Zum Inhalt der Seite

Die Jagd

Oder das Streben nach Glück
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Mein Beitrag zum Wettbewerb Zwei Wege.
Ich habe mich für die 'helle Seite' entschieden und außerdem den folgenden Satz zugeteilt bekommen, der in der Geschichte unterzubringen war: „Das ist eine ganz miese Idee!“

Die Geschichte hätte inhaltlich auch ein weiteres Kapitel meiner FF Fünfmal Rekrut, einmal Rebell werden können; zumindest stütze ich mich auf alles, was ich für diese Geschichte erarbeitet hatte. Mir fehlt zurzeit aber definitiv der Elan, um an der anderen Story weiterzuarbeiten.

Diese FF hier kann problemlos als eigenständiges Werk gelesen werden! Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Baby Bruder

August 1993

 

 

Das ist eine ganz miese Idee!“, wiederholte Sammy bestimmt schon zum zehnten Mal, und das so düster, wie ein Zehnjähriger in dem Alter eben klingen konnte.

Dean musste ihm insgeheim zustimmen, aber laut aussprechen tat er es nicht.

Sein kleiner Bruder war seit einiger Zeit so dermaßen neunmalklug, dass es schwer geworden war, ihn zu bändigen. Höchstens von Dad ließ er sich noch den Mund verbieten, Dean hingegen musste sich das letzte Wort inzwischen hart erkämpfen. Sprüche wie ‚Weil ich es sage!‘ oder ‚Ich bin älter als du!‘ zogen längst nicht mehr. Hatten sie, ehrlicherweise, nie.

 

In diesem Moment saß der rebellische Zwerg neben ihm auf der Beifahrerseite des Impalas und eigentlich tat es ganz gut, ihn dabei zu haben. Auch das hätte Dean natürlich niemals laut ausgesprochen, denn in dieser Situation kam es darauf an, dass er, als großer Bruder, eisern die Fassung bewahrte. Auf der Suche nach Mut, Ansporn und vielleicht auch ein bisschen Bewunderung, warf er einen Blick über die Schulter, direkt in Sams erwartungsvoll aufgerissene Augen.

 

Wenn er wüsste, wie ähnlich er Dad gerade sieht …

 

Gut, vielleicht war er vor lauter Aufregung ein bisschen zu fahl um die Nasenspitze, vielleicht wog das forsche Urteil in seinem viel zu alten Kinderblick eine Spur zu schwer, aber darüber hinaus war Sams Ähnlichkeit zu John erschütternd. Ihr Haar hatte den gleichen Braunton, die Form ihrer Augen schien unheimlich ähnlich, die Nase, die Lippen …

Nein, neben ihm saß nicht Dad, der Funktionalität und Gehorsam von ihm erwartete. Neben ihm saß Sam, Sammy, der bis zu diesem Tag noch zu ihm aufsah.

 

Manchmal.

 

Deans Finger klammerten sich um das gezahnte Metall, das unter Sams gespanntem Blick ganz warm und feucht in seiner Hand geworden war. Er gab sich einen Ruck, schließlich wollte er Sam nicht enttäuschen. Vor allem aber nicht sich selbst.

Mit vor Aufregung zitternden Fingern steckte er den angewärmten Schlüssel ins Zündschloss, der fühlbare gezackte Abdrücke in seiner leeren Handfläche hinterlassen hatte, und hielt den Atem an. Halb erwartete er, dass ihr Vater die Verbotenheit seines Handelns bis ins Motelzimmer spüren konnte, in dem er in diesem Augenblick seinen Rausch ausschlief.

 

Blödsinn!

 

Er würde nicht aus dem Motel stürmen, sobald Dean den Motor anließ! Dad schlief tief und fest.

Als er – zu Fuß – von der Tankstelle zurückgekehrt war, war er bereits betrunken gewesen, hatte seine Lederjacke nur über den erstbesten Stuhl geworfen und als er schließlich auf einem der beiden Betten eingeschlafen war, hatte Dean sie angezogen – einfach so.

Als er die Hände in die Untiefen ihrer Tasche geschoben hatte, waren da auf einmal die Autoschlüssel gewesen. Ein, zu dem Zeitpunkt, noch ganz kühles, fast fremdes Heiligtum, das Dad normalerweise nie aus der Hand gab.

Jetzt gehörten die Schlüssel ihm und Sam, zumindest für einen Nachmittag. Ein Schatz, der ein Stück Freiheit verhieß, seit Dean sich Dad übergestreift hat; eine Rolle, die ihm noch etliche Nummern zu groß war. Genau wie die braune Lederjacke, in der er sich sowohl geborgen als auch ein bisschen wie am Ertrinken fühlte. Eine paradoxe Mischung, aber sie passte zur Stimmung, zu ihrem Vorhaben und zu diesem Ort.

 

Sie waren irgendwo in Montana gestrandet, am Arsch der Welt, im hohen Norden der USA. Die Rocky Mountains direkt vor der Haustür, dafür wenig Zivilisation, abgesehen von dem kleinen Kaff, an dessen Rande sie sich für ein paar Nächte zu dritt ein Doppelzimmer teilten.

Dean zog den Kopf ein, während sein Fuß vorsichtig nach dem Gaspedal tastete. Er versank dabei noch mehr hinter dem weiten, aufgestellten Kragen.
 

„Jetzt mach' schon, Dean!“, drängte Sammy, entgegen seiner Warnung von vorhin, und beinahe hätte Dean aufgelacht.

Natürlich war Sam mit von der Partie, wenn es darum ging, etwas zu tun, für das sie noch nicht annähernd alt genug waren. Hauptsache, es gab ihm das Gefühl, dazuzugehören, dabei zu sein – so viel hatte Dean inzwischen begriffen. Er konnte es ja selbst nicht leiden, wenn er Sam fernhalten musste, aber es war ja immer nur zu seinem Besten. Zu groß war die Angst um den kleinen Bruder, die Angst davor, ihn durch die Launen von etwas Übernatürlichem zu verlieren, so wie Mom vor fast zehn Jahren. Sam begriff das alles nicht, er fühlte sich meist nur ausgegrenzt und nicht für voll genommen, und Dean versuchte gar nicht erst, ihm den wahren Grund zu erklären, warum er Sam klein hielt. Leider war es auch das, was Sammy frech und vorlaut und anstrengend machte. Und trotzdem, trotz aller Rebellion, musste sein Bruder noch die Stimme der Vernunft sein, hochmoralisch und viel zu schlau; die Plage, für die Dean alles getan hätte und die irgendwann sicher einmal seinen Untergang bedeutete.

 

„Schnauze, Sammy“, quietsch-brummte Dean und Sam lachte schadenfroh über den abenteuerlichen Ausbüchser seiner Stimme.

Sein Bruder, die Pubertät und besonders der Stimmbruch, sie alle waren Miststücke von der ganz besonders nervigen Sorte und Dean hatte keine Lust, sich auch nur von einem davon die Laune verderben zu lassen. Er war sowieso schon aufgeregt genug.
 

Er trat die Kupplung durch, löste die Handbremse und drehte den Schlüssel im Zündschloss, während er gleichzeitig mit den Zehenspitzen das Gaspedal antippte. Mit viel zu lautem Grollen erwachte der Impala unter ihnen zum Leben. Das Geräusch klang elektrisierend, versprach ihm das Abenteuer seines Lebens – aber es war auch eine Warnung. Und schlimmstenfalls ein Weckruf für Dad. Das Herz hämmerte Dean bis zum Hals, und er biss die Zähne zusammen, als er bei dem Versuch, die Kupplung möglichst behutsam loszulassen, fast einen Krampf bekam.

 

Bitte lass‘ mich nicht den Motor abwürgen, bitte, bitte ...
 

„Behalt' die Tür im Auge!“, befahl er gepresst, nickte in Richtung des Motels und umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen.
 

Okay, Winchester. Alles gut, du kannst das! Denk‘ einfach dran, was Dad dir beigebracht hat!
 

Dean war 14 und natürlich hatte Dad ihn schon ein paar Mal hinters Steuer gelassen. Ein paar kurze Probefahrten, nichts Besonderes, eine kleine Lektion im Anfahren hier, Verkehrsregeln da ...
 

„Bevor du dich nicht um das Auto kümmern kannst, darfst du sie auch nicht fahren!“, hatte John gesagt und ihm gezeigt, wie man die Reifen wechselte, den Ölstand checkte, den Lack wachste, die Ledersitze pflegte und den Motor in Schuss hielt. Das alles lernte er nun schon seit etwa zwei Jahren, seit er zum ersten Mal den Wunsch geäußert hatte, das Auto fahren zu dürfen. Und all diese Lektionen hatten eine Menge Eindruck bei Dean hinterlassen.
 

‚Sie‘, hatte Dad den Impala genannt, und das schon immer; eigentlich, so lange Dean zurückdenken konnte. Das Auto war eine Lady – das fand auch Dean.

 

„Komm schon, Baby!“, flüsterte er, wie ein Stoßgebet an die schwarz glänzende Schönheit gerichtet, als er sie im ersten Gang vom Parkplatz tuckern ließ.

Sobald ihre Reifen den knirschenden Kies des Parkplatzes verlassen hatten und auf Asphalt rollten, seufzte Sam erleichtert auf.
 

„Wir werden so einen Scheiß-Ärger kriegen!“, lachte er mit einem Mal und es klang ein bisschen verrückt und für Deans Geschmack eine Spur zu unbekümmert.
 

„Was macht dich so sicher, dass Dad es rauskriegt?“, fragte er, gab etwas mehr Gas und legte einen höheren Gang ein.

Das Fahren auf der Landstraße, die vom Motel weg und in den nächsten, schäbigen Ort führte, klappte erstaunlich gut und das Auto schnurrte über die richtige Kombination von Geschwindigkeit und Gang Beifall wie ein zufriedener Panther. Er wäre gern schneller gefahren, gerne noch leichtsinniger gewesen. Aber den Impala … nun, geklaut zu haben, reichte. Außerdem hatte er seinen kleinen Bruder neben sich im Auto. Wenn ihn das nicht auf seiner ersten richtigen Spritztour bereits zum umsichtigsten Fahrer der Welt machte!

 

„Weil Dad alles rauskriegt!“, sagte Sam trocken und würgte damit jedes weitere Bedürfnis nach Geschwindigkeit ab.

„Weißt du noch, als er wusste, dass du über Nacht im Casino warst? Du hast sogar dein Bett zerwühlt, damit es aussah, als hättest du drin gelegen und er hat‘s trotzdem rausgekriegt! Außerdem weiß er, wie viel Benzin im Tank ist.“
 

Oh, Shit.

 

An so etwas wie den Benzin- oder Meilenstand hatte Dean in seiner Begeisterung natürlich nicht gedacht. Viel zu verlockend war der Ruf nach Freiheit, Abenteuer und etwas Unbeschwertheit gewesen.

 

„Könnt‘ daran liegen, dass mich die Bullen zu ihm gebracht haben, Sherlock“, brummt-quietschte er trotzdem und ignorierte das dringende Gefühl von ‚Das hier ist wirklich eine ganz außerordentlich miese Idee!‘.

Na toll, jetzt hatte er Sam nicht nur als Beifahrer im Auto, sondern auch noch als ungebetenen Co-Piloten in seinem Kopf.

 

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Sam nur die Achseln zuckte. Dean würde einen Großteil des Ärgers ausbaden müssen, den es, jede Wette, geben würde. Aber Dean war auch Dads Liebling und das milderte das Donnerwetter vielleicht um ein paar Grad.

 

„Mach mal das Radio an, Sammy!“

 

Er ließ seinen Bruder so lange am Regler herumdrehen, bis sie zumindest einen Sender fanden, der das neue Lied von Def Leppard spielte.

‚Two Steps behind‘ schallte in voller Lautstärke durch den Impala und beim ersten „I‘m two steps behind you“ sah Dean unbehaglich in den Rückspiegel, als müsste Dad jeden Moment darin auftauchen.

 

Ohne Auto. Ja, klar.

 

„Kaugummi!“, sagte Sam neben ihm glücklich über die Musik hinweg, nachdem er eine Weile unruhig das Handschuhfach durchwühlt hatte. Offenbar war Dean nicht als einziger von ihnen nervös. Aus dem Augenwinkel konnte er erahnen, wie Sam den Rosenkranz zurück stopfte, der ihm unter anderem bei seiner Inspizierung des Handschuhfachs in den Schoß gefallen sein musste. Das Silbermesser behielt er in der Hand, spielte an der scharfen Klinge herum, so dass Dean es ihm am liebsten weggerissen und ihn angeraunzt hätte, hätte er es gewagt, den Blick dafür lange genug von der Straße abzuwenden.

Schließlich hörte er neben sich das Einwickelpapier knistern, roch den Hauch Minze, auf den ein genüssliches Knatschen folgte, als Sam den harten Kaugummi zerbiss, bis er ihn richtig kauen konnte.

 

„Willst du auch, Dee?“, fragte Sammy weich.

 

„Klar“, brummte er – und diesmal war es wirklich ein Brummen.

 

Er traute sich auch nicht so ganz, die Hände vom Lenkrad zu nehmen, weshalb Sam ihm einen Kaugummi auswickelte und mit großer Selbstverständlichkeit zwischen die Zähne schob. Sie kauten schweigend, lauschten der Musik, während Felder, Wiesen, Kühe und Strommasten an ihnen vorbei flogen. Über ihnen breitete sich ein sturmgrauer Spätsommerhimmel, dessen leuchtend weiße Wolkenberge genau so statisch knisternd und aufgepeitscht aussahen, wie Dean sich im Inneren fühlte. Ihm wurde warm in der Lederjacke; er konnte spüren, wie das T-Shirt, das er darunter trug, an seinem Rücken festklebte.

Die Straße zum Ort führte immer geradeaus und spürbar bergab und er begann sich Sorgen zu machen, wie gut ihm wohl das Anfahren auf dem Rückweg gelänge. Vielleicht erwischte Dad sie auch vorher?

 

Das Ortsschild war bereits seit einer ganzen Weile in Sicht; der Weg war nicht weit, obwohl er Dean wie eine kleine Ewigkeit vorkam. Die Tankstelle, an der Dad sich den Alkohol für seinen Rausch besorgt haben musste, hatten sie längst hinter sich gelassen. Er schob den Kaugummi mit der Zunge von einer Backe in die andere und fasste kurzerhand einen Entschluss.

 

Sam sagte nichts dazu, als er – ohne den Blinker zu setzen – in einen Feldweg abbog.

 

Sorry, Baby!, dachte Dean beschämt, als er merkte, dass er die Kurve ein wenig zu schnell genommen hatte; kleine Steinchen und erdige Grasbüschel wirbelten um das Auto auf und die Fliehkraft drückte sie unsanft in die Rückenlehne der Vorderbank. Dean schaffte es gerade so, den Impala nicht vom Weg abkommen zu lassen. Das nötige Feingefühl fehlte definitiv noch.

 

„Wo willst du hin?“, fragte Sam schließlich ein wenig atemlos.

 

Dean antwortete nicht sofort, sondern konzentrierte sich darauf, das Auto zum Halten zu bringen.

 

„Hierhin.“

 

‚Hierhin‘ bedeutete in diesem Fall auf einen Hügel zwischen Getreidefeldern, von dem aus sie eine passable Aussicht hinunter ins Tal hatten, in dem das Kuhkaff lag, an dessen Rand Dads Jagd sie diesmal geführt hatte. In der Ferne konnte man die Berge sehen; eine lange, gezackte Kette, wie der buckelige Rücken eines schlafenden Drachen, der sich blau vom Grau und Weiß der Unwetterwolken abhob.

 

Von den blauen Bergen kommen wir.

 

Dean stellte den Motor ab und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss, nachdem er sich zweimal vergewissert hatte, dass die Handbremse fest saß. Es hätte gerade noch gefehlt, dass der Impala ihnen in den Graben, oder, noch schlimmer, den Hügel hinab rollte!

Er stieß die Fahrertür auf und fühlte sich wie erschlagen von der drückend schwülen Gewitterluft, die um das Auto herum zu stehen schien; so dick, dass man sie beinahe in Scheiben schneiden konnte. Noch war es trocken von oben, aber die Ruhe hier versprach den Sturm im wahrsten Sinne des Sprichworts.

Erst jetzt, als das tiefe Röhren des Wagens um sie herum verstummt war, merkte Dean, wie angespannt er die ganze Zeit über gewesen war: Sogar die Zehen hatte er bis eben von innen in seine Schuhsohlen gekrallt, so dass sich die Muskulatur in seinen Waden wie Wackelpudding anfühlte, was das Aussteigen zu einer kleinen Herausforderung machte.

 

Sam kletterte auf der anderen Seite nicht ganz so unbeholfen aus dem Auto, knallte die Tür zu und kam zu ihm herum. Das verflixte Messer hielt er immer noch in seinen Händen mit den viel zu langen Fingern.

Schweigend standen sie sich neben dem Auto gegenüber. Dean wusste nicht, wieso, aber er starrte eine ganze Zeit lang darauf, auf Sam und seine Hände, wie er die Klinge in ihnen drehte, während er vor Dean stand und den Blick kritisch nach dem wolkigen Himmel richtete.

 

„Es wird gefährlich auf einem Hügel im Feld, wenn das Gewitter losgeht!“

 

„Hmm“, machte Dean nur.

 

Die Hände waren schmal, wirkten aber trotzdem viel zu groß für Sams schlaksigen Körper. Ein bisschen so, als müsste er erst noch in sie hineinwachsen, wie ein Neufundländerwelpe in seine tatzenartigen Riesenpfoten. Dem war so, seit er in die Schule gekommen war und nun ging der kleine Hosenscheißer schon in die vierte Klasse. Wenn sie denn mal wieder lange genug an einem Ort blieben, um tatsächlich eine Schule besuchen zu können.

Nichtsdestotrotz schien das Messer groß wie ein Schwert in Sams Kindergriff und Dean spürte ein seltsames Stechen dabei in seinem Inneren, seinen kleinen Bruder mit der Waffe herumfuchteln zu sehen, so als wäre das alles nur ein Spiel.

 

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war es das auch für Dean gewesen. Nur ein gewaltiges gottverdammtes Abenteuer, das große Ziel seines Lebens, seine Bestimmung: Der Familienauftrag. Menschen retten, das Böse jagen.

Dad war seit nunmehr zehn Jahren auf der Suche nach dem gelbäugigen Dreckskerl, der Mom auf dem Gewissen hatte und auf dem Weg dahin galt es, so viel Monsterabschaum wie möglich auszumerzen.

Das alles hatte Dad in Deans Augen einmal zu mehr als einem Rächer gemacht, ja, vielmehr zu einem wahren Superhelden.

Inzwischen war sich Dean da nicht mehr ganz so sicher. Nicht, seit er das erste Mal knöcheltief im Blut einer dieser Abscheulichkeiten gestanden hatte, nicht mehr, als er das erste Mal Köpfe rollen sah.

 

Dad war kein Superheld.

 

Dad war ein Soldat und er befand sich im Krieg.

 

Und Sammy stand hier, hier, vor Dean, mit einer echten Waffe in der Hand, die dazu gedacht war, Werwölfe und Ghoule unschädlich zu machen, und redete über das Wetter.

 

Das verschissen gefährliche Wetter.

 

„Gib das her!“, forderte Dean und wollte ihm das Messer aus der Hand nehmen, als Sam mit der Klingenspitze immer wieder seinen eigenen Zeigefinger pikste, wie um zu testen, wie oft er das ohne Folgen tun konnte.

 

Sammy riss das Messer aus Deans Reichweite und hinter seinen Rücken – ein nicht gerade ungefährliches Unterfangen – und sah mit hochgezogenen Brauen zu ihm auf.

 

„Wieso? Ich darf ein Messer haben. Ich habe eigene Waffen!“

 

Das stimmte. Sammy besaß unter anderem eine 45er, mehrere Silbermesser und sogar eine kleine Machete. Die Knarre hatte er von Dad bekommen als er neun war, die meisten der Messer waren alte von Dean, die sich über die Jahre hinweg angesammelt hatten (Silbermesser konnte man nie genug haben!). Die Machete hatte Sam zum letzten Geburtstag bekommen, nachdem er im vergangenen Herbst das erste Mal mit Dad und Dean auf die Jagd hatte gehen dürfen. Dean hatte von diesem denkwürdigen Tag immer noch Alpträume.

 

„Ach, sag bloß!“, sagte Dean abfällig und streckte fordernd die Hand aus, die bis zu den Fingerknöcheln in der viel zu großen Lederjacke schwamm.

 

Sam grinste frech, wich mit dem Messer hinter dem Rücken einen Schritt zurück – und verzog das Gesicht.

 

Dean schnaubte.

 

„Du hast dich gerade geschnitten, oder?“, fragte er kopfschüttelnd.

 

„Nein!“, sagte Sam eine Spur zu schnell und unnatürlich hoch. Er biss sich auf die Lippen und wich Deans Blick aus. Dean ließ die Hand sinken.

 

„Na schön, dann halt nicht.“

 

Er beobachtete Sam aus den Augenwinkeln, strubbelte sich durch die kurzen Haare, wie um die Anspannung der Fahrt endgültig abzuschütteln, und sah sich um. Die Wolkenberge schienen zu wachsen, ballten sich tief über dem Horizont, so dass es aussah, als könnte man über den nahen Bergen die Krümmung des Erdballs sehen.

 

„Guck mal! Hinter den Bergen ist die Welt zu Ende“, sagte Dean leise und grinste. Er zog die Jacke aus und konnte spüren, wie sein T-Shirt am Rücken aus einem einzigen großen Schweißfleck zu bestehen schien. Er zupfte es sich zurecht, bis es nicht mehr so an seiner Haut klebte und breitete Dads Lederjacke neben dem Impala auf dem Feldweg aus.

 

„Quatsch. Hinter den Bergen liegt Kanada“, sagte Sammy und hielt immer noch die Hände samt Messer vor Dean verborgen.

 

„Was du nicht sagst, Columbus!“, frotzelte Dean augenrollend und ließ sich auf die Jacke fallen. Auffordernd klopfte er links neben sich auf das abgewetzte Innenfutter und wartete, bis sich Sam zögerlich zu ihm gesellt hatte.

 

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Dean beobachtete träge, wie sich kleine Gewittertiere in den hellen Härchen auf seinen bloßen Unterarmen verfingen. Irgendwann schnippte er sie weg und merkte beim Aufsehen, dass auch Sam auf seinen Unterarm starrte.

 

„Was?“

 

„Du hast super viele Sommersprossen, Mann!“, sagte Sam andächtig und klang einmal nicht wie Ben Kenobi, Lincoln oder der rebellische Klugscheißer, der er nun einmal war. Er klang nicht einmal wie zehn. Irgendwie … jünger.

 

Dean sah ihn von der Seite an.

 

Und …? War doch schon immer so.“

 

„Glaub‘ ich nicht.“

 

„Doch, ist wahr!“

 

„Hm“, machte Sam und nahm endlich die Hände hinter dem Rücken hervor, legte sie auf seinem Schoß ab. Den Griff des Messers hielt er merkwürdig verkrampft in der rechten Faust, die er wiederum mit der Linken umklammerte. Dean registrierte den steifen Klammergriff am Rande, sagte aber nichts dazu, sondern sah ihm weiter abwartend ins Gesicht.

 

Wenn er Schmerzen hat, wird er sich schon melden!

 

„Dad hat keine Sommersprossen“, stellte Sam fest und erwiderte Deans Blick nun. In diesem Licht leuchteten seine Augen mehr grün als braun und für einen winzigen Moment glaubte Dean, nicht Dad sondern sich selbst in ihnen zu erkennen.

 

Dean zuckte die Achseln und kratzte sich an dem Arm, der wohl indirekter Auslöser für dieses seltsame Gesprächsthema gewesen war. Dad war vom Hauttyp her eigentlich recht dunkel, wurde schnell braun. Dean selbst war das genaue Gegenteil. Aber sie jagten meist bei Nacht, da war Sonnenbrand ein eher seltenes Problem ihrer Familie. Was sollte er also groß dazu sagen?

 

„Hatte Mom Sommersprossen?“, fragte Sam schließlich vorsichtig und Dean sah von seinem Arm auf und wieder ins Gesicht seines kleinen Bruders. Es war ihm deutlich anzumerken, dass sie jetzt zum Kern von Sammys Anliegen vorgedrungen waren, so verlegen und gespannt, wie er zu Dean aufschaute.

 

Dean seufzte leise. Eigentlich dachte er gern an Mom, aber über sie zu sprechen, fiel schwer. Vor allem natürlich, wenn Dad in der Nähe war.

 

„Weiß nicht mehr“, sagte er ehrlich, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte.

„Kann mich nicht erinnern. Aber – sie hatte ziemlich helle Haut. Und, hmm … im Gesicht hatte sie keine.“

 

Sam nickte stumm und sah Dean weiterhin an, musterte sein Gesicht so intensiv, dass er sich zu fragen begann, ob Sammy versuchte, seine Sommersprossen zu zählen.

 

Was?“, fragte er wieder, diesmal eine Spur schärfer.

 

Sam zuckt ertappt zusammen, als habe er das eigene Starren gar nicht bemerkt, und seine Hand verkrampfte sich wie automatisch ein wenig fester um den Griff des Messers. Er verzog augenblicklich das Gesicht.

 

„Jetzt zeig schon her!“, ließen Deans verfluchte Stimmbänder ihn quietschen und er zog Sams Hände auseinander, bis Sam das Silbermesser endlich, endlich zwischen seinen Schuhen ins Gras fallen ließ.

Ein kleines Rinnsal Blut sickerte aus der geschlossenen Faust und Dean atmete hörbar aus, zwang mit Gewalt seine Finger auseinander.

 

„Stell dich nicht so an, lass mich sehen!“, forderte er und Sam ließ es geschehen, zeigte ihm wortlos den Schnitt an der Fingerkuppe. Er war nicht tief, aber leider waren Fingerkuppen gut durchblutet und machten selbst kleine Verletzungen zu einer großen Schweinerei. Und taten außerdem ziemlich weh.

 

„Oh, Mann! Idiot! Sag doch was!“, murrte Dean und durchstöberte mit einer Hand seine Taschen nach einem Taschentuch, während er mit der anderen Sams blutige Hand festhielt, die auf dessen Jeans zu tropfen begann.

 

„Selber Idiot!“, murmelte Sam beleidigt zurück.

 

„Du … Miststück! Nach oben halten, nicht runter hängen lassen“, befahl er.

 

Sammy hielt, überraschenderweise, tatsächlich die Klappe und tat sogar, was Dean ihm sagte. Natürlich fand er kein Taschentuch, schon gar kein sauberes, und er wusste ziemlich genau, dass sie im Auto nur riesige Mullverbände hatten – keine Pflaster für Wehwehchen dieser Art. Bei Verletzungen, die man sich auf der Jagd zuzog, brauchte es mehr als ein verflixtes Pflaster.

 

Dean rappelte sich auf und ging um das Auto herum zum Kofferraum, um den Verbandskasten zu suchen. Mit dem standardisierten, vorschriftsmäßigen Autoverbandskasten hatte er nicht mehr viel gemein, aber nachdem er eine Weile darin herumgekramt hatte, fand er schließlich Wundauflagen und eine kleine Rolle Verbandspflaster. Er schloss den Kofferraum wieder und ging mir seiner Ausbeute im Arm zurück zu Sam.

Sein kleiner Bruder hatte diesen Hundeblick aufgesetzt, bei dem es Dean schwer fiel, angepisst zu bleiben, aber er wollte es ihm auch nicht zu einfach machen. Demonstrativ vor sich hin grummelnd ließ er die Sachen auf die Lederjacke fallen und griff wieder nach Sammys Hand. Dean musterte den Schnitt kurz, schätzte mit den Augen die Größe für den improvisierten Verband ab, ließ die Hand erneut los und machte sich an die Arbeit.

Jeder seiner Griffe war routiniert, bis zur Erschöpfung mit Dad eingeübt; vorsorglich, aber leider auch schon mehrfach im Ernstfall erprobt. Wenn es hart auf hart kam, wusste Dean zu funktionieren – und wenn es nur für einen blutigen Finger war. Er packte die Wundauflage aus ihrer sterilen Verpackung, faltete sie in der Mitte einmal und wickelte sie sorgsam um Sams Fingerkuppe und die gesamte obere Hälfte des Fingers herum.

 

„Festhalten“, trug er auf und ließ Sam abermals los, um von der kleinen Pastikrolle einen Streifen Klebeband abfummeln zu können.

 

„Loslassen!“

 

Zweieinhalbmal passte der Streifen um Sammys Finger, den er nun brav ausgestreckt vor Deans Nase hielt, als wollte er nach Haus‘ telefonieren, wie E.T. der Außerirdische.

 

Dean begutachtete sein Werk kurz und nickte dann fachmännisch.

 

„Fertig.“

 

Sam hielt seinen Zeigefinger immer noch erhoben und betrachtete ihn abwesend. Er sah nicht so aus, als hätte er Schmerzen, wirkte mit einem Mal aber seltsam aufgewühlt.

 

„Hey, Sammy“, sagte Dean weich und war froh, dass seine Stimme ausnahmsweise kein Quietschkonzert veranstaltete.

„Ist nur ein kleiner Schnitt. Halt‘ die Hände sauber und du kannst den Finger behalten!“

Er versuchte, witzig und locker zu klingen, aber seine Worte schienen Sam gar nicht zu erreichen.

 

„Sam?“

 

Sam holte tief Luft, so als wöge das, was er nun zu sagen versuchte, wie ein Gewicht in seinem Inneren, das er nur mit Mühe in Worten aus sich heraus stemmen konnte.

 

„Hab‘ ich irgendwas von ihr? Von Mom?“, fragte er nach einigem Zögern und so leise, dass Dean ihn kaum verstand.

 

„‘n ‚Danke‘ hätt‘s auch getan“, sagte Dean perplex, weil ihm auf die Schnelle keine bessere Antwort einfiel.

 

Fieberhaft überlegte er, ob ihm irgendeine Gemeinsamkeit zwischen Mom und seinem kleinen Bruder in den Sinn kam, irgendetwas, an das er sich erinnern konnte.

 

„Wie kommst du darauf?“, fragte er, um Zeit zu gewinnen.

 

„Einfach so. Du … du hast ihre Augen.“

 

Obwohl immer noch ausgesprochen leise, klang es nicht wie eine Frage und gerade deshalb konnte Dean nicht sofort etwas darauf erwidern. Er musste erst einmal verdauen, was Sam ihm da vorwarf.

Zumindest fühlte es sich genau so an: Wie eine Anschuldigung, dass Dean nicht nur mehr Zeit mit Mom hatte verbringen dürfen, sondern dass er auch mehr von ihr mit auf den Weg bekommen hatte.

 

Als würd‘s das irgendwie leichter machen.

 

„Das ist so was von nicht wahr! Woher willst du das überhaupt wissen, hm?“, sagte er abwehrend.

 

Das schlimmste daran war, dass Dean überhaupt nicht mehr wusste, was für Augen Mom gehabt hatte. Die wenigen Fotos, die er besaß, waren alle so verblichen, zu unscharf oder viel zu klein. Man konnte darauf lediglich erkennen, dass ihre Augen hell gewesen sein mussten, aber ob nun grau oder blau oder eine Mischung – so wie Sams, dessen Iriden in jedem Licht anders aussahen – war nahezu unmöglich zu sagen.

 

Sam starrte immer noch auf seinen Zeigefinger, hielt ihn hoch, so wie er es ihm aufgetragen hat, und mied Deans trotzigen Blick.

 

„Dad hat das gesagt“, behauptete er und wirkte mit einem Mal irgendwie verbissen. Endlich ließ er die Hand mit dem verbundenen Finger sinken, verbarg sie im Sitzen zwischen dem Oberkörper und seinen angewinkelten Knien.

Deans Magen machte bei seinen Worten einen kleinen, nervösen Salto und das Gefühl war keines von der angenehmen Sorte.

 

„Du hast mit Dad über Mom geredet?“, fragte er alarmiert. Sam musste von allen guten Geistern verlassen gewesen sein; wenn es nicht darum ging, Mom zu rächen, war sie als Thema das mit Abstand größte Tabu vor ihrem Vater, das Dean sich vorstellen konnte.

 

Und Sammy weiß das!

 

„Wann? Wieso? Gott, Sam, bist du bescheuert?“

 

Dean flüsterte fast, so, als könnte Dad ihn sonst hören. Aber es war nur Sam, der neben ihm saß.

Sam, der ein bisschen zu sehr wie Dad aussah. Sam, der Dean ein klein wenig an sich selbst erinnerte. Sein blöder, kleiner Bruder, der doch hinter all dem noch so viel Sam war, dass Dean sich zu fragen begann, wo er nur all diese Unmengen an Persönlichkeit her nahm. Wer hatte ihm das alles beigebracht?

 

Mom, vielleicht?

 

Ja, vielleicht war es genau das, was er von ihr geerbt hatte. Das konnte er ihm natürlich nicht sagen.

 

In der Ferne war ein erstes, leises Grollen des Unwetters zu hören. Sie ignorierten es. Sam schob trotzig das Kinn vor und schwieg. Dean hätten ihn gern geschüttelt; wieso, wusste er nicht genau. Vielleicht, weil Sam ein Talent dazu hatte, Fehler zu finden, Schwächen aufzudecken, ins Fettnäpfchen zu stolpern, aber anderen dabei eine Lehre zu erteilen. Mit Sam zu sprechen, war manchmal so unbequem. Dabei war Sam erst zehn. Wie sollte das einmal werden, wenn er älter war? Wenn Dean älter war? Scheiße, er kam sich ja jetzt schon lächerlich neben seinem kleinen Bruder vor!

 

„Hör zu“, sagte Dean schließlich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die unter dem minzigen Kaugummi-Aroma prickelten.

 

Keiner von uns hat irgendwas von Mom … Nichts, was wichtig ist, jedenfalls! Klar?“

 

Er starrte Sam so lange und so unnachgiebig an, bis dieser sich irgendwann zu einem knappen Nicken herabließ. Sie wussten beide, dass Sam ihm nicht wirklich zustimmte, dass es bei ihm unter der Oberfläche brodelte und er nur nach dem nächsten Aufhänger suchte, um Dean offen widersprechen zu können. Und sie wussten beide, dass sie sich langsam, aber gewiss Grenzen näherten, unaussprechlichen, unüberschreitbaren Mauern, wie Teufelsfallen im Geiste. Nur war noch nicht ganz klar, wessen Grenzen.

 

„Du bist du. Einfach nur du, Sammy, nur du selber! Pass‘ … pass‘ einfach nur auf, dass du nicht wirst wie Dad und alles ist gut.“

 

Dean sah es nach seiner Ansage hinter Sams Stirn arbeiten. Was seltsam war, denn eigentlich hatte er mit einer schnellen Retourkutsche gerechnet. Überrascht glaubte er, statt Trotz so etwas wie Irritation auf seinem Gesicht zu erkennen. Das ferne Grummeln schien sich zu nähern, war aber noch nicht nahe genug, um wie echter Donner zu klingen.

 

„Warum willst du dann wie Dad sein, Dean?“, fragte Sam.

„Versteh‘ ich nicht. Ich darf‘s nicht, aber du willst es?“

 

Den unausgesprochenen Vorwurf hörte er so deutlich heraus, als würde er Dean ins Gesicht schreien:

 

Ich darf nicht wie Mom oder wie Dad sein, aber du bist wie beide? Das ist unfair!

 

Jaah, unfair, dachte Dean verbissen.
 

„Ich will nicht wie Dad sein“, sagte er laut und sah geradeaus. Der Blick aus Sammys Augen war mit einem Mal schwer zu ertragen.

 

Die blauen Berge vor ihnen schienen vor ihnen verschwunden zu sein, wie verschluckt von einem grauen Schleier; es war diesig am Horizont geworden. Ein paar Meilen entfernt musste starker Regen eingesetzt haben. Dean registrierte die veränderte Aussicht kaum, spürte Sammys neugierigen Blick dafür viel zu intensiv auf sich lasten, dem er immer noch auswich.

 

„Wirkt aber so“, murmelte der Quälgeist stur.

 

Dean holte tief Luft. Nun war er derjenige von ihnen, der das Gefühl hatte, seine nächsten Worte wögen unheimlich schwer; beinahe zu viel, um sie auszusprechen.

 

„Dad braucht … Hilfe, Sammy. Bei der Jagd und allem. Wir haben uns, Dad hat überhaupt keinen. Er … Ich glaub‘ manchmal, er braucht jemanden, der ihn versteht. Und … und das versuch‘ ich für ihn. Ich versuche, so zu sein, dass … dass es ihm – dass es uns hilft. Schnallst du das?“

 

Sammy zog den Nasenrücken kraus. Er sah wenig überzeugt, aber gleichzeitig auch ziemlich niedlich dabei aus. Wieder etwas, das ihn jünger erscheinen ließ als er tatsächlich war und dieser Anblick tat unbeschreiblich gut. Doch die Illusion hielt nur an, bis er erneut den Mund aufmachte, denn die nächste Frage war so forsch, dass sie eigentlich nicht aus dem Mund eines Zehnjährigen hätte stammen dürfen:

 

„Verstehst du ihn denn?“

 

Treffer, versenkt.

 

Dean seufzte und verdrehte die Augen.

 

„Keinen Schimmer – manchmal? Vielleicht …? Ich – nein“, brummte er schließlich, so tief es seine unzuverlässigen Stimmbänder ihm derzeit erlaubten.

Und manchmal war das … wirklich beeindruckend tief, so wie zufälligerweise in diesem Moment.

 

„Nee. Eigentlich versteh‘ ich ihn meistens nicht.“

 

Und das war die Wahrheit. Er begriff, dass Dad traurig war, dass diese Trauer eine blinde Wut geschürt hatte, die an manchen Tagen leichter zu ertragen war, als die Leere, die Mom in ihrem Leben hinterlassen hatte. Was er nicht verstand war, warum Dad nicht mehr der war, den er einmal gekannt zu haben glaubte. Und dabei kannte er den neuen Dad inzwischen schon länger als den, der John mit Mom zusammen gewesen war. Dieser neue Mann, der Dad geworden war, war schwer einzuschätzen, beinahe unberechenbar. Fast so, als könnte Dean ihn überhaupt gar nicht richtig kennenlernen, ganz gleich, wie lange er an seiner Seite durchs Land reiste. Der Mann, der Dad jetzt war, war nicht unfreundlich, aber auch nicht nett. Er war selten anwesend, weder körperlich wie auch sonst in jeder Hinsicht, aber er sprach viel von Familie. Was er tat, tat er aus Liebe (sagte Onkel Bobby), aber wenn Dean daran dachte, wie er mit einer Machete ein halbes Dutzend Vampire enthauptete, fiel es ihm schwer, das ‚Liebe‘ zu nennen. Zumindest hatte er sich die immer anders vorgestellt. Aber die Filme waren Schwachsinn (sagte Dad) und die ganzen Lieder stumpf und ohne Bedeutung.

Dean war nicht dumm, im Gegenteil – und er hatte eine Menge Fragen. Aber im Gegensatz zu seinem Bruder füllte er seine Ratlosigkeit mit dem, was Dad ihnen beibrachte.

 

Menschen retten, das Böse jagen.

 

Nur, weil er es nicht verstand, hieß das nicht, dass er es hinterfragen musste. Um Sammy willen, zu ihrer aller Wohl, für Dad – er musste nicht verstehen. Er musste funktionieren.

 

Statt Trotz oder Genugtuung oder womit sein Rabenaas von Bruder sonst noch hätte reagiert haben können, nahm er Deans Antwort hin, ohne darauf herumzureiten. Eine Zeit lang saßen sie stumm nebeneinander. Dean spürte den Wind, der plötzlich, überraschend kühl, an den Seiten des Impalas entlangstrich und unter sein verschwitztes Shirt fuhr. Er bekam eine Gänsehaut.

 

„Und … verstehst du mich?“

 

Dean lachte überrascht auf.

 

Was für eine bescheuerte Frage!

 

„Manchmal, Sammy, manchmal“, sagte er, ohne darüber nachzudenken. Er musste Sam nicht verstehen. Das wäre sowieso viel zu hoch für ihn gewesen. Er musstet bloß auf ihn aufpassen und sich um ihn kümmern.

 

Erste Tropfen klatschten hinter ihnen aufs Autodach. Nur vereinzelt, aber so laut wie Trommelschläge auf dem durch die Temperaturen aufgeheizten Lack.

 

„Ah, verdammte Scheiße, die Rückfahrt wird ‘n Traum“, fluchte Dean.

 

Er rappelte sich auf, klaubte auf dem Weg das vermaledeite Silbermesser zu Sams Füßen mit vom Boden.

 

„Aufstehen, komm schon!“

 

Sam schnappte Dads Lederjacke und sie kletterten ins Auto – gerade rechtzeitig, bevor ein gewaltiger Platzregen einsetzte. Sie schlossen die Türen hinter sich, verriegelten sie sogar von innen, als würde sich das Unwetter auf diese Weise noch ein bisschen besser aussperren lassen.

Es regnete mit einem Mal so stark, dass die Welt draußen vor den Scheiben verschwamm. Wasser lief wie in Sturzbächen an den Fenstern hinab, als hätten sie in einer Autowaschanlage und nicht im freien Feld geparkt. Das Grummeln des Donners war zu einem nahen Knallen geworden, das fast unmittelbar auf jedes grell zuckende Licht folgte. Es regnete so stark, dass sie die Blitze nicht sehen konnten, bloß ihren unruhig flackernden Schein durch die beschlagenen Fensterscheiben.

 

„Das reicht, Dean“, sagte Sam und musste fast über das Getöse des Unwetters auf dem Autodach hinweg schreien.

 

„Find‘ auch!“, schrie Dean zurück.

„Kann so nicht zurückfahren ...“

 

Seine Schwäche zuzugeben, war nicht schön, aber lieber das, als dass sie einen Unfall bauten, weil er seine Fahrkünste überschätzte. Dad war unter Garantie jetzt wach und würde schnell merken, dass der Impala und seine Kinder verschwunden waren. Besser, wenn er sie bei ihrer Zusammenkunft nicht aus einem Straßengraben fischen musste.

 

Sam rutschte auf der Vorderbank des Autos ganz nah an Dean heran. Für einen Moment fragte er sich irritiert, ob Sam vielleicht Angst vor dem Gewitter hatte. Immerhin hatte er vorhin noch große Töne über die Gefahren im freien Feld gespuckt …

 

Sam umfasste Deans Arm mit Nachdruck.

 

„Ich meine, was du davor gesagt hast“, sagte er ihm direkt ins Ohr.

 

„Dass du mich manchmal verstehst.“

 

Dean wandte den Kopf, sah seinem Bruder in die Augen, die jetzt tiefbraun schimmerten. Ein bisschen wie Johns – und doch ganz anders.

 

„Ja …?“

 

„Das reicht, Dee.“

 

Er ließ Deans Arm los, aber rutschte nicht wieder von ihm weg. Stattdessen ließ er den Kopf gegen Deans Schulter sinken und gemeinsam lauschten die Brüder dem Unwetter, das sich über ihnen entlud, wappneten sich für das andere, das noch folgen würde, sobald sie wieder zurück im Motel waren.

 

„Du reichst.“

 

Dean betrachtete die kleinen, dunkelroten Sprenkel, die Sammys blutender Finger auf dessen Jeans hinterlassen hatte und breitete schließlich Dads Jacke über sie beide aus, so lange, bis die Welt draußen, vor Baby, aufhören würde, unterzugehen.

 

Ein bisschen, wie Ertrinken.

 

Aber paradoxerweise fühlte er sich geborgen dabei.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Natsuno
2019-02-09T12:51:33+00:00 09.02.2019 13:51
so schön geschrieben, konnte mir das die ganze Zeit bildlich vorstellen
einfach toll :3
Antwort von:  Platypusaurus
03.03.2019 15:08
Vielen lieben Dank, das freut mich sehr! :)


Zurück