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Feliz Navidead

von

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HO HO HOrror

Der kleine Ned war gerade neun Jahre, 50 Wochen, zwei Tage und sieben Stunden alt, als er zum ersten Mal nach dem zweifachen Tod seiner Mutter und dem Herausreißen aus seinem gewohnten Umfeld, die nicht ganz so heile Welt der Schule für Jungen von North Thrush verließ und die ebenfalls nicht ganz so heile Welt außerhalb eben jener Schule betrat.

Es war kurz vor Weihnachten und am Tag vor diesem Ausflug hatte jedes Kind in der letzten Unterrichtsstunde einen Zettel ausgehändigt bekommen, um darauf einen Wunsch für das baldige Fest zu verfassen und an Santa Claus zu übergeben, auf dass es ihm erfüllt wurde.

Ned wusste, dass sein größter Wunsch, nämlich der, dass seine Mutter wieder lebte, nie mehr wieder in Erfüllung gehen würde. Und weil auch sein zweitgrößter Wunsch, dass sein Vater sich endlich besann und seinen Sohn zu sich nahm, seit Halloween ebenso passé war, hatte Ned nach einigem Überlegen seine dritt-, viert- und fünftgrößten Wünsche auf den Zettel geschrieben: Digby, ein neues Halsband für Digby und ein Paar Handschuhe, damit er Digby das neue Halsband auch gefahrlos anlegen konnte.

Diese drei bescheidenen, aber von Herzen kommenden Wünsche hielt Ned nun fest in seinen nervösen Händen, während die Schlange aus wartenden Kindern immer weiter voranschritt. Aufgeregt reckte Ned seinen Kopf zur Seite, um an seinen Vorgängern vorbeischauen zu können. Eigentlich fand er sich bereits viel zu alt, um noch Wunschzettel zu schreiben, doch in diesem Jahr war ohnehin alles anders. Dieses Mal stand er in einer Reihe wartender Kinder und hoffte, dass Santa echt war und ihm seine Wünsche erfüllte.

 

Ein Kind nach dem anderen trat aus der Reihe, sobald es ganz vorne stand, ging die Stufen zu Santa hinauf, antwortete mit artigem Kopfnicken auf das Gemurmel des weißbärtigen Mannes und hüpfte gleich darauf mit strahlendem Gesicht die Stufen wieder hinab, um am Ende noch ein kleines Präsent und ein Foto von sich und Santa zu bekommen.

Als Ned am Anfang der Schlange angekommen war und nun selbst darauf wartete, bis das Kind, das noch bei Santa saß, endlich fertig war, dem Mann seine ellenlange Liste an Wünschen noch einmal persönlich von seinem zerknitterten Zettel vorzulesen, damit auch ja jedes einzelne Ding Beachtung fand, fand Ned etwas vollkommen anderes von äußerster Beachtung: Santa. Dessen Kopf war während der Litanei seines kleinen Besuchers unbemerkt von allen anderen immer weiter Richtung Brust gesunken. Das Kind auf seinem Schoß schien das als Zeichen davon zu deuten, dass Santa es nicht richtig verstand und begann, seine ganzen Wünsche noch einmal von vorne in voller Lautstärke vorzutragen. Zufrieden stand es auf, warf seinen Wunschzettel in die golden glänzende Box neben Santas Ohrensessel und schlenderte gut gelaunt von dannen.

Ned, der mit angehaltenem Atem am Anfang der Schlange stand und fieberhaft überlegte, wann denn endlich die anwesenden Erwachsenen bemerkten, dass etwas ganz und gar nicht mit Santa stimmte und es sicher nicht an dessen schief sitzendem zerzaustem Kunstbart oder dem hervorschauenden Hosenbein aus Jeansstoff lag, spürte plötzlich einen heftigen Stoß in seinem Rücken, der ihn in Richtung Santa stolpern ließ.

 

Die folgenden Ereignisse sollten den kleinen Ned in den nächsten Jahren nie mehr wieder an einem Ausflug zu Santa teilnehmen lassen. Durch den Stoß in seinen Rücken nach vorne befördert, glitt Ned auf der Stufe aus, die zu Santas Sitzplatz hinaufführte. Nach Halt suchend griff er ausgerechnet nach dem einzigen, was ihm keinen geben sollte: Santas Hand, die augenblicklich von einem goldenen Schimmer umgeben wurde, der sich immer weiter ausbreitete, bis auch der Kopf des offensichtlich unbemerkt Verstorbenen davon eingehüllt war.

In eben diesem Augenblick fuhr Santas Kopf in die Höhe, als hätte ihn jemand wieder eingeschaltet. Was, wenn man es genau betrachtete, auch genauso geschehen war.

Die glasig schimmernden Augen rollten orientierungslos in ihren eingefallenen Höhlen umher, bis sie schließlich den zu Tode erschrockenen Ned vor sich erblickten, der mit offenem Mund den Wiederbelebten anstarrte. Santas ungesund bläulich verfärbte Lippen öffneten sich zu einem viel zu breiten Grinsen, das blassrotes Zahnfleisch entblößte und den Jungen vor sich etwas auf Abstand gehen ließ.

Ein schaurig kratziges Ho Ho Ho ertönte und wurde von der schlimmsten Frage abgelöst, die man Ned in diesem Zusammenhang jemals gestellt hatte.

"Warst du auch ein braver Junge?" Santas anschließendes Lachen klang wie eine Mischung aus rostigen Nägeln und Glasscherben, die unter einem riesigen Stiefel zermalmt wurden.

Ned tat das einzig richtige. Statt zu antworten fuhr er nach vorne und schlug Santa mitten ins Gesicht. Das Klatschen seiner Hand auf der Stirn des alten Mannes ließ die Leute in ihrer direkten Umgebung auf der Stelle verstummen.

Der zuerst friedlich verstorbene, dann aus Versehen wiederbelebte und nun erneut tote Santa sackte ein letztes Mal in sich zusammen. Sein Kopf sank nach hinten und blieb in genau dieser Position, während man den Übeltäter von Santas Podest herunterzog.

"Das gibt 'nen Eintrag in die Bösen-Liste. Auf ewig!", zischte ein wütend aussehender Elf den blassen Ned an.

Bevor Ned endgültig aus dem Weihnachtsland verbannt wurde, wurde ihm noch ein Stück Kohle anstelle eines Präsents und ein Foto in die Hand gedrückt. Darauf sah man den kleinen Ned mit erhobener Faust vor Santa stehen, der mit in den Nacken geneigtem Kopf und an den Seiten herabhängenden Armen in seinem Sessel saß.

K.O. in der zweiten Runde.

 



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