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Jade's Diary

von

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Unschuld

Wenn man das Wort 'Unschuld' in einem Wörterbuch nachschlägt, stößt man zu allererst auf Begriffe wie Unbefangenheit, Unwissenheit und Moral. Als Kind sollte man eigentlich ein Paradebeispiel für diese Begriffe darstellen. Ein unschuldiges Mädchen verurteilt niemanden und geht unbefangen durch die Welt. Ein unschuldiges Mädchen ist unwissend vor dem, was noch kommen könnte, auch wenn es vielleicht nie eintrifft. Ein unschuldiges Mädchen lernt durch seine Eltern den Wert von Moral und weiß diesen zu schätzen. Doch wenn man nach dieser Definition geht, könnte man nicht unbedingt sagen, dass ich jemals wirklich unschuldig war. Und erst recht nicht mehr nach meinem 13. Lebensjahr.
 

Du wirst dich vermutlich nicht mehr daran erinnern, aber es geschah im Frühjahr meines dreizehnten Jahres auf der Erde. Ich bete sogar dafür, dass du dich nicht erinnerst.

Nev wurde in diesem Jahr 18 Jahre alt und diente hin und wieder als mein Chauffeur, der mich zu meinem Cheerleadertraining kutschieren sollte. Ich hatte es im vergangenen Winter endlich ins Juniorteam geschafft und freute mich wahnsinnig. Ich weiß noch, dass wir zusammen im Einkaufszentrum nach farblich passenden Schleifchen zur Uniform gesucht hatten, Mom. Einer der unbeschwerten Tage. Ich liebte es, außerhalb des Hauses mit dir Zeit zu verbringen. Vor allem nachdem Dad wegen seiner Arbeitsunfähigkeit seinen Job verloren hatte und er nur noch zuhause rum lungerte. Wir hatten keine wirklichen Geldprobleme, seine Unzufriedenheit ging einzig und allein von ihm aus. Er war unzufrieden mit seiner Situation und mit sich selbst. Und das projizierte er hauptsächlich auf uns, seine Kinder. Mom? Ich war damals noch zu jung und als ich alt genug gewesen wäre, um dich zu fragen, warst du nicht mehr da. Hat er dich auch geschlagen? Ich bin mir fast sicher, dass Nev mehr dazu weiß, aber ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen. Ehrlich gesagt wollte ich es vielleicht auch lieber gar nicht wissen. Das Thema belastet mich auch nach Jahren immer noch sehr.
 

Dafür schien mir das Cheerleadertraining das zu geben, was ich seit Jahren vermisste: Geborgenheit, Unterstützung und Interesse an meiner Person. Es fühlte sich an, als wäre ich etwas wert. Die Mädchen, die später meine Freundinnen sein sollten, bildeten eine Einheit und ich gehörte dazu. Zum ersten Mal in meinem Leben gehörte ich dazu. Und es fühlte sich unfassbar gut an. Heutzutage würde man vermutlich sagen, ich gehörte zu den 'beliebten Kids'. Eine furchtbare Gruppierung aus heutiger Sicht, aber damals war es nun einmal so. Man hielt sich für etwas besseres und wurde dafür auch noch von allen anderen bewundert. Man fühlte sich besonders, weil die Aufmerksamkeit der anderen einen selbst dazu antrieb. Und diese Aufmerksamkeit war wie eine Sucht. Irgendwann wollte man nur noch bewundert werden und ein Vorbild für andere sein. Gut, man sollte sich generell kein Vorbild an Teenagermädchen nehmen, aber man fühlte sich damals eben wichtiger als man war.

Gerade als ich begonnen hatte, wieder etwas Selbstvertrauen zu erlangen, schien Dad es sich zur Aufgabe machen zu müssen, es wieder zu zerstören. Ich weiß nicht, was ihn dazu trieb. Ich will es auch lieber gar nicht wissen, weil ich mich im Nachhinein über die Maßen schämte. Es war eine Pein, die keine Tochter durch ihren Vater erleben sollte.
 

Mom? Eines Abends nach meinem Training kam Dad in mein Zimmer und drohte mir Schläge an, wenn ich ihm nicht gehorchen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du währenddessen unten in der Küche warst und abgespült hast. Nev war vermutlich in seinem Zimmer. Dad stank stark nach Alkohol und wirkte generell nicht mehr sonderlich zurechnungsfähig. Doch was dann geschah, rechtfertigte auch jegliche Alkoholisierung nicht mehr. Er griff zuerst nach dem, was man wohl noch kaum eine weibliche Brust hätte nennen können, brachte mir Worte entgegen, an die ich mich lieber nicht erinnern möchte und fasste mir schließlich mit festem Griff zwischen die Beine. Sekunden vergingen wie Stunden. Natürlich wehrte ich mich nicht. Ich hatte viel zu große Angst vor den angedrohten Schlägen. Ich verstand ihn nur nicht. Ich verstehe ihn bis heute nicht. Warum konnte er seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas antun? Ein unschuldiges Kind zu beschmutzen, das doch bereits von der restlichen Vergangenheit mit ihm gezeichnet war. Und mit einem Wimpernschlag schien das ganze Selbstbewusstsein dieses kleinen Wesens wie ein Kartenhaus zusammen zu fallen. Direkt über ihrem Kopf. Es blieb natürlich nicht bei diesem einen Mal, Mom, aber ich bin mir fast sicher, dass du genug gehört hast. Falls es dir wichtig wäre: er hat mich nie gefickt. Zumindest nicht mit seinem Geschlechtsteil. Mom? Ich verstehe einfach nicht, wie du so einen Mann lieben konntest. Hat er dich so erfolgreich manipuliert, dass du es nicht von selbst erkannt hast? War die schauspielerische Leistung deiner 13-jährigen Tochter wirklich so überzeugend? Wolltest auch du nicht, dass unsere Familie auseinander fällt, egal um welchen Preis?
 

Du erinnerst dich doch bestimmt, dass ich ab diesem Zeitpunkt immer häufiger krank war und gebrochen hatte. Damit wollte ich ihn von mir fernhalten. Meine spätere Taktik schien allerdings mehr zu fruchten: bei Freundinnen übernachten. Es stimmte nicht, dass ich zu cool war, um mit dir Zeit zu verbringen. Ich wollte einfach nur keine Zeit mit ihm verbringen. Er machte mir Angst und ich ekelte mich vor ihm. Ich brauchte Abstand und diesen suchte ich in jeder freien Minute. Ich besuchte jede schulische Aktivität, ich verabredete mich mit Freundinnen, ich vernachlässigte sogar meinen Bruder und nahm es billigend in Kauf, dass er ihn statt meiner anschrie und schlug. Das ist das Einzige, was ich daran zu tiefst bereue. Dass ich Nev im Stich gelassen hatte. Generell waren wir während meiner Schulzeit nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen. Wir sonderten uns voneinander ab. Er, der Außenseiter und ich, die Cheerleaderin. Jede meiner Freundinnen kannte ihn oder hatte zumindest von seinen Eskapaden in seiner eigenen Schulzeit gehört. Selbst nachdem er die schulische Laufbahn abgeschlossen hatte, wusste jeder, dass ich Neven Mansons kleine Schwester war. Kein sonderlich guter Ruf, aber sie erkannten den Unterschied zwischen uns. Damals war er mir mehr als peinlich, aber wer konnte das schon nicht über seinen älteren Bruder behaupten. Vor allem in der Pubertät. Erst später habe ich mich getraut, mit ihm über die Sache mit Dad zu sprechen. Er wusste, dass er mich auch geschlagen hatte, aber nichts von den sexuellen Übergriffen, die nach meinen Suizidgedanken mit 14 Jahren und meinem häufigen Fernbleiben von Zuhause mit 15 Jahren deutlich abflauten. Nevs Reaktion darauf war wie gewohnt erschreckend ruhig und trotzdem fühlte es sich so an, als wäre er für mich da. Selbst wenn wir nicht das beste Verhältnis in dieser Zeit hatten. Ich vertraute ihm und das war die Hauptsache. Zu diesem Zeitpunkt kann ich mich auch zum ersten Mal an seine blauen Haare erinnern. Ich habe keinen Schimmer, wann er begonnen hatte, sie so zu tragen, doch ich kann ihn mir nicht mehr ohne sie vorstellen. Sie waren ein Teil von ihm und sind es noch. Eine Sache, an die ich mich immer gerne erinnern werde. Egal, wie ruhig er in diesem Moment auf die schlimmste Beichte einer Schwester reagiert hatte, ich wusste ja nicht das, was ich heute weiß. Und das, was noch kommen würde.
 

Mit "Sweet 16" schien zumindest mein Leben wieder in halbwegs normalen Bahnen zu verlaufen. Was man eben normal nennen konnte. Ich ging Dad aus dem Weg, mied den Kontakt zu ihm und leider auch zu dir, Mom. Das war sicher nicht meine Absicht, aber ich hatte keine andere Wahl. Nev beschäftigte sich mit Gelegenheitsjobs nach seinem Abschluss und wurde dafür von Dad als 'Taugenichts' beschimpft. Ich wurde Captain des Cheerleaderteams und rückblickend eine unglaubliche Nervensäge. Beliebtheit und die Bewunderung anderer bringen das Schlimmste in einem Menschen zum Vorschein. Ich entdeckte mein persönliches Biest, jedes Mal aufs Neue, wenn ich in den Spiegel sah. Ich war glücklich, irgendwie. Doch meine Familie hatte ich entzweit. Man konnte nicht mehr wirklich von einem intakten Zusammenleben sprechen und das musst auch du zu diesem Zeitpunkt gemerkt haben, Mom. An sich war nicht ich daran schuld, sondern Dad. Doch ich war der Part, der aktiv den übermäßigen Kontakt zu euch eingeschränkt hatte. Für Nev und dich tut es mir am meisten leid. Mit 16 Jahren war ich ziemlich entschlossen, nach meinem Abschluss Pasadena zu verlassen und nie wieder auch nur einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Ich wollte alles hinter mir lassen um Schauspiel zu studieren. Soweit mein Plan damals. Dass es niemals zur Ausführung kommen würde, wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ein Sturm kam auf, ohne dass ich es bemerkte.
 

Unschuld ist kein Gesetz, das in Stein gemeißelt wurde. Es ist eine Variable, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann und zu verschiedensten Ergebnissen führt. Wie hieß es noch gleich, in dem Buch, das ich nach meiner Schulzeit nie wieder angefasst habe?
 

"Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."
 



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