das Geringste mit ihm zu tun.

Chapter 4

Liv hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte.

Vieles war ihr vertraut, Verzweiflung, Angst, auch Leugnung und sogar Wut.

Aber nicht das.

Im Grunde war doch alles, was sie tun konnte, zu nicken. Zu nicken und dabei in einem möglichst ruhigen Tonfall zu sagen: "Ja. Ich weiß."

Immerhin war das die Wahrheit.

Sie wusste es, Randall wusste es, jeder wusste es.

In der Polizeiakte zu diesem Fall stand zwar nach wie vor das kleine, Hoffnung versprechende Wörtchen "Vermisst", doch mussten sie sich nichts vormachen.

Auch, wenn man seine Leiche bisher nicht hatte finden können, zweifelte niemand in der Stadt daran, dass er tot war.

Bei der Menge von Blut, die sich im Schnee auf der großen Lichtung im Kempton Forest und - was noch viel brisanter war - an Randalls Händen und Klamotten, war überhaupt nichts anderes möglich.

Und was brachte es schon, zu lügen?

"Da war überall Blut."

Sie hätte damit rechnen müssen, dass Randall noch etwas sagen, auf ihre Antwort eingehen würde, doch das hatte sie nicht, und so erschraken seine Worte sie ebenso wie zuvor. Ihr Klang hatte sich nicht verändert, ebenso wie seine Gesichtsausdruck, es schien, als sei er aktuell zu keiner noch so geringen Gefühlsregung mehr fähig.

Als habe er es geschafft, Angst und Trauer zeitweise von sich fernzuhalten, und womöglich war diese Methode die einzige Möglichkeit für ihn, unter dem emotionalen Druck nicht zu kollabieren.

Und wieder war ihre Antwort die gleiche wie zuvor: "Ich weiß."

Und diesmal musste sie auf eine weitere Erwiderung seitens ihres Bruders nicht warten.

"Nein. Nicht so. Es war einfach da, ohne Grund. Ich...Ich wusste nicht, was ich tun sollte..." Er stockte, und einen Augenblick lang schien in seinen Augen ein Funken von der Panik aufzubringen, die noch wenige Minuten zuvor so intensiv gewesen war, dann kehrte die Leere zurück.

Er kam Liv vor wie ein seelenloser Untoter.

"Sein Kopf ist abgerissen. Er hat Blut gespuckt und seine Knochen sind gebrochen...einfach...So..."

"Das war ein Traum!" Liv wusste nicht, weshalb ihre Stimme so scharf klang. So gereizt. Vielleicht kam das von ihrer Unsicherheit, von ihrer Nervosität, vielleicht aber wurde sie langsam aber sicher auch schlicht und ergreifend ungeduldig.

Es mochte gemein klingen, und das war es wahrscheinlich auch, doch merkte sie, dass das Adrenalin, das ihre Müdigkeit nach so wenig Schlaf in der letzten guten halben Stunde unterdrückt hatte, allmählich nachließ und Erschöpfung Platz machte, die, zusammen mit der Erinnerung daran, dass sie in nur wenigen Stunden wieder würde aufstehen müssen um sich für die Arbeit fertig zu machen, stark an ihrem Geduldsfaden zerrte.

"Ich weiß!" Nun sah Randall sie wieder direkt an, und die Leere war aus seinen Augen verschwunden, eine Tatsache, die dafür sorgte, dass Liv einen warmen, angenehmen Schauer der Erleichterung verspürte...Jedoch nur für wenige Sekunden.

Dann nämlich drehte ihr Bruder sich um, weg von ihr, legte sich auf die Seite und zog sich die Decke über den Kopf.

"Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe! Kannst wieder schlafen gehen."

Er hatte sich alle Mühe gegeben, dabei ebenso kühl und gleichgültig zu klingen wie zuvor, doch war deutlich herauszuholen, dass Livs schroffen Tonfall ihn sehr stark verunsichert hatte.

Ihm wahrscheinlich das Gefühl gegeben hatte, dass es sie nicht wirklich interessierte, was er erzählen sollte.

Und damit hatte sie es geschafft einen der größten Fehler zu begehen, der in solch einer Situation überhaupt möglich war: Ihm das Gefühl zu geben, dass sie ihn nicht ernst nahm.

Für Außenstehende mochte es wie eine Überreaktion wirken, eine vollkommen unnötige Reaktion, die ziemlich fehl am Platz wirkte, doch konnten Außenstehende die Gesamte Situation eben auch wohl nicht im geringsten einschätzen. Liv zweifelte ja bereits daran, dass sie dies selbst konnte.

"Niemand redet gern über derartige, persönliche Sachen, wenn er glaubt, dafür insgeheim belächelt zu werden, oder sogar den Leuten auf die Nerven zu gehen."

Liv hatte verständnisvoll geknickt, als Dr. Parker ihnen diesen Rat mit auf den Weg gegeben hatte; und sie wusste noch genau, wie sie damals bei sich gedacht hatte, wie überflüssig dieser Hinweis doch war. Um diese Tatsache zu erkennen, bedurfte es doch lediglich gesunden Menschenverstand.

Und jetzt? Jetzt stand sie hier, um zwanzig vor drei in der Nacht, und ihr war klar, dass Randall ihr nichts mehr erzählen, kein einziges Wort mehr mit ihr reden würde, vollkommen egal, wie sehr sie auf ihn einreden würde.

Sie kannte ihn. Sie wusste, dass sie die Möglichkeit, mehr über diesen Alptraum herauszufinden, verspielt hatte, und auch, wenn diese Träume sich selten wirklich auffällig voneinander unterschieden und stets nach demselben Muster abzulaufen schienen hatte sie doch das starke, ungute Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges entgangen sein könnte.

Wahrscheinlich redete sie sich das einfach nur ein, um sich ein wenig von ihrem einfachen, schlechten Gewissen abzulenken, aber vielleicht hatte es in diesem Traum ja doch irgendetwas gegeben, das ein hilfreiches Puzzleteil hätte sein können, das zum Vervollständigen des großen, komplizierten Ganzen gebraucht wurde, von dem niemand wusste, was es am Ende darstellen würde...

Ein Hinweis. Etwas, das dazu führen konnte, dass all das endlich geklärt werden konnte. Endlich aufhören würde.

Das war unfassbar optimistisch gedacht, das war Liv selbst schmerzlich bewusst. Es wäre naiv, zu glauben, dass sich all der Stress, all die Ungewissheit der letzten Monate mit einem Male in Nichts auflösen würde aufgrund eines Traumes. So etwas passierte höchstens ins Filmen oder Serien, wenn überhaupt. Doch die Realität war nicht so simpel gestrickt.

Und dennoch...bloß ein kleiner Hinweis. Ein winziges Detail, das irgendwie dazu führen könnte, die seit Ermittlungen der Polizei, die seit Langem bereits kaum bis gar nicht voranzukommen schienen, in eine neue Richtung zu lenken, auch wenn die Aussage "Ich habe davon geträumt!" wohl in erster Linie zu Belustigung führen würde.

Doch wie hatte Dr. Parker einmal gesagt?

"In Träumen wird Unterbewusstes verarbeitet, und so kommen manchmal Dinge zum Vorschein, an die wir uns bei Bewusstsein nicht erinnern können. So etwas sollte man nicht unterschätzen."

Er mochte in diesem Moment ein wenig geklungen haben, als habe er ein paar spirituell angehauchte Bücher zu viel gelesen, doch sie hatten sich diese Worte trotzdem zu Herzen genommen.

Das, was passiert war, konnte schließlich nicht einfach so aus Randalls Gedächtnis verschwunden sein, und soweit sie das beurteilen konnten, erschien ihnen die Möglichkeit, dass irgend etwas davon einmal in einem der Alpträume wieder zum Vorschein kommen würde, nicht unbedingt unwahrscheinlich.

Bis jetzt war dieser Fall allerdings noch nicht einmal einziges Mal eingetreten.

Und falls dies nun in dieser Nacht der Fall gewesen sein sollte - was objektiv betrachtet ausgesprochen unwahrscheinlich war und in einem Film oder Buch wohl als "unrealistisch und konstruiert" bezeichnet worden wäre - so würde Liv es jetzt nicht mehr erfahren. Würde kein Wort mehr aus ihrem Bruder herausbekommen.

Und so erhob sie sich vorsichtig von der Bettkante, warf, bevor sie sich in Bewegung setzte, noch einen letzten Blick auf die Decke, unter der ihr Bruder sich zusammengerollt hatte wie eine Katze vor einem brennenden Kamin auf einer Weihnachtskarte, bloß mit dem Unterschied, dass er nicht die Wärme orangeroter Flammen genommen, sondern wohl viel eher verzweifelt und voller Anspannung versuchte, wieder einzuschlafen, in der Hoffnung, dass der Alptraum nicht zurückkehren würde.

Und in diesem Augenblick wünschte Liv sich nichts sehnlicher auf der Welt, als dass es eine Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen. Sie würde sich ihren bissigen Tonfall verkneifen und Randall weiter zuhören, ihm zeigen, dass sie ihn sehr wohl ernst nahm, dass sie...Nein.

In die Dunkelheit des Flures tretend und die Tür von Randalls Zimmer hinter sich schließend schüttelte sie den Kopf und hätte die Worte, die ihr durch den Kopf gingen, beinahe laut ausgesprochen.

Ich würde die Zeit um zehn Monate zurückdrehen. Um zehn Monate und einundzwanzig Tage. Ich würde verhindern, dass sie an diesem Tag das Haus verlassen, und nichts würde passieren. Alles wäre gut.

Und so müßig es auch war, über dieses Szenario nachzudenken - eine solche Möglichkeit gab es nicht; nicht abseits von Fantasy- und Science-Fiction Geschichten - so erfüllte es Liv doch mit einer gewissen Beruhigung, die wahrscheinlich ihrer Müdigkeit zuzuschreiben war, die sie dazu brachte, selbst aus solch unrealistischen Vorstellungen so etwas wie Hoffnung zu ziehen. Naive, kindische, unbegründete Hoffnung.

Hoffnung darauf, dass alles irgendwann irgendwie aufhören würde. Vorbei gehen.

Ein Happy End. Dass es, so wie in den Geschichten, die ihre Mutter ihr als kleines Kind so oft vorgelesen hatte, wieder gut werden würde.

Wieder so, wie früher.

Chapter 5

Der Wind, der diesem kalten, grauen Oktobermorgen durch die Straßen fegte und dabei eine noch größere Kraft zu besitzen schien als in der vergangenen Nacht, in der nicht wenige der Bewohner von Clover Rock die Befürchtung gehabt hatten, am nächsten Tag bei einem Blick aus dem Fenster abgeknickte Bäume und heruntergerissene Dachziegel entdecken zu müssen, war so eisig, dass es niemanden gewundert hätte, wenn plötzlich dicke Schneeflocken vom Himmel gewirbelt wären.

Das Thermometer in der Eingangshalle des Rathauses zeigte eine Temperatur von sagenhaften 4C°, und es gab keinen Zweifel daran, dass es nicht bis zum meteorologischen Winter Anfang dauern würde, bis die Straßen, die Hausdächer und überhaupt alles in der Umgebung mit einer glitzernden, weißen Decke überzogen werden würde.

Hätte Randall die Zeit gehabt, diese doch recht offensichtliche Tatsache zu erkennen, so wäre ihm wahrscheinlich schon bei dem bloßen Gedanken daran übel geworden.

Doch diese Zeit hatte er nicht, nicht, um über den bevorstehenden Wintereinbruch nachzudenken und über den damit zusammenhängenden Schnee, und auch nicht, um sich vor Verlassen des Hauses zu vergewissern, dass er seine Naturkundehausaufgaben, an denen er am Vorabend beinahe verzweifelt war, auch wirklich in seine Tasche gepackt hatte.

Es war dreizehn Minuten vor acht, als er die Haustür hinter sich zuzog und währenddessen noch dabei war, sich seine Jacke halbwegs vernünftig anzuziehen, und damit hatte er noch genau dreizehn Minuten, um die Strecke von seinem Haus bis zur Rosalin-Parson-High School zurückzulegen - eine Strecke, für die ihm normalerweise mehr als die doppelte Menge an Zeit zur Verfügung stand.

Nicht jedoch an diesem Tag.

Als er, aus purem Zufall wahrscheinlich, was eine reichlich beunruhigende Vorstellung war, aus seinem, nach der nächtlichen Unterbrechen, traumlosen Schlaf erwacht war und auf die Uhr geblickt hatte, war es halb acht gewesen.

Er hatte um mehr als eine halbe Stunde verschlafen.

Das war nicht unbedingt verwunderlich, wenn man bedachte, wie unfassbar müde und kraftlos er sich jetzt fühlte, als er den verwittertes Gehweg an der Main Street entlanglief; der Vorrübergehende Adrenalinschock, der beim Anblick der viel zu weit fortgeschrittenen Uhrzeit durch seinen Körper geschossen war, hatte längst wieder nachgelassen.

Was geblieben war, waren die Nachwirkungen des Schlafmangels von mehr als nur einer einzigen Nacht, die jeden Tag aufs Neue immer gieriger ihren Tribut forderten.

Am liebsten wäre er überhaupt nicht aufgestanden.

Hätte sich einfach wieder unter der Decke verkrochen, so getan, als wäre er krank, und so elend wie er sich fühlte, wäre das noch nicht einmal wirklich gelogen gewesen...doch nein.

Er hatte ohnehin bereits unheimlich viel verpasst in diesem Schuljahr. Kam kaum noch wirklich mit, und Alpträume, Schlafmangel und, milde ausgedrückt, nur gering vorhandene Konzentration trugen nicht gerade dazu bei, dass ihm das Ganze leichter fiel.

Davon abgesehen hatte er keine große Lust, Mr. Lamb, seinem, wenn man höflich sein wollte, exzentrischem Englischlehrer, dem er gleich in den ersten beiden Stunden bei seinen Ausschweifungen zu Charles Dickens "Große Erwartungen" würde zuhören dürfen, sein Fernbleiben zu erläutern.

Das war der eigentliche Grund dafür, dass er nun, bereits vollkommen außer Atem, noch immer rennend in die Chamber Lane abbog, eine mit hübschen Einfamilienhäusern gesäumte Nebenstraße, auf der man durch selten ein Auto entlangfahren sah, und dann nach nur knappen zehn Metern nach rechts auf die Nixon Street, ohne sein Tempo zu verringern, obwohl er zu spüren glaubte, wie sein Herz vor lauter Protest kreischend gegen seine Rippen schlug und die Seitenstechen ihm auch das letzte bisschen Atem raubten, das ihm noch blieb.

Die bloße Vorstellung von Mr. Lambs überheblichen, selbstgefälligen Gesichtsausdruck, in dem man seine Gedanken lesen konnte wie in einem offenen Buch, Dinge wie Mir egal, was du für Probleme hast, wenn du nicht sparst wirst du sehen, was du davon hast., oder Wenn du wirklich glaubst, dass ich mir so etwas gefallen lasse, wirst du schon noch merken, wie sehr du dich da irrst!, war es, die ihn unvermindert immer weiter laufen ließ.

Einen eben dieser abwertenden Blicke in Verbindung mit dem unvermeidlich folgenden Gesichtern seiner Mitschüler wäre das letzte, was er an diesem Morgen über sich ergehen lassen wollte.

Und wenn er aus Atemmangel im vollen Lauf tot umkippte - in diesem Moment erschien ihm das als eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Alternative.

Er sah kaum, wohin er eigentlich lief. Sein Körper schien vollkommen automatisch zu funktionieren, wie ferngesteuert, ohne dabei auf bewusste Befehle zu reagieren; Randall merkte nicht einmal, wie er über die Fahrbahn und weiter auf die Cotton Lane lief, eine ruhige, in einem sanften Bogen verlaufene Straße am nordöstlichen Rande der Stadt, an dessen Ende die Letrice Street lag - und damit auch das alte, schon seit Jahren renovierungsbedürftige Fachwerkgebäude der Rosalin-Parson-High School.

Ein Blick auf die Uhr ließ zumindest für einige Sekunden zu, dass sich ein warmes Gefühl der Erleichterung in seinem Magen breitmachte, das den Schmerz seiner schmerzenden Rippen und der brennenden Lunge einen angenehmen Moment lang Linderung verschaffte.

Es war sieben Minuten vor acht.

Wie auch immer er es geschafft hatte, den Weg, für den er normalerweise gute zwanzig Minuten brauchte, trotz seiner schlechten Kondition und der Erschöpfung, die ihn so oft lähmte und seine Gliedmaßen wie Blei wirken ließ, in lediglich einem Viertel dieser Zeit zurückzulegen...Er hatte es geschafft.

Das Wie war dabei vollkommen nebensächlich.

Noch fünfzig Meter ungefähr betrug die Entfernung bis zu dem alten verwitterten Schild, das Passanten und Autofahrern den Namen der Schule und großen, grell roten Lettern gnadenlos ins Gesicht knallte, als Randall sein Tempo endlich verringerte und vom Rennen in einen schnellen Gang wechselte, dabei das angsteinflößende Gefühl habend, dass seine Lungenflügel jede Sekunde platzen würden. Es hatte vorher schon geschmerzt, doch jetzt, wo er langsam wieder das Gefühl bekam, auch wirklich die Kontrolle über seinen Körper zu besitzen und nicht wie automatisiert geradezu blind die Straße entlang zu hetzen, schien sich dieser Schmerz noch einmal um ein vielfaches zu steigern. Ihn beinahe um den Verstand zu bringen.

Er hatte nicht stehenbleiben wollen, bevor er nicht die riesige doppelflüglige Eingangstüre der High School erreicht hatte, das hatte er sich bereits beim Verlassen des Hauses geschworen, hatte ohne Unterbrechung durchlaufen wollen, um bloß keine Minute zu spät unter Mr. Lambs bösartige, funkelnde Augen treten zu müssen, doch jetzt, wo ihn nur noch wenige Meter von seinem Ziel trennten, erschien ihm dieser zuvor gefasste Plan als ein absolut unmöglich umzusetzendes Unterfangen.

Keuchend blieb er stehen und lehnte sich gegen die Stäbe eines billigen Aluminiumzaunes mit Eisenoptik, der einen der Häusergärten vom Gehweg der Letrice Street abgrenzte.

Selbst, wenn er in diesem Moment ernsthaft versucht hätte, seinen Weg fortzusetzen...Er hätte es nicht geschafft.

Es ging einfach nicht.

Seine Beine fühlten sich weich an wie Pudding und zitterten so sehr, dass Randall fürchtete, jeden Augenblick zusammenzubrechen und auf dem harten Asphalt aufzuschlagen.

Sein Atem klang als litte er an Asthma und hätte trotz dessen gerade einen Marathon hinter sich, und was seine Seitenstechen anbelangte, so hatte er allmählich das ernsthafte Gefühl, dass seine Rippen es sich zur Aufgabe gemacht hatten, all seine sich in ihrer Reichweite befindenden inneren Organe zu erdolchen.

Er sank zu Boden, ohne es wirklich zu bemerken.

Mit Rücken und Schultern gegen den kalten Gartenzaun gelehnt krümmte Randall sich zusammen wie ein verletzten Tier im Todeskampf, wissend, dass diese zusammengekauerte Haltung nicht im Geringsten dazu beitrug, dass ihm das Atmen leichter fiel, und stattdessen dahingehend reichlich kontraproduktiv wirkten, doch jeder noch so kleine Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, wurde im Keim mit einer Welle unfassbaren Schmerzes erstickt.

Und noch über das laute Pfeifen des Oktoberwindes glaubte er, obwohl er sehr wohl wusste, dass das nicht möglich war, das stete Ticken seiner Armbanduhr zu vernehmen.

Tick. Tick. Tick.

Chapter 6

Es war kein Blick auf die Uhr, der Randall letztendlich doch die Kraft dazu verlieh, sich vom kalten Asphalt aufzurappeln und die noch gut fünfundzwanzig verbleibenden Meter zurückzulegen, die ihn noch von der Rosalin-Parson-High School trennten. Nein, er hatte, trotz des eingebildeten Geräusches eines voranrückenden Sekundenzeigers, nicht einmal daran gedacht, nach der Uhrzeit zu sehen, womöglich auch aus der unterbewussten Angst heraus, dass die Gewissheit ihn noch zusätzlich in Panik versetzen würde.

Nein, was ihn hatte zusammenfahren lassen war das laute, durchdringende Klingeln der Schulglocke gewesen, die unmissverständlich und ohne jeden Kompromiss den Beginn der ersten Stunde verkündet hatte, und damit die Pflicht sämtlicher Schüler, sich auf ihre Plätzen in ihren jeweiligen Unterrichtsräumen zu begeben.

Seinen noch immer schmerzenden Rippen zum Trotz, mit weiterhin keuchendem Atem und viel zu schnell pochendem Herzen, war es Randall irgendwie gelungen (und ich wie genau er das geschafft hatte, konnte er selbst nicht sagen), sich an den Zaunpfählen nach oben zu ziehen und so wieder auf die Beine zu kommen, und dann, sobald er einen halbwegs stabilen Stand erreicht hatte, seinen Weg in einem einigermaßen raschen Tempo fortzusetzen.

Im Gehen zog er sich die Kapuze seines Mantels über den Kopf und senkte den Blick, um die Pflastersteine unter seinen Füßen zu betrachten.

Er hatte vielleicht den größten Teil seines Verstandes darauf konzentriert, vor Atemnot und Schmerz und, nicht zu vergessen, Schlafmangel nicht das Bewusstsein zu verlieren, aber dennoch waren ihm nicht die vier oder fünf Schüler entgangen, die in eiligem, jedoch nicht übermäßig gehetztem Schritt an ihm vorbeigegangen waren und die ihn ganz sicher nicht übersehen haben konnten.

Keiner von ihnen hatte angehalten, um zu sehen, was mit ihm los war. Keiner von ihnen hatte auch nur versucht, irgendwie behilflich zu sein. Keiner hatte gefragt, ob alles in Ordnung war.

Sie hatten höchstens für einen Augenblick ein wenig ihr Tempo verringert.

Und dann hatten sie ihn wahrscheinlich erkannt. Erkannt, wer er war; jeder in der Schule, nein, jeder in der Stadt wusste, wer er war, und waren dann zu der Erkenntnis gelangt, dass es keinesfalls nötig sein würde, anzuhalten und so ihre wertvolle Zeit zu verschwenden.

Nicht für so jemanden wie ihn.

Die Selbstverständlichkeit, mit dem ihm diese harten, abschätzigen Gedanken kamen, ließen Randall einen Schauer über den Rücken laufen. Momente wie diese waren es, die ihm die Schmerzhafte Tatsache deutlich vor Augen führten, dass, wenn man etwas nur oft genug von allen Seiten gesagt oder zumindest zu spüren bekam, es erstaunlich leicht passieren konnte, dass man diese entgegengebrachten Gefühle - in seinem Falle Abneigung, bis hin zu ernsthafter Furcht - in sein eigenes Denken etablierte.

Und irgendwann selbst daran glaubte.

Das war das eigentlich Schlimme an der Art, wie seine Mitschüler und auch viele andere Leute aus Clover Rock Randall seit über zehn Monaten behandelten.

Natürlich, die Blicke, die sie ihm oder sich gegenseitig zuwarfen, wenn sie ihm über den Weg liefen, manche bemüht diskret, andere geradezu provozierend offen, waren alles andere als angenehm. Ebenso wie die Bemerkungen und Gerüchte, die man sich erzählte, und die er unmöglich allesamt überhören konnte. Oder das Geflüster und Gekichere, das immer irgendwo ein wenig Nervosität zu beinhalten schien. Es stand vollkommen außer Frage, dass all das verdammt unangenehm war und er gerne darauf verzichtet hätte.

Doch war nichts davon in einem solchen Ausmaße schlimm, wie die Selbstzweifel, die alles das in ihm weckte. Zweifel nicht nur auf sein Selbstbewusstsein bezogen.

Sondern auch daran, dass das, was er so oft vor den Polizisten, vor den Reportern, vor überhaupt allen beteuert und geschworen hatte, wirklich und wahrhaftig der Wahrheit entsprach.

Mit einem wütenden Kopfschütteln, das bei weitem nicht so entschlossen wirkte, wie Randall es sich vorgestellt hatte, wischte er diese nagenden Gedanken beiseite, zumindest für eine Weile - sie würden bei der nächsten Gelegenheit wieder zum Vorschein kommen, daran bestanden nicht der Hauch eines Zweifels - und konzentrierte sich mit aller Kraft auf den noch vor ihm liegenden Weg, der ihm viel, viel länger vorkam, als er eigentlich sein sollte.

Er war nicht der einzige, der nicht ganz pünktlich seinen Unterrichtsraum erreichen würde.

Ein gutes Dutzend weiterer Schüler lief mit zum Teil gestresst verzerrten Gesichtern über den Hof auf die Eingangstür zu, und bei den Bänken, die unter den alten Lindenbäumen standen, hatte sich eine kleine Gruppe von Rauchern versammelt, die nichts so wenig zu interessieren schien wie die Tatsache, dass der Unterricht soeben offiziell begonnen hatte.

Mit einem aufkeimenden Gefühl der Nervosität stellte Randall fest, dass er einige dieser Personen kannte. Sie waren im selben Jahrgang wie er, besuchten einige der gleichen Kurse, und bei niemandem davon legte er großen Wert darauf, von ihm entdeckt zu werden.

Den Blick gesenkt und auf den grauen, rissigen Boden geheftet wagte er kaum zu atmen, als er in einer realistisch betrachtet recht sicheren Entfernung von gut zwanzig Metern an ihnen vorbei hastete, aus der irrationalen Angst heraus, eine der Personen könnte ihn über das Heulen hinweg hören und ihn entdecken.

Dabei schenkte keiner der Raucher ihrer Umgebung sonderlich große Aufmerksamkeit. Viel mehr schienen sie vollkommen von ihren Zigaretten beansprucht, die sie mit von der scharfen Kälte geröteten Fingern umklammerten und in einer Art unhörbarem Rhythmus immer wieder zum Mund führten und dann weißen Rauch in die eisige Luft bliesen, ohne dabei auch nur ein einziges Wort von sich zu geben.

Jemand schlug Randall im Vorbeilaufen mit dem Ellenbogen gegen die Schulter. Überrascht schnappte dieser nach Luft, stolperte einen Schritt zur Seite und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren, während die Person, welche verantwortlich für sein Straucheln gewesen war, vollkommen unbeeindruckt weiter und die steinerne Treppe hinaufrannte, die zur Eingangstür führte. Nicht einmal umblicken tat sie sich. Zumindest nicht, bevor sie die Tür aufgerissen hatte, hinein in die Eingangshalle gelaufen war und besagte Tür wieder hinter sich zugedrückt hatte.

Dann jedoch hielt er inne.

Drehte sich, den eisernen Griff der Flügeltüren noch immer fest umklammerte, um, und sah Randall, der gerade eben die oberste Stufe erreicht hatte und seinerseits nach der eiskalten Klinke griff, direkt in die Augen.

Es war ein pummeliger Junge mit kurz geschorenen, hellblonden Haaren, nicht älter als fünfzehn, einen ganzen Kopf kleiner als Randall und dabei mit einem Grinsen im Gesicht, das derart selbstgefällig war, dass man Donald Trump im Vergleich dazu Minderwertigkeitskomplexe unterstellen konnte.

Allein dieses Grinsen weckte in Randall eine Welle der Aggression, von der er ernsthaft befürchtete, sie nicht unbedingt lange kontrollieren zu können.

Versuchend, sich nicht unnötig von diesem Anblick provozieren zu lassen, drückte er die Klinke hinab, wollte die hellgraue Plastiktür aufdrücken, um ehrlich ins warme und dann auch in seinen Unterrichtsraum zu kommen... doch der Kleine stemmte sich mit all seinem Gewicht dagegen. Sein Grinsen schien dabei noch breiter zu werden, und im ersten Moment war Randall so überrascht von seiner Aktion, dass er die Klinke perplex wieder losließ.

Der Junge, auf der anderen Seite unbeweglich verharrend und weiterhin mit diesem ekelhaften Grinsen nach draußen glotzend, stieß ein lautes, prustendes Lachen aus als er den verwirrten Gesichtsausdruck seines Gegenübers sah, ein Geräusch, das von dem billigen, dünnen Plastik, aus dem die Doppeltüren bestanden, kaum gedämpft wurde.

Am liebsten hätte Randall ihm eine reingehauen.

Noch einmal versuchte er, die verdammte Türe mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, aufzudrücken, doch ohne Erfolg, der Typ schien eine gute halbe Tonne zu wiegen. Vollkommen unbeweglich stand er da, wie großer Fels in einer Brandung - nur das Felsen für gewöhnlich nicht so verdammt widerlich grinsten - und hob nun auch noch eine Hand, um damit betont langsam in der Luft herum zu winken. Die ganze Situation schien ihm eine unglaubliche Freude zu bereiten.

"Findest du das witzig?" Randall hatte seine Stimme ruhig und gefasst klingen lassen wollen, doch das, was er da soeben hervorgebracht hatte, war viel mehr ein Fauchen gewesen, und es besaß keine Spur von Gelassenheit. "Mach die Tür auf, du Trottel!"

"Und wenn nicht?"

Vollkommen unbeeindruckt machte der Junge keinerlei Anstalten, sich von der Stelle zu bewegen, herausfordernd starrte er seinem Gegenüber durch das Glas direkt in die Augen, mit einem Ausdruck in seinem Blick, der nur zu deutlich machte, wie sehr ihn das Ganze doch amüsierte. "Was machst du dann? Bringst du mich um?"

Wenn er ehrlich war, dann hatte Randall nicht erwartet, dass ihm diese Worte auch nach so langer Zeit noch einen derart schmerzhaften Stich in den Eingeweiden verursachen konnten. Er hatte geglaubt, sich daran gewöhnt zu haben, hatte er derartige Bemerkungen doch so oft bereits zu hören bekommen, ob nun auf spöttische, provokante, oder auch schlicht und ergreifend von purem Hass erfüllte Art und Weise. In den Sommermonaten war es besonders schlimm gewesen. Nachdem der Ansturm der Medien ein wenig abgeebbt war und den ermittelnden Polizisten keinerlei Fragen mehr einzufallen schienen, die ihnen neue Erkenntnisse welcher Art auch immer verschaffen könnten, und der Aufruhr, der von den Bürgern von Clover Rock Besitz ergriffen hatte, sich zumindest langsam zu legen begann, schienen mit einem Mal ein ganzer Haufen von Leuten, vorrangig Schüler der Rosalin-Parson-High School, ein unfassbar großes Vergnügen daran gefunden zu haben, solche Kommentare von sich zu geben. Manche von ihnen Taten es aus purem Hohn, oder aus dem einfachen Grund, dass so viele es Taten, doch die meisten, daran bestand überhaupt kein Zweifel, taten es darüber hinaus aus purer Überzeugung.

Sie glaubten, dass es stimmte, was sie selbst und all die Reporter und überhaupt fast jeder über ihn sagten, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, irgendetwas daran zu hinterfragen. Sie glaubten, mit absoluter und unwiderlegbarer Sicherheit zu wissen, dass Randall Flynt ein Mörder war.

Dass er seinen eigenen Cousin ermordet hatte.

Der Minutenzeiger auf der billigen grauweißen Wanduhr am anderen Ende der Eingangshalle sprang auf fünf Minuten nach acht.

Fast glaubte Randall, dass laute "Klack" hören zu können; die höhnische, mechanische Stimme der Zeit, die ihren Spott und ihre Belustigung darüber zum Ausdruck bringen wollte, wie sie unaufhaltsam weiter lief, unbeeindruckt von jeder irdischen Handlung, und davon, dass Randall vor der Einganstüre der High School stand, bereits fünf Minuten zu spät, und nicht viel anderes tun konnte, als der Uhr beim Ticken zuzuschauen.

"Was ist denn los? Ist die Tür kaputt?"

Vollkommen überrascht von dem Klang der angenehmen, ruhigen Stimme, die wie aus dem Nichts gekommen zu sein schien - er hatte vollkommen vergessen, dass er nicht die einzige Person auf dem Schulhof gewesen war - drehte Randall sich um, dabei den Griff der Tür weiterhin umklammert haltend und sich noch immer leicht dagegen lehnend. Der kleine Junge folgte seinem Blick, und das arrogante Grinsen wich aus seinen Gesicht als habe es jemand mit einem Putztuch abgewischt, und mit einem Mal sah er aus, als würde er am liebsten auf der Stelle im Erdboden versinken.

Dass er sich dennoch nicht von der Stelle bewegte und stattdessen auch weiterhin die Tür am Öffnen hinderte war wohl einzig und alleine dem Schock geschuldet.

Randall bemerkte diese Veränderung der Mimik nicht. Er hatte seine Aufmerksamkeit der Person gewidmet.

Vor ihm, mit vom Wind zerzaust Haaren und schlammverschmierten Schuhen, was sie jedoch nicht im geringsten zu kümmern schien, stand Miss McCarthy.

Miss McCarthy war Lehrerin für Mathematik und Biologie, gerade einmal Mitte zwanzig, doch dabei von Anfang an im Gegensatz zu vielen ihrer jungen Kolleginnen und Kollegen mit einer Selbstsicherheit aufgetreten, die jeden bloßen Gedanken daran, sie mit irgendwelchen kindischen Streichen auf die Probe zu stellen, im Keim erstickt hatte.

Sie war dabei niemals unfreundlich gewesen, sondern schlicht und ergreifend einfach sehr energisch und zielstrebig, dabei jedoch nicht humorlos und allgemein ausgesprochen unkonventionell, was ihre Ansichten anbelangte. Das war wohl auch der Grund, weshalb sie trotz ihrer bestimmten und oftmals strengen Art von den meisten Schülern der Rosalin-Parson-High gemocht wurde, und viele brachten ihr weitaus mehr Achtung entgegen, als Mr. O'Brian, dem häufig schlecht gelaunten Schuldirektor, der Nachsitzen für eine gerechte Strafe für jede noch so kleine Unaufmerksamkeit während des Unterrichts hielt, oder auch als dem cholerischen Mr. Lamb, hinter dessen Rücken nicht selten dumme Witze über ihn gemacht wurden.

Etwas, was sich bei Miss McCarthy wohl niemals jemand trauen würde.

Woher genau der allgemein vorhandene Respekt vor dieser kleinen, ein wenig stämmigen Frau rührte, vermochte niemand so recht zu sagen - Fakt war, er war da. Und niemand würde es wagen, sich jemals ernsthaft mit Mrs. McCarthy anzulegen.

Keiner wusste, was in einem solchen Fall passieren, wie sie reagieren würde. Und niemand legte auch nur den geringsten Wert darauf, das herauszufinden.

Auch der Jungen hinter der Glasscheibe schien genau zu wissen, wenn er dort vor sich hatte, obgleich er schätzungsweise noch nicht lange auf diese Schule gehen dürfte, und auch er schien keinerlei Interesse daran zu haben, die Geduld der jungen Lehrerin auf die Probe zu stellen. Den Schock ihres Auftauchen anscheinend überwunden habend drehte er sich um, ließ endlich von der Tür ab und lief mit großen Schritten durch die Halle auf eine der beiden großen Treppen an deren Ende zu, von denen eine in den ersten und die andere in den zweiten Stock führte.

Randall, der den Blick noch immer Miss McCarthy zugewandt und somit nicht gesehen hatte, wie der jüngere Schüler von dannen gezogen war, stieß einen überraschten, leisen Aufschrei aus, als die Tür unter dem nun fehlenden Gegendruck mit Leichtigkeit aufschwang und wäre um ein Haar gestürzt, hätte er sich nicht weiterhin am kalten Griff festgeklammert und sich so, wenn auch wenig elegant, auf den Beinen gehalten.

Einer der Raucher, der sich mittlerweile wohl doch bequemt hatte, sich auf den Weg in seinen Unterricht zu machen - hauptsächlich deshalb wahrscheinlich, weil er fertig war mit Rauchen und das Wetter nicht dazu einlud, sich länger als unbedingt nötig im Freien aufzuhalten - kam in mäßigem Tempo die Treppe hinauf, vollkommen unbeeindruckt von der Tatsache, dass er viel zu spät dran war.

Randall erkannte ihn sofort. Braydon House war sein Name, ein typischer, geradezu klischeehafter Sportlertyp, der Football spielte und sich ansonsten herzlich wenig für die Schule interessierte, und nur deshalb keine komplett schlechten Noten bekam, weil er immer irgendjemanden fand, der ihn abschreiben ließ. Abgesehen davon, dass er vielleicht nicht super intelligent, aber auch nicht vollkommen dämlich war, hätte er direkt aus einem Teenie-High-School-Film entsprungen sein können - oder einem Slasher-Film.

Braydon trat durch die geöffnete Tür, mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran ließ, dass er sich einen blöden Spruch nur deshalb verkniff, weil die Lehrerin ihn dafür mit Sicherheit sofort zurecht gewiesen hätte.

Miss McCarthy ihrerseits blickte dem kleinen Jungen nach, der das Ende der Eingangshalle mittlerweile erreicht hatte und die Treppe zum zweiten Stock hinauf hastete, in einem Tempo, als hinge sein Leben davon ab, und schüttelte dabei missbilligend den Kopf.

"Manchmal komm ich mir hier vor, wie im Kindergarten!"

Dann betrat auch sie die Eingangshalle, warf dabei einen Blick auf die Uhr und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, als sie erkannte, dass ihr Unterricht bereits vor sieben Minuten hätte beginnen sollen. "Na, wunderbar! Die Schüler freuen sich bestimmt..." Sie stieß ein leises Seufzen aus, machte Anstalten, ihren Weg fortzusetzen, hielt dann jedoch wieder inne. Musterte Randall, der noch immer unbeweglich, sich am Türgriff festklammernd dastand, den Sekundenzeiger der Uhr betrachtend, der unaufhaltsam vorwärts tickte...Der Minutenzeiger sprang auf acht Minuten nach acht.

Miss McCarthy zögerte. Eine weitere Eigenschaft an ihr, die sie so beliebt machte, waren ihr Einfühlungsvermögen und ihr Verständnis, sowie die Tatsache, dass sie in den meisten Fällen recht schnell begriff, was in den Köpfen anderer Leute vor sich ging. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie unfassbar unangenehm es ihr früher immer gewesen war, wenn sie wieder einmal viel zu spät und somit nach dem Eintreffen des Lehrers in die Klasse gestürzt kam, und dieser sie sofort mit diesem herausfordernden Blick bedachte und sie fragte, warum sie denn so spät dran war. Meist in einem Tonfall, als habe sie gerade irgendjemanden verprügelt. Und alle hatten sie angestarrt. Als wäre ihr gerade ein zweiter Kopf gewachsen oder die Haare ausgefallen oder sonst irgend etwas abartiges mit ihr passiert. Und nicht selten hatten sie gekichert. Als gäbe es nichts interessanteres und peinlicheres als einen zu spät kommenden Schüler.

Damals, als ihr Selbstbewusstsein noch so gut wie nicht vorhanden gewesen war, waren derartige Situationen die Hölle für sie gewesen.

Und für sie bestand kein Zweifel daran, dass es Gedanken dieser Art waren, die im Kopf des vor ihr stehenden Schülers vor sich gingen. Wie eigentlich die meisten Bewohner der Stadt wusste sie, wer er war. Sie wusste, was ihm vorgeworfen wurde und für was der Großteil der Leute ihn hielt und wie sie ihn infolgedessen behandelten. Sowohl Schüler als auch Lehrer.

Sie selbst hielt nicht das Geringste von dieser Stigmatisierung, nicht, solange die polizeilichen Ermittlungen noch keinerlei Ergebnisse vorzuweisen hatten. Im Zweifel für den Angeklagten, doch das schienen viele Menschen nicht in ihren Kopf zu bekommen.

Jedenfalls konnte Miss McCarthy sich nur zu gut vorstellen, dass es nicht gerade angenehm sein dürfte, unter derartigen Umständen überhaupt in die Schule zu kommen, geschweige denn zu spät, wenn einen alle mit diesen Blicken anglotzten wie einen Außerirdischen. Dummerweise war die einzige Alternative in solch einer Situation, die Schule zu schwänzen. Was sie, zugegebenermaßen, damals einige Male ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Doch natürlich war das keine Lösung.

Ein weiterer Schüler, ein Mädchen diesmal, wohl aus einer der unteren Klassen, schob sich an ihr vorbei, mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und einem Gesichtsausdruck, als sei sie auf direktem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung. Miss McCarthy sah ihr nach, und Randall, der nun endlich aus seiner Starre erwachte und wieder fähig war sich zu bewegen, folgte ihrem Blick, mit einem wachsenden Gefühl der Panik im Magen.

Er wusste es nicht, doch Miss McCarthy hatte mit ihren Vermutungen zu seinen Gedankengängen fast genau ins Schwarze getroffen. Nur, dass die Blicke seiner Mitschüler nicht sein größtes Problem waren - diese musste er ohnehin den ganzen Tag über ertragen. Was viel Schlimmer sein würde, waren Mr. Lambs Kommentare.

Ein weiteres Fortrücken des Minutenzeigers. Neun Minuten nach acht. Elf nach, bis er den Unterrichtsraum erreicht hätte. Elf Minuten Verspätung, über die Mr. Lamb sich würde aufregen können. Wegen denen er ihm spöttische Sprüche an den Kopf werfen konnte.

Mr. Lamb konnte keinen seiner Schüler wirklich leiden, und weshalb er ausgerechnet Lehrer geworden war, erschloss sich absolut niemandem. Doch gab es einige Individuen, wie er sie gerne nannte, die er noch weniger ausstehen konnte, als den Rest.

Und Randall gehörte definitiv dazu.

"Das wird nicht besser, wenn du noch länger wartest."

Die Stimme klang einfühlsam, aber bestimmt. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Miss McCarthy ihm einen mitfühlend Blick zuwarf, als sie an ihm vorbeischritt und den Weg in Richtung des mittleren der zu den Unterrichtsräumen führenden Gänge einschlug, dabei in Gedanken bereits planend, wie sie ihren Schülern ihre Verspätung erläutern würde. Bei jeder anderen Person hätte dieser Satz höchstwahrscheinlich wie ein Vorwurf geklungen, womöglich sogar mit einem genervten Unterton hervorgebracht, doch Miss McCarthy meinte es schlicht und ergreifend einfach so, wie sie es sagte: Eine andere Möglichkeit, als in den Unterricht zu gehen, gab es nicht. Zumindest keine, die letztendlich nicht noch mehr Probleme verursachen würde. Und je länger er noch abwartete, desto schlimmer würde es letztendlich werden.

Also ließ er den Griff der Tür, der unter seinen Händen mittlerweile angenehm warm geworden war, los und setzte sich in Bewegung. Folgte Miss McCarthy durch die Eingangshalle, und der einzige klare Gedanke, der währenddessen durch die immer stärker werdende Panik hindurch in sein Gehirn drang, war: Dr. Parker glaubt vielleicht, dass das irgendwann leichter wird. Aber das stimmt nicht.

Chapter 7

Mr. Lamb war nicht da.

Diese Tatsache hätte Randall eigentlich unfassbare Erleichterung verschaffen sollen, blieben so doch die giftigen Sprüche dieses Mal zumindest vorerst aus, doch in erster Linie verwirrte sie ihn einfach nur.

Soweit er sich erinnern konnte, war Mr. Lamb noch niemals krank gewesen. Er war der Typ Lehrer, der selbst mit dem Kopf unter dem Arm noch zur Arbeit erscheinen würde, und lieber riskierte, die gesamte Schule mit Grippeviren zu infizieren, als sich auch nur einen einzigen Tag krankschreiben zu lassen. Und auch ein pures Zuspätkommen wollte absolut nicht zu dem pedantischen Mann passen, so etwas war in seinen Augen vollkommen inakzeptabel, sowohl bei anderen als auch bei sich selbst. "Pünktlichkeit ist eine Tugend!", pflegte er für gewöhnlich zu sagen, wenn wieder einmal ein Schüler das Klingeln der Schulglocke nicht ganz so ernst genommen hatte. "Und wer diese Tugend nicht beherrscht, der wird im Leben nicht weit kommen!"

Doch trotz dieser unumstößlichen Ansicht und Mr. Lambs Entschluss, sämtlichen Krankheiten dieser Welt zu trotzen, war er nicht da.

Der Stuhl hinter dem Lehrerpult war leer, auch die dunkelbraune, abgewetzte Ledertasche, in der Mr. Lamb seine Unterrichtsmaterialien mit sich herumzuschleppen pflegte, war nirgends zu sehen, und überhaupt vermittelte die allgemeine Stimmung im Klassenzimmer nicht den Eindruck, dass er am heutigen Morgen bereits hier gewesen war.

In dem Moment, in dem Randall die Klinke hinab gedrückt und die Tür geöffnet hatte, waren alle bis zu diesem Augenblick im Raum geführten Gespräche auf einen Schlag verstummt. Alle Schüler hatten, wie in der Bewegung eingefroren, inne gehalten und ihn angestarrt, nur um dann, als sie erkannten, dass es nicht Mr. Lamb war, der da gerade hereinkam, vollkommen unbeirrt mit ihren Unterhaltungen fortzufahren. Nicht jedoch, ohne Randall dabei mit argwöhnischen Blicken zu bedenken.

Ein Tag wie jeder andere, mit dem kleinen Unterschied, dass es zwölf Minuten nach acht war und es keine Spur von Mr. Lamb gab.

Während er mit schnellen Schritten an seinen Mitschülern vorbei in den hinteren Teil des Klassenraumes zu seinem Platz hastete, regte sich in Randall die leise Hoffnung, dass der Lehrer vielleicht wirklich von einer heftigen Magen-Darm-Grippe erwischt worden war - sich so etwas zu wünschen mochte zwar ethisch fragwürdig sein, doch war ihm das herzlich egal - die ihn trotz seiner Überzeugung unbarmherzig ans Bett fesselte, und somit seinem Kurs am heutigen Tage ein weiterer, staubtrockener Vortrag zu "Große Erwartungen", oder vielleicht auch "Krieg und Frieden" oder "Der Fänger im Roggen" (Mr. Lamb sprang oftmals zwischen mehreren Büchern wahllos hin und her) erspart bleiben würde.

In genau dem Moment, in dem Randall seine Tasche neben seinen Stuhl fallen ließ und gerade im Begriff war, sich seinen Mantel auszuziehen, verstummten die Gespräche, die den Klassenraum bis eben noch erfüllt hatten, erneut. Zeitgleich erklang das vertraute Quietschen der Scharniere, das jedes Mal zu hören war, wenn die Türe des Klassenzimmers geöffnet wurde, und noch bevor er überhaupt über die Schwelle getreten war, schallte bereits Mr. Lambs quäkende, schnarrende Stimme durch den Raum: "Mr. Flynt, es ist dreizehn Minuten nach acht! Aus welchem Grund sitzen sie nicht auf ihrem Platz?"

Seine Schüler mit Nachnamen anzusprechen war etwas, was Mr. Lamb sehr gerne tat, wenn er sein Missfallen jemandem Gegenüber zum Ausdruck bringen wollte. Das kam sehr häufig vor, Missfallen gehörte zu Mr. Lambs häufigsten Gemütszuständen, und jedes Mal wieder hatte Randall das Bedürfnis, entweder aus dem Fenster zu springen oder Mr. Lamb zu erschlagen.

Irgendjemand kicherte. Randall konnte nicht sagen, wer es war, und es war ihm auch egal, wortlos knüpfte er seinen Mantel auf und warf ihn über seinen Stuhl, während Mr. Lamb mit diesem arroganten Grinsen, das nur er auf diese ganz bestimmte Art und Weise beherrschte, seinen Blick über seine Schüler schweifen ließ, die alle betont aufmerksam auf ihren Stühlen saßen und ihn anblickten. Es war vollkommen ruhig. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können

Randall zog seinen Stuhl zurück, um Platz zu nehmen und Mr. Lamb so einen Anlass zu geben, ihn nicht mehr mit diesem unangenehmen Blick anzustarren; das Kratzen der Stuhlbeine über den abgewetzten Parkettboden klang in der ansonsten herrschenden Stille laut wie ein Pistolenschuss. Mr. Lamb rümpfte angewidert die Nase, als habe er gerade ein besonders widerliches Insekt erblickt, dann, endlich, wandte er den Kopf in Richtung Tafel, und räusperte sich dabei, als müsse er gleich irgend eine wichtige Rede halten.

"Nach dem das erledigt wäre", begann er, mit einem weiteren Blick in Randalls Richtung, der sich am liebsten unter seinem Tisch verkrochen hätte, "und wir nun gleich endlich mit unserem Unterricht beginnen können, möchte ich euch zunächst noch jemanden vorstellen."

Mit großen, schnellen Schritten, die man dem untersetzten, rotgesichtigen Mann gar nicht zugetraut hätte, hastete er zu seinem Pult und knallte die vorgangs erwähnte, braune Ledertasche auf die Tischplatte, um sich dann in Richtung Tür zu drehen und ein ungeduldiges Schnauben auszustoßen. "Na los, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit!"

Die Person, der diese Worte galten, betrat den Raum mit einem so deutlichen Zögern, dass kein Zweifel daran bestand, dass Mr. Lambs Art sie zutiefst irritierte. Wer hätte ihr das verübeln können, gerade, wenn man ihm zum ersten Mal gegenübersteht, konnte er mit seiner arroganten und cholerischen Art ausgesprochen beängstigend wirken. Nicht umsonst vermied es jeder, der bei halbwegs klarem Verstand war, sich mit ihm anzulegen. Anders als bei Miss McCarthy war es jedoch nicht Respekt, der zu diesem Verhalten führte, nein, die meisten Schülern und auch einige Lehrer waren sich lediglich sicher, dass Mr. Lamb vollkommen unberechenbar war. Geradezu durchgeknallt.

Und Verrückte sollte man bekanntlich nicht ärgern.

"Ich möchte euch euren neuen Mitschüler vorstellen.", fuhr Mr. Lamb unbeirrt fort, wobei das "möchte" einen eindeutigen Unterton von "Man hat mich dazu gezwungen." besaß. "Das ist Roger Clarke."

Es folgte eine kleine Pause, in der Mr. Lamb sich noch einmal geräuschvoll räusperte, als stecke ihm etwas im Hals, und Roger nickte kurz, dabei ein wenig verlegen wirkend.

Er war ein wenig größer als Mr. Lamb - was wirklich keine Kunst war - dabei jedoch so dürr, dass er neben der massiven Gestalt des Lehrers, der der jahrelange übermäßige Verkehr aller möglichen Speisen in Kombination mit mangelnder sportlicher Betätigung deutlich anzusehen war, vollkommen verloren wirkte.

Seine Haut war blass, besonders im Kontrast zu dem schwarzen Mantel, den er trug, und unter seinen Augen lagen Tiefe Schatten, Spuren von zu wenig Schlaf, wie Randall sie nur zu gut von sich selbst kannte.

"Er ist gerade aus South Dakota hergezogen und..."

"North Dakota."

"...Wie bitte?"

Die Stimme des Lehrers mochte oberflächlich betrachtet vielleicht freundlich klingen, doch darunter schlummert etwas, wofür das Wort "Hass" gar kein Ausdruck war.

Mit geöffnetem Mund und zuvor noch wild gestikulierenden, nun in der Luft eingefrorenen Händen wandte er sich seinem neuen Schüler zu, der ihn mit verlegenem Gesichtsausdruck ansah und offenbar keine Ahnung davon hatte, dass er es soeben mit nur zwei kleinen Worten geschafft hatte, sich selbst auf Mr. Lambs Todesliste zu setzen. Jeder im Klassenzimmer schien den Atem anzuhalten. Niemand verbesserte Mr. Lamb. Das war eine Art ungeschriebenes Gesetz, an das man sich besser hielt, wenn einem an einem halbwegs erträglichen zukünftigen Schulaufenthalt etwas lag.

"Na ja...ehm..." Roger wich dem stechenden Blick des Lehrers aus, offenbar war ihm ziemlich schnell klar geworden, dass Mr. Lamb wirklich kein angenehmer Zeitgenosse war. Dass es jedoch am besten wäre, einfach nichts mehr zu sagen und den Lehrer seinen Monolog fortführen zu lassen, schien er noch nicht verstanden zu haben. "Ich komme aus North Dakota. Nicht South Dakota. Ist eigentlich auch egal, ich wollte nur-..."

"Verstehe, verstehe." Mr. Lambs Lächeln war so eisig, dass die Temperatur im Raum sofort um gut 15 °C zu fallen schien. Mit den Fingerspitzen aneinander tippend, was eine seiner Eigenarten war, denen er immer nachging, wenn er, aus welchem Grund auch immer, gereizt oder nervös oder auch wütend war, wandte er sich wieder seiner Ledertasche zu und betrachtete sie mit einem solch hochkonzentriertem Blick, als habe er sie noch nie zuvor gesehen.

Dann, nachdem er einige Sekunden lang so verharrt hatte, mit gesenktem Kopf, seiner üblichen, krummen Körperhaltung und dabei weiterhin wie in einem für Außenstehende unhörbaren Takt leise die Fingerspitzen gegeneinander schlagend – Randall fand, dass er in dieser Pose verdächtig an Mr. Burns aus „Die Simpsons“ erinnerte – schien er sich wieder daran zu erinnern, dass er doch eigentlich etwas hatte sagen wollen, bevor er auf so unhöfliche Weise unterbrochen worden war.

„Also North Dakota!“, fuhr er fort, und betonte das „North“ dabei ungefähr wie „Prostatakrebs im Endstadium“. „Eigentlich ist es ja sehr ungewöhnlich und für die Leistungen auch nicht gerade förderlich, mitten im laufenden Schuljahr die Schule zu wechseln, aber manchen Leuten scheint das egal zu sein...“

Er hasste Roger. Das war bereits an diesem ersten Morgen klar, und es würde im weiteren Verlauf des Jahres noch genügend Situationen geben, in denen diese Tatsache mehr als deutlich werden würde, und hatten bisher alle Schüler, die ihn kannten, geglaubt, das Ausmaß seiner Boshaftigkeit ungefähr abschätzen zu können, so sollten sie nur alsbald eines Besseren belehrt werden.

Chapter 8

Mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr machte Mr. Lamb nun eine ausladende Handbewegung, die das gesamte Klassenzimmer umfasste, und dabei hatte er noch immer dieses eisige Grinsen im Gesicht, das eher zu einem Haifisch zu gehören schien, als zu einem Menschen.

Nur waren Haie wohl weitaus weniger boshafte Kreaturen.

„Ich wiederhole mich nur ungern, aber wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! Wir haben einen Lehrplan einzuhalten! Des weiteren muss ich dich bitten, dich eigenständig über alles zu informieren, was wir bis jetzt gemacht haben. Und jetzt such dir einen Platz aus und setz dich!“

Die letzten Worte waren ein regelrechtes Fauchen gewesen, die Selbstbeherrschung, die er bis zu diesem Punkt aufgebracht haben musste, schwand, und Roger machte instinktiv einen Schritt zurück. Es war nicht direkt Furcht, die in seinem Gesicht zu erkennen war, eher tiefe Irritation und Verwirrung, und einen Moment lang sah es so aus, als wolle er auf Mr. Lambs Anweisungen etwas erwidern; und das wäre das gottverdammt Schlimmste gewesen, was er in dieser Situation überhaupt hätte tun können.

Am liebsten wäre Randall aufgesprungen und hätte ihn angebrüllt, und den meisten anderen Schüler des Kurses erging es nicht anders.

Setz dich einfach hin und diskutier nicht mit ihm! So lebensmüde kann man gar nicht sein!

Doch niemand von ihnen sagte etwas. Alle saßen sie wie eingefroren auf ihren Plätzen, fürchtend, selbst mit der kleinsten Bewegung Mr. Lambs Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dann würden sie vielleicht das Ziel eines seiner berüchtigten Wutausbrüche werden, denn Mr. Lamb schien heute einen verdammt schlechten Tag zu haben. Sogar für seine Verhältnisse.

Es waren nur wenige Sekunden, die vergingen, in denen Roger reglos vorne neben dem Lehrerpult stand, Mr. Lamb musterte und allem Anschein nach noch etwas sagen wollte, doch diese Sekunden fühlten sich an wie ungefähr drei Stunden. Und dann wandte er sich ab, wortlos, ging an den Tischen der anderen Schüler vorbei. Es gab noch genau ein einziges freies Pult im gesamten Klassenzimmer (such dir einen Platz aus, ha, ha), in der hinteren, linken Ecke, direkt neben den Schränken, in denen irgendwelche alten Unterrichtsmaterialien seit Jahren vor sich hin moderten...und neben Randall.

Es war nicht verwunderlich, dass sich niemand dort hatte hinsetzen wollen. Als einzigen Sitznachbarn einen Typen, der des Mordes verdächtigt wurde? Nein danke, ich verzichte!

Roger jedoch hatte, vermutlich zumindest, nicht die geringste Ahnung, wer sein neuer Sitznachbar war. Jedenfalls noch nicht. Natürlich würde es nicht allzu lange dauern, bis er es erfuhr, vielleicht nicht einmal bis zum Ende dieser Schulstunde, doch in diesem Moment warf er Randall einfach bloß einen kurzen Blick zu, ohne jede Spur von Abneigung oder auch Furcht darin, wie es bei den anderen Schülern stets der Fall war.

Einfach ein kurzer, freundlicher Blick. Sogar mit einem Lächeln.

Mit einem weiteren Blick auf Mr. Lamb zog Roger den Stuhl zurück – und ließ zeitgleich seine Tasche, die er gerade im Begriff gewesen war abzusetzen, in einer ungeschickten Bewegung zu Boden fallen. Ein lauter Knall fuhr durch den Raum, schien von den kahlen Wänden widerzuhallen wie in einer Kathedrale, und nicht wenige Schüler fuhren erschrocken zusammen, als die zuvor herrschende Stille so unvermittelt von einem derart lauten Geräusch durchschnitten wurde. Irgendjemand schnappte hörbar nach Luft.

Mr. Lamb erschrak nicht. Er reagierte gar nicht auf das Geräusch, nicht im Sinne von zusammenzucken zumindest, nur seine Gesichtszüge schienen noch einmal um eine Spur härter, seine Augen noch ein wenig eisiger zu werden.

"Ich glaube, ich habe gesagt, Sie sollen sich hinsetzen, Mr. Clarke.", begann er einen seiner berüchtigten, sarkastischen Kommentare, und seine Stimme klang so vollkommen emotionslos, dass man meinen konnte, er sei ein vollkommen unbeteiligter Beobachter eines langweiligen Bühnenspiels. "Hinsetzen bedeutet nicht, das ganze Gebäude einzureißen."

Ja. Er klang wirklich, als würde ihm das Ganze nicht im Geringsten nahegehen, als schenke er dem keinerlei Aufmerksamkeit - so wie es jeder andere Lehrer bei solch einer banalen Angelegenheit getan hätte. So wirkte es - doch das stimmte nicht. Innerlich, das wusste jeder, der einen seiner Kurse besuchte und ihn schon einmal so hatte sprechen hören, kochte er vor Wut.

"Oh, wirklich? Tut mir leid, dann habe ich Sie falsch verstanden..."

Roger hatte selbst nicht die geringste Ahnung, warum er diese Worte ausgesprochen hatte. Vielleicht war es sein erster Tag an dieser Schule, doch dass dieser Lehrer dort vorne, dessen Namen er nicht einmal kannte, weil er sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich vorzustellen, kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse war, hatte er durchaus begriffen. Zweifelsohne hätte er am besten daran getan, einfach ruhig zu sein. Seine Tasche aufzuheben und richtig hinzustellen, diesmal darauf bedacht, in Gedanken nicht komplett abzuschweifen, und sich einfach hinzusetzen und am besten bis zum Ende des Unterrichts nichts mehr zu sagen, bloß nicht aufzufallen, bloß nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Ja, das wäre definitiv das beste gewesen. Und trotzdem hatte Roger sich eine sarkastische Erwiderung nicht verkneifen können; darin, seine Gedanken in solchen Situationen für sich zu behalten, war er noch nie sonderlich gut gewesen, im Gegenteil.

Das passierte ihm sogar ausgesprochen häufig. War nichts ungewöhnliches, war in gewisser Weise sogar ärztlich entschuldigt, doch wusste dieser Lehrer das natürlich nicht, und Roger hatte das ziemlich bestimmte Gefühl, dass es ihm auch herzlich egal gewesen wäre.

"Hinsetzen." Mr. Lambs Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern, ein knurrendes, vor kalter, nur noch mit aller Kraft kontrollierter Wut zitterndes Flüstern, er wirkte wie ein Raubtier, das kurz davor stand, sich auf seine Beute zu stürzen. "Hinsetzen, und zwar sofort! Was glaubst du eigentlich..." Er brach ab. Schloss die Augen, zog mit einem scharfen Zischen Luft in seine Lungen und fuhr dabei mit den Händen durch die Luft, als würde er ein unsichtbares Orchester dirigieren, und diese Handlung verlieh dem kleinen, massigen Mann ein unfassbar lächerliches Aussehen.

Doch niemand lachte. Nach der Stunde, wenn Mr. Lamb den Raum verlassen haben würde, da würden sie sich alle über diesen Anblick amüsieren, über sein rot angelaufenes, speckiges Gesicht, die seltsamen Gesten, die keinerlei Sinn zu haben schienen und dieses geräuschvolle Einatmen, das viel mehr ein Pfeifen als ein Atmen war. Sie würden Witze machen über ihn und karikaturistische Abbilder von ihm in ihre Hefte kritzeln, doch all das würde erst nach Ende des Unterrichts geschehen.

In Mr. Lambs Gegenwart würde niemand so etwas wagen.

Roger hatte indes endlich auf seinem Stuhl Platz genommen, wobei in seinem Blick neben der Irritation und der Unsicherheit auch ein gewisser entnervter Ausdruck lag, und gerade in der Sekunde seine Tasche aufgehoben und betont vorsichtig an das Pult seines Tisches gelehnt, in dem Mr. Lamb seine Augen wieder öffnete, die wild dirigierenden Hände sinken ließ, und mit nun wieder lauterer, festerer, jedoch nicht weniger von Wut erfüllter Stimme seinen zuvor begonnenen Satz noch einmal aufgriff: "Was glaubst du eigentlich, was du bist?"

Dieses Mal antwortete Roger nicht. Im Nachhinein wären ihm einige Erwiderungen auf diese Frage eingefallen, ob sarkastisch, ernsthaft, in Form einer Gegenfrage oder was auch immer. Doch für den Augenblick konnte er nichts anderes tun, als Mr. Lamb einfach nur anzustarren. Seine Kehle fühlte sich so trocken an, als hätte er seit Monaten nichts mehr getrunken, und der einzige Gedanke, der noch in seinem Kopf zu existieren schien, war der an diese eben in den Raum geworfene Frage: "Was glaubst du eigentlich, was du bist?"

Und nun lächelte Mr. Lamb wieder. Es war dieses selbstgefällige, arrogante Lächeln, das zu ihm zu gehören schien wie Sonne und Mond an den Himmel, und es brachte vollkommen unmissverständlich zum Ausdruck, welche Genugtuung es ihm verschaffte, seinen neuen Schüler endlich zum Schweigen gebracht zu haben. Wieder einmal demonstriert zu haben, dass man sich mit ihm besser nicht anlegen sollte.

Ja, er hasste Roger. Mehr noch, als er all seine anderen Schüler hasste. Mehr als Jake Howard, den er um die zwanzig mal in der Stunde anfuhr, wenn er auch nur mal wieder ein wenig den Blick von der Tafel abschweifen ließ. Mehr als Carrie Morse, die für ihn nichts weiter war als eine verzogene verweichlichte Heulsuse (sie war wirklich oft den Tränen nah, allerdings immer erst, nachdem Mr. Lamb ihr wieder eine seiner Bemerkungen an den Kopf geworfen hatte), und mehr als Patrick Fisher, der regelmäßig aus lauter Desinteresse im Unterricht einschlief.

Mehr als Dale Nixon, den er einfach nur deshalb hasste, weil ihm sein Gesicht nicht passte, zumindest wäre niemandem ein anderer Grund eingefallen, denn Dale war ein vollkommen unauffälliger, dabei jedoch nicht fauler Schüler, der sich alle Mühe gab, gut im Unterricht mitzuarbeiten. Vielleicht hasste Mr. Lamb ihn auch gerade deshalb.

Und auch mehr, als Randall.

Woher genau dieser Hass kam, das wusste nicht einmal Mr. Lamb selbst. Es war nur als nur die Tatsache gewesen, dass Roger ihn zuerst korrigiert hatte und ihm dann noch mit Ironie gekommen war, und selbst die Tatsache, dass der Lehrer einen selbst für seine Verhältnisse verdammt miesen Tag gehabt hatte, erklärte diese extreme Abneigung nicht vollständig.

Fakt war jedoch, sie war da. Und da sie nun einmal da war, sah er auch keinen wirklichen Grund, etwas gegen sie zu tun.

Hass war ein großer Bestandteil seines Lebens, ein Gefühl, das er jedem gegenüber hegte, wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen, auf Außenstehende mochte das abnorm wirken, für ihn war das etwas vollkommen Normales.

Mr. Lamb war wahnsinnig. Das sollte in nicht einmal mehr drei Monaten offiziell bestätigt werden, er war unberechenbar, und noch bei weitem gefährlicher, als es all diejenigen, die ihn kannten, jemals für möglich gehalten hätten. Mehr als nur exzentrisch und verbittert. Und hätte das an diesem Morgen bereits irgendjemand geahnt, so hätten sie sein soeben an den Tag gelegtes Verhalten nicht so ohne weiteres hingenommen und als einen weiteren, immer mal wieder vorkommenden Anfall eingestuft.

Und wäre das der Fall gewesen, so hätte vieles von dem, was sich im Laufe der nächsten Monate ereignen sollte, höchstwahrscheinlich verhindert werden können.

Chapter 9

"Meine Fresse, du kannst einem ja echt leid tun!"

Roger hatte nicht die geringste Ahnung, wer das Mädchen war, das keine drei Sekunden, nachdem der Lehrer den Klassenraum verlassen und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zugeworfen hatte, zu seinem Pult gesputet war und ihm ohne irgendeine Einleitung oder Vorstellung seiner Person diese reichlich nichtssagenden Worte entgegengebrüllt hatte, und das in einer Lautstärke, als würde sie mit einem Schwerhörigen sprechen. Er war gerade im Begriff gewesen, Bleistifte und Kugelschreiber, die er im Verlauf der vergangenen Stunde auf seiner Tischplatte verteilt hatte, ohne es wirklich zu merken, zurück in sein Etui zu räumen, hielt nun jedoch inne und hob seinen Blick, unsicher, was er erwidern sollte. Ihm war nicht wirklich klar, was diese Aussage zu bedeuten hatte. Wahrscheinlich spielte das Mädchen auf die Art an, wie dieser Lehrer mit ihm gesprochen hatte. Sicher, das war alles andere als angenehm gewesen, doch Mitleid musste man ihm deshalb noch lange nicht entgegenbringen...Es war schließlich nicht so, als sei er solch einen Umgangston nicht gewohnt. "Na ja...", begann er, um wenigstens irgendetwas zu sagen und nicht bloß schweigend dazustehen und dämlich zu gucken, "Ich glaube, der Lehrer mag mich nicht besonders..." Seine Stimme klang nicht ganz so gleichgültig, wie er es beabsichtigt hatte, das stellte er selbst verärgert fest, darin schwang ein eindeutiger Unterton mit, aber vielleicht kam ihm das auch bloß selbst so vor.

Was auch immer.

"Er mag dich nicht besonders?" Mit einem schrillen Auflachen schlug das Mädchen mit den Händen auf die Tischplatte, und einige der sich noch im Raum aufhaltenden Schüler drehten sich zu ihr um, um zu sehen, was denn so unfassbar amüsierend war.

"Ganz ruhig, Janet.", rief irgendjemand, und auch, wenn Roger das natürlich noch nicht wissen konnte, war diese scheinbar belanglose Randbemerkung in Wahrheit als eine ernstgemeinte Aufforderung gemeint. Janet neigte zur Hysterie. Und das schon bei den kleinsten Anlässen.

Ein wenig verärgert warf die Angesprochene einen Blick in die Richtung, aus der die Bemerkung gekommen war, ließ sich dann jedoch nicht weiter beirren, und wiederholte noch ein mal, diesmal in gemäßigterer Lautstärke: "Er mag dich nicht besonders?" Ein weiteres Kopfschütteln, dann ein belustigtes Schnaufen. "Junge, das ist echt untertrieben! Lamb hasst dich! Aber richtig!"

"Aber ich hab ihm doch gar nichts getan!", entgegnete Roger. Dass Mr. Lamb - was für ein unpassender Name - ihn nicht besonders gut leiden konnte, das war ihm durchaus bewusst, und das, obwohl er jemand war, der dazu neigte, sich immer alles schön zu reden. Aber Hass? Wie konnte man jemanden, den man seit gerade einmal neunzig Minuten kannte, bereits hassen? Und das ohne einen triftigen Grund?

"Das hat doch damit nichts zu tun!" Janet sah Roger an, als hätte er ihr gerade erzählt, dass die Erde eine Scheibe sei, sie wirkte wie eine Lehrerin, der ein Schüler eine besonders dämliche Frage gestellt hatte. "Aber hey, der hasst jeden! Manche mehr, manche weniger! Das ist nicht dein größtes Problem!"

Dann wandte sie den Kopf nach rechts, wobei sie ihre langen, blondierten Haare dramatisch über die Schulter warf, um der Relevanz der Situation Ausdruck zu verleihen, und Roger folgte ihrem Blick, eher aus Reflex als aus einer durchdachten Handlung heraus, und so betrachteten sie nun beide den Nachbartisch, wo der dort sitzende Schüler gerade mit hektischen Bewegungen seine Sachen vollkommen ungeordnet in seine Tasche fallen ließ, es offenbar unfassbar eilig habend, aus dem Klassenraum heraus zu kommen. Janet lächelte vielsagend. "Du solltest dir eher Gedanken wegen deinem Sitzplatz machen!"

Ihre Mimik hatte sich verändert, zuvor hatte sie überheblich, geradezu arrogant gewirkt, und dieser Ausdruck war durchaus noch immer vorhanden, nun jedoch überschattet von etwas Stärkerem, etwas, das Roger sich in diesem Zusammenhang nicht wirklich erklären konnte, jedoch nicht im Geringsten daran zweifelte, dass es das war: Ekel.

Ganz ähnlich hatte seine große Schwester ausgesehen, als sie vor Jahren einmal in einem Tierpark gewesen waren - einer der wenigen Familienausflüge, an die er sich überhaupt erinnern konnte, was auch daran lag, dass es nicht sonderlich viele gegeben hatte - und vor einem Terrarium gestanden hatten, in dem, vollkommen unbeweglich, mehrere handtellergroße Vogelspinnen gehockt hatten. Irgendwo hatte Roger diese Tiere ausgesprochen faszinierend gefunden. Tonia einfach nur widerlich.

Ja, Janet sah aus, als sei gerade irgendeine ekelhafte Kreatur vor ihr über die Wand des Klassenzimmers gekrabbelt. Nur war es noch verständlich, wenn jemand eine Spinne mit solchen Blicken bedachte, schließlich sind Spinnen nicht dafür bekannt, sonderlich beliebte Tiere zu sein... Aber einen Menschen? Roger hatte nicht die geringste Ahnung, was dieser Ausdruck zu bedeuten sollte. Oder auch ihre zuvor getätigte Aussage.

"Wie meinst du das?" Verwirrt sah er Janet an, und noch während er diese Worte aussprach, fragte er sich, ob er denn wirklich eine Antwort bekommen wollte. Natürlich, einerseits war er neugierig, wollte wissen, was dieses kryptische Verhalten dieses Mädchens zu bedeuten hatte, doch andererseits legte er aus irgend einem Grund, der ihm selbst nicht wirklich bekannt war, keinen allzu großen Wert darauf, dieses Gespräch unnötig lange weiterzuführen. Er wusste nicht, warum, doch irgendwie war Janet ihm nicht sonderlich sympathisch.

Janet sah ihn nicht an, als sie antwortete. Deutete stattdessen ohne jede Diskretion auf seinen Sitznachbarn, der zweifelsohne genau wusste, dass über ihn gesprochen wurde, sich jedoch alle Mühe gab, nicht darauf einzugehen und sich wortlos seinen Mantel überzog, um dann mit gekünstelter, übertrieben dramatischer Stimme die rhetorische Frage in den Raum zu werfen: "Du hast keine Ahnung, wer das ist, oder?"

"Wenn eben nicht irgendwer deinen Namen gesagt hätte, wüsste ich nicht mal, wer du bist.", gab Roger zurück, etwas besseres fiel ihm nicht ein, und das entsprach schließlich der Wahrheit. Unter normalen Umständen hätte er sich im Laufe des Unterrichts mit Sicherheit zumindest kurz mit seinem Sitznachbarn unterhalten, doch waren die Umstände wohl alles andere als normal, wenn der Lehrer einen nahezu durchgängig mit einem Blick fixierte, als habe er das dringende Bedürfnis, einen Mord zu begehen.

Nun wandte Janet sich doch wieder ihrem Gesprächspartner zu. Sie wirkte irritiert, geradezu verwirrt, als habe diese Erwiderung sie ein wenig aus dem Konzept gebracht, und irgendwie schien sie nicht wirklich zu wissen, was sie darauf antworten sollte. "Äh...Ja." Wieder schüttelte sie den Kopf, als würde ihr das irgendwie dabei helfen, ihre Gedanken zu ordnen, und setzte dann zu einem weiteren Versuch an, die Informationen, die sie zu verbreiten ersuchte, doch noch loszuwerden: "Das ist aber total egal! Geht ja nicht um mich, sondern um deinen Sitznachbarn!" Ein weiterer Fingerzeig, und Roger hätte sie gerne darauf hingewiesen, wie unhöflich dieses Verhalten war, doch sie ließ ihn überhaupt nicht erst zu Wort kommen. "Über den solltest du dir Gedanken machen! Weißt du auch, warum?"

"Nein, aber denke mal, du wirst es mir bestimmt gleich verraten..." Nein, Roger hatte definitiv keine Lust mehr auf diese Konversation. Sein zuvor zumindest noch mäßig vorhandenes Interesse war nun vollends verschwunden, er wollte nicht hören, was Janet ihm erzählen wollte, denn spätestens jetzt konnte er sich ungefähr denken, was es war: Irgendwelche Lästereien über eine Person, die sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht leiden konnte.

Mit einer hektischen, fahrigen Bewegung griff er nach dem letzten noch auf der Tischplatte liegenden Stift, hob ihn hoch und hätte ihn um ein Haar gleich wieder fallen lassen, reflexartig umklammerte er ihn, als handle es sich dabei um irgendeinen überaus wertvollen Gegenstand. Warf ihn in das Etui, zog den Reißverschluss zu und verstaute es in seiner Tasche. Griff nach seinem Mantel. Gleichzeitig spürte er, wie sich in seinem Nacken ein unangenehmes Ziehen ausbreitete.

Doch so offensichtlich es auch war, dass ihre Gegenwart Roger alles andere als angenehm war, in Janets Gehirn schien diese kleine Information nicht angekommen zu sein. Sie nickte eifrig, um die zuvor geäußerte Vermutung seines Gegenübers zu bestätigen, und fuhr dann vollkommen unbeeindruckt fort: "Der Typ ist irre! Echt! Wenn du nicht aufpasst, bringt er dich wahrscheinlich um!"

Es dauerte einen Moment, bis Roger wirklich begriffen hatte, was seine Mitschülerin da gerade gesagt hatte. In der Bewegung innehaltend starrte er sie an, nicht wissend, was er sagen sollte, überlegend, ob sie irgend einen seltsam morbiden Scherz gemacht hatte, doch Janets Gesicht wirkte todernst.

Anscheinend schien sie überhaupt keine Antwort seinerseits zu erwarten, beugte sie sich doch bereits ein Stück vor, und fuhr in gedämpfteren, jedoch noch bei weitem nicht leisem Tonfall unbeirrt fort: "Randall hat Anfang des Jahres seinen Cousin umgebracht! Wie genau und was er mit der Leiche gemacht hat weiß keiner...Die hat man nämlich bis heute nicht gefunden! Er ist ein Mörder! Und verrückt! Solltest also zusehen, dass du dich von ihm fern hälst..."

Und hier brach sie ab. Über ihr Gesicht zog sich wieder dieses überhebliche Lächeln, das ihr den Ausdruck einer selbstgefälligen Herrscherin verlieh, die auf ihr Volk herabsah; sie warf einen letzten, angewiderten Blick in Richtung der Person, über die sie soeben gesprochen hatte - sie hatte seinen Namen erwähnt, doch irgendwie fiel er Roger nicht mehr ein, wahrscheinlich, weil er sich mehr auf die anderen Informationen konzentriert hatte - drehte sich dann um, um sich auf den Weg zurück zu ihrem Tisch zu machen. Ohne ein weiteres Wort.

Roger starrte ihr nach, verwirrt und irritiert, und ohne die geringste Ahnung, was er tun, sagen, oder überhaupt von dem halten sollte, was er da gerade gehört hatte. Er wusste es wirklich nicht.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, ihr hinterherzulaufen und ihr die Fragen zu stellen, die ihm durch den Kopf schwirrten: Meinst du das ernst? Verarscht du mich? Findest du das witzig?

Doch eigentlich dachte man sich so etwas nicht aus. Eigentlich.

Das kratzende Geräusch eines über den Boden geschobenen Stuhls neben ihm durchschnitt seine Überlegungen und ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Er wandte sich um, und sah gerade noch, wie sein Sitznachbar - wieso konnte er sich bloß so schlecht Namen merken? - mit eiligen Schritten an ihr vorbei hastete, mit gesenktem Blick, den Gang zwischen den Tischen mit den wenigen Schülern, die sich noch während der Pause im Klassenraum aufhielten, entlang, wobei aus seinem schnellen Gehen erst ein Laufen und dann ein Rennen wurde. Und alle schienen ihn anzustarren.

Roger schluckte. Das schmerzhafte Ziehen in seinem Nacken hatte für einen Augenblick nachgelassen, doch nun wurde es wieder stärker, noch intensiver als zuvor, und überschattete dabei sogar seine wirren, wild durcheinander rasenden Gedanken, wofür er für den Moment irgendwo sogar dankbar war.

Er musste hier raus.

Mit zitternden Händen griff er nach seiner Tasche und warf sich den Gurt über die Schulter, sie war noch offen ebenso wie sein Mantel, doch das interessierte ihn nicht.

Er wollte einfach nur weg.

Chapter 10

Bis jetzt war dieser Tag absolut beschissen verlaufen.

Es hatte in Strömen geregnet, als Liv ihren alten Plymouth Fury auf dem Parkplatz in der Camin Street abgestellt hatte, der ungefähr fünf Minuten Fußweg entfernt von ihrem Arbeitsplatz lag, und als sie schließlich durch die Tür des Supermarktes getreten war, war sie vollkommen durchnässt gewesen.

Sofort hatte Mrs. Parson sie abgefangen und sie nach hinten ins Lager geschickt, nur, damit keine halbe Stunde später Mr. Yard, der Geschäftsführer dieses Ladens, vollkommen angepisst auf sie zu gestapft kam und sie mit vor Wut zitternder Stimme fragte, weshalb zur Hölle sie nicht an der Kasse saß.

Nicht, dass Liv solche Vorfälle nicht gewohnt war. Sie arbeitete seit fast drei Jahren hier, und während dieser Zeit hatte sie gelernt, dass Kommunikation in diesem Unternehmen nicht allzu groß geschrieben wurde. Nicht selten bekam man von drei verschiedenen Mitarbeitern drei völlig verschiedene Dinge zugeteilt. Und am Ende noch den Ärger, weil man nicht mit der vierten Sache beschäftigt war.

Doch an diesem Morgen hatte Liv absolut keinen Nerv dafür, von Mr. Yard für irgendwelche angeblich falschen Tätigkeiten ihrerseits angepampt zu werden. Nachdem sie sich nach der unerwünschten Unterbrechung ihres Schlafes in der letzten Nacht wieder ins Bett hatte fallen lassen, hatte sie beinahe anderthalb Stunden lang wach gelegen, und war beim Klingeln des Weckers vollkommen übermüdet aufgewacht. Nur drei Tassen Kaffee beim Frühstück und auf der Fahrt hier her hatten verhindern können, dass sie bei der nächstbesten Gelegenheit wieder in einen tiefen Schlaf gefallen war. Doch änderte Koffein nichts daran, dass dieser Schlafmangel sie ausgesprochen reizbar machte.

Der einzige Grund dafür, dass sie ihren Chef nicht angefaucht hatte wie eine wütende Katze, der man im Schlaf auf dem Schwanz getreten hatte, war der ausgesprochen befreiende Gedanke daran, dass diese Woche Livs vorletzte in diesem Laden hier war. Wenn sie am übernächsten Freitag Feierabend machte, würde sie ihre Arbeitskleidung abgeben, sich von ihren Kollegen verabschieden - und denen, die sie nicht leiden konnte, vielleicht auch zum Abschluss noch die Meinung sagen würde, die sie sich all die Jahre über immer wieder verkniffen hatte - und dann würde sie nach Hause fahren, und ihre Sachen würden bereits alle weg sein, abgeholt vom Umzugsunternehmen, das sie in ihre neue Wohnung brachte, und sie würde noch ein letztes Mal mit ihrer Familie zu Abend essen, bevor sie in ein neues Leben aufbrach.

Ja. Dieser Gedanke war wirklich unglaublich befreiend.

Also hatte sie bloß resigniert genickt, sich an Mr. Yard vorbei in den Laden geschoben und war zur Kasse gegangen, und es hatte keine zwei Minuten gedauert, bis sich eine Schlange von fast zwanzig Kunden vor ihr gebildet hatten, von denen die meisten der Größe ihres Einkaufes nach zu urteilen in nächster Zeit einen Atomangriff zu erwarten schienen.

Anstrengend, doch das gehörte schließlich zum Job.

Liv war gerade dabei gewesen, sich ein wenig zu entspannen, sich selbst einzureden, dass der Tag doch gar nicht so furchtbar war, dass es Schlimmeres gab, als durchgeregnet und vom Chef angemeckert zu werden, als sie in der Schlange zwei Personen ausgemacht hatte, die ihr nur zu gut bekannt waren.

Ein Nachteil von solch kleinen Städten, wie Clover Rock es ist, ist die Tatsache, dass man immer und immer wieder bekannte Gesichter trifft, ob man nun will oder nicht: Ehemalige Mitschüler oder Lehrer, frühere beste Freunde, mit denen man seit Jahren nichts mehr zu tun hat, Ex-Freunde, alles mögliche. Wenn man Glück hat, dann auch solche Leute, von denen man hofft, sie irgendwann einmal wiederzusehen...das scheint jedoch immer eher die Ausnahme zu sein. Meist sind es Leute, auf deren Wiedersehen man gut und gerne hätte verzichten können.

In Livs Fall waren es zwei ehemalige Mitschülerinnen, die an ihrer Kasse standen und sich angeregt über ihre aus Kosmetikartikeln bestehenden Einkauf unterhielten, und bedauerlicherweise gehörten sie zu eben den Mitschülern, mit denen Liv während ihrer Schulzeit nicht sonderlich gut klar gekommen war. Sie hatten sich nicht gehasst, aber eben auch nicht sonderlich gut leiden können, als sie sie an diesem Morgen an der Kasse erblickt hatte, hatte sie das übermächtige Gefühl verspürt, sich auf der Stelle wieder nach hinten ins Lager zu verziehen.

Cassidy Adkins und Peggy Phelbs gehörten zu der Art von Mädchen, die sich aus welchen Gründen auch immer stets ein wenig über andere stellten. Wenn Liv ihnen damals über den Weg gelaufen war, hatten sie immer so ein leicht überhebliches Lächeln auf den Lippen gehabt, und allein der Tonfall, den sie an den Tag gelegt hatten, wenn sie denn mal ein paar Worte mit ihr gewechselt hatten, hatte geradezu geschrien: "Wir sind was besseres als du. Und du kannst dich ja wirklich geehrt fühlen, dass wir überhaupt mit dir reden!"

Niemand in ihrem Jahrgang hatte sie scheinbar wirklich leiden können. Doch irgendwie war ihnen das vollkommen egal gewesen.

Vielleicht erkennen sie mich ja nicht., hatte Liv bei sich gedacht, während sie ein Bund Limetten, das der ganze Einkauf einer alten Frau gewesen war, über den Warenscanner zog und dieser dabei gedanklich abwesend den Preis verkündete, das Geld entgegen nahm und Wechselgeld heraus gab.

Ist immerhin drei Jahre her. Und so viel hatten wir auch nicht miteinander zu tun...

Das mochte vielleicht stimmen. Doch trotzdem hatte sie sich dahingehend keine ernsthaften Hoffnungen gemacht.

Zurecht, wie sie gleich darauf hatte feststellen müssen.

"Ach, Liv! Lange nicht gesehen!"

Die alte Frau hatte noch nicht einmal ihre Limetten in ihrem Beutel verstaut, da hatte Peggy bereits mit aufgesetzter Begeisterung zu einer Begrüßung angesetzt, als hätte sie gerade eine lang verschollene Freundin wiedergetroffen. "Ich wusste ja gar nicht, dass du hier arbeitest!"

Peggy konnte nicht oft hier einkaufen, ansonsten hätten sie sich bestimmt schon früher einmal gesehen.

Liv hatte genickt und begonnen, die Einkäufe über den Scanner zu ziehen, dabei irgendeine Erwiderung von sich gegeben, an die sie sich im Nachhinein selbst nicht mehr hatte erinnern können, und dabei war sie sich sicher gewesen, obwohl ihr Blick auf die Eyeliner und Mascara und Lidschatten gerichtet gewesen war, dass Peggy und Cassidy sie eingehend musterten.

Und dann, ohne weitere geheuchelte Freundlichkeit, wie sie es von den beiden eigentlich erwartet hätte, hatte Cassidy diese Frage gestellt, die Liv einen Schauer der Wut über den Rücken gejagt hatte: "Wie geht’s deinem Bruder? Haben sie ihn immer noch nicht verhaftet?"

Vollkommen fassungslos hatte Liv die beide mit weit aufgerissenen Augen angestarrt. War unfähig gewesen, etwas zu erwidern, überhaupt irgendetwas zu tun, wie eingefroren hatte sie dagesessen, die rechte Hand, die sie gerade nach einem Eyeliner ausgestreckt gehabt hatte, verharrte in der Bewegung knapp fünf Zentimeter über dem Lieferband, als sei sie nicht mehr in der Lage, irgendwelche vom Gehirn gesendeten Befehle auszuführen.

Im Nachhinein wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass sie einfach ausgeholt und ihrer ehemaligen Mitschülerin eine geknallt hätte.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie auf der Arbeit auf Randall angesprochen worden war. Viele Leute wussten, dass sie seine Schwester war, und nicht wenige waren offenbar der Meinung, dass man von ihr irgendwelche geheimen Insider-Informationen bekommen konnte, doch das letzte Mal war mittlerweile Monate her, vielsagende Blicke waren nun das einzige, was sie noch mit Deutlichkeit mitbekam, und so dreist, wie Cassidy an diesem Morgen, waren nur die wenigsten dabei gewesen.

Die Beiden hatten sie erwartungsvoll angeblickt, offenbar allen ernstes eine Antwort auf diese Frage erwartet, und Liv hatte all ihre an diesem Morgen noch vorhandene Selbstbeherrschung zusammennehmen müssen, um nicht einfach aufzuspringen und ihnen ins Gesicht zu brüllen.

Es war eine Sache, zu wissen, dass sich hinter ihrem Rücken das Maul über ihren Bruder zerrissen wurde, zu wissen, dass die meisten Leute dieser Stadt davon überzeugt waren, dass er schuldig war, wegen ihr konnten sie sich bei ihren Kaffeekränzchen oder Stammtischen darüber auslassen, denn diese Lästereien kümmerten sie schon lange nicht mehr wirklich. So etwas konnte sie hinnehmen, das hatte sie mit der Zeit gelernt, lernen müssen, denn die Alternative dazu, zu tolerieren, dass die Bewohner von Clover Rock ihre Vermutungen und Meinungen als Fakten verkauften, wäre gewesen, verrückt zu werden.

Doch auf solch eine freche Art darauf angesprochen zu werden, ohne jedes offensichtliche Empfinden für ein auch nur geringes Maß an Pietät, das war etwas anderes.

Letztendlich hatte sie einfach nichts erwidert. War einfach sprachlos gewesen, und erst im Nachhinein waren ihr hunderte Dinge eingefallen, die sie hätte zurückgeben können, die dieses selbstgefällige Grinsen von den Gesichtern der Beiden gewischt hätten, doch so etwas fiel ihr meistens erst hinterher ein, und so bedauerlich sie dies auch fand: Wahrscheinlich war es besser so gewesen. Denn keine dieser nachträglichen Erwiderungen wäre auch nur im entferntesten höflich gewesen.

So jedoch war der Preis der Einkäufe das einzige, was Liv herausgebracht hatte, und Peggy hatte bezahlt, ohne ihrerseits ein Wort hervorzubringen, und hätten sie und Cassidy sich dabei nicht solch amüsierte Blicke zugeworfen, hätte man sie für ganz normale Kunden halten können.

Sie hatten nicht noch einmal nachgefragt, das ganze wahrscheinlich auch eher als eine Art Provokation angesehen, vielleicht auch als nicht mehr als eine harmlose Neckerei, doch spätestens nach dieser Begegnung war Liv für diesen Tag absolut bedient gewesen.

Gegen Mittag war sie schließlich an der Kasse abgelöst und zum Befüllen der Regale geschickt worden, und dafür war sie ausgesprochen dankbar gewesen. Die Regale legten immerhin keinen Wert darauf, dass man ihnen ein falsches Lächeln schenkte und einen schönen Tag wünschte. Es war eine routinierte Tätigkeit, der sie nachgehen konnte, und das half ihr, sich zu entspannen… aber nicht so sehr, dass die Begegnung mit Peggy und Cassidy aus ihren Gedanken verschwunden wäre. Es war so frustrierend. Jeden Tag, immer wieder, und es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Und so sehr Liv ihre Familie nach ihrem Auszug auch vermissen würde, so sehr erfüllte der Gedanke sie mit unfassbarer Erleichterung, dass in der Stadt, in der sie wohnen würde, niemand wissen würde, wer sie war.

Chapter 11

„… du grade zugehört?“

Die Worte rissen Randall unsanft aus dem wirren Konstrukt aus Gedanken, in denen er sich im Laufe der aktuellen Schulstunde verloren hatte, und der verwirrte Blick, den er dem Verursacher der Worte zuwarf, war im Grunde Antwort genug.“…Entschuldigung. Wie bitte?“

Jemand kicherte. Mrs. Santiago, die Lehrerin für Biologie, erwiderte den Blick ihres Schülers indes mit Missbilligung, sich entschieden habend, eine künstliche Pause einzulegen, bevor sie schließlich ihre zuvor getätigte Aussage wiederholte.

„Ich sagte, dass ihr euch bitte in zweier- bis Dreiergruppen zusammenfinden sollt, in denen ihr die Themengebiete, die ich euch zuteilen werde, bis nächste Woche in Form eines Referates bearbeiten könnt!“ Ein missbilligendes Kopfschütteln, das der Pikiertheit der Lehrerin Ausdruck verleihen sollte. Irgendwo hinter Randall tuschelte jemand, es folgte weiteres Gekicher, und Mrs. Santiagos strenger Blick, den sie in die entsprechende Richtung warf, führte nicht dazu, dass Stille einkehrte.

Doch Randall kümmerte das kaum. Zu sehr war er damit beschäftigt, die in ihm aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen, er merkte, wie sein Herz schneller schlug, heftiger pochte als habe es vor aus seiner Brust herauszuspringen. Gleichzeitig spürte er, wie ein Schwindelgefühl ihn überkam, und letztlich war es wahrscheinlich lediglich die Angst davor, beim Aufstehen umzukippen, die ihn davon abhielt, fluchtartig den Raum zu verlassen.

„Gibt es ein Problem?“ Mrs. Santiago musterte ihn erneut, dieses mal ein wenig irritiert, und wie automatisiert schüttelte Randall den Kopf. Mrs. Santiago nickte. „Gut! Dann mal los, wir hängen im Lehrplan schon hinterher!“

Als wäre normaler Unterricht nicht schlimm genug. Als würde es nicht vollkommen ausreichen, die Blicke im Rücken zu spüren und zu hören, wie über ihn geredet wurde, zu wissen, dass jeder sich größte Mühe gab, ihm aus dem Weg zu gehen.

Gruppenarbeit war die absolute Hölle. Es war keine Überraschung, dass Randall niemanden hatte, mit dem er gerne eine Gruppe bilden würde, und andersrum gab es ebenso niemanden, der ihn gerne dabei gehabt hätte. Es würde darin enden, dass Mrs. Santiago, genervt von der Inkompetenz ihrer Schüler, Gruppen zu bilden, ihn irgendjemandem zuteilen und so ein Konstrukt schaffen würde, mit der absolut niemand glücklich wäre, und die Woche bis zur Präsentation würde die Hölle werden.

Gruppenarbeit. Welcher Sadist hatte sich dieses Konzept überhaupt ausgedacht?

Leider war Mrs. Santiago auch niemand, der sich davon überzeugen ließ, dass man lieber alleine arbeiten wollte, aus irgendeinem Grund legte sie stets sehr viel wert darauf, dass ihre Schüler miteinander agierten. Was auch der Grund dafür war, dass Randall stets mit einem unguten Gefühl in ihren Unterricht ging. Am Besten war wohl, er wäre die nächsten sieben Tage krank…

Den Kopf gesenkt, die Hände nervös auf dem Tisch liegend verkrampft, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie Mitschüler sich zusammenfanden, und seine Gedanken schweiften wieder ab, zurück zu einer Zeit, in der es ihm noch nicht derart schwer gefallen war, einer im Grunde solch simplen Aufgabe wie dem bilden einer Gruppe nachzukommen… Als er in dieser Schule sogar noch so etwas wie Freunde gehabt hatte.
 

Im Gegensatz zu Randall war Gruppenarbeit für Janet das Einzige, was den Schulalltag einigermaßen erträglich machen konnte. Gruppenarbeit bedeutete, dass sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin Beth quatschen, herumalbern und lästern konnte, und schließlich am Ende ein Ergebnis vorzuweisen, das Beth in Eigenarbeit in ihrer Freizeit angefertigt hatte – eine gute Note, ohne dass Janet etwas dafür getan hätte. Mrs. Santiago hatte ihren Satz noch nicht einmal beendet gehabt, das war Janet bereits aufgesprungen und hatte sich neben Beths Tisch platziert, dabei ihren Blick suchend durch die Klasse schweifen lassend.

Ja, Beth war eine angenehme Partnerin. Aber manchmal auch ein wenig sehr streberhaft und langweilig… Ein Lächeln zog sich über ihr Gesicht, als sie schließlich im Gewusel der Schüler fand, wen sie gesucht hatte. Ohne Rücksicht auf andere zu nehmen, wie es eben ihre Art war, schob sie sich durch die Tischreihen, rempelte dabei Schüler an die es nicht für nötig hielten, ihr aus dem Weg zu gehen, und blieb dann schließlich vor dem angesteuerten Tisch stehen.

„Hey!“, verkündete sie ihr Erscheinen mit einem Elan, als moderiere sie eine Mode Gala.

Roger, der bis eben damit beschäftigt gewesen war, Gedankenverloren auf seinem Block herumzukritzeln, blickte auf, wieder einmal fiel Janet nicht auf, dass ihr Auftreten ihn nicht sonderlich zu freuen schien. Sie wartete gar nicht darauf, dass er antwortete, fuhr einfach in ihrem typischen, viel zu lauten Tonfall fort: „Du kannst mit mi und Beth machen!“

Sie konnte nicht sehen, dass Beth hinter ihr das Gesicht verzog, und selbst wenn sie es mitbekommen hätte, hätte sie es wahrscheinlich ebenso wenig registriert wie die Tatsache, dass Roger sich eindeutig besseres vorstellen konnte als mit ihr zusammenzuarbeiten.

Beinah ein wenig hilfesuchend blickte er sich um. „Danke, aber…“

„Was, aber?“ Aber war ei Wort, das Janet stets verstand, und es gefiel ihr nur ausgesprochen selten. Was, bitteschön, hieß hier aber?

„Aber ich glaube, dann geht das alles nicht auf.“, beendete Roger seinen Satz, er stand auf und blickte an Janet vorbei.

Die runzelte argwöhnisch die Stirn. Der Gesprächsverlauf gefiel ihr ganz und gar nicht. So sehr sie auch grundsätzlich von sich selbst überzeugt war, so sehr verunsicherte es sie auch immer wieder, wenn jemand ein Angebot ihrerseits ablehnte. Und in ihren Augen war der Vorschlag, mit ihr und Beth zusammenzuarbeiten, ein ausgesprochen gutes Angebot.

„Du kennst doch sonst hier niemanden!“, stellte sie durchaus korrekt fest, wobei sie sich keine Mühe gab zu verbergen, dass sie gekränkt war. Falls Roger das bemerkte, ging er jedoch nicht darauf ein. „Ich weiß, und danke für das Angebot.“, erwiderte er, dann ging er an Janet vorbei und die war einen Augenblick lang sprachlos. Ein für sie äußerst untypischer Zustand.

Dann wandte sie sich ebenfalls um, ging in Richtung Beth, welche ihrerseits sofort eine freundlichere Mine aufsetzte als es zuvor der Fall gewesen war. Auch Beth hätte sich entspanntere Dinge vorstellen können, als mit Janet gemeinsam zu arbeiten. Oder eher, für Janet zu arbeiten.

„Gut, dann machen wir eben zu zweit!“, verkündete Janet viel zu laut, als dass es nicht jeder im Klassenraum gehört hätte, dabei darauf bedacht sich alle Mühe zu geben, vollkommen normal zu klingen. Sie zog ihren Stuhl zu Beths Tisch herüber, ließ sich darauf fallen und war grade im Begriff, ein Thema anzuschneiden das definitiv nichts mit dem Biologieunterricht zu tun hatte, als sie sah, wer anscheinend Rogers Alternative dazu gewesen war, das Referat mit ihr und Beth zusammenzumachen?

„Echt jetzt?“, stieß sie hervor, mit solch lauter und schriller Stimme, dass die neben ihr sitzende Beth vor Schmerzen das Gesicht verzog. „Was ist denn?“, fragte diese, den Blick dabei auf ihre unterlagen geheftet. Als Antwort bekam sie lediglich ein Schnauben. Anscheinend hielt Janet es nicht für notwendig, ihr den Grund ihrer aktuellen Aufregung zu erklären, und im Grunde war Beth das nur recht. Sie wünschte sich, Janet endlich einmal sagen zu können, dass sie ihre gesamte Art einfach bloß anstrengend fand, doch das brachte sie einfach nicht über sich. Und bis sich das vielleicht einmal ändern würde, war jedes Wort, das Janet nicht aussprach, wie ein Geschenk.

Chapter 12

„Hey.“

Dieses Mal riss Randall die Stimme nicht aus irgendwelchen tiefengründigen Überlegungen; er war viel zu angespannt gewesen um sich in seine Gedankenwelt zurückzuziehen, hatte stattdessen einfach stumm dagesessen, mit gesenktem Kopf und auf die Tischplatte fixiertem Blick, und hatte versucht die wirren, lauten Stimmen um sich herum so gut wie möglich auszublenden.. Ein wenig überrascht blickte er nun auf, seine Mimik drückte eine Mischung aus Verwirrung und Argwohn aus. Er war es nicht gewohnt, angesprochen zu werden, zumindest nicht, wenn der Gesprächspartner dabei nicht klang, als hege er ihm gegenüber eine abgrundtiefe Abneigung. Jedoch wirkte Roger, der da vor seinem Pult stand und ihn, ein wenig unsicher, musterte, nicht im geringsten unfreundlich.

Das änderte jedoch nichts an Randalls Misstrauen. Im Gegenteil.

„Hey.“, gab er knapp zurück, den Blick wieder auf seine Tischplatte fixierend, wobei er Roger weiter aus den Augenwinkeln beobachtete. Wartete darauf, dass er noch etwas sagte, ihm mittelte, was er wollte.

Es dauerte einige Sekunden, bevor Roger schließlich weitersprach, und noch immer klang er kein bisschen gehässig oder derart: „Du hast noch keine Gruppe, oder? Ich wollte nur fragen, ob wir zusammen arbeiten wollen…“

Jetzt wandte sich Randall ihm doch wieder zu. Seine eigene Stimme klang in diesem Augenblick ebenso abwertend, wie er es normalerweise von seinen Mitschülern ihm gegenüber gewohnt war, und das war wohl alles andere als fair, doch er konnte nichts dagegen tun. „Willst du mich verarschen?“

Ja. Es war wirklich unhöflich. Doch war es gleichzeitig eben auch der erste Gedanke, der Randall gekommen war. Und der einzige, den er für logisch hielt.

Roger schien es da jedoch ganz anders zu gehen, vollkommen perplex starrte er Randall an, und da war wirklich nichts anderes als Überraschung in seinem Blick zu erkennen. „…Was?“, fragte er, und vielleicht bildete sich Randall das bloß ein, doch er glaubte, in der Stimme seines Gegenübers ein Zittern zu hören.

Er schloss die Augen. Atmete einmal tief durch. Ja, vielleicht wurde er mal wieder verarscht, wahrscheinlich sogar, aber trotzdem konnte er sich ein wenig Mühe geben, nicht derart aggressiv zu sein. Einfach ruhig bleiben. So, als würde ihn das Ganze gar nicht weiter tangieren.

Also setzte er zu einer Erklärung an, darauf bedacht, ruhig und gefasst zu klingen, was ihm, soweit er selbst das beurteilen konnte auch weitestgehend gelang: „Ich hab doch gesehen, dass du vorhin mit Janet gesprochen hast! Also wage ich doch sehr zu bezweifeln, dass du ernsthaft mit mir zusammenarbeiten willst, wenn sie dir von mir erzählt hat!“

„Ich… wollte nicht…“, versuchte Roger, sich zu erklären, brach dann jedoch ab, als müsse er erst seine Gedanken ordnen.

Ein wenig tat er Randall nun leid. Er machte wirklich nicht den Eindruck, als habe er irgendwelche Hintergedanken, aber was wie sollte Randall sich da sicher sein, er kannte ihn schließlich überhaupt nicht.

Und immerhin hatte Roger mit Janet geredet.

Nichtsdestotrotz, es war wirklich nicht fair, wie er reagiert hatte, das wusste er selbst, und grade hatte er sich entschieden, zumindest etwas ähnliches wie eine Entschuldigung hervorzubringen, als Mrs. Santiagos Stimme die allgemeine Unruhe der Klasse durchschnitt. „Dann setzen sich jetzt alle mal so zusammen, dass ich erkennen kann, wer in welcher Gruppe ist, damit ich euch eure Themen zuteilen kann, und dann holen wir die Laptops zum recherchieren!“

Allmählich ebbte das Stimmengewirr ein wenig ab, Stühle wurden über den Boden gerückt und die Schüler nahmen Platz, und während dieses Prozesses war Randall der festen Überzeugung, dass Roger sich nach seiner schroffen Reaktion doch noch eine andere Gruppe suchen würde. Doch dem war nicht so.

Stattdessen zog Roger sich einen der freien Stühle an Randalls Tisch und setzte sich, wobei er Randall beobachtete als befürchtete er, dass dieser ihn jeden Moment anschreien würde. Allmählich fühlte sich Randall wirklich schlecht.

Als sich alle Gruppen gefunden und mehr oder weniger eindeutig auf ihren Stühlen platziert hatten, schaltete Mrs. Santiago den Beamer ein und eine Liste mit Themen erschien an der Tafel. „Ich gebe dieses Glas mit Zetteln rum, und aus jeder Gruppe zieht eine Person einen Zettel und sagt mir dann, welches Thema sie hat. Alles klar?“ Einzelne Schüler murmelten ihre Zustimmung - was war an dieser einfachen Tätigkeit auch nicht zu verstehen - und während das Glas seinen Weg durch die Gruppen machte, überflog Randall die Liste der Themen. Wenn er ehrlich war, dann hatte er zuvor noch nicht einmal mitbekommen, um welches Thema es überhaupt ging.

„Da!“, blaffte Stacey Holmes, die sich soeben zu Randall umgedreht hatte und ihm das Zettelglas entgegenhielt, ihn dabei mit einem Gesichtsausdruck musternd, als habe sie eine Kakerlake vor sich. Wortlos nahm Randall das Glas an sich, zog einen Zettel heraus und reichte den Behälter weiter nach links. Dann faltete er das Papier auseinander und las halblaut vor: „Zellteilung – Mitose und Meiose“. Na toll., fügte er in Gedanken hinzu und verdrehte dabei die Augen. Über dieses Thema hatten sie in gefühlt jedem Schuljahr mindestens ein Mal gesprochen; als ob es keine anderen Themen gäbe, die man behandeln konnte… aber schön. Zumindest erleichterte das die Recherche um einiges.

„Klingt spannend.“, kommentierte Roger mit leicht sarkastischem Unterton, und erinnerte Randall somit daran, dass er diese Aufgabe nicht alleine bearbeiten würde, was er in der Tat kurzzeitig vergessen hatte. Dieses Mal zwang er sich dazu, sich einen bissigen Kommentar zu verkneifen. Hätte er die Wahl gehabt, dann hätte er lieber alleine gearbeitet, das stand vollkommen außer Frage. Doch hatte er diese Wahl eben nicht, und dies hier war das erste Mal überhaupt in diesem Jahr, dass jemand sich freiwillig bereiterklärt hatte, mit Randall zusammenzuarbeiten. Und so suspekt ihm das auch war, so misstrauisch es ihn machte, so hatte er doch beschlossen nicht ganz so abwesend zu sein. Das war auch der Grund, weshalb er sich dazu durchrang, ein wenig Smalltalk zu halten. „Das Thema hatten wir bestimmt schon fünf Mal oder so. Sollte also nicht allzu schwierig werden…“ Freundlich war definitiv etwas anderes, aber im Grunde war Randall bereits froh darüber, dass es ihm gelang, nicht mehr ganz so aggressiv zu klingen.

Mittlerweile hatten alle Gruppen ein Thema gezogen, das nun leere Glas war zurück nach vorne gewandert und Mrs. Santiago machte sich nun daran, die Namen der entsprechenden Schüler in ihre Liste einzutragen.

Und jetzt konnte Randall nicht mehr anders; dafür, dass er so unendlich müde und gestresst und überhaupt nicht gut drauf war hatte er sich nun verdammt lange konzentriert, doch jetzt schweiften seine Gedanken wieder ab, der Klassenraum um ihn herum verschwand in den Hintergrund und Mrs. Santiagos Stimme wurde übertönt von seinen Gedanken, die so wirr und unstrukturiert waren wie gewohnt… Nur diesmal hatte sich zu den üblichen Fragen, Zweifeln, Vorwürfen und Schuldgefühlen noch eine weitere Überlegung gemischt.

Was würde ihn im Laufe dieser Gruppenarbeit erwarten?

So sehr es auch wirkte, als habe Roger keinerlei gemeine Hintergedanken, so ehrlich er auch wirkte, so wenig konnte Randall doch glauben, dass das wirklich der Wahrheit entsprach.

Roger hatte mit Janet gesprochen. Randall hatte es selbst gehört; hatte gehört, wie Janet all die Gerüchte, die es über ihn gab, in einer Art Best-Of komprimiert von sich gegeben hatte, in ihrer gewohnten überheblichen und gehässigen Art, und wenn man mit Janet über etwas gesprochen hatte, dann konnte man überhaupt nicht mehr unvoreingenommen daran herangehen. Also was sollte das werden?

Randall wusste es nicht, doch was er wusste war, dass es nicht angenehm werden würde. Und er würde sich alle Mühe geben, das, was auch immer passieren würde, mit Hilfe seines Misstrauens möglichst früh zu erkennen.

Chapter 13

Es schneite noch immer nicht.

Das war ausgesprochen bedauerlich.

Er wartete auf den Schnee, seit er aus seinem Schlaf erwacht war, seit drei Tagen und zwei Nächten also, und obgleich es so angenehm kalt war, dass er sich beinahe fühlte wie zuhause, schneite es nicht. Noch nicht einmal die Bäume waren kahl. Hingen zwar nicht mehr so voller Blätter wie noch in jenen unerträglich heißen Sommerzeiten, in denen die Sonne unbarmherzig herabgeknallt war und ihn beinahe um den Verstand gebracht hatte, und das Laub hatte auch bereits eine hübsche, orangerote Färbung angenommen… doch es hing noch an den Bäumen.

Das war ein schlechtes Zeichen.

Es würde nicht schneien, solange die Blätter an den Bäumen hingen, so vermutete er zumindest, und verdammt, wie lange wollten die Blätter denn noch warten, bis sie ihr tristes Dasein endlich aufgaben und sich fallen ließen?

Wie lange, bis der Schnee fallen würde?

Er wusste es nicht. So, wie er so vieles nicht wusste. Und das war ausgesprochen beunruhigend.

Eines der Blätter, das sich nun doch bequemt zu haben schien, sich von seinem Baum zu lösen, landete vor ihm, nur um nach wenigen Augenblicken wieder vom Wind fortgerissen zu werden und in wilden Loopings und Pirouetten durch die Luft zu wirbeln. Beinahe sehnsüchtig blickte er ihm nach. Zumindest der Wind war beinahe wie zuhause. Nicht ganz so kalt. Nicht ganz so heftig. Aber wenn er die Augen schloss, einfach still verharrte, sich auf das Pfeifen konzentrierte… ja. Dann konnte er sich zumindest für eine kurze Zeit einreden, wieder zuhause zu sein.

Doch dafür hatte er nun keine Zeit. Ihm war schwindelig, schwindelig vor Hunger, und wenn er nicht bald etwas zwischen die Zähne bekam, das brauchte er sich überhaupt keine Gedanken mehr darüber zu machen, wann denn der Schnee fallen würde. Denn dann würde er diese Zeit nicht mehr erleben.

Das einzige, was er nach seinem Erwachen zu sich genommen hatte, war irgendein kleines, pelziges Wesen gewesen, das ihm eher zufällig in die Finger gelaufen war und das absolut widerwärtig geschmeckt hatte. Wahrscheinlich war es alt gewesen oder krank oder beides. Doch war er nun einmal kein Jäger, das hatte er bereits feststellen müssen, und somit konnte er es sich schlicht nicht leisten, wählerisch zu sein. Zumal die Wunden, die er sich, kurz nachdem er in diese Gegend geraten war zugezogen hatte, grade erst verheilt waren und zeitweise noch immer schmerzten.

Er hatte auch nach Pflanzen gesucht, die den Eindruck erweckten, eventuell essbar sein zu können, aber es schien hier nichts als einfach Büsche und Bäume zu geben, und ein wenig hatte er auch die Befürchtung, dass er seit geraumer Zeit im Kreis lief.

Verdammt. Wieso war er bloß so unfähig?

Könnten die anderen ihn so sehen, seine Freunde, seine Familie, sie würden ihn auslachen, ihn verspotten, absolut enttäuscht von ihm sein… stopp.

Ein ärgerliches Zittern durchfuhr seinen Körper, seine Finger krallten sich an den Ast des Baumes, auf den er hinaufgeklettert war, um besser sehen zu können.

Solche Gedanken waren in diesem Augenblick absolut nutzlos. Er konnte sich in Selbstzweifeln und Vorwürfen verlieren, aber das würde nicht dazu beitragen, dass er vorankam, im Gegenteil. Wenn er das hier überleben wollte, dann musste er ruhig bleiben. Klar denken. Nicht impulsiv, hitzköpfig und unvernünftig, wie er es stets getan hatte, als er noch zuhause gewesen war, da war das okay gewesen, oder eigentlich eher nicht, hatte eben dieses Verhalten ihn doch in eben jene Situation gebracht, in welcher er sich nun befand.

Aber damals hatte er es sich leisten könne. Jetzt nicht mehr.

Er hatte keine Wahl. Er musste so denken, wie die Erwachsenen es taten, so, wie er es immer für langweilig und albern empfunden hatte, so, wie es nun seine eigene Chance war.

Entschlossen ließ er den Ast los, spannte seinen Körper an und sprang hinunter auf den matschigen Erdboden. Eine heftige Windböe riss ihn gleich darauf beinahe um, und er duckte sich, um gleich darauf die Gelegenheit zu nutzen, die Erde vor ihm nach eventuellen Tierspuren zu untersuchen.

Er hatte wirklich Hunger. Eine Mahlzeit finden, das war erste Priorität, und wenn er dann gesättigt war, dann konnte er überlegen, wie er weiter vorgehen wollte. Einen Plan schmieden.

Damit er endlich weg kam aus dieser fremden, beängstigenden Gegend.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Schwabbelpuk
2019-03-17T00:15:42+00:00 17.03.2019 01:15
Ähm, ich glaube, du hast das doppelt hochgeladen. (Hab mir den 2. Teil ehrlicherweise nicht nochmal durchgelesen, weil der Anfang eins zu eins dasselbe war. Sollte das Absicht sein, tut es mir leid.)
Ansonsten fand ich das Kapitel wie immer sehr spannend. Dass das davor nur ein Traum war, macht es irgendwie gleich viel verständlicher. Oder war es garkein Traum? Hmm...^^ Bin mal gespannt, wie es weitergeht. Sehr gut geschrieben, wie gewohnt.
Antwort von:  ReptarCrane
17.03.2019 01:31
das...ist in der Tatkorrekt. Wow. Ich beeindrucke mich selber! (Schiebe es einfach mal auf meine Tabletttastatur die manchmal ein Eigenleben besitzt und wahrscheinlich den Text zwei mal eingefügt hat...tjaja, die Technik!)
Danke für den Hinweis, habs korrigiert :'D
Von:  Schwabbelpuk
2019-03-14T19:07:31+00:00 14.03.2019 20:07
Wow, ähm...das nenne ich einen Storyumschwung. Damit hatte ich wirklich ganz und garnicht gerechnet. Du hast mich eiskalt erwischt. Jetzt will man nur umso mehr wissen, was zur Hölle da abgeht. Wieder perfekt geschrieben, war echt spannend. Deine Mühen scheinen sich hier wirklich mehr als zu lohnen!
Von:  Schwabbelpuk
2019-03-13T23:30:30+00:00 14.03.2019 00:30
Wow, unfassbar detailiert und liebevoll beschrieben. Man konnte sich perfekt in die Situation hineinversetzen und es ist so geschrieben, dass man einfach wissen möchte, wie es denn weitergeht. Wirklich sehr gelungener Einstieg! Der Schreibstil ist phänomenal, hat wirklich Spaß gemacht. :)
Antwort von:  ReptarCrane
14.03.2019 09:42
Oh vielen vielen Dank! Das freut mich wirklich total!
Das hier ist auch aktuell das Projekt an dem ich am meisten hänge und an dem ich auch aktiv arbeite! Dann hoffe ich, dass es dir auch weiterhin gefällt c:


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