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Red V

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nach ein paar Jahren habe ich mich doch dazu entschieden, etwas Besseres aus dem ehemaligen "Pride" zu machen. Die Idee war mir zu wertvoll, um sie einfach verstauben zu lassen.
Ich hoffe, sie gefällt euch alten, sowie euch neuen Lesern! Falls ihr Vorschläge oder konstruktive Kritik habt, lasst es mich wissen! Positives Feedback ist natürlich auch nicht verboten ;)

Artem Komplett anzeigen

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Eiskalt

Nachts war ich den Weg vom Supermarkt bis zu meiner Wohnung immer sehr zögerlich gegangen. Ich genoss es einfach, durch die Straßen zu gehen, wenn fast niemand anderes es tat. Das war natürlich nicht in allen Teilen der Stadt so, doch auf genau diesem Weg, vom Supermarkt bis zu meiner Haustür, herrschte zu dieser unchristlichen Stunde immer ein besonderer Frieden.

Blöderweise hatte ich mich gerade heute zu ziemlich leichter Kleidung entschieden. Mir schlug ein eisiger Wind entgegen, der direkt durch meinen Pullover hindurchfegte. Ein Schauer lief mir den Rücken herunter. Die Hand, in der Ich meine Einkaufstüte trug, war schon fast taub vor Kälte.

Vielleicht hätte ich doch ein Wenig schneller gehen sollen. Dann säße ich jetzt schon in meiner Wohnung. Die war zwar auch nicht gerade großzügig geheizt, doch isoliert war sie, und unter drei Decken war es schon fast so warm wie an einem Kaminfeuer. Der Gedanke an ein warmes, kuscheliges Plätzchen motivierte mich glatt dazu, die Tüte ein bisschen fester zu umklammern und bestimmt die Straße herunterzumarschieren, in dem Wissen, bald zuhause zu sein.

Im Licht der Straßenlaternen erkannte ich von Weitem die Shilouette eines Hundes. Er stand ein paar hundert Meter entfernt mitten auf der Straße, doch seinen Besitzer konnte ich nicht entdecken. Vermutlich stand er irgendwo zwischen den Autos, oder schlief in einer der Gassen.

Einen Hund zu sehen motivierte mich noch viel mehr. Ich sah zwar nicht viele Menschen mit ihren Hunden nachts durch die Straße laufen, doch hin und wieder erlebte man doch ein paar nette Überraschungen. Hunde hatten diese wunderbare Gabe, jede Situation zu verbessern. Vorausgesetzt natürlich, sie waren genauso froh, mich zu sehen, wie ich sie.

Während ich hastig einen Fuß vor den anderen setzte und die Atemwolken aus meinem Mund beobachtete, spürte ich, wie meine Wangen langsam anfingen zu brennen. Der Winter hatte gerade erst angefangen, doch nachts wurde es nochmal doppelt so kalt wie tagsüber. Hoffentlich kommt demnächst der erste Schnee. Dann lohnen sich die Minusgrade wenigstens.

Ich sah erneut zum Hund. Er hatte sich nicht von der Straße bewegt. Tatsächlich hatte er sich gar nicht bewegt. Stand still da, sein Blick direkt auf mich gerichtet.

Mir lief erneut ein Schauer über den Rücken, diesmal lag es allerdings nicht an der Kälte. Die Situation kam mir auf seltsame Weise faul vor. Irgendwas stimmte nicht.

Kurz verlangsamte sich mein Schritt, dann lief ich wieder mit gleichem, hastigem Tempo die Straße entlang, geradewegs auf den Hund zu. Er bewegte keinen Muskel. Je näher ich kam, desto schärfer wurde das Bild, umso größer und unförmiger wurde der Hund - bis ich abrupt stehen blieb. Schlagartig wurde es mir klar.

Das war kein Hund.

Ich war nur noch einige dutzend Meter entfernt. Die Shilouette bewegte sich zum ersten Mal, seit ich sie erblickt hatte. Ein paar Schritte vorwärts, direkt in den Lichtschein der Straßenlaterne. Meine Tüte fiel zu Boden.

Ein Werwolf.

Glänzende, gelb leuchtende Augen fixierten mich. Tief aus seiner Kehle ertönte ein boshaftes Knurren. Ich hielt die Luft an. Langsam, ganz langsam bewegte er sich auf mich zu, musterte mich bedrohlich und fletschte seine Zähne. Ganz eindeutig kein Zeichen dafür, dass er froh wäre, mich zu sehen.

Na großartig.

Ich musste schnell überlegen, was ich nun tat. Ich hätte rennen können, doch er wäre schneller gewesen. Ich hätte reden können, doch er wäre nicht darauf eingegangen. Ich hätte kämpfen können. Doch ich wusste nicht, wie ernst es war. Blieb mir eine andere Wahl?

Ein weiteres Knurren ertönte, diesmal lauter, aggressiver.

Blitzschnell wirbelte ich herum, um nach einer nützlichen Waffe zu suchen. Nein, mir blieb keine andere Wahl. Dieses Tier wollte keinesfalls spielen, geschweige denn diskutieren.

Noch bevor ich in meine Einkaufstüte greifen konnte, machte der Wolf einen Satz. Er riss mich mit seinem gesamten Gewicht zu Boden und drückte meine Schultern mit seinen Pranken auf den Asphalt. Ich schnappte nach Luft. Während sich seine Klauen in mein Fleisch bohrten, schnappte er wie wild nach meiner Kehle, konnte sie jedoch nicht erreichen, solange ich ihn weit genug von mir wegstemmte. Ein paar spitze Steine stachen mir gnadenlos in den Rücken und ließen den Schmerz wie eine Schockwelle durch meinen Oberkörper laufen.

Keine Zeit. Keine Zeit für Schmerzen.

Ich riss meinen Ellbogen hoch und zielte mit der geballten Faust direkt auf die Kehle. Aus dem Wolf ertönte eine Mischung aus Winseln und Würgen und für den Bruchteil einer Sekunde verlagerte er sein Gewicht so, dass ich mich von ihm befreien konnte. Ich rollte zur Seite, richtete mich schnellstmöglich auf und wich aus, als er erneut versuchte, sich auf mich zu schmeißen. Der Wolf landete krachend in einem Autofenster.

Im nächsten Moment begann die Welt, sich zu drehen. Das Hupen der Autoalarmanlage vermischte sich mit dem Rauschen in meinen Ohren. Ich musste mit dem Kopf aufgeschlagen sein, oder ich hatte mich zu schnell aufgerichtet, doch was es auch war, ich musste weitermachen. Ich musste kämpfen. Ich musste. Kämpfen. Dieser Werwolf war zwar riesig, doch er war bei Weitem nicht so schwerfällig, wie er hätte sein sollen. Er bewegte sich eher wie ein vierzigpfündiger Kampfhund als eine tonnenschwere Bestie.

Mir graute, dass ich es nicht einfach mit einem kampflustigen Wolf aus der feindlichen Organisation zu tun bekommen hatte. Doch was er auch sein konnte - wenn ich nicht maßgeblich handelte, würde ich sterben. Das war mir sonnenklar.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich mein Gegenspieler aus dem Fenster zu befreien versuchte. Mir blieben nicht mal mehr Sekunden, bis er wieder auf mir sitzen würde. An ein gegenüberliegendes Auto gelehnt kniff ich die Augen zusammen und suchte nach einer passenden Energiequelle, tief in meinem Innern. Nach etwas, das ich normalerweise nicht antastete. Wenn ich heute noch lebendig nach Hause kommen wollte, musste ich auf andere Maßnahmen als pures Können zurückgreifen.

Erst das kreischende Geräusch von Blech, das auf den Asphalt geschleudert wurde. Dann das wütende Schnauben der Bestie. Ich gelang immer tiefer in meinen Geist, ging leuchtende Energien durch, die ich beim besten Willen nicht anrühren wollte. Aber musste.

Gerade, als ich kurz davor war, meinen Halt zu verlieren und von der Motorhaube abzurutschen, fand ich das, wonach ich gesucht hatte. Die Welt hörte abrupt auf, sich zu drehen. Nichts schwankte mehr, nichts schmerzte. Alles, was meine Schwächen hätte andeuten können, verflog.

Ich öffnete meine Augen. Unmittelbar vor mir sprang der Werwolf auf mich zu, bereit, mir die Kehle zu zerfetzen und das Herz aus dem Leibe zu reißen. Nur bewegte er sich nahezu in Zeitlupe. Alles ging unglaublich langsam.

Auf meinem Gesicht breitete sich ein teuflisches Grinsen aus. Ich stieß mich vom Auto weg, machte ein paar anmutige Schritte auf meine Einkaufstüte zu, griff hinein und holte eine billige Flasche Wein heraus. Prüfend musterte ich sie, wog sie einige Male hin und her und entschied mich dann, dass sie wohl als Waffe ausreichen würde. Alles war eine Waffe, wenn man sie zu benutzen wusste.

Mit dem Grinsen auf meinen Lippen und der Flasche in meinen Händen sah ich noch ein Mal zu dem Wolf. Er war nur noch wenige Armlängen davon entfernt, erneut auf einem PKW aufzuschlagen.

Dann rannte ich los. Die erst langsamen Bewegungen des Angreifers wurden schneller, bis sie ihr ursprüngliches Tempo wiedererlangt hatten. Mit einem lauten Dröhnen beulte er das Auto ein, landete aber in derselben Sekunde wieder auf den Beinen. Er versuchte, sich ein weiteres Mal auf mich zu werfen, doch ich wich fast schon elegant aus und schlug mit voller Wucht auf seinen Brustkorb ein. Einige seiner Rippen gaben ein bedenkliches Knacksen von sich; der Wolf winselte.

Nächster Schritt, Flasche zerbrechen. Zwar hätte ich auf seinen Kopf zielen und hoffen können, dass sie dort zerbricht, doch die Wahrscheinlichkeit war mir zu niedrig. In einer flinken Bewegung schleuderte ich den Boden der Flasche auf den Asphalt. Glasscherben klirrten und flogen in die verschiedensten Richtungen, während sich der Wein als winzige Flut auf dem Grund ausbreitete.

Gerade in dem Moment erwischte das Tier meinen Arm und warf mich mit seiner Masse gegen einen parkenden Kleinbus. "Scheiß Köter!" keuchte ich, holte aus und versenkte die zerbrochene Flasche tief in seinem Genick. Knapp einen Meter taumelte er noch rückwärts, bevor er in dramatischem Jaulen zu Boden fiel.

Ich ließ mir keine Zeit fürs Durchatmen. Stattdessen schnappte ich mir augenblicklich eine dolchartige Scherbe der zertrümmerten Weinflasche und ging direkt auf die keuchende Kreatur zu meinen Füßen zu. Mit einem kräftigen Tritt drehte ich ihn auf den Rücken.

Ich hätte schwören können, dass so, wie der Wolf da lag, wie sich sein Brustkorb geradezu ängstlich auf und ab hob - dass dort eine gewisse Ehrfurcht durch seine Verwundbarkeit schien. Seltsam für einen Feind.

"Letzte Worte, Struppi?", fragte ich kühl, obwohl ich ehrlich gesagt nicht plante, diesem Vieh noch zuzuhören. Ich drückte ihm meinen Stiefel auf die Brust und hörte, wie es ihm die Luft aus der Lunge stieß. Mit der einen Hand schob ich unsanft sein Kinn nach oben, sodass ich an die Kehle kam, mit der anderen umfasste ich die Scherbe vielleicht ein bisschen zu fest, als ich sie an seinem Hals ansetzte.

"Warte", krächzte es plötzlich aus dem Wolf. Ja, aus dem Wolf. Die Stimme musste einem jungen Mann gehören. "Ich ergebe mich."

Mit schmalen Augen musterte ich das Tier unter mir. Nichts hatte sich verändert, nur die Stimme kam aus ihm. Sie hörte sich lediert, wenn nicht sogar gebrechlich an, was ja mal so gar nicht zu dem Fleischberg unter meinem Stiefel passte. Seine gelben, raubtieraften Augen standen im Kontrast zu dem Flehen, mit dem er mich ansah. Doch irgendetwas irritierte mich trotzdem. Es war mir so, als steckte unter dieser hilflosen Ergebenheit noch etwas anderes, kaum merkbares. Etwas wie Sicherheit.

"Ich ergebe mich", wiederholte er, diesmal mit festerer Stimme. Ich sah für eine Sekunde zur Seite, bevor ich schnaubend den Kopf schüttelte und mich zu ihm herunterbeugte. "Das interessiert mich einen Scheißdreck."

Dann schlitzte ich ihm die Kehle auf.

Glaubte ich zumindest. Ich hatte es ganz fest vor, ich hatte es praktisch schon vollbracht, doch... Die Scherbe glitt einfach aus meiner Hand. Mit fassungslosem Blick sah ich ihr nach, wie sie klirrend auf dem Untergrund landete. Sie hatte tiefe Schnittwunden in meiner Handfläche hinterlassen, doch das war in dem Moment mein kleinstes Problem.

Nach und nach wurde jedes meiner Gliedmaßen taub. Nichts gehorchte mir mehr, kein Teil meines Körpers tat das, was ich ihm befahl. Ganz grundlos sackte ich zusammen, wie eine Marionette, dessen Fäden man abgeschnitten hatte. Ich wusste nicht, wie mir geschah. War etwas schiefgelaufen? Hatte ich die falsche Energiequelle gewählt?

Mit einem dumpfen Schlag kam ich auf dem Asphalt auf. Hat da unter mir nicht eben noch der Wewolf gelegen? Was zur Hölle passiert hier?

Tanzende Lichter breiteten sich über mein Sichtfeld aus, als alles begann, zu verschwimmen. Gleißender Schmerz schoss erst durch meinen Kopf, dann durch meinen restlichen Körper. Brennend wie ein hungriges Feuer spürte ich plötzlich all die Verletzungen, die ich vorher betäubt hatte.

So unklar, als hätte man Watte in meine Ohren gesteckt, hörte ich jemanden reden. Eine männliche Stimme. Nein, zwei sogar. Die andere war deutlich tiefer. Aus irgendeinem Grund stellten sich bei mir sämtliche Haare auf, als ich die tiefere Stimme näher an meinem Ohr hörte. Vielleicht lag es aber auch an dem, was sie sagte, denn selbst in meinem Zustand der Ohnmacht drangen diese Worte in meinen Verstand, wie ein Speer durch eine Bullenhaut.

"Herzlichen Glückwunsch, Kriegerin Montgomery."

Zwischen Flummi und Großkotz

Während ich langsam zu mir kam, nahm ich schemenhaft wahr, wie jemand eine Melodie summte. Ich konnte sie nicht direkt bestimmen, doch ich wusste genau, dass ich sie kannte. Mir liegt es doch geradezu auf der Zunge... Himmel, ich kenne das doch! Frustriert gab ich ein Stöhnen von mir.

Abrupt hörte die Melodie auf und ein paar hastige Schritte kamen auf mich zu. Ich öffnete die Augen und zuckte beinahe zusammen, als sich jemand tief zu mir herabbeugte.

"Katherine?" Eine junge Frau, vielleicht einige Jahre jünger als ich, demanch ungefähr Anfang Zwanzig, lächelte mich aus wenigen Zentimetern Entfernung an.

"Kae", korrigierte ich sie nach kurzem Schweigen. "Einfach nur Kae."

Ihr Lächeln wurde breiter. "Klar!", nickte sie, richtete sich auf und kritzelte etwas auf ein Klemmbrett. "Einfach nur Kae", murmelte sie dabei. Sie trug eine weiße Uniform, die mich an nichts anderes als eine Krankenschwester aus den fünfziger Jahren erinnerte. Sie vertrug sich jedoch wunderbar mit ihrem zartrosa Haar, das in einem wüsten Flechtzopf zusammengefasst war. An ihren molligen Armen fand ich einige Tattoos, unter anderem eins, das Betty Boop auf einem Cupcake zeigte. Mit Mühe unterdrückte ich ein Schmunzeln.

Als ich mich dann im Raum umsah, brauchte es nicht lange, bis ich erkannt hatte, wo ich mich befand. Die gesamte Möblierung war in sterilem Weiß gehalten und das Bett, in dem ich lag, war unbequem wie Hölle. Ganz klar ein Krankenhaus.

Die Schwester sah von ihrem Klemmbrett wieder zu mir. "Du warst nicht lange weg. Eine Nacht. Also, eine halbe, wenn man es genau nimmt, also..." Sie schüttelte kurz den Kopf, als müsse sie ihre Gedanken sortieren. "Es ist drei Uhr nachmittags. Dein Aufnahmekampf war gestern Nacht."

Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. "Aufnahmekampf?"

Wie ein Vogel legte sie den Kopf schief. "Ja. Wurde dir noch gar nicht, ich weiß nicht... gratuliert oder so?"

In die Ferne starrend dachte ich an die letzte Nacht zurück. Nur langsam kamen die Erinnerungen wieder. Der Wolf, sein Blick, als ich ihm die Kehle aufschlitzen wollte. Meine schlagartige Ohnmacht. Und die bedrohliche Stimme unmittelbar an meinem Ohr, die meinen Namen betont hatte, als wäre er ein schlechter Scherz.

"Doch...", raunte ich nickend. "Mir wurde gratuliert." Innerlich durchlebte ich nochmal die vergangenen Ereignisse, da sie einfach nicht richtig bei mir ankamen. Es fühlte sich eher an, wie ein nicht richtig einzuordnender Traum. Einen Augenblick lang herrschte Stille.

"Ähm... Cool!", brach die Frau das Schweigen, ein Wenig verwirrt umherblickend. Ohne zu zögern fuhr sie fort. "Deine Wunden sind wirklich gut verheilt, ja, mir sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als ich gesehen habe, wie schnell du heilst. Karlsson meinte aber, dass das normal wäre, aber wiedemauchsei, den Verband an Hand und Schulter würde ich trotzdem noch bis heute Abend dran lassen, nurfürdenFall, und pass auf, die Verbandsklammern sind manchmal lose..." Ihre planlose Weise zu reden gepaart mit ihrer wilden Gestik war ein einmaliges Bild. Sie kam mir vor wie ein Flummi mit ADHS. "Achso, ich bin übrigens Liv, Krankenschwester auf der Krankenstation im Hauptsitz der Red V!"

Ich hielt die Luft an. Das war das einzige, was ich aus dem wirren Geplapper meines Gegenübers herausfilterte. Haupteinheit. Ich befand mich in der Haupteinheit der Organisation, in der ich mein Leben lang als Kriegerin trainiert hatte. Das ging kaum in meinen Kopf, so unwirklich hörte es sich an. Es passiert tatsächlich. Ich bin in der Red V Elite.

Plötzlich kam mir ein weiterer Gedanke. "Der Kampf gestern. Dieser Werwolf. War der einer von uns?"

Liv summte leise, während sie nachdachte. "Ja, das war ein Red V, klar war das einer. Natürlich... Mir fällt nur gerade nicht ein..." Mit einer Grübelfalte zwischen den Augenbrauen kaute sie auf ihrer Lippe herum. Dann schoss ihr Finger in die Höhe. "Ich weiß es! Beverly Gatwick! Liegt momentan auf Zimmer 4."

"Beverly?", stieß ich hervor. "Das war eine Frau?"

"Hm?" Meine Krankenschwester schürzte die Lippen und hob die Augenbrauen. "Achso, oh man, nein. Nein, Beverly ist ein ganzer Kerl. Ich hab es auch erst nicht begriffen, aber dann wurde mir erklärt, dass es den Namen sowohl für Männer als auch für Frauen gibt. Nicht gerade die schlauste Namensgebung, wenn du mich fragst." Eine Zeit lang nickte sie, nachdenklich über ihr eigenes Statement.

"Liv, richtig?" Ich setzte mich in meinem Krankenbett auf. "Kann ich dich fragen, wie es jetzt mit mir weitergeht?"

Aus ihrer kleinen Trance gerissen schaute sie auf. Sie schien andauernd wild zwischen Abdriftung und geballter Nervosität zu wechseln. "Wie meinst du das?"

"Naja, mir ist klar, dass ich jetzt Kriegerin der Haupteinheit bin, auch wenn ich das erstmal verdauen muss. Aber wo gehe ich dann hin? Wohne ich hier im Hauptsitz oder muss ich zurück nach Jersey oder-" "Moment, Moment, Moment", unterbrach sie mich. "Du kommst aus New Jersey? Also für eine Amerikanerin hörst du dich ziemlich Britisch an." Damit hatte sie mich nun komplett aus der Bahn geworfen.

"Äh." Ratlos musterte ich Liv. "Ja, ich bin in England aufgewachsen und später nach Amerika gezogen, aber das ist jetzt um ehrlich zu sein nicht das, worauf ich hinauswollte-" "Man, wie cool! England! Was um Himmels Willen hat dich denn dazu gebracht, von da in die USA auszuwandern?" Wollte sie denn absichtlich ablenken? Ich wusste beim besten Willen nicht, was im Kopf dieser Liv abging. Sie hatte allerdings so etwas unglaublich Freundliches und Pures an sich, dass ich ihr gegenüber nicht schnippisch werden wollte.

Verzweifelt rieb ich mir die Augenbraue und ließ meinen Arm zurück auf die dünne Bettdecke plumpsen. "Lange Geschichte. Kannst du mir stattdessen sagen, was ich jetzt machen soll? Oder zumindest, an wen ich mich wenden kann?" Als wollte mein Körper meine Hilflosigkeit noch ein bisschen untermauern, meldete sich mein Magen mit einem mörderischen Knurren.

"Ja. Also theoretisch. Ich will dich ja nicht beunruhigen, aber..." Sie machte eine Pause, die für meinen Geschmack viel zu lang war. "Aber...?", half ich nach. "Ich erwähnte doch diesen Karlsson? Brendon Karlsson, du weißt schon, der mich wegen deiner Heilkräfte belehrt hat." Ich nickte, obwohl ich keinen Schimmer hatte, wen sie meinte. "Das ist sozusagen unser Leiter. Und er wollte dich unbedingt in seinem Büro sprechen, gleich nachdem-" Jetzt war ich diejenige, die unterbrach. "Warte. Leiter von was? Leiter der Krankenstation, der Haupteinheit...?"

Liv wog ihren Kopf hin und her. "In gewisser Weise schon. Brendon Karlsson..." Wieder eine dramatische Pause. "Das ist das Oberhaupt der Red V."

Mir war, als hätte jemand sämtlichen Sauerstoff aus meiner Lunge gepresst. Mein Puls begann, in die Höhe zu steigen. "Du meinst... von allem? Leiter von der gesamten Organisation?"

Sie nickte. "Die oberste Spitze."

"Ach du scheiße", flüsterte ich.

Verständnisvoll schenkte Liv mir ein schmallippiges Lächeln. "Und bevor du fragst: Nein, das wird nicht mit jedem neuen Rekruten gemacht. Karlsson ist zwar sehr bemüht, möglichst nah bei den Mythern der Haupteinheit zu stehen, aber alleine in sein Büro gerufen zu werden, gerade kurz nach dem Aufnahmekampf... Du hast nicht zufälligerweise irgendwelche wichtigen Eltern, irgendwelche Besonderheiten?"

Ich erstarrte. Ganz schleichend und hinterrücks bahnte sich ein Gedanke den Weg  in meinen Kopf. Ein Gedanke, den ich am liebsten sofort wieder verdrängt hätte. Eine Idee, die mir gar nicht gefiel. Unwillkürlich biss ich mir auf die Wange.

"Nein. Nichts Besonderes", presste ich hervor. Für eine kurze Weile kam es mir so vor, als hätte Liv mich skeptisch beäugt, bis sie weiterredete und ich nicht viel später meine Ahnung wieder verworf.

"Deine Klamotten waren leider, entschuldige die Wortwahl, total im Arsch. Ich wusste zwar nicht genau deine Größe, aber ich hab dir einfach mal ein paar Sachen in S geholt. Leider alle in schwarz, da gehst du mit den schwarzen Haaren ein bisschen drin verloren... Aber gut, was anderes haben die Red V's nicht zu bieten! Schon witzig, dass man als 'rote' Organisation alles in Schwarz hat. In der blauen Montur der Ao's sähen einige von uns bedeutend besser aus." Gleich nachdem sie den Satz beendet hatte, merkte sie, was sie da überhaupt gesagt hatte. "Oh Gott! Versteh das bloß nicht falsch, so meinte ich das gar nicht! Oh Mann, oh Mann..."

Amüsiert über Livs Verpeiltheit lachte ich auf. "Schon gut. Mach dir keine Sorgen." Ich zwinkerte ihr zu. "Ich bin mir sicher, so ein Himmelblau stände mir eigentlich hervorragend."

Erleichtert atmete sie auf. "Oh, gut. Du willst nicht wissen, wie todernst manche Red V's dieses ganze Rot-Blau-Getue nehmen. Du machst einen Witz über blaue Farbe: Boom, schon bist du ein potenzieller Spion der Feinde. Kenne deine Freunde gut, bevor du riskante Witze machst, sag ich dir." Beendend klatschte sie in die Hände. "Jetzt hol ich dir aber erstmal was Essbares, bevor du mir noch verhungerst!"

***

Prompt als ich aus dem Flur der Krankenstation getreten war, fiel mir auch schon das Kinn auf den Boden.

Vor mir erstreckte sich ein riesiger Saal mit unermesslich hoher Decke, die mit einem altertümlichen Gemälde und Verschnörkelungen an eine Kathedralendecke erinnerte. Ich befand mich wohl in einem höheren Stockwerk, denn als ich mich über das goldene Geländer beugte, das den weitläufigen Patio umgab, sah ich auf mehrere hundert Myther herab, die an Tischen saßen und sich lauthals unterhielten. Es handelte sich bei dem Saal um sowas wie eine Cafeteria, nur edler, luxuriöser und wunderschön eingerichtet.

Die Böden bestanden allesamt aus wertvollem Marmor, die Fußleisten an Wänden und Säulen schimmerten in Gold und die vielen, großen Fenster zierten meist schwere, rote Vorhänge. Das Gebäude war taghell erleuchtet und zumindest der große Saal zu meinen Füßen strahlte volles Leben aus.

Anerkennend pfiff ich durch die Zähne und sah mich anschließend nach einem Aufzug oder Treppenhaus um. Am anderen Ende des Geländers, über dem ich hing, erblickte ich einen verglasten Aufzugsschacht, von dem man direkt auf den Saal blicken konnte.

Während ich mein Essen noch auf der Krankenstation wie ein verhungerter Tiger verschlungen hatte, hatte Liv mir freundlicherweise erklärt, wo ich den berüchtigten Brendon Karlsson denn finden konnte. Sein Büro lag natürlich im obersten Stockwerk des Hauptsitzes. Diese Metaphorik mit Chefs, die immer ihr Büro am höchsten Punkt des Gebäudes haben mussten, fand ich schlicht albern. Gut, wie auch immer. Karlsson ließ das Stockwerk der Leiter und Wichtigtuer bestens überwachen, weshalb der Zugang der Räumlichkeiten mit mehreren Wachposten versehen war und ich dort oben nicht einfach frei hereinspazieren konnte. Laut Liv wartete ein Assistent auf mich, der mich nach einer kurzen Einführung in das Büro des Oberhaupts geleiten würde, aus welchem Grund auch immer er mich da haben wollte. Ich verdrängte jede schlimme Vorahnung und hoffte, dass er alleinig an meinem herausragenden Lernprozess der Kampfkünste interessiert war.

Auf dem Weg zum Aufzug strich ich über die weiche Oberfläche meiner Stoffjacke. Das Outfit bestand aus recht allgemeinen Grundstücken: Ein T-Shirt, eine Jeans, Socken, Unterwäsche, Turnschuhe und eine Sweatjacke. Wie Liv gesagt war alles in demselben Schwarzton gehalten, bis auf die elegant aufgestickten, roten Vs auf T-Shirt und Jacke, die stolz auf meiner Brust prangten. Die Kleidung fühlte sich wunderbar hochwertig an und passte zum größten Teil auch, nur bei meiner BH-Größe hatte Liv ein Wenig zu groß geschätzt. Auf seltsame Weise fühlte ich mich dadurch richtig geschmeichelt.

Sobald ich im Aufzug stand ergriff mich Nervosität. Mein Körper fing an hohlzudrehen und mein Kopf fühlte sich an, als würden sich in ihm zwei drittel meines Bluts sammeln. Als ich den Knopf zum obersten Geschoss drückte und mich seufzend gegen die verglaste Aufzugswand lehnte, klirrte etwas leise und ein Zipfel meines Handverbands löste sich. "Scheiße", flüsterte ich, hockte mich auf den Boden und begann, meine Verbandsklammer zu suchen. Sowie ich sie in der hinteren Ecke gefunden hatte und die Türen in Begriff waren, sich zu schließen, stürmte abrupt eine Gruppe schrankgroßer junger Männer mit hinein und drängte mich weiter in meine Ecke, bevor ich überhaupt aufstehen konnte.

"Wenn ich's dir doch sage: Halt dich fern von Esmeralda, außer natürlich, du willst einen teuren Klammeraffen am Arsch haben." Ich richtete mich zwar auf, was sich in dem winzigen Abstand zwischen Fleischberg und Glaswand als äußerst herausfordernd gestaltete, doch keiner der Männer sah aus, als würde er mich bemerken. Unter einem Arm hindurch erkannte ich vier Kerle, alle um die fünfundzwanzig, mindestens zwei Meter groß und muskulös. Einer davon - derjenige, der seinen Freund um eine gewisse Esmeralda belehren wollte - lehnte mit verschränkten Armen an der Fahrstuhltür und hörte mit gerunzelter Stirn seinem Freund - derjenige, der sich direkt vor mir drapiert hatte - zu, wie er im Gegenzug versuchte, ihn von dieser Esmeralda zu überzeugen. Seine dunklen, verhältnismäßig langen Haare schienen lässig mit der Hand nach hinten gekämmt, wobei sich einige Strähnen gelöst hatten und ihm in die Stirn fielen. Irgendwie strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die ich nicht ganz fassen konnte. Möglicherweise lag es an der Art, wie er an die Tür gelehnt war, doch man sah ihm an, dass er genau wusste, wie er wirkte. Und ich war sicher nicht die Einzige, die ihn womöglich etwas eingängiger begutachtete. Ich schämte mich fast dafür, wie lange ich seinen Oberkörper in dem schwarzen Shirt musterte. Nicht vielen stand schwarz, aber mit seinem oliven Hautton harmonierte die Farbe perfekt. Ich war kurz davor, innerlich ins Schwärmen zu geraten - bis er den Mund öffnete.

"Als ich letztes Jahr Esmeralda gevögelt hab dachte ich auch, das wär ein Superdeal. Schlechtes Selbstbewusstsein, das zwar überspielt wird aber unbedingt Bestätigung braucht, Bombenkörper, kleiner Hang zu Verrücktem. Dann hat sie diese ganzen Versprechungen aber viel zu ernst genommen. Liebst du mich wirklich, Adrian? Beweis es doch, Adrian. Kauf mir Blumen, Adrian, kauf mir Diamantohrringe, Adrian. Hat mir rund um die Uhr mit ihrer ach-so-großen Liebe in den Ohren gehangen. Das tun die Weiber alle, klar, aber unsere Esmie kann es besonders gut." Ich traute meinen Ohren nicht. Hat er grade wirklich quasi damit angegeben, die Gefühle einer Frau auszunutzen? Einen 'Superdeal' mit niedrigem Selbstvertrauen zu haben? Und obendrein noch gesagt, dass einem 'alle Weiber mit Gefühlsduseleien in den Ohren hängen'?

Was für ein Arschloch! Und ich hab ihn auch noch beinahe angehimmelt! Wo kann ich mir hier die Augen auswaschen?

"Alter, sag sowas nicht." Neben dem Großkotz meldete sich ein im Gegensatz zu den anderen drei Kerlen schmaler, blonder Bursche. Seine Haare standen ein Wenig unvorteilhaft ab und er bildete mit seiner Körperhaltung ein ultimatives Kontrastbild zum Großkotz.

"Wen stört es denn?", fragte Großkotz gereizt. Plötzlich guckte mir der Blondschopf direkt in die Augen und machte eine Kopfgeste in meine Richtung. Großkotz räkelte sich desinteressiert zu seiner Linken, um an seinem gegenüberliegenden Freund vorbeischauen zu können, der sich in demselben Moment umdrehte und mir nahezu seinen Ellbogen ins Gesicht rammte.

Reglos stand ich an die Aufzugswand gepresst, vier paar Augen auf mich gerichtet. Drei davon stierten mich ausdruckslos an. Das vierte taxierte mich höchst amüsiert.

"Jetzt hat aber jemand was zu erzählen", säuselte Großkotz theatralisch, schnaubte spöttisch und wand sich der Aufzugstür zu, die sich augenblicklich öffnete. Sprachlos guckte ich der Muskelherde dabei zu, wie sie hinfortstolzierte, bis sich die Tür wieder schloss und allmählich Wut in mir hochzukochen begann.

Eingebildeter Drecksack! Gott, den hätte ich am liebsten ein paar Zähne ärmer geprügelt!

Aufgebracht gab ich sowas wie ein schrilles Wutschnauben von mir und hielt mich gerade noch davon zurück, gegen die Fahrstuhlwand zu treten, als sich die Türen erneut öffneten und ich mich zwei in schwarze Anzüge gekleideten Türstehern gegenüber sah.

"Treten sie hervor. Name?"

Noch komplett von der Rolle und überrumpelt von den Riesen stolperte ich die paar Schritte aus dem Aufzug und stammelte meinen Namen. "Äh... äh, Katherine Montgomery."

Die Hünen prüften mich mit stählernem Blick. "Ihr Anliegen?" Noch als ich überlegte, wie ich mein Anliegen denn tatsächlich formulieren sollte, tauchte eine Hand hinter dem rechten Türsteher auf, die ihn kräftig bei der Schulter packte. Eine eigenartig bekannte, tiefe Stimme ertönte darauffolgend.

"Lass gut sein, Timeo. Du verängstigst sie noch."

Sogenannter Timeo drehte sich ohne Umschweife zur Quelle der Stimme. Sie gehörte einem Mann in den Vierzigern, der in einem astrein geschneiderten Anzug steckte. Seine nach hinten gekämmte Haare schimmerten in einem melierten Grau. Eine Erscheinung, die ich wirklich nur als stilvoll beschreiben konnte. Hinter dichten Wimpen inspizierten mich zwei grüne Augen.

"Miss Montgomery. Schön, dass ich Sie kennenlernen darf." Er kam mit einer geschmeidigen Bewegung auf mich zu, lächelte und ergriff meine Hand, um auf dieser einen Kuss anzudeuten. Ich hätte lügen müssen um zu sagen, dass es mir nicht irgendwie unangenehm war.

"Ich sehe, man hat Ihnen schon ein paar Stücke des Kleidungsinventars ausgehändigt. Das Schwarz steht Ihnen überaus gut." Lügner, raunte es in meinem Hinterkopf, doch ich ignorierte es.

"Vielen Dank. Meine zuständige Krankenschwester war so freundlich, mir etwas auszusuchen." Je länger der Mann mich mit seinen grünen Augen fixierte, desto zittriger wurden meine Hände. Diskret versteckte ich sie hinter meinem Rücken.

"Ich bin überzeugt, dass Ihnen später die maßgeschneiderte Uniform noch viel besser stehen wird." Mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen nickte ich.

"Also, nur um sicher zu gehen", begann ich. "Sie sind der Assistent, den Mr. Karlsson für meine Einführung geschickt hat, richtig?"

Er schmunzelte. "Sehr nah dran."

"Mein Assistent hat es bedauerlicherweise nicht geschafft. Ich dachte, ich hole Sie stattdessen persönlich ab."

Schieß los, Schatz

"Einen Kaffee?" Mr. Karlsson drehte sich zu mir um, die Augenbrauen fragend nach oben gezogen.

"Danke, nein." Sein ganzes Büro roch schon danach. Ich fürchtete, allein über die Luft genug Koffein für den Rest der Woche aufgenommen zu haben. Als Oberhaupt der Red V bekam man wohl nicht viel Schlaf.

"Ich habe zwar einen engen Terminplan, aber ich wollte mir unbedingt die Zeit nehmen, Sie vor Ihrer Einführung persönlich kennenzulernen", erklärte er, seine dampfende Tasse auf dem Schreibtisch abstellend. Wow, war das Massivholz?

Karlsson ließ sich in seinem edlen Bürostuhl nieder, stützte sich auf seinen Ellbogen ab und faltete die Hände. Verheißungsvoll musterte er mich. Lange und wortlos. Fast fühlte ich mich wie ein Kunstwerk, dessen Bedeutung er versuchte zu interpretieren. Mann, der Typ wusste echt, wie man seinen Gegenüber kleinkriegt. Dennoch, mehr als ein Lächeln konnte ich nicht zustande bringen.

"Erzählen Sie mir von sich, Miss Montgomery."

Ich blinzelte. "Äh..." Was ist das, ein Bewerbungsgespräch? Was soll ich denn erzählen? Auf der einen Seite war ich mir eigentlich sicher, als Kriegerin in der Elite längst aufgenommen zu sein, doch die Frage erinnerte mich verdächtig an eine Art Test. "Was genau... Wie konkret soll ich denn sein?", versuchte ich vorsichtig. Bei einem Mann von solchem Einfluss war ich bedacht, die richtigen Worte zu wählen. Mein letztes Bewerbungsgespräch war Jahre her gewesen und seitdem hatte ich in einem absterbenden CD-Shop gearbeitet, in dem Hey Arschloch als formelle Begrüßung durchgegangen war.

"Nun, sie könnten bei Ihren Fähigkeiten beginnen." Mit der Ruhe eines buddhistischen Mönchs hob er seine Kaffeetasse, um einen Schluck von ihr zu trinken. Währenddessen brach bei mir im Kopf eine Massenpanik aus. Was will er wissen? Was soll ich sagen? Warum sind Gespräche mit dem Oberhaupt einer weltweiten Myther-Organisation nicht Teil einer normalen Schulausbildung?!

"Gut..." Bemüht, meine Nervosität zu verbergen, faltete ich meine Hände im Schoß und betete, dass meine Stimme nicht zitterte. "Ich lerne seit meiner Kindheit die Techniken verschiedener Kampfkünste, wie Krav Maga, Karate und Kickboxen. Ich... beherrsche auch den japanischen Schwertkampf und wurde in einer lokalen Einheit in Crawley zu-" "Halt." Karlsson hob die Hand und schnitt mir damit abrupt das Wort ab. Und dabei war ich so gut in den Redefluss gekommen...

"Über Ihre technischen Fähigkeiten bin ich durchaus informiert." Da war ich baff. War das nicht der wichtigste Aspekt eines Kriegers? Die Ausbildung? "Wovon ich allerdings noch nicht so viel hören durfte...", fuhr er fort, "...sind Ihre Fähigkeiten, die Ihr Dasein als Aswang mit sich bringt."

Ich konnte praktisch spüren, wie sich meine Miene verhärtete. "Was?"

Ungerührt von meinem Ausdruck lächelte er höflich. "Sie haben mich gehört."

Kurz davor, abwertend zu lachen, drehte ich meinen Kopf zur Seite und verschränkte die Arme. Natürlich. Das ist der Grund, warum ich befördert wurde. Nicht wegen meiner Mühe. Wegen meiner Spezies.

"Mir fällt nicht ein, warum das von Bedeutung sein soll", presste ich durch zusammengebissene Zähne und erntete ein fast unmerkliches Schnauben von Karlsson.

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sich darüber bewusst sind."

Ich konnte es beim besten Willen nicht glauben. Mein ganzes Leben lang hatte ich so getan, als wäre ich ein stinknormaler Vampir. Hatte sorgfältig darauf geachtet, nicht anders zu sein, hatte meine Kräfte und Energien weggeschlossen, damit ich nicht auffiel. Und jetzt erfuhr ich, dass es doch herausgekommen war? Dass ich nicht vorsichtig genug gewesen war?

"Wer weiß es?", fragte ich als erstes. Wenn ich morgen in der gesamten Mytherbevölkerung bekannt sein würde, verdiente ich, das zu erfahren.

Karlsson dachte nicht lange nach. "Einige enge Vertraute. Und selbstverständlich ich."

Mit geschürzten Lippen nickte ich, meine Augen hin und her huschend zwischen der Topfpflanze und den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Voller Konzentration siebte ich sämtliche Fragen in meinem Kopf aus, bis ich entschieden hatte, welche nun die Priorität hatte. Mr. Karlsson schwieg geduldig.

"Wie haben Sie es herausgefunden?"

"Miss Montgomery. Einen Vampir von einem Aswang zu unterscheiden mag für Myther in kleinen Einheiten schwierig sein, doch vergessen Sie nicht, dass meine Leute in der Haupteinheit deutlich besser ausgebildet sind. Dass ein Vampir gelegentlich die Gedanken seiner Beute manipuliert, anstatt sie einfach in eine Trance zu versetzen, fällt einem normalen Myther nicht auf. Uns schon."

"Ich hab doch-" Aufgebracht schmiss ich meine Hände in die Luft, nur um sie geschlagen wieder fallen zu lassen. Anscheinend war ich doch nicht so vorsichtig gewesen, wie ich immer gedacht hatte. "Heißt das, ich bin nur hier, weil ich ein Aswang bin? Werde ich jetzt überall komisch angeguckt, weil ich nirgendwo hinpasse?"

Da dachte Karlsson einen Moment länger über seine Antwort nach. "Ich würde nicht sagen, Sie sind hier, nur weil Sie ein Aswang sind. Sie sind hier, weil sie besonders sind." Gerade, als ich laut auflachen wollte, redete er weiter. "Es ist äußerst selten, dass Aswang lebendig zur Welt kommen und auch noch Jahre weiterleben. Von den wenigen bekannten Fällen, in denen es sich tatsächlich um die Zeugung eines Aswangs handelte, starben die meisten schon in Kinderjahren. Der Grund dafür war, dass sie nicht mit ihren Kräften umzugehen wussten."

Ich runzelte die Stirn. "Wollen Sie damit sagen, dass ich nur noch lebe, weil ich seit Kindertagen meine Kräfte verberge? Einfach, weil ich kein Aufsehen erregen wollte?"

"So könnte man das sehen." Sein Bürostuhl knarzte leise, als er sich zurücklehnte. "Leider sind Sie die Einzige, die diesen Kräften auf den Grund gehen kann, da wir nicht wissen, aus welcher Familie Sie biologisch stammen. Ihre Adoptiveltern haben-" Ehe ich mich versah, hatte ich Mr. Karlsson auch schon unterbrochen. Mein letzter Gedanke in dem Moment war, dass es wahrscheinlich die dümmste Idee meines Lebens gewesen sein musste, in Anbetracht dessen, was für eine machtvolle Person Mr. Karlsson war. Doch ich wollte auf keinen Fall, dass er weiter auf meine Adoptiveltern einging.

"Fest steht allerdings, dass etwas Vampirisches dabei ist. Und, wie Sie schon erwähnt hatten, Hexerisch. Wegen der Manipulation. Der Gedankenmanipulation." Vielleicht war ich ein bisschen zu laut und überzogen in sein Wort gefallen, doch zu meinem Glück ließ er sich kommentarlos darauf ein.

"Ja... Das steht wohl fest." Selbst aus der Bahn geworfen kratzte er sich am Nacken, bevor er wieder sprach. "Ich verstehe, wenn Sie es bevorzugen, weiter als Vampir zu leben. Sogar hier in der Haupteinheit. Tun Sie mir jedoch den gefallen und nehmen sie ein Angebot meinerseits an. Ich kann Ihnen verschiedene Trainer anbieten, die Ihnen helfen können, Ihre verschlossenen Kräfte zu entdecken, ohne Sie dabei zu überfordern. Aswang sind wie eine Zusammenfassung der Blutlinie, aus der sie stammen, und bestimmte Lehrer können Ihnen helfen, das Beste aus Ihrem Dasein zu machen. Sie können Ihre Kräfte entdecken und perfektionieren."

Mit zusammengepressten Lippen starrte ich ihn an. Konnte ich das überhaupt? Außerhalb einer Gefahrensituation auf mein tiefstes Inneres zugreifen? Von dem Zeitpunkt an, in dem meine Adoptiveltern erkannt hatten, was ich war, hatten sie mir beigebracht, mich wie ein Vampir zu verhalten. Es war das naheliegendste gewesen, da ich regelmäßig Blutdurst bekommen hatte - ganz wie ein normaler Vampir. Doch schon damals hatten sie mich gewarnt. Wenn ich mit meinen Kräften Aufmerksamkeit auf mich gezogen hätte, dann hätte es nicht lange gedauert, bis die erste Gefahr aufgekommen wäre. Sie hatten gesagt, dass früher oder später ein hohes Tier auftauchen und mich zu einer Killermaschine machen würde.

Ist das nun, was Karlsson vor hat? Will er mich zu einer Killermaschine machen?

"Denken Sie eine Weile darüber nach. Das Angebot bleibt bestehen, auch wenn Sie sich dagegen entscheiden. Bis dahin werden Sie wie jeder Rekrut in die Haupteinheit eingeführt."

Die ganzen neuen Informationen überwältigten mich geradezu. Mit jedem Satz, den Karlsson sprach, kamen fünf weitere Fragen auf. Fragen, die ich ihm besser nicht stellte, wenn ich nicht wollte, dass mir der Kopf explodierte.

Karlsson bemerkte allem Anschein nach meine geistige Abwesenheit. "Es ist wohl das Beste, wenn ich Sie erstmal in die Hände meiner Assistentin gebe. Miss Long wartet vor der Tür und ist bereit, Ihnen alles Mögliche zu erklären."

Kopfschüttelnd stierte ich in meinen Schoß. Es fühlte sich nicht richtig an, jetzt zu gehen. Das Gespräch konnte doch unmöglich hier zu Ende sein. Auf der einen Seite gab es noch so viel, das ich hatte erwähnen wollen - und auf der anderen gab es das nicht. Ich wusste nicht, ob ich Karlsson trauen konnte. Ich wusste nicht, ob sein Angebot eine Falle war. Doch wenn ich jemanden darauf ansprechen konnte, dann sicherlich nicht ihn.

"Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen, Mr. Karlsson", sagte ich in der vornehmsten Art und Weise, die ich zustande brachte. Ohne den Augenkontakt zu brechen stand ich von dem Sessel auf und reichte Karlsson meine Hand, damit er diese schütteln konnte. Natürlich hatte ich schon wieder vergessen, dass er auf so einen modernen Kram ja nicht stand, und sie lieber küsste, als sie zu schütteln.

"Mir war es auch eine Freude, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben."

Angestrengt, ein authentisches Lächeln auf meine Lippen zu bringen, hielt ich seinem Blick stand. Grüne Augen, dachte ich. Wie bei einer Schlange.

Sanft ließ er meine Hand los und ich wand mich zum Gehen.

 Als die Bürotür hinter mir ins Schloss fiel, breitete sich der Geruch von Leder und frischer Zitrone in meiner Nase aus und ich hatte das Gefühl, endlich wieder durchatmen zu können. Ich war versucht, die Augen zu schließen und eine Minute meine Gedanken zu entwirren, als auch schon der nächste Reiz auf mich einprügelte. Er zeigte sich in Form einer Frauenstimme.

"Hi! Katherine Montgomery, hab ich Recht?"

"Kae", verbesserte ich reflexartig.

"Ein Spitzname!" Zu meiner Linken fand ich eine recht kleine Brünette, schätzungsweise in den Dreißigern. Sie sah aus als verbrachte sie viel Zeit auf der Sonnenbank, im Fitnessstudio und kotzend über der Toilette. "Ich bin Ann!" Freudestrahlend streckte sie ihre Hand aus.

"Karlssons Assistentin, ja?", fragte ich, während ich ihre Hand schüttelte. Ein zweites Mal ließ ich mich nicht irreführen.

"Genau die! Ich zeige dir die Räumlichkeiten und kläre dich über alles auf, was du wissen musst." Blendend weiße Zähne strahlten mich an. Instinktiv fragte ich mich, ob sie eine der engen Vertrauten des Oberhaupts war, die von meiner Spezies wussten. Drauf ansprechen würde ich sie jedoch nicht.

"Sollen wir dann? Ich gebe dir einen kleinen Rundgang und erkläre alles währenddessen", fing sie an und stöckelte in beachtlichem Tempo los. Mühelos holte ich auf.

"Ich hab noch eine Frage."

Trotz meiner Aussage blieb sie nicht stehen. "Schieß los, Schatz."

Ich beschloss, mich zu einem späteren Zeitpunkt über das Schatz zu amüsieren. "Meine Wohnung. Ich weiß nicht, wo genau ich hier bin und mein ganzes Zeug liegt noch in New Jersey, in meiner Wohnung. Außerdem weiß ich auch nicht, wo ich jetzt wohne."

"Okay, lass mich dir sagen: Erstens, sehr süßer britischer Akzent, den du da hast. Und zweitens, für dich ist mehr als gesorgt. Du wirst maximal eine Tasche mit deinem allerwichtigsten Besitz brauchen, und der Rest bleibt in deinem alten Leben. Jetzt beginnt für dich der Luxus. Die Elite heißt nicht umsonst die Elite."

Stirnrunzelnd joggte ich mit ihr um eine Ecke. "Heißt das, ich wohne jetzt hier im Hauptsitz?"

Sofort kicherte sie. "Nein, Schätzchen, das wäre schlimm. Es hat noch nie jemandem gut getan, sein Privatleben mit der Arbeit zu mischen. Du bekommst eine Wohnung in New York City gestellt. Komplett eingerichtet. Es ist ein fabelhaft belichtetes Loft, das du dir mit deinem Mitbewohner teilen wirst."

"Mitbewohner?", wiederholte ich überrascht.

"Exakt. Die Red V ist reich, aber nicht reich genug, um jedem Myther eine eigene Wohnung zu schenken." Elegant klackte sie mit ihren Heels eine Treppe herunter. Und noch eine. Und noch eine. Ich hatte jedes Mal Angst, dass ihre Beine wegknicken würden.

"Ist denn bekannt, wer mein Mitbewohner sein wird?" Nach dem letzten Treppenabsatz führte Ann mich in einen langen Flur, in dem uns viele unterschiedliche Myther entgegen kamen. Keiner von ihnen schien uns weiter zu beachten.

"Schön wär's. Ich kann dir leider nur die Adresse und den Schlüssel geben. Deinen Mitbewohner, Schrägstrich deine Mitbewohnerin, musst du selber kennenlernen."

"Also ist nicht klar, ob ich mit einem Mann oder einer Frau zusammenwohne?"

"Verzweifelte Zeiten fordern verzweifelte Maßnahmen. Weil wir jetzt immer mehr Krieger und Lehrer für Missionen in der Haupteinheit brauchen, haben wir sowas wie einen geringfügigen Überlauf." Sie zog das Wort geringfügig in die Länge und unterstrich mit ihrem Daumen und Zeigefinger, wie verdammt geringfügig der Überlauf war. Wirklich geringfügig.

"Aber mach dir keine Sorgen. Zur Not kannst du dich immer noch in deinem Zimmer einschließen! Oder in eine der New Yorker Bars gehen. Es gibt ein paar echt tolle in der Nähe."

Oh, tröstend. Zur Not kipp ich mir einfach Tequila hinter die Binde, wenn mein Mitbewohner den Abwasch nicht macht!

Ann blieb mitten im Flur stehen und machte eine schwungvolle Armgeste, die auf verschiedene Türen an den Seiten deutete. "Hier findest du alle Trainingsräume. Wie du siehst sind sie jeweils beschriftet mit TR und einer Zahl. Das ist bei allen Räumlichkeiten im Gebäude so, nur dass Buchstaben und Zahlen immer variieren. Anfangs ist es verwirrend, doch in spätestens einem Monat kennst du dich hier bestens aus."

"Und Trainingseinheiten werden mir zugeteilt?", fragte ich.

"Bingo! Tagespläne, Unterlagen, Schlüssel für deine Wohnung - alles hier drin!" Sie fuchtelte mit einem braunen Umschlag in der Luft herum. "Und natürlich meine Kontaktdaten, falls du hiernach noch Fragen oder Probleme haben solltest. Ich bin rund um die Uhr erreichbar."

"Rund um die Uhr?", echote ich ungläubig. Das ist ja mal Engagement.

Plötzlich wurde ihr Gesichtsausdruck weicher. "Ach, weißt du?" Mitfühlend sah sie mir in die Augen. "Ein neuer Anfang ist immer schwierig. Gerade, wenn das neue Leben so anders ist als das alte. Du bist auf dich allein gestellt." Eine kleine Pause, dann redete sie weiter. "Die meisten Myther, die ich hier einführe, haben schon Verbindungen in die Haupteinheit. Seien es Freunde, Familienmitglieder, Mentoren. Du, Schätzchen, wirst aber komplett ins kalte Wasser geworfen. Da will ich dir einfach ein bisschen zur Seite stehen."

Etliche Momente vergingen, bis ich endlich etwas erwiderte. "Danke, Ann. Das ist... echt nett von dir." Ich schenkte ihr ein herzliches Lächeln. Ich war ihr wirklich dankbar, denn in der ganzen Zeit, die ich hier umhergeirrt war, hatte ich noch gar nicht darüber nachgedacht, wie mein Leben hier aussehen würde. An wen ich mich halten konnte.

"Dafür doch nicht!", winkte sie ab, doch ich sah ihr ganz genau an, wie sehr es ihr schmeichelte. Und das war ein schönes Gefühl. Ann war hier womöglich die erste, mit der ich mich auf freundlicher Ebene verstand. Vielleicht lag das aber auch daran, dass sie die erste war, die mir keine schwindelerregenden Neuigkeiten überbrachte.

Denn die nächsten würde ich schon bald selbst herausfinden.



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Kommentare zu dieser Fanfic (1)

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Von:  IKuraiko
2018-10-16T07:52:07+00:00 16.10.2018 09:52
Hallo

Eine sehr interessante Story und einen schönen Schreibstil, bin sehr gespannt was noch alles kommt.

Schöne Grüße
Antwort von:  Artem
30.10.2018 16:08
Vielen Dank!! Freut mich echt, dass es dir gefällt!


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