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Nimrod

Der Kronpriz von Babylon
von

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"Happy Birthday, Cyrus"

Ich weiß nicht mehr genau, wann es angefangen hatte. Heute Mittag erst oder doch schon heute Morgen? Eigentlich schon gestern abend, als meine Eltern mir ungewöhnlich sanft und besorgt eine gute Nacht gewünscht haben. Ich weiß noch, dass ich sie gefragt hatte, was denn los sei, doch sie hatten mich nur traurig angesehen.

"Geh schlafen, mein Schatz.", hatte meine Mutter nur gesagt. Ich hatte noch lange wach gelegen und gehört, wie sie sich im Wohnzimmer leise unterhalten haben und schließlich sehr, sehr spät abends ins Bett gegangen sind. Heute morgen waren sie nicht da, als ich aufgestanden bin. Normalerweise hätte ich mir darüber keine weiteren Gedanken gemacht, ich meine, meine Eltern arbeiten beide, mein Vater ist Arzt und meine Mutter Anwältin. Da kann es vorkommen, dass sie sehr früh und sehr lange arbeiten.

Aber heute war mein sechzehnter Geburtstag, irgendwie hatte ich schon erwartet, dass sie zu Hause waren. Auf meinem Platz lagen ein kleines, quadratisches Paket und ein Brief, auf dem in der geschwungenen Handschrift meiner Mutter mein Name stand. Verwundert hob ich das Paket an, es war ungefähr so groß wie meine Handfläche und in altes Papier eingewickelt, das mich ein wenig an Pergament erinnerte, und wog es. Es war nicht schwer, hatte aber schon ein seltsames Gewicht. Ich beschloss allerdings, weder den Brief noch das Päckchen zu öffnen, bevor meine Eltern nicht zu Hause waren. Also legte ich beide Sachen auf das Fensterbrett. Ich sah mich in der Küche um, ob ich mich vielleicht versehen und die anderen Geschenke einfach übersehen hatte, doch ich fand nichts. Nicht einmal einen Kuchen oder Muffins, dabei backte meine Mutter leidenschaftlich gerne, zu jeder Gelegenheit, und an Geburtstagen gab sie sich immer besonders viel Mühe.

Ich zuckte mit den Schultern, wahrscheinlich hatten sie in der Eile den Rest der Sachen vergessen hinzu legen oder sie hatten auch daran gedacht, bis heute abend zu warten. Ich schnappte mir die Toastpackung, die auf dem Kühlschrank lag, und schob zwei Scheiben in den Toaster. Dann holte ich mir eine Müslischale aus dem Schrank, schüttete eine ordentliche Menge meiner Lieblingscornflakes hinein und kippte den letzten Rest Milch hinzu. Als der Toast fertig war, beschmierte ich ihn mit Nutella, stellte das Brett neben meine Schüssel und setzte mich.

"Happy Birthday, Cyrus.", murmelte ich leise zu mir selbst und tat so, als würde ich eine Kerze auspusten. Dann schlang ich die Cornflakes und den Toast in mich hinein, denn viel Zeit hatte ich nicht mehr, in einer Viertel Stunde musste ich los zur Schule und ich musste auch noch meine Schulsachen zusammen packen.

Als ich fertig war mir essen, ließ ich mein Geschirr in der Spüle stehen, ich würde es abwaschen, wenn ich heute Mittag nach Hause kam. Ich lief aus der Küche ins Wohnzimmer, wo immer noch meine Mathesachen auf dem Tisch lagen. Minus saß mitten auf dem Tisch und schnurrte fröhlich, unter seinen schwarzen Pfoten lugte ein Aufgabenblatt hervor.

"Minus!" Entsetzt zog ich das Blatt unter ihm hervor, woraufhin der Kater fauchend zu Boden fiel. Mit einer Mischung aus Entsetzen, Verzweiflung und Wut betrachtete ich das total zerknitterte Blatt. "Minus, du-" Ich stöhnte genervt, doch statt mich weiter darüber aufzuregen stopfte ich das Blatt zu den anderen Zetteln, die ich schon längst hätte einheften müssen, in meiner Mappe, stapelte meine Sachen übereinander und stopfte sie in meine Schultasche. "Ihr seid unmöglich! Wo ist überhaupt Plus, habt ihr denn keinen Hunger?" Als hätte er mich gehört, geschweige denn verstanden, kam Plus, der weiße Kater, in das Wohnzimmer getappt.

Nein, die Kater hießen nicht so, weil ich eine absolute Liebe zu Mathe entwickelt hatte (Nicht!). Als wir uns Plus gekauft hatten, hatten meine Eltern es mir überlassen, ihm einen Namen zu geben, und da man mit viel Fantasie in dem schwarzen Fleck in dem weißen Fell auf seinem Rücken ein Plus erkennen konnte, habe ich ihn ebenso genannt. Und als wir dann den zweiten kleinen, schwarzen Kater kurz danach gekauft hatten, brauchte er natürlich einen dazu passenden Namen. Minus, logisch. Ich weiß, typisch Kleinkind eben. Während andere Kinder ihren Haustieren Namen wie Futzi, Pauli oder Micky gaben, hießen meine Plus und Minus.

Als ich zurück in die Küche ging und den beiden Katzen ihr Futter in den Napf kippte, musste ich unwillkürlich grinsen. Wie hätten wohl Katze Nummer drei und vier gehießen, wenn wir denn noch welche geholt hätten? Mal und Geteilt?

Immer noch grinsend verabschiedete ich mich von den Beiden, indem ich jedem kurz über den Kopf streichelte, dann schnappte ich mir meine Schultasche, warf sie mir über die Schulter, schnappte mir meinen Hausschlüssel von der Kommode im Flur und verließ das Haus. Ich fuhr nicht gerne Bus, obwohl die Bushaltestelle nicht weit von unserer Wohnung entfernt war, nur ungefähr drei Minuten. Das eigentliche Probleme, warum ich nicht gerne mit dem Bus fuhr, waren die Jugendlichen, die jeden Morgen dort auf mich warteten. Normalerweise wäre ich gelaufen, aber da ich zu spät losgegangen war, würde ich Bus fahren müssen, um noch rechtzeitig zur ersten Stunde zu kommen. Missmutig sah ich den Jungen entgegen. Sie standen an der Bushaltestelle, genau im Weg in einer Reihe und grinsten hämisch. Einer von ihnen, ein großer, muskulöser mit einer abstoßenden Draco-Malfoy-Frisur trat mir in den Weg, bevor ich mich an ihnen vorbei quetschen konnte.

"Was willst du, Julien?", fragte ich genervt.

"Das weißt du ganz genau."

"Ich habe kein Geld.", gab ich zurück. Er grunzte.

"Wieso glaube ich dir das nicht?!"

"Weiß ich nicht. Vielleicht solltest du mal-" Bevor ich zu Ende gesprochen hatte, fuhr der Bus an die Haltestelle und öffnete direkt neben uns die Tür. Ich wand mich schnell aus Juliens Griff und sprang in den Bus.

"Danke!", murmelte ich dem kleinen, untersetzten Busfahrer zu, der mir aufmunternd zulächelte, dann ließ ich mich auf den Platz direkt hinter ihn fallen. Ich erlaubte mir einen Blick aus dem Fenster, nur um Juliens entäuschtes Gesicht zu sehen, was mich unweigerlich zum Grinsen brachte. Das hätte ich allerdings lassen sollen, denn jetzt sprach sein böser Blick klare Worte: Ich kriege dich schon noch, wenn nicht jetzt, dann später!

Ich ignorierte ihn und lehnte meinen Kopf müde gegen die Scheibe, als der Bus ratternd und brummend los fuhr.

"Wenn du sie retten willst, musst du mich finden!"

"So, und wie lautet nun die Formel für diese gestauchte Parabel?" Noch bevor die Lehrerin die Frage richtig beendet hatte, schoss neben mir ein Arm in die Höhe.

Ich kann es euch wirklich nur empfehlen, neben einem Streber zu sitzen. Er meldet sich immer und du wirst nicht gefragt. Meistens zumindest, aber es gibt auch unter Lehrern Ausnahmen.

Ich seufzte und lehnte den Kopf auf meine Hand, so dass ich gemütlich aus dem Fenster gucken konnte. Es regnete etwas, obwohl die Sonne schien und jeden noch so kleinen Fleck beleuchtete, und von meinem Platz aus konnte ich einen kleinen Regenbogen erkennen, der im Himmel anfing und irgendwo am anderen Ende der Stadt endete.

Immer wieder fielen mir die Augen zu und ich döste weg. Was eigentlich total nervig ist, denn ich kriege immer noch alles mit, nur wie durch eine dicke, fette Wattewand.

Was mich diesmal aber aus meinem Dämmerungszustand riss, war die plötzliche Stille. Es war nicht die übliche Stille, die aufkam, wenn der Lehrer einen etwas fragte und man nichts mitbekommen hatte. Nein, dann kicherten immer noch ein paar und machten sich über einen lustig. Nein, es war anders als sonst.

Es war komplett still. Ich öffnete irritiert die Augen und sah mich im Klassenzimmer um. Alles war still, aber nicht nur das. Alle saßen auf ihren Plätzen, die Lehrerin stand vorne an der Tafel und niemand bewegte sich, alle saßen ruhig und wirkten wie erstarrt. Außerhalb des Zimmers wirkte alles wie immer, die Bäume bewegten sich wie sonst auch, aber das übliche Rauschen der Blätter war nicht mehr zu hören. Zumindest drang es nicht mehr bis an mein Ohr.

"Hallo Cyrus." Ich zuckte zusammen als direkt hinter mir jemand meinen Namen sagte. Irgendetwas störte mich daran, wie er ihn aussprach, doch ich dachte nicht weiter nach als ich mich umdrehte und den Kerl erblickte. Er trug einen langen, schwarzen Mantel der quasi alles an ihm verdeckte, ich konnte nicht einmal sein Gesicht sehen.

"Wer bist du? Was ist hier los?", fragte ich. Der Typ lachte.

"Das weißt du nicht? Streng mal dein kleines Gehirn an!"

Ich kniff die Augen zusammen. "Was soll das?"

"Ich wollte nur kurz mit dir reden, solange habe ich... naja, ein wenig an der Zeit gebastelt." Er grinste.

"Du hast- Was?!" Ich verstand gar nichts mehr.

"Haben sie dir denn nichts gesagt?!" Ich konnte den Spott in seiner Stimme hören. "Deine Eltern?" Das letzte Wort sprach er aus, als wäre es etwas Abartiges und er würde es niemals freiwillig anfassen. Ich überging es einfach.

"Was willst du?", fragte ich stattdessen. Er drehte sich um und ging zu der Lehrerin an der Tafel, fummelte an ihrer Bluse herum und knüpfte sie auf. Was für ein-

"Habe ich doch gesagt, ich will nur kurz mit dir reden. Aber ich weiß jetzt alles, was ich wissen wollte!" Als die Bluse der Lehrerin offen war, trat er zurück und schnaubte, offenbar zufrieden mit seinem Werk und dem, was er sah. Dann wandte er sich wieder mir zu. "Und was deine Eltern betrifft: Die haben wir! Wenn du sie retten willst musst du mich finden!"

Er schnippste und war verschwunden, genau im gleichen Moment wurde es wieder laut im Klassenzimmer. Die Lehrerin kreischte entsetzt auf, als sie merkte, dass ihre Bluse offen war und verschwand schnell hinter der Tafel, während meine Mitschüler begeistert lachten und Fotos schossen. Spätestens in der nächsten Pause würde jeder bei uns in der Schule Bescheid wissen. Und wir sollten Neuntklässler sein, manchmal benahmen wir uns wie Kleinkinder.

Ich verzog das Gesicht. Was war das denn bitte eben? War der Typ eben wirklich da gewesen? Und was hatte er da für Quatsch erzählt? Was war mit meinen Eltern? Und wieso sollte ich sie retten? Waren sie etwa in Gefahr? Und wo waren sie? Hatte sich der Typ eben in Luft aufgelöst?

Mein Kopf tat weh von den ganzen unbeantworteten Fragen, die in meinem Kopf Karussell fuhren. Mit leicht zitternden Händen griff ich nach meinen Mathesachen, die auf dem Tisch lagen und stopfte sie in meine Tasche. Michael, der Streber neben mir, sah mich verwirrt an, als ich zur Tür ging.

"Cyrus?!", rief die Lehrerin hinter der Tafel hervor. "Wo willst du hin?"

"Mir geht's nicht gut!", rief ich zurück un rannte aus dem Klassenzimmer, die Treppen runter direkt raus aus dem Schulgebäude. Als ich das Schulgelände verließ, lief ich mit voller Wucht in einen Jungen.

Er hatte kinnlange, braune Haare, die teilweise zu einem Zopf nach hinten gebunden waren, der Großteil der Strähnen hing aber wirr in sein Gesicht. Er trug einen schwarzen Anzug und war ungefähr einen halben Kopf kleiner als ich. Wir prallten gegeneinander und fielen beide rücklings auf den Hintern.

"Verzeiht!" Der Junge sprang auf und half mir auf die Beine. "Habt Ihr euch verletzt, Mylord Cyrus?" Wieder diese seltsame Art meinen Namen auszusprechen. Er sprach es irgendwie aus wie "Cürus" was sich verdächtig nach "Gyros" anhörte. Wenn ich schreiben müsste, wie man meinen Namen spricht, würde es wahrscheinlich irgendwie so aussehen: Saires. Oder so...
 

"Habt Ihr euch verletzt?", fragte der Junge erneut.

"Wer bist du?", fragte ich. Der Junge trat schnell zurück und machte ein schuldbewusstes Gesicht.

"Entschuldigt, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Joseph Malitis, Euer Diener." Ich blinzelte. Hatte ich mich verhört?

"Mein Was?"

"Euer Diener!" Er sprach es aus, als wäre es selbstverständlich und als hätte ich es wissen müssen. Als er merkte, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach, verzog er kaum merklich das Gesicht. "Habt Ihr denn den Brief gar nicht gelesen?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein!"

"Und das Paket? Habt Ihr das wenigstens geöffnet?" Er klang beinahe verzweifelt.

"Nein." Leicht verwundert schüttelte ich erneut den Kopf. Er biss sich in die Unterlippe.

"Na gut, dann versuche ich Euch alles zu erklären während wir zu Eurem derzeitigen Heim gehen, Mylord, und Ihr das Paket öffnet. Das ist sehr wichtig!"

"Was denn erklären?", fragte ich stirnrunzelnd. Joseph lächelte.

"Na, Eure Herkunft, Eure Familiengeschichte, die Ihr bestimmt nicht kennt und Eure Fähigkeiten, wobei wir diese erst erkennen müssen." Ich blinzelte und blieb stehen.

"Was? Was denn für eine Herkunft? Und was soll das Mylord und die Diener Geschichte?" Er blieb ebenfalls stehen und sah mich geduldig an.

"Natürlich wäre es einfacher gewesen, Ihr hättet den Brief bereits gelesen und das Amulett an euch genommen, so kommt jetzt alles etwas plötzlich." Ich sah ihn erwartungsvoll an. "Ihr seid ein Vampir." Einfach so, ohne Erklärung. Es dauerte eine Weile, bis ich verstanden hatte, dass er das ernst gemeint hatte.

"Ein Vampir?!" Ich lachte ungläubig. So was gab es doch nur in Märchen.

"Nein, es gibt sie nicht nur in Märchen.", erwiderte Joseph. Konnte er etwa Gedanken lesen? "Das ist in der Tat meine Fähigkeit. Ich kann die Gedanken anderer Leute lesen und durch Gedanken mit ihnen sprechen.

So wie jetzt zum Beispiel. Ich zuckte erschrocken zurück, als ich plötzlich seine Stimme in meinem Kopf hörte.

"Wie gesagt gibt es Vampire nicht nur in Märchen. Sie existieren und Ihr seid einer. Und zwar seid ihr Cyrus Principal, der Letzte aus der Königsfamilie, nachdem Eure Eltern, möge der Herr mit ihnen sein, vor fünfzehn Jahren ermordet wurden." Ich blinzelte.

"Vampir? Meine Eltern..." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. "Meine Eltern leben noch." Joseph schüttelte traurig den Kopf.

"Die, die Ihr als Eure Eltern bezeichnet, sind lediglich Eure Zieheltern. Eure königliche Mutter hat Euch ihnen übergeben, kurz bevor sie ermordet wurde. Es tut mir leid."

Vielleicht hätte ich jetzt weinen sollen, oder so. Sollte man das nicht, wenn man erfuhr, dass die Eltern tot waren? Ehrlich gesagt wusste ich aber nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Es war alles einfach so unwirklich.

Joseph war es, der das Schweigen, das zwischen uns hing, schließlich brach.

"Lasst uns weiter gehen, Mylord Cyrus." Er ging und ich trabte ihm benommen hinterher.

"Joseph?"

"Ja?" Er drehte sich nicht um.

"Eine Sache noch: Du hast gesagt, du seist mein Diener?"

"Das bin ich!", sagte er.

"Dann... muss ich dir auch Sachen befehlen?", fragte ich.

"Was Ihr wollt, Mylord."

Ich wartete kurz, bevor ich fortfuhr. "Dann hör bitte auf mich Cyrus zu nennen." Ich sprach es so aus, wie auch er es immer aussprach: Cürus. Er sah mich irritiert an.

"Aber so heißt ihr doch!"

"Ich heiße Cyrus." Zwar gleich geschrieben, aber ganz anders ausgesprochen. "Alles andere hört sich an, als würdest du mich Gyros nennen, und ich habe nun keinerlei Ähnlichkeit mit Fleisch." Er blinzelte, dann lächelte er.

"Eure Zieheltern haben Euren Namen an den Ort und die Zeit angepasst. Wir Vampire haben immer alte und ehrwürdig klingende Namen, zumindest das Adelsgeschlecht. Euer Name ist Cyrus, aber Ihr müsst Euch wohl noch daran gewöhnen. Wenn Ihr es so wünscht, kann ich Euch so nennen, wie Ihr wollt, abe von den anderen Vampiren dürft ihr dies nicht erwarten."

"Es gibt noch mehr von euch?", fragte ich, bevor ich richtig darüber nachgedacht hatte.

"Natürlich!" Wir gingen noch eine Weile weiter, bevor ich ihn wieder etwas fragte.

"Joseph?"

"Ja?"

"Nenn mich ruhig, wie du möchtest."

"Aber?" Ich wunderte mich, woher er wusste, dass ich eigentlich noch etwas hatte sagen wollen.

"Naja... ihr bitte auf mich zu Siezen und so seltsam anzusprechen. Sag einfach Du zu mir, alles andere ist komisch." Er lachte, als ich das beinahe schüchtern sagte.

"Wie Ihr- Wie du wünscht, Mylord Cyrus."

Ich glaube, das war der Beginn einer guten Freundschaft!

"Sechzehn Jahre lang haben wir dich angelogen"

Ich schloss die Haustür auf und ließ Joseph wortlos herein.

"Gemütlich.", sagte er anerkennend, doch ich zuckte nur mit den Schultern und ging zur Küche.

Plus stand schon in der Tür und sah mich fragend an, doch er schien nicht verwundert mich zu sehen.

"Hey Plus. Hallo Minus.", begrüßte ich auch den anderen Kater. Die Beiden strichen mir die ganze Zeit um die Beine, während ich zum Fensterbrett ging und das Päckchen in die Hand nahm. Statt es zu öffnen starrte ich es eine Weile an und drehte mich dann zu Joseph.

"Erklär es mir!", sagte ich. "Was wollte der Typ im Klassenzimmer und was ist mit meinen Eltern?" Jobs runzelte die Stirn.

"Was für ein Typ im Klassenzimmer? Und was soll mit deinen Eltern sein, die sind bestimmt schon am Treffpunkt!" Jetzt war ich verwirrt.

"Der Typ meinte aber-"

"Welcher Typ?", unterbrach Joseph mich und ich konnte eine Spur Ungeduld und Besorgnis in seiner Stimme hören. "Wie sah er aus?"

"Das weiß ich nicht genau. Er hat so einen langen Mantel an der eigentlich alles an ihm verdeckt hat. Aber was tut das zur Sache?", fragte ich, als Joseph die Lippen zusammen kniff und ein leises "Mist!" murmelte.

"Was hat er gesagt? Ist vorher irgendwas seltsames passiert?", fragte Joseph statt mir zu antworten.

"Äh... Naja, erst wurde irgendwie alles ganz still, keiner hat sich mehr bewegt, zumindest im Raum, die Bäume draußen haben sich noch bewegt und dann stand plötzlich dieser Typ hinter mir und hat irgendwas von wegen er hätte an der Zeit rum gebastelt und er hätte meine Eltern. Und er meinte, sie hätten mir irgendwas erzählen sollen und ich müsse ihn finden um sie zu retten. Dann ist er verschwunden und es war alles wieder normal." Josephs Gesicht hatte sich bei meiner Erzählung immer mehr verfinstert. "Wer war der Typ? Du scheinst ihn ja zu kennen!"

Okay, das war wirklich nur ein Schuss ins Blaue gewesen, doch Joseph nickte.

"Ich kenne ihn in der Tat besser als mir lieb ist!" Ich schluckte, das hörte sich nicht gut an. Doch er machte auch keine Anstalten, es mir zu erklären. "Jetzt mach bitte endlich den Brief auf!" Ich sah ihn irritiert an, weil er so gehetzt klang, nahm mir aber eines der Messer aus der Schublade und schnitt vorsichtig die Kante oben auf. Ich faltete den Zettel auf, der darin lag, und begann zu lesen, ich erkannte sofort die Handschrift meiner Mom:
 

Mein lieber Cyrus,

Sechzehn Jahre deines Lebens haben wir dich begleitet, Sechzehn Jahre lang haben wir dich aufgezogen, Sechzehn Jahre lang haben wir dich angelogen.
 

Angelogen? Wovon sprachen sie?
 

Doch es musste sein! Damit du uns vertraust und damit du dich nicht in Gefahr bringst.

Du bist bestimmt verwirrt, weil wir heute nicht da sind, aber bitte hör uns erst einmal zu. Wir werden dir alles so gut es eben geht versuchen zu erklären. Wenn du noch mehr Fragen hast, kannst du sie gerne Joseph stellen. Er kommt ungefähr um 11 Uhr, du gehst heute nicht zur Schule.
 

Kurz ärgerte ich mich, dass ich den Brief nicht heute morgen schon geöffnet und die beiden langweiligen Mathe Stunden über mich hatte ergehen lassen. Trotzdem las ich weiter.
 

Es tut uns so leid, dass das jetzt alles so plötzlich kommt, wahrscheinlich wirst du einiges nicht verstehen. Doch es geht nicht anders und es ist unsere Pflicht, dir alles zu erklären. Leider können wir das nicht persönlich tun, da wir bereits auf dem Weg in unser wirkliches Zuhause sind.
 

Unser wirkliches Zuhause? Wovon sprachen sie?
 

Es ist ziemlich kompliziert, dir alles in einem einfachen Brief zu erklären, aber es geht nicht anders. Bitte, glaub nicht das wir dich anlügen. Wirklich, selbst ausdenken könnten wir uns so etwas nicht. Jetzt willst du bestimmt wissen, wovon wir reden. Also, Cyrus, du bist ein Vampir.
 

Wow. Etwas ganz anderes, das von meinen Eltern zu hören. Oder eher zu lesen. Heute morgen hätte mich das allerdings mehr geflasht...
 

Das mag unglaublich und nach einem Märchen klingen, doch es ist die Wahrheit. Doch lass mich weiter ausholen, um es dir zu erklären.

Uns Vampire, denn auch dein Vater und ich sind welche, gibt es schon sehr, sehr lange. Unendlich lange. Keiner kann heute mehr genau sagen, wie lange schon, doch es soll uns bereits zur Zeit der Neandertaler gegeben haben. Wir waren immer weiter als die Menschen, die Homo Sapiens Sapiens. Wir hatten Fähigkeiten, die die Menschen sich nur erträumen konnten und die ihnen Angst machten. Im Mittelalter wurden wir gejagt und getötet, denn die Hexenjagd hat auch uns nicht verschont.

Doch mit der Zeit haben die Menschen sich verändert, ihr Aberglaube und ihre Angst vor uns schwand, und auch wir haben uns verändert. Unsere Fähigkeiten teilten sich auf, unsere Fangzähne wurden kleiner und unsere Unverträglichkeit zur Sonne verschwand. Schon lange trinken wir kein Menschenblut mehr. Wir sind lange nicht mehr unsterblich, Weihwasser ist wirkungslos gegen uns und geweihten Boden dürfen auch wir betreten, auch wenn wir es immer noch nicht gerne tun.

Eine irrsinnige Geschichte und ich weiß, dass es dir schwer fällt, uns zu glauben.
 

In der Tat. Wie kam sie da nur drauf?
 

Du bist fernab dieser Welt aufgewachsen und das aus einem guten Grund. Ich möchte dir jetzt gerne sagen, was ich damit meinte, dass wir dich angelogen hätten.

Du bist nicht unser Sohn, Cyrus. Deine Eltern haben dich uns anvertraut, kurz bevor dein Onkel Hunor sie beide tötete.
 

Ich stoppte. Okay, das ging jetzt definitiv zu weit. Vampire schön und gut. Doch jetzt hieß es, sie wären nicht meine Eltern und meine richtigen Eltern wurden von meinem Onkel getötet? Absurd.

"Mylord?"Joseph sprach mich vorsichtig an. "Alles in Ordnung?" Er musste meinen komplett verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt haben. Ich antwortete ihm nicht sondern las weiter.
 

Der Bruder deines Vaters war schon immer Macht besessen und neidisch auf deinen Vater Magor, der der ältere der Beiden und somit rechtmäßiger König war. Als du dann geboren wurdest, verstand Hunor, dass er niemals das Recht auf den Thron haben würde, selbst wenn Magor sterben sollte, denn jetzt gab es ja dich. Er hasste dich, genauso wie er seinen Bruder hasste. Eine Woche nach deiner Geburt griff er mit seinen Anhängern das Schloss an.

Milde gesagt: Wir hatten keine Chance und deine Eltern wussten das. Sie haben dich uns anvertraut und einen bereits toten Säugling an sich genommen. Wir sollten dich aufziehen, weitab von deinem Heimatort, sollten dich unwissend lassen und dich in dem Glauben lassen, wir seien deine Eltern. Bis zu deinem sechzehnten Geburtstag, der Tag, an dem du alt genug sein würdest, das Thronerbe anzutreten.

Hunor riss den Thron an sich und regiert als Tyrann die Vampire und seine Anhänger. Wir, die dem rechtmäßigen König und dir ewige Treue geschworen haben und ihm immer noch Treue erweisen, nennen ihn Namrūd ibn Kanʿān, was soviel heißt wie: tyrannischer Herrscher, denn genau das ist er.

Bitte Cyrus, so unwirklich alles klingen mag, so sehr es nach einem Märchen klingt, du musst zurück kommen! Du musst dein Erbe antreten.

Du allein bist der Thronfolger von Babylon, der Vampir Hauptstadt.

Aber überstürze nichts, schon seit langem planen wir deine Rückkehr. Joseph wird dir helfen, den Weg zurück zu finden.
 

Mylord Cyrus, rechtmäßiger Thronprinz von Babylon, wir warten sehnlichst auf Eure Rückkehr. Befreit Euer Volk aus der Tyrannei und nehmt Euch das, was Euch zusteht. Wir werden und bald wieder sehen.

Untertänigst ergeben, Amanda und Kalne.

"Wir nehmen die Bahn!"

Wow.

Ich ließ den Brief sinken und versuchte, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Was echt nicht leicht war, denn Joseph starrte mich die ganze Zeit besorgt und abwartend an, und Plus und Minus strichen ununterbrochen um meine Beine.

"Schön." Kläglicher Versuch, die Stille zu durchbrechen, denn Joseph antwortete nicht und die Kater logischerweise auch nicht. "Und... was jetzt?" Joseph nickte, als hätte er bereits auf die Frage gewartet.

"Das Paket." erinnerte er mich und deutete auf das kleine Päckchen. Ach ja, da war ja noch etwas. Ich nahm es schnell und wickelte es auf. Wie sich herausstellte war es gar kein wirklicher Karton, es waren einfach nur gefühlte hundert Lagen Papier, das sich wie eine Mischung aus Zeitungspapier und Pergament anfühlte. Als ich es nach gefühlten Stunden endlich aufgewickelt hatte, hielt ich eine Kette in der Hand, in der ein etwa Handteller großer Anhänger hing. Es war ein sechseckiger Stern mit einem eingefassten Blutstein in dem sechseckigen Teil in der Mitte. Ich kannte die Kette und den Stein, da ich meine Eltern mal danach gefragt hatte.

"Mom und Dad haben auch so eine!" Joseph nickte.

"Dies ist allerdings das Original, dass seit Generation in der Familie Principales weiter gegeben wird. Dort ist das Blut jedes einzelnen Mitglieds eurer Familie drin gespeichert. Naja, abgesehen von dem eurer Onkels und Cousins." Aha. Ich antwortete nicht darauf. Grund? Ganz einfach. Zu viel Informationen für einen Tag.

"Was..machen wir jetzt?"

"Jetzt müssen wir nach Babylon. Wir werden bereits erwartet und kommen wahrscheinlich schon zu spät. Eigentlich wollte ich wirklich pünktlich sein, es soll noch einen Empfang geben und-"

"Was? Babylon?" Joseph unterbrach sich, um zu nicken.

"Ja, Babylon. Die Vampir Hauptstadt."

"Babylon war diese Stadt aus der Bibel!", erinnerte ich ihn. "Mit den vielen Menschen, die einen Turm bis zu Gott bauen wollten, und er hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, in dem er jedem eine andere Sprache gab!"

"Ja, ich weiß. Diese Geschichte leitet sich tatsächlich von unserer Geschichte ab. Auch wenn es kein Turm zu Gott werden sollte." Er warf einen raschen Blick auf die Uhr. "Aber wir müssen jetzt wirklich los!" Ich zuckte mit den Schultern.

"Wie kommen wir denn nach.. Babylon?", fragte ich.

"Wir nehmen die Bahn. Mit der fahren wir bis zum Flughafen. Von dort aus fliegen wir nach Rumänien und fahren mit dem Zug weiter nach Transylvanien. Wie wir dann runter kommen, erkläre ich dir, wenn wir da sind. Du solltest dir einen Rucksack packen oder so. Klamotten, Sachen die du unbedingt mitnehmen willst. Aber nicht zu viel, ich hab im Flugzeug nur Handgepäck gebucht, also nicht mehr als 10kg und keinen Riesenkoffer." Er deutete auf einen Rucksack am Türeingang, der mir bisher gar nicht aufgefallen war. Er war schlicht schwarz, und ungefähr doppelt so groß wie mein Schulranzen.

"Da hast du alle deine Sachen rein gequetscht?" Ich war beeindruckt. Joseph zuckte mit den Schultern.

"Erstens brauche ich nicht viel, zweitens bin ich ja sowieso nur hier, um eu- dich abzuholen. Meine restlichen Sachen sind logischerweise in Babylon. Für dich wird das hier allerdings sowas wie ein Umzug. Du musst gut überlegen, was du mitnimmst. Alles, was hier bleibt... Naja, sagen wir's so. Irgendetwas nachträglich holen können wir nicht."

"Was passiert mit den Sachen die hier bleiben?" Joseph druckste erst etwas herum, bevor er mir antwortete.

"Die Miete wurde nur bis heute bezahlt, also alles, was nach heute noch in dieser Wohnung ist-"

"Gehört dem Vermieter..", beendete ich seinen Satz tonlos. Sechzehn Jahre lang hat sich in diesem Haus Leben gehäuft, Fotos, Souvenirs, Bilder, tausend Sachen, bestimmt auch viel Müll. Und jetzt sollte ich zwischen all den Sachen entscheiden? Meine Gedanken gingen aber erst einmal in eine ganz andere Richtung. "Ich kann Plus und Minus nicht mitnehmen!!", bemerkte ich panisch. Ich wollte die beiden Kater nicht zurück lassen! Ich liebte sie! Joseph beruhigte mich jedoch.

"Keine Sorge, die beiden kommen klar!" Oder zumindest versuchte er es.

"Das sagst du so leicht! Die Beiden sind Hauskatzen! Ich kann nicht einfach gehen! Wer füttert sie? Wer putzt die Klos? Wer kümmert sich um sie?" Joseph legte die Hände auf meine Schultern und sah mich eindringlich an.

"Cyrus! Es steckt mehr in ihnen, als du vielleicht denkst." Ich runzelte verwundert die Stirn. Schon wieder so kryptische Sachen.

"Also du meinst..."

"Pack einfach deine Sachen! Die Beiden kommen klar!" Ich gab mich seufzend geschlagen, wandte mich ab und stapfte die Treppe hoch in mein Zimmer.

Es war nicht groß, aber auch nicht klein. So ein Mittelding. Ich fühlte mich auf jeden Fall wohl darin.

Es gab ein großes Regal, in dem sich Bücher, Filme und Gesellschaftsspiele sammelten, wovon ich über die Hälfte noch nie gespielt hatte. Kleinkram, der sich aus Wettbewerben oder Ü-Eiern ansammelte. Mein Schreibtisch war ein Chaos, ein einziges überhand nehmendes Chaos. Hausaufgaben lagen quer durcheinander, Notizen und Kritzeleien, Teller, leere Plastikflaschen und Wäsche. Ich war nicht unbedingt stolz auf dieses Chaos, aber ich war einfach zu faul aufzuräumen.

Ich schnappte meine Reisetasche, die immer noch Original verpackt in meinem Schrank stand.

Meine vermeintlichen Eltern hatten ihn mir zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt, allerdings war er nie zum Einsatz gekommen. Wenn ich so darüber nachdenke war er wahrscheinlich genau für den heutigen Tag gedacht.

Ich warf die Tasche auf das Bett, riss die Folie ab und begann Sachen rein zu stopfen. Klamotten, wahrscheinlich zu wenig, also packte ich noch etwas mehr dazu. Das Buch, das ich momentan las, Huckelberry Finn, da ich die anderen wahrscheinlich eh nie wieder lesen würde. Ich schob mein Lieblingskissen dazu, ein altes Konzert T-Shirt von den Guns'n Roses, das vom Waschen ein Loch an der Seite bekommen hatte und das meine Mutter, oder wer auch immer sie jetzt war, dann umgenähnt hatte. Am Ende bekam ich die Tasche nicht zu. Ich warf mich drauf, zog und zerrte, aber es ging einfach nicht.

Also holte ich alles wieder raus und machte mir wohl oder übel die Mühe, alles ordentlich zusammen zu legen. Es war immer noch etwas viel, aber die Tasche ging zu.

Ich trug sie runter. Die Kater waren nicht mehr da, wahrscheinlich hatten sie sich wieder verkrochen, doch ich wollte Joseph glauben und vermied es, mir Sorgen zu machen.

"Fertig?", fragte dieser gerade und ich nickte. "Dann los."



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