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Hin und her gerissen

zwischen Liebe und Freundschaft
von
Koautoren:  Jevi  Meitantei

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11. Januar - Erstens kommt es anders und zweitens schlimmer

Weihnachten war der erste Tiefschlag. Der Zweite würde folgen – ohne, dass sie es ahnten.

Angefangen hatte es damit, dass Riina spurlos verschwunden und Sêiichî zutiefst beunruhigt gewesen war, so dass er sogar mit Kōji darüber geredet hatte. Es stellte sich heraus, dass ein Freund aus Amerika sie verschleppt hatte, wie Sêiichî noch behauptet hatte. Er sei sogar ihr bester Freund, hatte sie gesagt, aber es sei nichts passiert. Das wollte er ihr mal so glauben. Während sie sich um diese Kleinigkeiten Gedanken machten, fehlte von einer Klassenkameradin jegliche Spur.

Der Januar begann mit Fehlzeiten, doch da es sich um jemanden handelte, den kaum einer leiden konnte, außer merkwürdige Typen – Naru würde Sêiichî wohl zu ihnen zählen – ignorierte man das. Nur Sêiichî blickte immer wieder auf den leeren Schülerplatz und fragte sich, was mit ihr los war. Nach zwei Wochen fragte er direkt einen Lehrer, der ihm auch nichts Weiteres sagen konnte. Außer, dass ihr Bruder sie entschuldigt hatte. Er sei von außerhalb zu Besuch, um seine Schwester zu pflegen. Ihre Eltern waren auf Geschäftsreise, da musste er sich um die Kleine kümmern.

Obwohl man ihm versicherte, der junge Mann würde sich gut um Schwesterchen kümmern, ließ ihm die Sache keine Ruhe und er entschloss sie zu besuchen. Also machte er sich des Nachmittags auf den Weg zu ihr. Ryochi mochte sie nicht und auch bei den Anderen war sie wenig beliebt. Nachdem sie Sêiichî in der Vergangenheit schon beinahe gestalkt hatte, würde keiner verstehen, dass er sie trotzdem besuchen wollte.

Seine Versuche auf sich aufmerksam zu machen, wurden ignoriert. Er klingelte und klopfte mehrmals, fast zehn Minuten lang, doch niemand öffnete ihm.

Ein Postbote, der zufällig vorbeikam, entschloss schließlich den Jungen aufzuklären.

„Junger Mann, Sie werden hier niemanden antreffen“, sagte er und Sêiichî drehte sich zu diesem herum.

„Wie meinen Sie das?“

„Hier hat sich vor einigen Tagen ein regelrechtes Drama ereignet, es war schrecklich.“

„Wie? Was ist hier denn vorgefallen?“

„Einbrecher haben sich ins Haus geschlichen und den Bruder von Niiza-san brutal hingerichtet.“

„Wie bitte?“ Der Schwarzhaarige rannte zu ihm und wirkte sichtlich aufgewühlt. „Und wo ist sie jetzt?“

„Die Nachbarn sagten mir nichts Genaueres, nur dass sie unter Schock stünde und sich im Klinikum befindet. Sie mussten sie psychologisch betreuen. Sind Sie ein Freund?“

„Ein Klassenkamerad. Danke für die Auskunft.“ Brutal hingerichtet – automatisch taten sich ihm blutige Bilder vor dem geistigen Auge auf. Er dachte über diese Sache eine Weile nach und entschied nachzuforschen, um herauszubekommen, in welchem Klinikum sie war. Dort würde er sie auf jeden Fall besuchen und ihr sein Beileid aussprechen. Soweit ihm bekannt war, hatte sie ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Halbbruder. Allein die Vorstellung, dass seinen Geschwistern so etwas Grausames angetan werden würde, ließ es ihm ganz schlecht werden. Nicht einmal seinen richtigen Bruder wollte er brutal hingerichtet sehen. Wenn er gewusst hätte, wie bald sie sich wiedersehen würden, hätte er den Gedanken an ihn vermieden…

 

Am Nachmittag hatte Sêiichî das Krankenhaus ausfindig gemacht, in dem sie lag. Völlig abgeschottet; er durfte nicht einmal zu ihr. Völliger Zusammenbruch hörte er die Ärzte sagen. Wenn er etwas herausbekommen wollte, fand er das immer raus, auch wenn sie nicht redeten. Er belauschte die Ärzte. Einer von ihnen kam ihm schon von Weitem bekannt vor, doch hatte er ihn noch nicht in einem Arztkittel gesehen. Er ging nicht etwa hin, sondern belauschte auch ihn, da sie bei weitem noch nicht so bekannt miteinander waren, wie sie es noch werden würden…

„Die Sache scheint dich ganz schön mitzunehmen. So etwas passiert öfter, als du glaubst, Ashida-san. Den Verletzungen zu urteilen, hat sie versucht sich zur Wehr zu setzen, da ist er völlig ausgetickt und hat sie wie ein Vieh im Keller gehalten. Du musst unbedingt behutsam mit ihr umgehen. Finde erstmal raus, was ihr noch so fehlt. Sie redet kein Wort, so traumatisiert ist sie. Du bist doch ein sehr einfühlsamer Mensch, vielleicht findest du noch ein bisschen mehr heraus. Schade, dass die ihn sofort getötet haben…“ Was genau hinter diesen Worten steckte, wusste Sêiichî zu dem Zeitpunkt nicht, der junge Mann jedoch wusste es. „Na, wenigstens ist der Perverse nicht mehr da, um ihr noch mehr anzutun“, sagte er nachdenklich und nickte dann. „Ja, ich kümmere mich drum, immerhin handelt es sich um eine Verwandte, einer unserer Leute.“

„Ich verlass mich auf dich“, sagte er wenig später und ließ ihn allein zurück. Der Blick, den er ihm hinterherwarf, hatte etwas Seltsames, als hätte er was zu verbergen.

Sêiichî würde behaupten, dass er diesem Typen, der dabei getötet worden war, keine Träne nachweinte, es kein bisschen bedauerte. Nachvollziehbar. Er selbst war einfach nur geschockt. Ihm war Yoshio ein paar Mal in Kyoto begegnet. Aber, dass er seiner Schwester etwas antun würde, hätte er nicht geglaubt.

Kurz, bevor der 21-jährige zu ihr ins Zimmer gehen konnte, sprach er ihn doch an.

„Was für ein Zufall.“

Erschrocken drehte sich der Angesprochene herum und staunte ebenfalls nicht schlecht, war aber höchst misstrauisch.

„Was machst du denn hier? Zufall? Daran glaube ich nicht.“ Schon gar nicht, wenn diese Zufälle mit Personen zu tun haben, mit denen Vermouth zu tun hat. Er lächelte freundlich und ließ sich nichts weiter anmerken.

„Was machst du hier im Krankenhaus wirklich?“

„Eine Bekannte – ich hatte mich schlau gemacht. Sie ist seit Tagen verschwunden. Die Nachbarn haben mir dann erzählt, dass ihr Bruder eiskalt umgebracht wurde. So, wie sie klangen, war es ein einziges Massaker, richtig brutal. Saki Niiza ist ihr Name, weißt du mehr darüber?“

„Wie kommst du darauf?“ Sofort blockte der junge Arzt ab, er wollte nicht über diese Geschichte reden. Hat der uns belauscht? Gefiel ihm nicht, er ließ sich nicht gern ausspionieren.

„Ist das nicht ihr Zimmer?“

„Der Arzt hat Anweisung gegeben, dass niemand – ich betone – niemand – außer das Krankenhauspersonal zu ihr darf. Sie ist in keinem guten Zustand. Bitte geh jetzt wieder.“

„Kann ich nicht doch kurz zu…“

„NEIN!“ fuhr man ihn scharf an. „Geh!“

Kenichi öffnete die Tür und schloss sie direkt vor der Nase des Anderen.

„Also wirklich… Was läuft hier für ein Spiel ab?“

Er entschloss jemanden zu fragen, der ein bisschen williger sein würde, zu reden – zumindest glaubte er das in diesem Moment. 

 

Zu seinem Leidwesen hatte sie das Hotel gewechselt und er musste zunächst einmal sich bei ihr melden, um zu erfahren, wo sie sich im Augenblick aufhielt. Zwar schaffte er es, ein Treffen mit ihr zu arrangieren, aber gleich, als er sie traf, hatte er das Gefühl, sie war mit den Gedanken irgendwo, aber keinesfalls anwesend hier bei ihm.

„Was hast du gesagt, Sêiichî, kannst du was wiederholen?“ Er stöhnte genervt, das konnte ja nicht ihr Ernst sein?

„Ich fragte, ob du die Okitas kennst?“

„Sagt mir gar nichts“, antwortete sie, blickte aus dem Fenster, wobei sie wirkte, als würde sie einen bestimmten Punkt fixieren, aus welchem Grund auch immer. Ihr Gesicht war gelangweilt abgewendet von ihm und er hatte irgendwie das blöde Gefühl, dass sie ihn belog.

Ich habe Jami im Krankenhaus angetroffen“, sagte er jetzt.

„Aha.“

„Was, aha? Er wollte mich nicht zu meiner Klassenkameradin lassen, ist das denn zu glauben?“

„So etwas soll vorkommen, da musst du nicht gleich beleidigt sein.“

Jetzt schenkte sie ihm ihren Blick und sah ihn mit einem Lächeln an. „Also, was wolltest du Wichtiges?“

„Mit dir über die Okitas reden.“

„Kenne ich aber nicht. Dann können wir ja zu einer anderen Sache kommen.“

„Willst du mich verkohlen?“ Es ärgerte ihn, da sie sein Problem als etwas Unwichtiges abtat, nur weil die Dame den Namen nicht kennen wollte.

„Jami hat mich total angefahren, nur weil ich zu einer Klassenkameradin wollte. Was soll das denn? Da läuft doch irgendeine faule Sache. Was vertuschen die?“

„Wenn Jami dich angefaucht hat, liegt das wohl daran, dass dich diese Sache nichts angeht, Cognac!“ Der Satz ärgerte ihn noch viel mehr, immerhin hatte er vor gegen diese Organisation vorzugehen.

„Der Bruder meiner Freundin soll brutal abgeschlachtet worden sein… Ich will wissen, wieso!“

‘Damn it! No! You better not know more about this matter! Why you always need to stick your nose into the matters of other people?’

Sêiichî wusste instinktiv, dass sie etwas verbarg, schließlich handelte es sich um einen ihrer Leute. Genau das hatte der Arzt zu Jami schließlich gesagt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie nicht mehr darüber wusste.

„Die Organisation wird ihr aber nichts antun, Chris, oder? Wenn sie eine Angehörige eines Mitglieds ist, dann… oder?“

War das sein einziges Problem? Sie seufzte. Sêiichî würde Weiteres verhindern wollen, oder nicht? Sie konnte nicht zulassen, dass er sich in so etwas einmischte.

‚Tja, Jami als Frauenkenner wird es schon herausfinden, ob man ihr etwas antun muss, oder nicht. Auch ohne, dass du mehr weißt, muss es ja nicht so weit kommen. Ich bin sicher, dass er eher nicht verraten wird, ob sie mehr über die Karasuma Corp. weiß. Er soll ihr Vertrauen gewinnen und aus ihr herausquetschen, was sie weiß, ob es uns schaden oder nützen wird. Du bist jung, du wirst für Gerechtigkeit kämpfen wollen. Du gerätst da nur unter die Räder, weil du nicht stillhalten kannst. Okita jedenfalls hat seine gerechte Strafe bekommen. Am Ende findest du diese Strafe noch zu hart. Dann hat man einen Perversen eben abgeschlachtet. Was interessiert uns das? So etwas braucht man nicht auf dieser Welt.‘ Sêiichî war einfach zu jung, um das schon zu verstehen, dass das Gesetz manchmal nicht gerecht war. Sie glaubte zu wissen, wer für diese Ermordung gesorgt hatte. Die Organisation bedauerte es noch nicht einmal, höchstens, dass sie nicht mehr herausfinden konnte, ob er seiner Schwester irgendetwas verraten hatte.

<“Sie hat es nicht gesehen, dafür wurde gesorgt… Der Mistkerl wurde nicht vor den Augen seiner Schwester gefoltert und danach erlöst. Aber eines kann ich dir sagen, es war brutal und der Gnadenstoß auch wirklich eine Erlösung.“>

Ihre Ärzte hatten sie im Krankenhaus behandelt, da sie ein reiches Mädchen war. Man würde schon irgendwie Verwendung für sie finden. Dafür, dass man sie aus den Fängen ihres Bruders befreit hatte, musste sie jedenfalls auf Lebenszeit dankbar sein. Ob sie es war, konnte man nicht sagen. Wenn sie nichts über Karasuma wusste, dann würde man sie wahrscheinlich auch nicht einweihen, es sei denn sie war zu etwas Großem nutze.  

Vermouth wusste ganz genau, welche Art von Leuten in dieser Sache involviert waren. Nur, weil sie Sêiichî mochte, musste sie ihm nicht ihr gesamtes Wissen mitteilen.

„Komm nicht auf die Idee, Jami zu nerven und zu bedrängen. Das kann er nicht ausstehen“, warnte sie ihn, in der Hoffnung, dass einmal seine Vernunft siegte.

„Juckt mich das?“

„Natürlich nicht – du bist irre. Man muss sich aber nicht überall einmischen, das macht einem nur Ärger, Sêiichî. Tu mir den Gefallen und versuch nicht mehr über ihn rauszufinden.“

„Warum sagst du das so? Das klingt, als gäbe es da einiges zu erfahren.“

„Über jeden gibt es Dinge. Menschen mit Geheimnissen können nicht leiden, wenn man bei ihnen rumschnüffelt, also lass das!“

„Ist er so gefährlich, dass seine Geheimnisse herauszufinden, mit dem Tod bestraft wird?“

„Die Gefahr besteht, immerhin hast du auch etwas zu verbergen. Wenn man deine Geheimnisse versucht herauszufinden, guckst du auch dumm aus der Wäsche. Lass ihn einfach zufrieden.“

„Er soll mich einweisen, allein deswegen will ich mehr von ihm wissen. Zum Beispiel seinen Namen. Den kennst du doch sicher, nicht? Wenn wir zusammenarbeiten wollen, möchte ich, dass du ehrlich zu mir bist.“ Ehrlichkeit hatte nichts damit zu tun, ob man redete oder schwieg, jedenfalls nicht in ihrer Welt.

„Eines möchte ich klarstellen. Ich verrate meine Kollegen nicht an Schnüffler, auch nicht an dich.“

Sêiichî grummelte und sah sie verärgert an. „Wunderbar, also kannst du Jami leiden?“

„Genug, um nicht alles über ihn auszupacken, nur weil du so neugierig bist.“

„Der Arzt hat ihn angesprochen, aber ich habe den Namen nicht richtig verstanden… Es war irgendwas mit -da am Ende. Kannst du mir nicht wenigstens seinen richtigen Namen sagen? Dann kann ich allein mehr rausfinden und du musst nicht reden.“

Chris begann zu lachen und schüttelte den Kopf. „Du kannst ja mal Jami fragen, wie er heißt. Wenn du Glück hast, verrät er es dir. Wenn nicht, tja, dann eben nicht.“ Ihr Gesicht zierte ein Grinsen, überlegen und fast ein wenig gehässig. Ihren richtigen Namen verriet man ja auch nicht an jeden Spinner, nur weil der ein bisschen nett war. Denen würde sie was husten.

Sêiichî wusste, dass hier einiges faul roch. Am Ende kannte er diesen Kerl noch irgendwoher. Die Welt war kleiner, als man glaubte. Er war allerdings richtig beleidigt, dass sie nicht reden wollte.

„Ich frage dich nie wieder was.“

„Hell yes. Du gehst mir nämlich ganz schön auf die Nerven mit deinen vielen Fragen. Hör endlich auf so offensichtlich in der Organisation Interesse an allem zu zeigen – damit schaufelst du dir dein Grab!“

Das waren die letzten Worte, die sie ihm noch zukommen ließ. Er war so angefressen, dass er nicht mal Lust hatte, sie anzuflirten oder sonst was zu tun. Nicht einmal bleiben wollte er.

Sie war echt erleichtert, als er aufgebracht endlich vom Stuhl aufsprang und sie noch einmal wütend ansah, bevor er mit einem „BYE!“ die Tür zuschlug.

„Immer diese jungen Wilden“, sagte sie seufzend – ihr Problem war nicht, dass sie glaubte Jami würde ihm irgendetwas zuleide tun. Eher befürchtete sie, dass die sich noch verstehen würden. Das würde nicht gut ausgehen…

 

Nicht nur Sêiichî interessierte sich brennend für den Fall. Auch die Polizei. Da es sich um einen Fall in der Region Tokyo handelte, war es schon verblüffend, wenn sogar Kriminalisten aus anderen Regionen außerhalb auf einmal Interesse zeigten. Da der Polizeipräsident bereits wusste, um welche Leute es sich handelte – denn er kannte einen, der ihn informierte – wurde dieser Fall top secret gehandelt. Die Presse interessierte sich auch immens für diesen – doch diese bekam genauso wenig Informationen wie die Schule, auf die die Schülerin ging.

Der junge Kriminalist hatte zu seinem Pech keine hohe Position, er war nur der Sohn eines Hochrangigen. Da hatte Takeshi Akaja leichtes Spiel.

Zwar war der 22-jährige mehr als schlecht gelaunt, als er wiederkam, aber seine Schwester wunderte sich nicht darüber. Ihr Bruder war der festen Überzeugung, dass er mit seiner Aussage etwas erreichen könnte und der Polizei von Tokyo sogar behilflich sein könnte, aber er war nur auf taube Ohren gestoßen.

„Die sind so dämlich, Yuri, die wollten mir nicht mal zuhören. Da läuft ein gefährlicher Killer rum, da sollten sie dankbar um jedes Wort sein. Frechheit, wie die mich behandeln. Ich soll Beweise bringen, wenn ich mich schon an den Ermittlungen beteiligen will. Das gibt’s doch gar nicht. Ich weiß, wer dieses Blutbad angerichtet hat. Sind die denn blind?“

„Blind wahrscheinlich nicht, aber unwissend“, sagte die 24-jährige und versuchte ihren zornigen Bruder zu beruhigen.

„Na, noch schlimmer. Die sind nur erfolgreich, weil man so wenig über sie weiß!“

„Reg dich nicht so auf.“

„Doch, ich rege mich auf. Über Vollidioten tue ich das immer. Kein Wunder, dass die Schwarze Organisation immer noch das tut, was sie will.“

„Manche Fälle bleiben besser ungelöst“, sagte sie kühl, doch sie stieß nicht gerade auf Verständnis.

„Was soll der Scheiß? Auf wessen Seite stehst du eigentlich?“ ranzte er sie an und sie blickte runter. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, schließlich nahm sie jemanden nicht in Schutz, von dem sie mehr wusste, als dass er ein Mörder war.

„Ich war im Krankenhaus, Hiroya. Die Schwester von Giró ist traumatisiert, so sehr, dass eine Befragung wirkungslos wäre. Sie redet mit keiner Menschenseele. Takuya Iwasaki hat sich in den Computer gehackt – die Kleine wurde vorsorglich aus dem Haus gebracht, ehe sie sich an Giró vergangen haben. Die hatten kein Interesse daran, ihr etwas anzutun. Das hat ihr Bruder bereits zur Genüge. Bestimmt waren diese Leute nur halb so schlecht, wie du glaubst.“

„Sag mal, hast du sie noch alle? Das Haus ist ein Schlachtfeld gewesen. Egal, was dieser Typ mit seiner Schwester getan hat, findest du, das rechtfertigt derartige Grausamkeiten?“

Yuriko begann zu zittern und dann wurde sie richtig laut. „Ob ich sie noch alle habe? Zu wissen, dass dein Freund jemanden umgebracht hat reicht aber, um ihn mutwillig zu verletzen?“

„Spinnst du? Wir Kriminalisten dürfen Menschen anschießen, wenn sie nach verübter Tat versuchen zu fliehen!“ schleuderte er zurück.

„Dir macht es aber Spaß, ihm wehzutun! Ähnlich ging es diesen Leuten garantiert auch, als sie ihn verletzten!“

„Wirfst du mich gerade mit eiskalten Killern in eine Schublade?“

„Wenn du es genau nehmen willst, ja!“

Hiroya holte aus und knallte ihr kräftig eine.

„Der Typ hat versucht mich umzubringen – hast du sein Grinsen im Gesicht gesehen, mit welch einer Genugtuung er die Waffe gezogen hat? So einem muss man Angst einjagen, nichts anderes steckt dahinter!“

„Natürlich – es ist auch nicht so, dass er Abschaum wäre, du bist bloß Kriminalist. Dir ist ja erlaubt, zu schießen, ihm nicht!“

„Er scheißt auf Gesetze, damit lasse ich ihn nicht davonkommen, egal wie lange ich ihn kenne.“

„Ohne mich, da mache ich nicht mit! Du kannst dich allein mit ihm bekriegen!“ Sie sprang aus dem Auto, so wütend machte sie das. Er leugnete also, dass es ihm Freude bereitete, ihn zu erniedrigen und dass er sich für etwas Besseres hielt, nur weil er eine Waffe tragen durfte? Yuriko hatte genug gehört. Ihr Wissen war ausreichend, um all das nicht gut zu finden. Es war das erste Mal, dass sie ihn so anpflaumte. Gutes Zureden brachte nichts. Ihr Bruder hatte einem 17-jährigen ins Bein geschossen, ohne zu wissen, was ihn in die Organisation geführt hatte.

Vielleicht war es dumm von ihr – wer wusste das schon – auch jetzt noch an das gute Herz von Menschen zu glauben, die sie schon als Kind gekannt hatte. Aber sie wollte nicht wahrhaben, dass einer von denen in der Lage wäre ihren Bruder zu töten. Vielleicht war er von Hass und Neid angetrieben, weil sein Leben den Bach runtergegangen war. Dass er seine Eltern so früh verloren hatte, dass er jede Hand nahm, die ihm gereicht wurde. Auch die von Bösewichten, die ihn nur benutzen wollten. Als Handlanger oder als wer weiß was ihnen noch einfiel? Sie wussten doch mittlerweile, dass sich diese Organisation gerne an Rettungsmissionen beteiligte, nur um dann Gegenleistungen zu verlangen. Deswegen studierte ihr alter Freund ja nun Medizin. Als Gegenleistung für die Scheiße, die er so trieb? Eine Scheiße, die darin enden würde, dass man ihn für immer einsperren würde. Nur, weil er dumm und naiv in jedem einen Retter sehen wollte, der sich um die Dinge kümmerte, mit denen sonst kein normaler Mensch etwas zu tun haben wollte…

Irgendwer musste ihn stoppen, aber doch nicht mit roher Gewalt… Ein Appell ans Gewissen brachte bei einigen Verbrechern etwas, sie schwor darauf, dass auch er so jemand war. Um sich selbst zu vergewissern, musste sie ihn nur erst einmal zur Rede stellen.

 

23:55 Uhr – kurz vor Mitternacht. Früher schaffte er es nicht. Überstunden waren an der Tagesordnung, auch 40 Stunden Dienste musste man einkalkulieren. All das wusste er bereits. Auch in der Klinik war man nicht davor gefeit, bis zur absoluten Erschöpfung zu arbeiten. Er war so froh, seine Schicht hinter sich zu haben. Manchmal glaubte er sogar, dass er einem derartigen Job nicht gewachsen war, aber er hatte sich schon immer irgendwie durchgeschlagen, egal, was ihm auch bevorstand. Am liebsten wollte er mit dem Taxi fahren, so übermüdet war er. Beim Öffnen seines Autos fiel ihm sogar einmal der Schlüssel runter. Wie ungeschickt, wie unaufmerksam und fahrlässig. Als er sich zu seinem Schlüssel runterbeugte, hörte er das Laden einer Waffe.

„Keine Bewegung!“ Er hielt inne, als er die Stimme hörte.

„Ganz schlechter Scherz“, sagte er belustigt, völlig angstfrei. Das wurmte die Person, dass er sie nicht ernstnahm.

„Es ist keiner. Du tust jetzt haargenau das, was ich dir sage.“

„Ach ja, wirklich?“ Ob wohl er davon wusste?

„Du steigst jetzt ins Auto, dann fahren wir gemeinsam zu deinem Apartment.“

„Wow – könnte mir sogar gefallen.“ Derartige dumme Sprüche zu klopfen, darin war er fast schon Weltklasse.

Er wendete sich ihr zu, die ihn wild entschlossen mit ihrer Pistole bedrohte. „Dazu musst du mich nicht bedrohen, das weißt du schon? Zu Frauen bin ich meistens nett, es sei denn, sie verdienen es nicht.“

„Nur für den Fall, dass wir gesehen werden – es wäre schließlich sehr dumm von dir, dich mit mir erwischen zu lassen, ganz egal, welch einen Ruf du dir da auch angeeignet hast.“ Sie verzog nicht die Miene, auch nicht wegen seines Spruchs. Dabei musste sie doch wissen, dass er seine Worte teuflisch ernstmeinte.

„Ich bin ein ganz normaler Mensch nach der Arbeit – die Kanone könnte eher seltsam wirken. Man könnte denken, du wüsstest etwas über mich, also nimm sie besser weg. Dann darf ich dich auch im Auto mitnehmen.“ Seinem netten Lächeln traute sie nicht, sie kannte viele seiner Seiten, auch die total hinterhältige.

„Steig ein und keine Faxen!“ sagte sie, ihn weiter bedrohend. Er seufzte bei so viel Verbohrtheit .

„Ich kann nicht fassen, dass du so etwas tust“, meinte er, spielte dann aber dieses Spiel mit. Sein Blick war umhergeschweift, kontrollierend, ob er irgendwo ein paar seltsame Gestalten sehen konnte. Denn die könnten sie dann verfolgen und die junge Frau noch direkt in seinem Auto erschießen, nur weil sie befürchteten, er sei ihr ins Netz gegangen. Manchmal waren sie so radikal. Nicht jeder und nicht alle, aber genügende.

‚Was ist bloß aus dir geworden, mhm? Hat Hiroya geschafft, dir einzureden, dass du mich bedrohen musst, damit ich überhaupt willig bin, ein Wort mit dir zu wechseln? Ich war damals total in dich verknallt. Meinst du echt, ich tu dir einfach so was?‘ Es war irgendwie ja schon verletzend.

Er fuhr aus der Parklücke, während ihre Waffe auf seine Schulter zeigte.

‚Wenn ich wollte, würde ich dich entwaffnen und auf dem Rücksitz knebeln. Andere würden dich da noch vergewaltigen, bevor sie dich töten. Meinst du, dass wir so dämlich sind, uns von so einer törichten Kriminalistin einsacken zu lassen?‘ Vermutlich wusste sie es nicht besser. Dass sie bei ihm noch an einen netten Kerl geriet. Der Brutalität verabscheute und ihr nicht gleich aus Spaß Todesangst einjagen würde.

Es war kaum zu fassen, dass sie ihn wohl noch vom Auto bis in die Wohnung mit der Waffe traktieren wollte. Er hatte angehalten und machte keinerlei Anstalten auszusteigen. Wenn er wollte, biss sie auf Granit. Dann mal sehen, wie weit sie wirklich bereit war zu gehen. Hiroya würde im Zorn auf ihn schießen, wenn er nicht gehorchte, so war er eben. Sie konnte doch niemandem ernsthaft was antun.

„Na los, steig aus!“

„Wenn die Nachbarn das sehen, halten sie dich noch für geisteskrank. Ob du für die Polizei arbeitest, oder nicht… Ich bin echt beliebt in dieser Gegend, keiner würde je auf die Idee kommen, dass ich was angestellt haben könnte, also nimm jetzt endlich das Ding runter, weil du dich damit nur lächerlich machst.“ Mit ähnlichen Worten hatte er auch schon die Wut ihres Bruders entfacht. Weil er sich auf der sicheren Seite sah, schließlich konnte niemand ihm auch nur einen Mord nachweisen, nicht wahr? Das war ihrer aller Trumpf: Im Zweifel für den Angeklagten.

„Du bist ein widerlicher Scheißkerl, was ist aus dem netten Jungen geworden, der du einst warst?“

„Widerlicher Scheißkerl?“ amüsierte er sich. „Meinst du? Also, ein widerlicher Scheißkerl würde jetzt sagen, dass der nette Junge von der bösen älteren Schwester seines besten Freundes um den Verstand gebracht wurde. Ach, stimmt, das ist noch zu nett ausgedrückt…“ Wie wenig er sie ernstnahm, würde sie noch merken. Und zwar in dem Moment, als er herumschnellte und sie zucken ließ. Bei der schnellen Bewegung wäre es am gesündesten gewesen, die Waffe, die sie geladen auf ihn richtete, auch zu benutzen. Seine Hand landete direkt neben ihrem Gesicht und er kam dicht an sie.

„Du denkst wohl Männer haben grundsätzlich nicht die geringsten Gefühle. Kein Wunder, du bist die ältere Schwester eines Kerls, der keine Gefühle besitzt. Wie solltest du ein anständiges Männerbild auch nur kennen. Vater ein Trinker, Schläger und Fremdgänger. Um dich herum sind echt nur Scheißkerle. Ich wünschte, du würdest deinem Deppen von Bruder verklickern, dass er keinerlei Chance gegen uns hat, damit ich nicht immer auf ihn schießen muss. Stattdessen lauerst du mir auf und reißt alte Wunden auf. Du willst den netten Jungen wiederhaben? Dann tu gefälligst was dafür, ansonsten kriegst du weiter den Scheißkerl, Idiotin!“

„Du meinst, das beeindruckt mich? Glaubst du, dass ich wegen deines Geschwalls die Waffe runternehme?“

„Herzchen…“ Seine Hand griff die Waffe und er sah sie mit einem ernsthaft verstimmten Blick an. Er sah, dass ihre ganze Hand nur so zitterte und sie sich beinahe vor Angst in die Hose machte. „Das Ding bringt dir nichts, wenn du nicht bereit bist, zu schießen…“ Gegen Ende war die Stimme ruhiger und sanfter geworden, mit einem Hauch Sorge. „Hat dir dein blöder Bruder nicht gesagt, wie gefährlich ich bin? Dass man mich wehrlos machen muss. Mit ein bisschen Training schaffst du das auch.“

„Du bist ja krank“, sagte sie entsetzt. „Meinst du, dass mir das Spaß macht?“

„Bestimmt nicht. Nimmst du sie jetzt runter?“

Yurikos Waffe wurde losgelassen und sie ließ die Hand sinken. Zwar zögerlich, aber sie tat es.

Ihr Bruder wäre bestürzt, zu wissen, dass sie in seinem Auto saß und mit ihm sogar in seine Wohnung wollte. Der Kerl hätte Schiss um ihre nicht vorhandene Unschuld. Er hatte eben keine Ahnung, bestimmt glaubte er noch an den heiligen Geist. Seine Schwester würde niemals etwas mit einem Kerl wie ihm anfangen.

„Braves Mädchen. Jetzt darfst du mit rein“, sagte er mit einem Schmunzeln und zwinkerte ihr zu. Sie hatte ziemliche Wut im Bauch, weil er jetzt noch mit ihr flirtete und sich darüber amüsierte, wie er sie kleinbekommen konnte, nur weil sie nicht gewagt hatte, gleich zu schießen.

Sie gingen in seine Wohnung, wie alte Schulfreunde es tun würden. Als er die Tür hinter sich schloss, machte sie den Anschein doch irgendwie Unbehagen zu spüren.

‚Ja klar, ich bin so ein Frauenheld, da muss man ja Schiss kriegen, dass ich noch in der Tür über sie herfalle. Herrje…‘

„Ich will dir nichts Böses, wirklich nichts. Aber du solltest endlich mit diesem Kleinkrieg aufhören. Jetzt, bevor es zu spät ist. Wenn du so weitermachst, wirst du dafür am Ende am Galgen hängen.“

„Ach, wieso denn?“ fragte er ketzerisch mit einem Lachen. „Hast du eine Ahnung, mit was du es zu tun hast? Wir kommen doch mit allem davon.“

„Meinst du, ja? Du warst damals ein kluger Junge, wie kannst du an so etwas nur glauben? Die Justiz schläft nicht. Eines Tages schnappen sie dich. Und dann? Wenn du ein bisschen Reue zeigst, kommst du vielleicht milde davon.“

„So?“ So eine dumme Frau. Sie wusste nicht das Geringste. Kein Wunder, ihr Wissen baute auf der Idiotie ihres Bruders auf. „Habt ihr denn den geringsten Beweis gegen mich in der Hand?“ Sein Grinsen wurde teuflisch, fast etwas triumphierend, weil alles, was sie wussten, Mutmaßungen waren.

„Reicht es nicht, dass wir dich mit einer Pistole gesehen haben? Du hast keinerlei Befugnis eine zu benutzen. Und… Wie passt das zusammen? Medizinstudent mit Waffe? Irgendwie pervers, nicht? Allein wegen unerlaubten Waffenbesitzes bekommen wir dich dran!“

„Bei meinen guten Beziehungen komme ich da mit einer Geldstrafe raus. Weiter? Noch was? Hah… ich werde alles leugnen, darauf kannst du bauen. Du kannst also die Sorge wegstecken… Das, was ihr da gesehen habt, waren Spielzeugpistolen. Die würden deinen Bruder paranoid nennen und ihn aus dem Verkehr ziehen. Ups.“  Er schritt auf sie zu und lächelte ihr charmant zu.

„Machen dir diese kranken Spielchen mit ihm auch noch Spaß?“ Yuriko sah ihn traurig an, er glaubte aber auch noch etwas anderes in ihren Augen zu versehen – Verachtung.

„Was glaubst du?“

„Du weißt doch, wie sensibel er ist.“

Kenichi prustete los bei so viel Naivität. „Sensibel, dein Bruder? Dass ich nicht lache.“ Jetzt wurde er ärgerlich. „Verdammte scheiße, ich bin auch sensibel!“  fuhr er sie an, so dass sie zusammenzuckte. „Der und sensibel, der hat schon in der Grundschule alle Schwachen immer gehänselt und sogar die jüngeren Mädchen in den Dreck gestoßen. Wie kann er auch nur im Geringsten sensibel sein, wenn er Menschen so behandelt? Als er rausgekriegt hatte, dass ich dir hinterherschaute, hat er mir angedroht, mich in den Arsch zu ficken! Voll sensibel!“  Allein die Wortwahl – nichts davon war sensibel. Yuriko schämte sich für ihren Bruder, für seine manchmal raue Art und Weise, wenn er wütend wurde.

„Das kannst du doch nicht ernstnehmen. Er spuckt große Töne, das ist alles!“

„Ja, ist aber ein ekelhafter Feigling, der sich nur groß und stark fühlt, wenn er anderen Leid zufügen kann. Damals, als diese Organisation sich für ihn interessiert hat, hat er sich feige hinter mir verkrochen und wie Espenlaub gezittert… Und denjenigen, der ihn vor den bösen schwarzen Männern beschützte, den schießt er jetzt mit Freude an. Er ist und bleibt ein Feigling. Ich bin nicht mehr da, da verkriecht er sich noch gern hinter Papa.“ Er hatte keinen Respekt vor dem Typen. Nicht im Geringsten. „Damals wollte ich, dass er mir hilft, zu verduften, das war ihm zu gefährlich… Da sagte er eben, hast du dir selbst verbockt, Kenichi, also heul nicht!“ Er wurde mittlerweile richtig wütend, es war doch immer das Gleiche. Dieser Typ raubte ihm den letzten Funken Verstand.

„Wenn du es beenden willst, stell dich der Polizei!“ Ihre Hände lagen mit einem Mal in seinem Gesicht. Unglaube erschien in selbigem. Sie stellte sich das ein bisschen einfach vor.

„Ihr habt wirklich keine Ahnung.“ Es gab immer wieder Fälle, die glaubten, so etwas tun zu können, um ihr Gewissen zu erleichtern. Das Ganze endete immer gleich. Sie wurden umgebracht. Er wollte nicht sterben. Vielleicht war das feige, aber… „Ich will nicht sterben, ich will noch ein bisschen leben. Damals wollte ich nur raus da, aber mittlerweile habe ich da meinen Platz gefunden.“

„Ich fass es nicht.“  Sie war wirklich fassungslos, dass es ihm dort wohl wirklich gefiel. „Dass du Menschen ermordest, um dein Leben zu schützen, okay. Das kann ich dir nachsehen. Aber musstest du dich an so einer Schweinerei wie der Hinrichtung von Yoshio Okita beteiligen? Er wurde brutal und herzlos hingerichtet!“

„Ja und? Er wurde hingerichtet – sagt sie mir – pff. Was interessiert mich, ob dieser Bastard hingerichtet wurde? Ist mir doch scheißegal!“

Ihre Augen weiteten sich. Sie glaubte einfach nicht, dass es ihm so egal war. „Hiroya hat Recht, dir ist nicht zu helfen. Du hast komplett den Verstand verloren.“

„Und mein Motiv?“

„Was soll damit sein?“

„Na, kennst du mein Motiv, warum mir das egal ist? Warum ich dort noch ein bisschen bleiben will? Mhm?“

„Kann mir auch egal sein, so wie dir das Ableben dieses Typen.“

„Er hat seine Schwester so schwer missbraucht, dass sie nie mehr im Leben Kinder bekommen kann“, sagte er traurig, dann fuhr die Wut in seine Stimme. „Das Arschloch hat‘s verdient möglichst grausam um die Ecke gebracht zu werden. Ob ich es war oder nicht, steht nicht zur Debatte, aber gut finde ich es. Dazu stehe ich…“

„Dein Vater hätte dem nie zugestimmt…“ Stille. Man hätte die berüchtigte Stecknadel im Heuhaufen fallen hören.

„Ich bin nicht mein Vater.“ Anhand des Ausdrucks im Gesicht, den traurigen Augen und dem verbissenen Kauen auf seiner Unterlippe, merkte sie es. 

„Das musst du nicht sein, aber ich will nie wieder mit dem Wissen leben, dass du so etwas Abscheuliches tust. Egal, was jemand verbrochen hat. Jemanden so brutal hinzurichten, dazu haben wir Menschen nicht das Recht. Dafür gibt es keine Rechtfertigung.“

Kleinkarierte Grütze. Also sollte man den ganzen Abschaum so weitermachen lassen, oder was wollte sie damit sagen? Das Ding wuchs ihm schon lange über den Kopf. Er hätte gewünscht, derartige Abgründe niemals kennengelernt zu haben. Natürlich gab es Unrecht, aber solch widerwärtige Perversionen lernte man besser nicht kennen. Abgründe, die so tief reichten, dass sie alles verschlingen konnten. Auch einen selbst. Er wäre nie so geworden, hätte er die abartigen Taten einiger aus der Organisation nicht kennengelernt. Das wog mehr, als die Versuche von ihnen, einen Mörder aus ihm zu machen. In Momenten, in denen ihm dieses Unrecht begegnete, war er sogar gern ein Mörder.

Er blieb stumm, starrte nur rebellisch runter, weil er sie nicht ansehen wollte. Dann verabscheute sie eben, was er tat, das konnte ihm ganz egal sein.

„Äußer dich dazu!“

„Du wirst damit leben müssen, dass du jemanden kanntest, der so etwas Abscheuliches tut, ansonsten musst du mich eben aus deinem Gedächtnis löschen.“  Vielleicht mochte das hart klingen, aber man konnte niemanden zwingen, jemanden kennen zu wollen.

„Das ist alles, was du dazu sagst? Vorher hast du noch gesagt, du seist ihm mich verknallt.“

„Ich WAR“, er hob die Stimme und senkte sie dann wieder, „in dich verknallt. Mit 15. Jetzt sicher nicht mehr. Jetzt lebe ich nach dem Prinzip, wer nicht will, der hat schon. Halte dich und deinen Bruder von dieser Organisation fern, wenn euch euer Leben lieb ist. Es gibt keine Garantie, dass euch nicht doch irgendwann etwas zustößt.“ Wenn die wollten, wurden sie jeden los. Inklusive ihm selbst, wenn er etwas Dummes machte.

„Ach, was bist du naiv, wir sind Polizisten, das schließt aus, dass wir so etwas können. Wärst du nicht in diese Scheiße geraten, dann wärst du bestimmt ein guter Kerl geworden. Vielleicht…“, sie kam ihm sehr nahe und hauchte ihm ins Gesicht, „…wäre dann aus uns etwas geworden.“ 

In dem Moment hasste er sich, sein Leben, einfach alles. Er wollte schreien vor Wut, dass sie ihm so etwas Gemeines sagte. Wenn das Wörtchen wenn nicht wär…

„Dazu müsstest du dich mit deinem Vater anlegen. Es ist einfach so etwas zu sagen, was nicht sein kann. Du gehst jetzt besser…“ Sie hörte ihn schneller atmen, kein Wunder, dass er sie schnellstmöglich aus der Wohnung schmeißen wollte. Bestimmt würde er hinter der Tür noch anfangen zu heulen – aber erst dann. Es tat ihr nicht einmal Leid, vielleicht würde er all das, was er tat, jetzt doch mal überdenken.

„Wehr du dich gegen diese Machenschaften und ich wehr mich gegen meinen Vater. Noch so eine kranke Tat und dich frisst der Teufel.“

„Tze – macht mir keine Angst.“ Beide sahen dem Anderen nicht mehr in die Augen. Yuriko wusste, dass sie gegen ihren Vater nicht ankommen würde. Dass sie dieses Versprechen auch dann nicht halten könnte, wenn er so eine Tat nie wieder beging. Aber auch eine Lüge hatte ihren Zweck. Das Bild vom blutrünstigen Mörder passte überhaupt nicht zu ihm. Noch glaubte sie, dass man ihn retten konnte, anders als ihr Bruder, der in ihm jetzt nur noch Abschaum sah. Sie könnte niemals eine Kugel auf ihn abfeuern. Das war auch Mut, oder nicht?

 

Zufall – daran glaubte er nicht. Andere wiederum glaubten an diese. Sêiichî zum Beispiel, der Yuriko heulend aus Jamis Wohnung rennen sah. Der Zufall wollte ihm das Leben in aller Grausamkeit zeigen. Das hässliche Antlitz der Fratze all des Unglücks, was ihnen seit Jahren widerfuhr. Er war schockiert, eine Polizistin aus seiner Wohnung rennen zu sehen – noch dazu die Schwester dieses Kerls, der ihn vor nicht langer Zeit so böse angeschossen hatte. Warum genau sie so weinte, wusste er nicht, aber er war in einer Familie großgeworden, in denen Schauspielerei alltäglich gewesen war. Doch diese Tränen waren kein Schauspiel, weil sie geschahen als keiner hinsah.

Ja, der böse Zufall. Es war so einfach, das Auto vor seiner Haustüre. Das Nummernschild würde reichen, um seinen Namen rauszufinden. Nein, es ging simpler. Ihn nach Hause verfolgen, um dann an der Tür zu schnüffeln. Er schlich sich in den Hausflur und inspizierte dort die Klingeln nach Namen, die er von früher – aus Kyoto – kannte. Im fünften Stock fiel ihm dann der Name Ashida ins Auge. Nicht sofort wusste er, dass er das war. Ihm fiel da eher ein junges Fräulein ein. Die beste Freundin der jungen Frau, die eben noch so aufgelöst davongelaufen war. Er war erstarrt.

Geistesblitze, die ihm direkt vor Auge erschienen. Wie ein Bombeneinschlag, dass es ihn fast umhaute.

Sie rannten, wie der Teufel vor der herannahenden Gefahr davon. An ihre Stimme erinnerte er sich besser noch als an ihr Gesicht. „Lauft, lauft so schnell, ihr könnt! Das sind die Bösen!“

Kinder von knapp zehn würden das eher noch als Fun abtun, beim Spielen, wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Dass es blutiger Ernst war, wusste höchstens sie, die schon erwachsen war. Sie hatte sie gescheucht, damit sie auch ja so schnell wegrannten, wie sie konnten.

Auf einmal waren sie verschwunden. Zumindest zwei der Jungs. Da war die junge, hübsche Frau mit der Brille zurückgelaufen, um ihren Bruder und seinen besten Freund zu suchen. Warum Sêiichî sich so gut erinnerte? Als Wildfang erinnerte man sich an jedes Abenteuer, besonders an die gefährlichsten. Gerade er wollte ja unbedingt überall dabei sein, er war kein Feigling. Gerade vor dem Ältesten, Yuichi, wollte er zeigen, wie mutig er war. Jedes normale Kind würde, wenn Schüsse ertönten in die entgegen gesetzte Richtung wegrennen, er war hingerannt und hatte sie gefunden. Verletzt am Boden liegend. Da sie erwachsen war, hätte er ihr niemals helfen können, da war er doch wieder zu den anderen zurückgelaufen und hatte seinen Tou-san mitgeteilt, dass jemand mit der Pistole geschossen hatte. Sie hatten ihre Leiche gefunden, doch die Jungs waren unauffindbar.

Die Aussage der Kinder wurden als Fantasien und Märchen abgetan, keiner glaubte, dass sie die Truppe gesehen hatten, die auf sie geschossen hatten.

Er war noch jung und erinnerte sich nicht mehr genau daran, was sein Vater und seine Mutter des Abends gesprochen hatten. An eines jedoch genau.

Das war eiskalter Mord von Profikillern.

Eins dieser Ereignisse, weswegen er sich in den Kopf gesetzt hatte, eines Tages zur Polizei zu gehen, wie sein Tou-san.

Weitere Worte fielen. Kindesentführung.

Es hat nie eine Entführung gegeben, die Kinder spinnen sich da etwas zusammen. Der Ashida-Junge war von zuhause ausgerissen – er war eben ungezogen. Schwänzte Schule und versaute dem einzigen Sohn der Tokorozawas durch seine bloße Anwesenheit die Zukunft, da er ihn zu komischen Dingen hinriss. Gut, dass er abgehauen ist.

Wann auch immer der alte Tokorozawa den Mund aufmachte, kam sein Sohn als Unschuldslamm davon, der andere wurde kräftig durch den Dreck gezogen. Weil er ein bisschen wild war und lieber tobte als zu lernen.

So weit er sich erinnerte, durfte Hiroya nicht mal sagen, dass Kenichi sein Freund war, da bekam er Prügel von seinem Vater, damit er es nie wieder sagte.

‚Der alte Mistkerl… Er war schon immer abgehoben. Jetzt ist sein Sohn genauso.‘

Mit einem Mal hatte er richtig Schiss. Wenn Ashida Jami war, dann… Dann war er im Arsch. Es würde mit dem Teufel zugehen, wenn der Ältere sich nicht an sie alle erinnerte. An Yuichi, der knapp zwei Jahre jünger war, Ryochi, so alt wie der zweite Sohn der Ashidas. Und er selbst, an Sêiichî, die Heulsuse, die sich von Yuichi hatte tragen lassen… Nicht nur war er dann enttarnt, dann wusste man auch von all seinen Ängsten. Als die Tür aufging – es kam ihm fast wie Zeitlupe vor – war er erstarrt vor Schock. Das Gesicht desjenigen war gegen Boden gesenkt, dieser sah ihn also nicht gleich, aber er schaffte es auch nicht außer Sichtweite zu kommen, ehe der Andere den Kopf heben konnte.

Ihm blieb fast das Herz stehen. Warum eigentlich? Er hatte ihn ja bereits gesehen. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sein Herz so kräftig schlug, um befürchten zu müssen, der Andere würde es auch mitbekommen.

Eigentlich wollte der 21-jährige nur schnell an den Briefkasten. Da rannte er fast in Sêiichî hinein.

„Was willst du denn hier?“

Sêiichî lächelte nervös. Chris hatte ihn gewarnt – er sollte ihm nicht auf den Zeiger gehen, trotzdem hob er die Hand, doch jeglicher Ton, der über seine Lippen wollte, wurde verschluckt.

„Ich habe gefragt, was du willst!“ Jamis Laune war nach der Konfrontation mit Hiroyas Schwester unterirdisch, deswegen ging er ihn an. Nicht, weil er ihn nicht leiden konnte. Vielleicht war es auch die Müdigkeit nach dem langen Krankenhausdienst.

„Zufall?“

Ein Seufzen war zu hören. „Schon wieder? Ich kann Lügner nicht riechen, also wie wär’s, wenn du zugibst, dass du mir hinterher schnüffelst. Bin ich irgendwie spannend?“

„Ich wollte meinen neuen Kollegen besser kennenlernen“, sagte er, versucht zu lächeln, nicht nervös, oder falsch, sondern ehrlich.

„Ach du scheiße! Komm morgen wieder. Ich muss ins Bett.“

„Wie bitte?“

„Krankenhausdienst – bye!“ Er rannte an ihm vorbei, holte die Post und verschwand wieder hinter der Tür.

„Man sieht sich.“ Eine dämlichere Unterredung hatte Sêiichî noch nie gehabt. Was war nur los mit ihm? Angst war wirklich zu nichts gut, sie war nicht förderlich, wenn man Ermittler war. Wie sollte er da zu einem guten Polizisten werden?

Ins Bett gehen, um null Uhr – das kam ja gar nicht in Frage. Was für ein langweiliger Typ…

Sêiichî gehörte selbst längst ins Bett. Er war 17 und musste zur Schule. Da entschloss er tatsächlich nach Hause zu gehen und sich nach dem Schreck etwas Ruhe zu gönnen.

Gegen halb eins lag Sêiichî im Bett und schrieb Ryochi eine Nachricht, der antworte ihm im Halbschlaf: ~Was ist denn?~

~Ich kann nicht schlafen…~

~Deswegen darf ich auch nicht? Mach den Fernseher an und schau etwas Stinklangweiliges, dann schläfst du automatisch ein :P~

In der Tat war das eine gute Idee, sonst grübelte er über die Vergangenheit und dachte darüber nach, wem er davon erzählen konnte, ohne ihn gleich in Gefahr zu bringen. Ryo bestimmt nicht. Es war nicht so, dass er ihn nicht für belastbar hielt, aber mit seinem älteren Bruder war etwas sehr Ähnliches geschehen. Nachdem er schon Angst gehabt hatte, man würde ihn einfach abknallen wie Ashidas Schwester, wenn er zu mutig war. Mittlerweile wussten sie wenigstens, dass er lebte. Trotzdem würde diese Geschichte seine Gedanken genau in die Richtung lenken, dass es dieselbe Organisation war, in die sein Bruder verschwunden war. Es blieb ihm also keine Wahl, als die Scheiße allein zu verarbeiten oder zu seinem Vater zu gehen. Bei seinem Vater gab es nur das Problem, dass er Fragen stellen würde, zum Beispiel wie er an die geraten konnte. Wie er an sein Wissen gekommen war. Ob er wieder Im Alleingang geschnüffelt hatte. Das sollten sie doch nicht, das war gefährlich.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MiwakoSato
2019-05-08T18:59:49+00:00 08.05.2019 20:59
verdammt gutes Kapitel.
Ich mag Yuriko nicht. Kein bisschen. ._.
Sie hat von nichts eine Ahnung, aber dann so anklagend sein. Eine Polizistin hat nicht anklagend zu sein. Das Privileg gehört der Staatsanwaltschaft und dem Richter! Polizisten verhaften sie. Sieurteilen nicht!

Gruß Miwa ^^
Antwort von:  Melora
08.05.2019 21:20
schöenr Kommi xD danke. so sehe ich das auch. Polizei sollte nicht urteilen, tun andere. eigentlich gilt das generell... menschen sind nicht fürs Urteilen gemacht, aber irgendwer muss ja, ne?


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