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Der Manager

von

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Der Exponent

Das Büro war grau, mit glänzenden, stahlfarbenen Wänden, und enthielt nicht mehr als einen Aktenschrank und einen gläsernen Schreibtisch, vor dem ein lederner Drehstuhl stand. Kein Fenster erhellte den Raum, nur eine kühle LED schien von der Decke herab. Kein Staubkorn war sichtbar auf den glatten Oberflächen; eine klinische Atmosphäre auf vier mal vier Metern.
 

Die Klimaanlage surrte leise im Hintergrund, während der Manager in einem faltenfreien Sakko an seinem Schreibtisch saß und konzentriert über einem Stapel Aktenordner brütete. Jedes Detail seiner Erscheinung vermittelte zweifelsfrei die Akribie, die jede Sekunde seines Lebens beherrschte, und nur deshalb war er der Manager.
 

Er hob irritiert den Kopf, als er ein zögerliches Klopfen an der Tür vernahm und erblickte seine Sekretärin, die einen weiteren Ordner in der Hand hielt.
 

„Der Biotech-Termin ist heute Nachmittag, Sir“, sagte die Sekretärin entschuldigend und hielt ihm den Ordner entgegen. Mit einem Nicken legte er ihn neben seinem Aktenstapel ab und die Sekretärin verschwand ohne weitere Worte wieder in ihr Vorzimmer.
 

Der Manager schnaubte und fegte seine aktuellen Dokumente mit einer abrupten Handbewegung vom Tisch. Gereizt schloss er die Augen und nahm einen tiefen Atemzug.
 

Der Biotech-Termin. Biotech, der größte Abnehmer seiner aktuellen Produktionsreihe, würde in exakt 2,4 Stunden an Gate 14 eintreffen, um das neue Sortiment in Augenschein zu nehmen. Der Biotech-Exponent erwartete eine einwandfreie Präsentation des Sortiments, und er, der Manager, hatte diese immer geliefert; jeder Biotech-Termin erforderte Vorbereitungszeit, in der er die für den Exponenten relevanten Aspekte des Sortiments verinnerlichte, und der Exponent verließ sich darauf, dass der Manager diese Leistung erbrachte. Deshalb war er der Manager: er leistete.
 

Ihm war der Termin entfallen.

Der Exponent traf in 2,3 Stunden ein und er war nicht vorbereitet.
 

Um 16:15 würde Gate 14 mit einem Knopfdruck des Portiers öffnen und Biotech die Anlage betreten, und der Manager hatte versagt.
 

Sein Herz hämmerte im Stakkato in seinem Brustkorb. Fahrig griff er, von einem Zittern erfasst, nach der Biotech-Akte, die anklagend mit den anderen auf dem Boden lag, und setzte sie vorsichtig auf seinem Schreibtisch ab; fast, als könnte Biotech durch den Ordner sein erratisches Verhalten erspähen.
 

Sein Blick fiel auf die Uhr. In 2,2 Stunden traf der Exponent ein; er hatte Arbeit vor sich.
 

***
 

Es klopfte an der Tür.

Der Manager schreckte hoch, richtete hastig seinen Anzug und nahm Haltung an, bevor die Sekretärin den Raum betrat. Er hob, ohne ein Wort, nur fragend eine Augenbraue, bemüht, seine Contenance nicht fingiert erscheinen zu lassen.
 

„Es ist 16.00 Uhr, Sir. Der Portier erwartet Sie am Gate“, informierte die Sekretärin ihn mit unruhiger Stimme. Es hätte ihn irritiert, hinge seine Fassung nicht selbst am seidenen Faden.

Er nickte. Sie schloss die Bürotür.
 

Der Manager stand auf. Fahrig strich er sich über die Haare, rückte seine Krawatte zurecht, richtete erneut das Jackett seines Anzugs; sein Gebaren verriet die Anspannung, die in jeder Bewegung steckte. Es schien ihm unmöglich, sich zusammenzureißen, doch er hatte keine Wahl: Der Exponent traf in 15 Minuten ein.
 

Gate 14 war eines von 27 Gates, die meterhoch über die ohnehin gewaltigen Zäune ragten. Stacheldraht, der die imposante Konstruktion säumte, verlieh Gate 14 und den umgebenden Gittern eine militärische, feindliche Ausstrahlung, die jeden Besucher einen Hauch von Unbehagen verspüren ließ, und der Manager war keine Ausnahme.

Er stand, das professionelle Lächeln aufgesetzt, neben dem Portierhäuschen und sah mit flauem Gefühl dem Biotech-Dienstwagen entgegen, der soeben in wenigen Metern Entfernung zum Stillstand gekommen war.
 

Der Exponent stieg aus.
 

***
 

Die Fabrikhalle erstreckte sich weiter in die Ferne, als man mit bloßem Auge sehen konnte. Der Anblick, der sich dem Besucher bot, war eine eigentümliche Melange aus metallenen Apparaturen, glänzenden Getrieben und staubigen Förderbändern, die unabdinglich surrten und piepten; unterbrochen nur von blechernen Bandansagen, die den wenigen vorhandenen Arbeitern in unterschiedlichen Rhythmen Anweisungen diktieren.
 

Der Manager stand nun mit dem Exponenten und seinem Assistenten vor einem stillstehenden Förderband, eine Art Fernbedienung in der Hand, und deutete auf einen vergitterten Schacht, aus dem das Förderband hervorragte. „Sir, an dieser Stelle wird die neue Produktreihe von der Produktionshalle ins Lager befördert. Ihrem Anfrageschreiben konnte ich entnehmen, dass Sie mit der letzten Serie nicht völlig zufrieden waren, korrekt?“
 

Der Exponent nickte. „Das wäre korrekt. Die exakten Unzulänglichkeiten sind Ihnen aus unserer Korrespondenz bekannt, also lassen Sie uns zum Punkt kommen. Die neuen Modelle?“
 

Der Manager räusperte sich. Dieses Szenario, das alljährliche Verkaufsgespräch, das doch jedes Mal nur eine Farce war, die im selben Ergebnis endete, müsste er im Schlaf beherrschen; aber er war nicht vorbereitet, und der Exponent war erbarmungslos, wenn er Unsicherheit witterte. Er war erfahren mit den Biotech-Verhandlungen, und deswegen war er hier, aber er war nicht vorbereitet, und der Exponent würde ihn durchschauen.

Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn; seine Kehle war trocken und kratzig. Er räusperte sich erneut. „Einen Moment, Sir“, bat er, die Nervosität hinunterschluckend, und tastete nach dem Knopf seiner Fernbedienung, der das Förderband starten sollte.
 

Ein Surren ertönte und das Band setzte sich in Bewegung. Das Gitter oberhalb des Bandes öffnete sich lautlos; auf halbem Weg nach oben glitt ein rechteckiger, flacher Behälter ins Blickfeld des Managers, gleich einem Sarg ohne Deckel. Das Band förderte den Kasten im Schritttempo in Richtung des Exponenten, der interessiert auf den Inhalt des Behältnisses wartete.

Der Manager wandte sich, frostiges Lächeln im Gesicht, dem entgegenkommenden Kasten zu und bedeutete dem Exponenten, näher zu kommen.

„Sir, gleich sehen Sie X-3.0, das neuste Modell der X-Reihe. Im Vergleich zu X-2.9 bietet X-3 Ihnen Vorteile, deren Wert für Biotech ich Ihnen nicht erklären werden muss. X-3s Lebensdauer wurde um 0.44% erhöht: die Gesamtdauer eines Lebenszyklus beträgt jetzt 933 Monate statt der vorherigen 929, also nahezu 78 volle Jahre, in denen X-3 produktiv tätig sein kann. Da X-3 weiterhin ein biologischer Organismus ist, war unser oberstes Ziel, die Infektanfälligkeit des Modells zu verringern: für Sie, Sir, spart das letztendlich Wartungskosten und verhindert eine Verringerung des durchschnittlichen Leistungsoutputs. Langfristig wird Ihnen das bares Geld sparen. X-3 amortisiert sich selbst.“
 

Der Exponent erweckte den Eindruck, als hätte er der Verkaufsrede des Managers nur halb zugehört. Er nickte zwar zustimmend, aber doch wortlos, und sein Blick schien fixiert auf den Kasten, der sich weiterhin langsam in ihre Richtung bewegte. Innerlich fiel dem Manager ein Stein vom Herzen: er hatte es geschafft. Der Exponent würde, wie jedes Mal auch, zufrieden mit ihm sein und keine Fragen stellen, denn er, als Top-Tier-Manager, wirft keine Fragen auf. Kompetenz war, was ihn in seine Position brachte, und Kompetenz hinterfragte man nicht.
 

Der Exponent räusperte sich. „Eine um 0.44% höhere Lebenswartung? Eine Erhöhung von 4 Monaten sollte doch nur 0.43% entsprechen, sehe ich das richtig?“
 

Binnen eines Herzschlages wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Der Exponent… hatte Recht.

Das hieß für ihn: er hatte Unrecht. Er lag falsch. Er hatte einen Fehler gemacht, denn er war nicht vorbereitet, und jetzt war es zu spät.

Seine Glieder fühlten sich schlagartig bleiern an, sein Rachen rau, und zwischen den heißkalten Wellen aus Scham und Erniedrigung kam seine Stimme beinahe krächzend hervor, als er dem fragenden Blick des Exponenten begegnete. „Ja… natürlich. 0.43% höher, Sir, absolut korrekt.“
 

Zufrieden nickte der Exponent. Der Manager konnte die blasierte Selbstgefälligkeit in jeder Bewegung des Exponenten erkennen, aber es war zu spät. Er konnte nur noch Haltung wahren, während sein Herz in seiner Kehle schlug.
 

Das Förderband kam mit einem lauten Signalton neben ihnen zu stehen. Interessiert schritt der Exponent nach vorne, um den Inhalt des Kastens genauer zu begutachten – Modell X-3.0.
 

X-3 war 178cm lang und 85kg schwer. Seine Gestalt war gekennzeichnet durch zwei muskulöse Extremitäten befestigt am unteren Rumpf, zwei weitere oben, und wies hin auf die innerte Bipedie des Modells, die es für physische Arbeit ideal machte. Sein zentrales Steuerungssystem war, geschützt von einer runden, harten Gewebeschicht – dem Cranium – ebenfalls am Rumpf zwischen den oberen Extremitäten befestigt; die audiovisuellen Module lagen an der Frontseite des Craniums.

Desweiteren war X-3 per Design von unnötigen, gar hinderlichen Individualcharakteristika befreit: die Oberfläche des Modells war glatt und homogen, die gegenüberliegenden Extremitäten symmetrisch. Nichts am optischen Erscheinungsbild war herausstechend.
 

X-3 lag regungslos in seiner Verpackung. Der Exponent besah das Modell mit prüfendem Blick, der von oben bis unten wanderte, und hakte augenscheinlich X-3s Spezifikationen gewissenhaft anhand einer mentalen Checkliste ab. Schließlich wandte der Exponent sich dem Manager zu. „Das Modell scheint suffizient. Nichtsdestotrotz benötigen wir das Testexemplar, bevor wir eine Massenproduktion in Auftrag geben können – Sie sind mit dem Prozedere ja vertraut.“
 

Der Manager nickte, fast zu hastig, und versuchte erfolglos, seine Nervosität unter Kontrolle zu bringen, doch das ununterdrückbare Zittern seiner Hände verriet ihn. „Natürlich, Sir. Wie gewohnt steht dieser X-3 sofort für Sie bereit. Ich nehme an, Sie haben das alte Testexemplar dabei?“
 

Mit einem Nicken trat der Exponent vom Förderband zurück und wandte sich seinem Assistenten zu. „Den X-2.9, bitte.“

Der Assistent sprang auf und eilte ohne weitere Worte aus dem Gate. Nach wenigen Minuten kam er zurück, im Schlepptau eine ebenso stumme Figur, die mechanisch hinter ihm her stakste; in seiner Hand hielt der Assistent eine Fernbedienung ähnlich der des Managers. Die Figur sah X-3 verblüffend ähnlich: Ähnlich hoch, ähnlich breit, zweibeinig, detaillos. X-2.9s Videomodule, ebenfalls zwei, ebenfalls im Cranium, scannten die vor ihm liegende Umgebung, doch die visuell-motorische Kommunikation war ineffizient; X-2.9 schien den Input des Videomoduls nicht korrekt zu analysieren, sodass seine Bewegungsabläufe auf dem unebenen Fabrikboden unbefriedigende Ergebnisse lieferten. Der Assistent sah pikiert zu, wie sich X-2.9 seinen Weg zum Exponenten bahnte, und warf diesem einen entschuldigenden Blick zu. „Verzeihung, Sir. X-2.9s Videomodule sind, wie Sie sehen, fehlerhaft.“
 

Mit einem Surren öffnete sich eine kleine Schleuse an der Wand, die hinter dem Förderband entlang lief. Hinaus traten zwei Personen, die in orangefarbene Schutzanzüge gekleidet waren, wovon einer einen orangefarbenen Kanister und ein anderer einen Werkzeugkoffer in der Hand hielt. Die Schutzanzüge stellten beides ab, schlossen die Schleuse, nahmen Koffer und Kanister wieder in die Hand und sahen anschließend fragend in die Richtung des Managers.
 

Der Manager gab ihnen ein bejahendes Handzeichen und sah zum Exponenten. „X-3 können Sie sofort einladen, wenn die Herren in Orange X-2.9 entsorgt haben, Sir.“
 

Die Schutzanzüge waren effizient: X-2.9 lag keine Sekunde später auf dem Hallenboden. Schutzanzug 1 griff in seinen Koffer, entnahm ein schraubenzieherartiges Werkzeug und löste mit geübten Handgriffen die oberen Extremitäten vom Rumpf, während Schutzanzug 2 dasselbe mit den unteren Extremitäten vollzog. Die leuchten Videomodule am Cranium von X-2.9 beobachteten die Schutzanzüge, leiteten aber keine Aktionsaufrufe an das Steuerungssystem weiter – dieses war von Schutzanzug 1 zu Beginn der Zerlegung deaktiviert worden. Nachdem die Glieder abgetrennt waren, drehte Schutzanzug 1 den Rumpf auf den Rücken, öffnete eine Klappe und griff nach einem Strang Nervengeflecht, das die Bauteile des Modells verband. Mit einem Ruck riss Schutzanzug 1 das Geflecht aus dem Rückenteil; X-2.9s Videomodule, eben noch erhellt, erloschen prompt.

Die Schutzanzüge klappten die Bauteile flugs zusammen, soweit es möglich war, und warfen sie unzeremoniell in den orangefarbenen Kanister. Schutzanzug 1 schloss den Werkzeugkoffer; Schutzanzug 2 nahm den Kanister. Beide erhoben sich, Ausrüstung in der Hand, und verschwanden mit den Überresten von X-2.9 in der Schleuse, die sich wieder hinter ihnen schloss.
 

Der Manager, am Ende seiner Präsentation angelangt, konnte ein erleichterndes Seufzen nicht unterdrücken. Es war geschafft; der Exponent war bedient, und sein Fehler würde vergessen. Der Assistent hatte X-3 bereits in den Biotech-Dienstwagen geladen. Wieder wandte er sich dem Exponenten zu. „Verzeihen Sie den Aufwand, Sir, den X-2.9 Ihnen bereitet hat. Wie Sie ja wissen, ist für ein fehlerloses Modell ein fortlaufender Optimierungsprozess nötig, dessen Ende wir bei X-2.9 nicht erreicht haben. Ich hoffe, X-3 kann X-2.9s Fehlerhaftigkeit wettmachen.“
 

Die Lippen des Exponenten verzogen sich nach oben, und seine Hand ergriff die des Managers. „Das hoffe ich.“
 

***
 

Das Büro war grau, mit glänzenden, stahlfarbenen Wänden, und enthielt nicht mehr als einen Aktenschrank und einen gläsernen Schreibtisch, vor dem ein lederner Drehstuhl stand.

Der Manager saß um Punkt 19:15 in jenem Stuhl, genau drei Stunden, nachdem der Biotech-Exponent eingetroffen war. Der Termin, für den er nicht vorbereitet gewesen war, war vorbei; er war gestolpert, doch der Exponent war zufriedengestellt. Er war der Manager: so war seine Aufgabe, und er hatte sie erledigt.
 

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte zur Tür, abgespannt und gerädert – was sollte seine Sekretärin jetzt noch wollen? Der Tag war vorbei. Der Exponent war fort.
 

Die Tür öffnete sich. Die Sekretärin betrat den Raum, zögerlich, wie immer, doch nun lag in ihrem Blick ein existenzielles Unbehagen. Sie sah ihm geradewegs in die Augen – sonst getraute sie sich kaum, ihn anzusprechen! – und senkte dann entschuldigend den Kopf. „Es tut mir Leid, Sir. Das fehlerhafte Modell muss ausgetauscht werden.“
 

Irritiert sah er auf. „Fehlerhaftes Modell? X-2.9 ist längst entsorgt. Was geht hier vor?“
 

Die Sekretärin antwortete nicht und trat stattdessen zur Seite, um die Tür freizugeben. Hinein traten zwei Personen, gekleidet in orangefarbene Schutzanzüge.

Schutzanzug 1 stellte einen Koffer auf seinem Schreibtisch ab; Schutzanzug 2 folgte mit einem Kanister.

Schutzanzug 1 sah ihn an. „Modell M-1 ist fehlerhaft. Modell M-2 wartet.“

Schutzanzug 2 hob sein Werkzeug, und er fühlte einen Luftzug an seinem Rücken, als eine Klappe hinter seinem Jackett aufsprang.
 

Das Leuchten in den Augen des Managers erlosch. Der Fehler war beseitigt.



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