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Jade's Diary

von

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Keine Furcht

Kommen wir zu dem bewegendsten und vorerst letzten Kapitel meiner Vergangenheit: dem Abschied von dir, Mom. Es ist niemals wirklich einfach, jemandem Lebewohl zu sagen, den man über alles geliebt hat. Wenn dieser jemand fortgeht, ohne auch nur ein Wort zu sagen, macht es die Sache nur noch schlimmer. Die Menschen, die dieser Jemand zurücklässt, machen sich Gedanken oder sogar Vorwürfe. Hätten wir sie aufhalten können? Hätten wir irgendetwas sagen können, das nicht bereits gesagt wurde? Sind Dinge unausgesprochen geblieben? Mom? Ich liebe dich, aber wie konntest du so feige sein und deine zwei einzigen Kinder mit der Schuld im Stich lassen?
 

Es ereignete sich nur wenige Wochen nach Dads Tod. Da du dich nicht mehr wie du selbst verhieltst, bat ich an meiner Universität darum, mich aus persönlichen Gründen später im Semester dazu stoßen zu lassen. Man gewährte mir diesen Aufschub. Erstaunlicherweise hatte Nev sich nicht wirklich verändert. Dafür warst du nervlich vollkommen am Ende. Nev sah es. Ich sah es. Doch du wolltest dir nicht helfen lassen. Nun war ich es, die dich zu einer Therapie aufforderte, die du wiederholt ablehntest. Egal wie oft du es aussprachst, ich glaubte dir nie auch nur ein Wort, wenn du wieder einmal beteuertest, dass du mit dem Tod von Dad leben könntest. Ich sah es dir gleich an. Die Tatsache, dass sich dein Mann in einer der Kellerwände befand, beunruhigte dich zutiefst und ließ dich nachts nicht mehr schlafen. Aber du wusstest genau wie ich, dass wir nichts sagen konnten. Sie hätten Nev geholt und weggesperrt. Das hätte ich um keinen Preis der Welt zugelassen. Ich musste ihn beschützen, genauso wie dich. Ich hatte das Gefühl, mit einer Leiche im Keller leben zu können. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei zweien das selbe behauptet hätte.
 

Ich könnte mich jetzt noch dafür verprügeln, dass ich an diesem Montag Nachmittag zugestimmt hatte, mich gemeinsam mit Nev um den Einkauf zu kümmern. Bisher war immer einer von uns zuhause bei dir geblieben. Vielleicht lag es daran, dass wir dachten, dass es dir mittlerweile etwas besser ging. Wir hatten wieder Vertrauen in deinen Zustand gefasst. Zumindest ich. Ich hätte niemals gedacht, dass du zu so etwas fähig bist. Du hattest aufgehört, deine Tabletten zu nehmen. Der Arzt hatte sie dir vor Jahren für deine Nerven verschrieben. Auch wegen der ganzen Sache mit Nevs Ausrastern. Wie kamst du auf die Idee, sie abzusetzen? Gerade zu dieser Zeit hättest du medikamentöse Unterstützung bitter nötig gehabt. Ich weiß noch, dass ich bereits auf dem Rückweg vom Supermarkt ein ungutes Gefühl in der Magengegend hatte, das mich dazu bewegte, Nev zu bitten, etwas zügiger zu fahren. Ich bin mir fast sicher, dass er die selben Gedanken hatte wie ich. Ich weiß noch, dass ich mich in den Sitz krallte und jederzeit bereit war, aus dem Auto zu springen und ins Haus zu stürmen. Wir hatten einen Fehler begangen. Wir hatten dich unterschätzt, Mom.
 

Als wir auf den Hof fuhren, schnallte ich mich ab und stürzte bereits aus dem noch fahrenden Wagen, nur um so schnell wie möglich ins Haus zu gelangen. Nev befand sich einige Sekunden hinter mir. Ich durchkämmte das Erdgeschoss und das Obergeschoss, ohne fündig zu werden. Und als hätte ich es nicht bereits geahnt, führten mich meine Schritte zum Aufgang, der auf den Dachboden führte. Ich ging die Treppe nach oben und wäre sie am liebsten wieder ohnmächtig runtergefallen. Mein Blick traf den deinen ein letztes Mal. Ich blickte in erstarrte Augen, die keine Furcht mehr kannten. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang in meinem Herzen tragen. Ich brach unter deinem kalten Körper zusammen, der leblos vom Dachbalken baumelte und wie ein Geist über mir schwebte. Meine abnormalen Schreie leiteten Nev den Weg, sodass er uns nur wenig später fand und mich versuchte, von deiner Leiche wegzuziehen. Ich wehrte mich aufs Heftigste, sodass er mich packen musste und mich die Treppe nach unten zerrte, während ich aus Leibeskräften schrie. Am Fuß der Treppe setzte er sich auf den Boden, zog mich an sich und drückte mir seine Hand auf den Mund. Er sprach wie so oft kein Wort mit mir. Es gab nichts, was er hätte sagen können, um mich zu beruhigen. Er sorgte bloß dafür, dass die Nachbarn keinen Verdacht schöpften. Ich biss ihm sogar in die Hand, doch wurde zunehmend ruhiger nachdem ich realisiert hatte, was ich getan hatte. Nev ließ mich erst wieder los, nachdem ich fast eine Viertelstunde lang still in seinem Schoss gesessen hatte. Ich sah ihm in die Augen und bewunderte ihn dafür, dass er in solch einer Situation so ruhig sein konnte. Diese Ruhe hatte mich schon immer beunruhigt. Nev erhob sich schließlich, nachdem mein Körper nur noch minimal zitterte und schien wieder nach oben gehen zu wollen. Ich sah ihn nicht an und blickte bloß auf meine Füße. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich fragte, ob ich ihm helfen könne. Er bekam keine Antwort von mir und schien auch nicht auf eine zu warten. Ich verfolgte seine Schritte nicht und konnte nur erahnen, dass er dich gerade vom Balken holte um dich ebenso wie Dad verschwinden zu lassen. Warum schien es ihn so viel weniger zu kümmern als mich? Warum weinte er nie? Warum weinte er nicht einmal bei dir, Mom?
 

Ich hielt mir die Hände vor die Augen, als ich Nevs Schritte und das Rascheln einer Plastikplane hörte, in die er offenbar deinen Körper gewickelt hatte. Ich wollte dich nicht noch einmal sehen. Ich wollte dich niemals so in Erinnerung behalten, doch dieser Anblick brannte sich in meine Augäpfel wie glühende Lava. Ich verbrachte bestimmt noch eine halbe Stunde dort am Fuße des Dachbodens, bevor ich mich auf die Suche nach Nev machte. Zuerst dachte ich, er wollte dich auch in einer der Wände des Hauses verschwinden lassen, doch für dich hatte er tatsächlich einen schöneren Ort gefunden. Unser Garten. Mom? Du hast einen kleinen Teil ganz für dich allein, direkt neben den Tulpen, deinen Lieblingsblumen. Du weißt noch, dass ich dir mal erzählt habe, dass ich Gartenarbeit hasse, oder? Rate mal, wer sich jetzt um deine Tulpen kümmert?

Ich half Nev zumindest das Grab mit Erde zu bedecken und übergab mich danach in einen der Büsche hinterm Haus. Zuerst Dad und dann auch noch du. Eindeutig zu viel für meinen Körper.
 

Es war in der Nacht des selben Tages, dass ich zum ersten Mal Angstzustände in unserem Zuhause hatte. Ich weigerte mich zum Abendessen die Küche zu betreten und verschanzte mich in meinem Zimmer. Den restlichen Abend über ließ Nev mich in Ruhe. Er war nie ein großer Redner, aber er war immer da. Er ging nie weg. Er ließ mich nie allein. Auch wenn ich längst zu alt dafür war, durchfuhr mich in dieser Nacht das Gefühl, nicht allein einschlafen zu wollen und ich suchte Nevs Nähe. Ich passte ihn vor dem Zu-Bett-gehen ab, griff nach seinen Händen und erntete prompt einen misstrauischen Blick. Natürlich ahnte er, dass ich irgendetwas im Schilde führte, doch ich glaube nicht, dass er mit einer solchen Frage gerechnet hatte. Als ich ihn bat, sich einfach nur zu mir ins Bett zu legen, weil ich nicht allein sein wollte, wirkte sein Gesicht zuerst teilnahmslos, bevor er mit den Schultern zuckte und bereits ansetzte, mit nach oben zu kommen. Es war erstaunlich, dass er so etwas einfach so mitmachen würde. Vor allem da wir beide ja mehr oder weniger bereits erwachsen waren. Auf dem Weg zu meinem Zimmer ließ er meine Hand nicht los. Es wirkte auf mich fast so, als wollte er mir damit zeigen, dass ich nicht allein war. Wir waren immer noch zu zweit.
 

Es war vollkommen neu und ungewohnt, jemanden neben mir im Bett liegen zu haben. Ich drehte mich seitlich in seine Richtung und starrte Nev förmlich an, während er auf dem Rücken lag und an die Decke starrte. Erst ein Seitenblick seinerseits brachte mich dazu, den Blick abschweifen zu lassen. Es dauerte nicht lang, bis ich einen seiner Arme in meinem Rücken spürte, der mich vorsichtig an ihn zog und ich legte meinen Kopf behutsam auf seinen Brustkorb. Hätte ich es in diesem Moment nicht gehört, hätte man sich manchmal nicht wirklich sicher sein können, ob er überhaupt ein Herz hatte. Ich gehörte nie zu denjenigen, die diese furchtbaren Dinge behauptet hatten. Er war mein Bruder und ich liebte ihn von ganzem Herzen. Ich liebe ihn immer noch. Und ich hasse ihn gleichermaßen. Diese Nacht erinnerte mich an den Abend, den wir damals als Kinder in meinem Kleiderschrank verbrachten. Nur dass es dieses Mal irgendwie anders war. Wir waren anders. Älter. Kaputter. Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten außer einander.

Sein Körper war so ungewohnt warm und trotzdem konnte ich nicht anders, als mich schutzsuchend an ihn zu klammern. Während einer meiner Arme neben ihm lag, ruhte meine andere Hand auf seinem Brustkorb, nachdem ich mich mit dem Kopf auf seine Schulter zurückgezogen hatte. Mom? Du hast mir mal gesagt, wir würden uns nur an die wirklich wichtigen Dinge noch in 10 Jahren erinnern. Warum kann ich mich dann noch genau daran erinnern, dass Nev mir vor dem Einschlafen eine meiner Haarsträhnen hinter mein Ohr strich? Es war doch nur eine kleine, unbedeutende Geste, die ich im Halbschlaf wahrnahm und die mich bis heute noch verfolgt.
 

Ich weiß noch, dass ich am nächsten Morgen in einer gänzlich anderen Position aufwachte, in der ich eingeschlafen war und Nev wieder vollständig der Alte war. Er beschwerte sich mehrfach bei mir, dass ich ihm nachts zu stark gegen den Hals geatmet hätte und er mich deswegen auf die andere Seite gedreht hätte. Ob er mich mit diesen Banalitäten von der Wirklichkeit ablenken wollte? Nun war es gemeinsam mit deiner Hilfe geschafft, dass ich an meiner Universität anrief und meinen Studienplatz aufgab um in Nevs Nähe bleiben zu können. Ich bewarb mich an einem IT-College in Pasadena und begab mich vor Antritt meines Studienplatzes in mehrwöchige Behandlung in einer Psychiatrie. Ich sprach dort über den Missbrauch in meiner Kindheit, doch kein Sterbenswörtchen von dem Tod meiner Eltern, der die eigentliche Ursache für meinen Besuch in der Klapse war. Doch dieser Abschnitt meiner Vergangenheit hatte nicht nur Schattenseiten. Ich lernte meine beste Freundin Amber kennen, die als Pflegerin in der Psychiatrie arbeitete.Sie zeigte viel Verständnis für meinen Zustand und dass ich nicht über alles mit ihr reden wollte. Doch bereits als sie anbot, mich zuhause zu besuchen, nachdem ich die Klinik wieder verlassen würde, wusste ich, dass es der Beginn von etwas Einzigartigem sein musste. Der Beginn eines weiteren Abschnittes meines Lebens. Nach meiner Therapie trat ich meinen Studienplatz nur wenige Kilometer von meinem Elternhaus entfernt an und machte einige Jahre später einen grandiosen Abschluss, mit dem ich mich selbstständig machte und nun für die verschiedensten Firmen von zuhause aus programmiere. Nebenbei arbeite ich am Wochenende allerdings noch in einer Bar. Schließlich müssen wir mit Nevs und meinem Einkommen das Haus finanzieren und unseren Lebensstil aufrecht erhalten. Das Leben mit Nev war niemals einfach, doch er war und ist meine Familie. Ich würde ihn gegen nichts in der Welt eintauschen wollen, auch wenn er es mir oft schwer macht.
 

Mom? Aus mir ist auch etwas geworden, ohne dass ich meinen Traum leben konnte. Ich stellte ihn für diejenigen zurück, die ich liebte und die ohne mich vereinsamt wären. Du weißt ja, dass Nev kaum das Haus verlässt. Meistens kommt nur sein komischer Kumpel Dustin vorbei. In Kombination sind sie die Pest auf vier Beinen. Schade, dass du den Typen nicht mehr kennen lernen konntest. In seiner Gegenwart könnte man fast meinen, dass Nev aufblüht, auch wenn ich nicht glaube, dass es so ist. Jedenfalls brauchst du dir um uns wirklich keine Sorgen machen. Wir werden mit jeder Situation fertig.
 

Ich vermisse dich...
 

Du gingst fort, ließt uns zurück. Wir bleiben hier, stehen still. Lügen pflastern unseren Weg und Angst zeigen wir nicht. Ohne Furcht gehen wir durchs Leben und finden durch Lügen den Tod.



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