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Dreams of Gold

von

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Deai


 

09. Deai - Begegnung

 

Der erstaunte Ausdruck, in dem Toshiyas Gesichtszüge geradezu eingefroren waren, ließ Ataru in Lachen ausbrechen. Es war offensichtlich, dass ihr Freund trotz seiner Fähigkeiten nicht mit einem so offensiven Kommentar zu eben diesen gerechnet hatte. Auch Die lachte kopfschüttelnd in sich hinein, als endlich wieder Bewegung in Toshiya kam, selbst wenn diese minimal ausfiel. Er legte den Kopf schief, die Augenbrauen zusammengezogen und sah zwischen seinen beiden Partnern hin und her, bevor er fast mit den Schultern zuckte.
 

„Es ist seltsam, darüber zu reden?“, bot er halbherzig als Begründung an und ließ sich schwer auf die Decke fallen, die Ataru im Sand ausgebreitet hatte. 

 

„Und da dachte ich, wir hätten das mit den großen Offenbarungen hinter uns“, scherze sie, biss sich auf die Unterlippe, um nicht erneut loszulachen, als Toshiya sie von unten herauf mit großen, schuldbewussten Augen ansah.

 

„Es kam nie wirklich zur Sprache–“
 

„Ach komm, nicht schmollen, Schatz“, hakte Die ein, bevor der Jüngere weiterreden konnte, setzte sich im Schneidersitz neben ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange, ehe er feixend fortfuhr: „Nur, weil du das nicht hast kommen sehen, geht doch die Welt nicht unter.“
 

Toshiya sagte daraufhin nichts, sondern sah den anderen lediglich einen langen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen an, als würde er ihn zumindest gedanklich mit dem ein oder anderen unfeinen Kommentar bedenken. Oder sich mit Mühe davon abhalten, ihn unsanft von der Decke zu befördern. Dann wandte er sich demonstrativ von Die ab, betrachtete stattdessen wieder Ataru, die sich noch immer grinsend in ihr Handtuch wickelte und ebenfalls Platz nahm.

 

„Woher weißt du überhaupt davon?“, wollte er schließlich eher nachdenklich wissen.
 

Ataru zwang sich dazu, sich ein bisschen zu beruhigen, musste sich kurz räuspern, um sicher zu sehen, dass ihre Stimme nicht beim Sprechen brach.

 

„Ich hatte gestern Nacht ziemlich überraschenden Besuch“, begann sie, ehe ihr klar wurde, dass die beiden ja noch gar nicht wussten, dass sie Shiori schon einmal begegnet war. So sehr sie es ihnen hatte erzählen wollen, irgendwie war das Thema immer unter den Tisch gefallen, seit ihre Erinnerung zurückgekehrt war.

 

„Besuch?“, die Skepsis in Dies Tonfall ließ sie unversehens lächeln. 

 

„Ja. Von Shiori.“ Die Antwort kam automatisch, auch wenn sie das Ganze eigentlich anders hatte beginnen wollen. Und die Überraschung, die sie nun in den Gesichtern ihrer Partner sah, zeigte, dass die beiden definitiv nicht mit diesem Namen gerechnet hatten.
 

„Woher kennst du Shiori?“

 

Diesmal kam Toshiya offensichtlich schneller über sein Erstaunen hinweg, betrachtete sie nur mit einer gewissen Faszination. Ganz so, als wäre er in Gedanken bereits mehrere Schritte weiter und die Antwort auf seine Frage nur ein fehlendes Puzzlestück in dem Bild, das er vor sich hatte. Die Ähnlichkeit zu der Art, wie Shiori selbst in der letzten Nacht reagiert hatte, wäre unheimlich gewesen, hätte sie nicht um die Verbindung zwischen ihnen gewusst.
 

„Das … ist eine etwas längere Geschichte, wenn ich ehrlich bin.“ Für einen Moment sah Ataru zwischen den beiden hindurch aufs Meer, spielte mit den Fingern am Saum ihres Badetuchs herum. „Aber, um es kurz zu machen, ich bin ihr schon einmal als Kind begegnet, in einem Moment, in dem es mir nicht gerade gut ging. Sie hat mir damals Mut gemacht und ich habe es trotzdem irgendwie geschafft, zu vergessen, dass das Ganze je passiert ist. Das ist mir erst vor Kurzem wieder bewusst geworden. Durch euch quasi. Ich wollte es euch auch erzählen, aber irgendwie …“ Sie zuckte mit den Schultern und hätte vielleicht noch mehr gesagt, konnte aber nur ein kleines, erschrockenes Geräusch von sich geben, als sie plötzlich von zwei Armen umschlungen wurde und Die sie an sich zog.

 

„Dass sie sich aber auch immer überall einmischen muss“, schimpfte er halblaut, machte vorerst keinerlei Anstalten seinen Klammergriff um Ataru zu lösen. Stattdessen konnte sie seine weichen Lippen an ihrer Schulter spüren und raue Fingerkuppen, die sacht über ihre bloße Seite strichen.
 

„Ich mag sie“, gab Ataru leise zu. Nach dem Schreckmoment konnte sie sich in der Umarmung entspannen, genoss es Dies angenehm kühlen Oberkörper an ihrem Rücken zu spüren.

 

„Umso schlimmer.“
 

„Die.“ In Toshiyas Stimme schwang eine Art nachsichtige Belustigung mit, als er näher zu ihnen rückte.

 

„Ist doch so. Langsam fange ich an, das persönlich zu nehmen.“

 

„Du tust ja gerade so, als ob sie dir schon mal was getan hätte.“ Aus seiner liegenden Position heraus stützte Toshiya sich auf den Unterarmen ab, um sie besser ansehen zu können. „Und das hat sie eigentlich nie.“
 

Dies Antwort blieb ein unzufriedenes Grummeln, aus dem Ataru durch ihre Nähe vielleicht so etwas wie ‚alte Meerhexe‘ heraushören konnte. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, um ihn gegen die Sonne blinzelnd anzuschauen.
 

„Also für eine Meerhexe fand ich sie ganz nett. Und sie hat auch nichts Schlechtes über dich gesagt“, versicherte sie ihm. „Nur, dass ihr zusammenklebt wie Pech und Schwefel … und ich weiß nicht, ob du das wirklich bestreiten kannst?“ Statt einer Antwort zog Die sie lediglich noch etwas enger an sich, lehnte sich mit der Wange gegen ihren Kopf, sodass sie sich wieder an Toshiya wandte, der das Geschehen mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen betrachtet hatte. Als würde er es regelrecht genießen, sie so zusammen zu sehen, als wäre er vollkommen glücklich damit, sie einfach eine Zeit lang zu beobachten, bis schließlich ein leises Seufzen seinen Mund verließ.

 

„Hatte sie einen bestimmten Grund, dich zu besuchen?“, wollte er wissen, klang dabei aber, als wäre er sich sicher, dass Shiori den Weg nicht umsonst auf sich genommen hätte.

 

„Sie wollte mir etwas schenken. Zumindest glaube ich, dass sie deswegen da war. Das Ganze war ein bisschen verwirrend, wenn ich ehrlich bin. Aber das trifft ja allgemein auf mein Leben zu, seit ich euch über den Weg gelaufen bin.“

 

Atarus Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, als Die ihr spielerisch in den Hals biss, nur um die Stelle dann mit einem Schauer kleiner Küsse zu bedecken.

 

„Willst du etwa sagen, dass du es schon bereust, uns getroffen zu haben?“, nuschelte er gegen ihre Haut.

 

„Nicht im Mindesten. Versprochen.“ Sie hob eine Hand, um flüchtig beruhigend durch sein Haar zu streichen, zeigte dann damit auf ihren Rucksack. „Die Kette, die sie mir geschenkt hat, ist in dem kleinen Seitenfach.“

 

„Eine Kette?“ Sichtlich verwirrt zog Toshiya die Augenbrauen zusammen, streckte sich dann aber, um den Verschluss der Tasche zu öffnen. Ataru konnte nicht umhin, ihn nun ihrerseits einfach anzusehen und mit den Augen die Linien seiner sich streckenden Muskulatur nachzuzeichnen. Erst als Toshiya die feingliedrige, in der Sonne golden glänzende Kette aus ihrem Versteck hervorgeholt hatte, schaffte sie es, ihre Aufmerksamkeit wieder darauf zu lenken.

Die Frage danach, ob er mit dem Schmuckstück etwas anfangen konnte, blieb ihr im Hals stecken, als Toshiya und Die sich entgeisterte Blicke zuwarfen und der sichere Griff des Älteren um ihre Mitte mit einem Mal nachließ.

 

„Ich fass es nicht … ist das …“

 

„… sieht danach aus. Aber woher?“
 

Worauf sich das ‚woher‘ beziehen sollte, blieb Ataru vorerst verborgen, denn Toshiya sprach nicht weiter. Stattdessen setzte er sich langsam auf und ließ die mattgoldene Perle schon fast ehrfürchtig in seine Handfläche gleiten. Mit den Fingerspitzen der anderen Hand strich er federleicht über die glatte Oberfläche des Kleinods, als wäre er gänzlich in seinen Bann geschlagen, bevor er letztlich die Augen schloss. Mit einem schwachen, geradezu entrückten Lächeln legte er seinen Kopf in den Nacken und für einen Moment war Ataru sich nicht sicher, ob er überhaupt noch atmete. Sie setzte dazu an, sich ebenfalls aufzurichten, wurde von Die aber sanft zurückgehalten.

 

„Lass ihn“, flüsterte er ihr ins Ohr. Seine Stimme klang ungewohnt rau und doch eindringlich genug, um sie innehalten zu lassen. 

 

Sie wollte fragen, was los war, konnte ihre Sorge um Toshiya nicht unterdrücken, als er scheinbar grundlos erschauderte, aber dass Die einfach nur aufmerksam abzuwarten schien, beruhigte sie etwas. Gleichzeitig überkam sie das Gefühl, dass jedes Wort aus ihrem Mund in diesem Moment zu viel gewesen wäre. Allein schon, weil es offensichtlich nicht das erste Mal war, dass Die ihren Freund so sah. Sie wandte sich ihm etwas mehr zu, aber Dies Augen schienen förmlich an Toshiyas Gesicht zu kleben, um nicht die kleinste Regung zu verpassen. Und als würde er ihren fragenden Blick spüren, verzogen sich seine Lippen zu einem schwachen Lächeln.

 

„Mach dir keine Sorgen“, wisperte er so leise, dass sie das Gefühl hatte, die Worte eher zu erahnen. „Er ist gleich wieder da.“

 

Die Beschwichtigung ließ sie zwar aufatmen, kam aber nicht gegen das mulmige Gefühl an, das sich in ihrem Bauch ausgebreitete, als sie wieder zu Toshiya sah. Hinter seinen dunklen Wimpern und den geschlossenen Lidern konnte sie erkennen, wie seine Augen sich bewegten – fast, als würde er gerade intensiv träumen – während sein ganzer Körper weiterhin unter Spannung zu stehen schien. Sie konnte nicht wirklich ausmachen, warum, aber sie mochte es nicht, ihn so zu sehen, selbst wenn es nichts war, was sie beunruhigen musste. Seine Fähigkeit zum Hellsehen, oder wie man es auch nennen wollte, schien ihn körperlich anzustrengen und gerade hoffte sie einfach nur, dass es ihm keine Schmerzen bereitete.

Aber so plötzlich der Moment gekommen war, war er wieder vorüber und Toshiya öffnete langsam die Augen. Mit zusammengezogenen Augenbrauen blinzelte er gegen das Sonnenlicht, nahm einige tiefe Atemzüge und streckte dann die Hand, in der er noch immer die Kette hielt, nach Ataru aus.

 

„Nimm sie. Sie gehört dir.“

 

Seine Stimme klang heiser, aber gleichzeitig breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das sie nicht recht zuordnen konnte. Er wirkte, als wäre gerade etwas vollkommen und unfassbar Wunderbares geschehen und auch Die schien diesen geradezu entrückten Gesichtsausdruck binnen Sekundenbruchteilen zu bemerken, da er jetzt ebenso unerwartet von ihr abließ, wie er Ataru umarmt hatte. Er drängte sich an Toshiyas Seite und griff mit einem fragenden Blick nach seiner freien Hand. In vor Aufregung fast fahrigen Bewegungen verschränkte er ihre Finger miteinander, während Ataru lediglich fragend zwischen ihnen hin und her sehen konnte.

 

„Was h–“, bevor Die seine Frage auch nur zur Hälfte hervorbringen konnte, schüttelte Toshiya immer noch lächelnd den Kopf.

 

„Es wird alles gut“, sagte er dann leise, klang weitaus emotionaler, als so ein schlichter Satz es rechtfertigen sollte. Er ließ sich an Dies Schulter sinken, schloss für einen Moment noch einmal die Augen, schien jetzt aber vor allem die Nähe zu seinem Partner genießen zu wollen.

 

„Könnt ihr mir bitte sagen, was hier gerade vor sich geht?“

 

Ataru wollte sich dafür hassen, wie sehr ihre Stimme zitterte und wie allein sie sich für den Moment fühlte, ohne zu wissen, warum eigentlich. Aber sie konnte sich nicht gegen das Gefühl wehren, dass sie kein Teil dessen war, was hier gerade passierte. Und das war anscheinend alles, was ihre Unsicherheiten an Nahrung gebraucht hatten, um wieder von ihr Besitz zu ergreifen.

 

„Ich hab dich gesehen. Uns gesehen. Zusammen.“ Auch jetzt war da dieses fast schon entrückte Erstaunen in Toshiyas Stimme, das sie so dringend verstehen wollte. „Was machst du eigentlich so weit weg, mh?“, fügte er dann hinzu, entlockte ihr damit zumindest ein wackeliges Lächeln und sei es nur, weil er wieder mehr nach sich selbst klang.

 

„Die hat mich eiskalt sitzen gelassen“, scherzte sie zögerlich, zwang sich dazu, durch ihre Worte ihre eigene Stimmung etwas aufzuhellen.

 

„Er ist einfach kein Gentleman, das darfst du nicht von ihm erwarten.“

 

„Entschuldige bitte, dass ich dir beistehen wollte“, verteidigte Die sich ein bisschen pikiert, legte aber gleichzeitig einen Arm um seinen Freund, um ihn weiterhin an seiner Seite zu halten.

 

Ataru rappelte sich auf, ließ ihr Handtuch für den Moment Handtuch sein und rückte stattdessen näher zu Toshiya, der die Hand nach ihr ausgestreckt hatte, in der noch immer die Perle ruhte, die er nun vorsichtig in Atarus Handfläche fallen ließ. Einem plötzlichen Bedürfnis folgend lehnte sie sich so gegen ihn, dass sie ihren Kopf gegen Toshiyas Brustkorb betten konnte. Sein Herzschlag war, anders als sie erwartet hatte, ruhig und gleichmäßig, gab ihr damit selbst ein kleines Bisschen ihrer inneren Ruhe zurück.

 

„Wie meinst du das, dass du uns zusammen gesehen hast?“, wollte sie schließlich wissen. „Shiori … sie hat gesagt, dass eure Gabe nicht wirklich genau ist.“

 

„Da hat sie auch definitiv recht.“ Toshiya hielt kurz inne, setzte einen kleinen Kuss auf ihren Scheitel. „Was wir sehen, es sind keine langen, detaillierten Visionen oder so. Es sind Fragmente. Oft wissen wir nicht, wann genau etwas passieren wird. Nur dass es vermutlich so kommen wird. Das, was Shiori versucht, mir beizubringen, ist zu interpretieren, was ich sehe.“

 

„Also wenn du etwas siehst, dann passiert es definitiv?“

 

„Zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit.“

 

„Vor allem, wenn es mehr als einmal vorkommt“, warf Die ein, der weiterhin Toshiyas Hand hielt und mit dessen Fingern spielte, während er zuhörte.

 

„Das stimmt.“

 

„Mh …“ Ataru richtete sich etwas auf, sodass sie Toshiya ansehen konnte, spürte, noch bevor sie die Worte aussprach, wie Röte in ihre Wangen schoss. „Also werden wir ziemlich sicher zusammen sein … bleiben?“

 

„Insofern du das willst.“ Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr diesmal einen Kuss auf die Nasenspitze. „Das, was ich sehe, beeinflusst an und für sich nicht die Entscheidungen der Beteiligten. Aber natürlich kann das Wissen um eine Entscheidung genau diese beeinflussen. Das ist alles nicht ganz unkompliziert.“

 

„Okay.“ Für einen Moment sah sie zu Die, der ihr nun ein gewohnt optimistisches Lächeln zeigte, und dann hinunter auf die Kette in ihrer Hand. „Und was genau hat das alles hiermit zu tun?“

 

„Wenn du so willst, alles. Das, was du da in der Hand hältst, ist etwas, das so selten ist, dass es bei uns schon als Legende gilt. Ich kann dir nicht mal sagen, wann genau das letzte Mal eine dieser Perlen gefunden wurde.“ In seinen nachdenklichen Worten schwang deutlich die Neugier darüber mit, wie Shiori wohl an dieses Kleinod gekommen war.

 

Ataru zog auf diese Antwort hin die Nase kraus und zuckte leicht mit den Schultern.

 

„Wirklich mehr sagt mir das jetzt allerdings auch nicht.“

 

Für einen Moment sahen die beiden Nixen sich an, schienen nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollten. Schließlich richtete Die sich etwas aus, löste seine Finger von Toshiyas und griff vorsichtig nach dem Schmuckstück in Atarus Hand.

 

„Ihr Menschen habt viele Sagen und Mythen und Götter und all das, oder?“, wollte er wissen, wartete, bis Ataru zustimmend nickte, ehe er weitersprach. „Bei uns ist das nicht wirklich anders. Wir haben Überlieferungen, die davon erzählen, wie wir das wurden, was wir sind. Unsere eigenen Sagen, genau wie ihr.“ Während er sprach, ruhten seine Augen auf der Perle, die in seiner Handfläche beinahe schon unscheinbar gewirkt hätte, wäre nicht ihre auffällige Farbe gewesen. „Und genauso gibt es in diesem Erzählungen bestimmte Dinge, von denen wir glauben – oder zu wissen glauben – dass sie magische Kräfte besitzen. Das hier“, er hob seine Hand, ließ die goldene Perle an ihrer dünnen Kette baumeln und warf Ataru ein Lächeln zu, „ist eines davon.“

 

„Eines, von dem wir wissen, dass es nicht nur Aberglaube ist“, fügte Toshiya mit einem schwachen Kopfschütteln hinzu. "Drachenperlen sind unfassbar selten, aber hin und wieder tauchen sie auf. Den Erzählungen nach oft dann, wenn sie auf die ein oder andere Weise gebraucht werden.“

 

„Und was machen diese Perlen genau?“ Auch Ataru betrachtete das Schmuckstück noch einmal, fühlte sich wieder versucht, über seine glatte Oberfläche zu streichen, bevor Toshiyas nächste Worte sie abrupt innehalten ließen.

 

„Sie können Menschen zu Nixen machen.“

 

Ataru blieb erstarrt sitzen, die Hand halb erhoben und mit bebenden Lippen, unfähig zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. Sie hatte für einen Moment das Gefühl, man hätte ihr die Fähigkeit zum Atmen genommen. Als wäre ihr Körper plötzlich nicht mehr dazu in der Lage oder als ob sie versuchte, Wasser statt Luft in ihre Lungen zu ziehen. Zittrig schloss sie die Augen, suchte reflexartig nach mehr Kontakt zu Toshiya, um einen Anker zu haben, der sie hier hielt, während die Gedanken in ihrem Kopf sich förmlich überschlugen.

 

„Menschen zu Nixen machen …“, wiederholte sie schließlich leise, ungläubig, fühlte sich schwindelig, als sie versuchte zu verstehen, was das bedeuten konnte.

 

Sie wusste nicht, wie sie das, was in ihr vorging, in Worte fassen sollte. Ihr Brustkorb war wie zugeschnürt und in ihren Gedanken schienen die Freude darüber, was das heißen konnte, und die Angst, dass dieses Geschenk vielleicht doch nicht für sie bestimmt war, miteinander zu ringen. Sie zuckte zusammen, als eine kühle Hand erst über ihre Wange strich, sich dann liebevoll unter ihr Kinn legte, um sie dazu zu bringen, aufzusehen. Zögerlich hob Ataru den Kopf, nur um sich mit Dies dunklen Augen konfrontiert zu sehen, die ihren Blick voller Sorge erwiderten.

 

„Ataru? Was ist los?“, wollte er wissen. Allein die Wärme in seiner Stimme ließ die Zweifel in ihrem Kopf ein wenig leiser werden, machte ihr das Atmen leichter, selbst wenn die Unsicherheit blieb.

 

„Das kann doch nicht für mich sein“, stellte sie dann flüsternd fest. „Ich meine … warum denn ich? Das macht keinen Sinn. Das geht doch nicht. Ich–“

 

„Shhh …“ Wie schon vorhin spürte sie Toshiyas Lippen an ihrem Scheitel, spürte, wie er seine Arme etwas fester um sie legte, während sie Die dabei beobachtete, wie er die Kette zwischen ihnen auf der Decke ablegte.

 

„Warum nicht du?“, wollte er dann wissen, sah sie auf eine Art und Weise an, die sie nicht so recht entziffern konnte. Es ließ sie in ihrer Antwort innehalten, denn schließlich war gerade er sonst in den allermeisten Fällen ein offenes Buch und neigte nicht dazu, mit seinen Gedanken oder Gefühlen hinter dem Berg zu halten.

 

„Ich … das verdiene ich doch gar nicht“, brachte sie stockend hervor.

 

„Blödsinn.“

 

„Die, komm schon.“ Toshiyas mahnende Stimme ließ sie fast noch etwas mehr zusammensinken als die beiden Silben aus Dies Mund es getan hatten.

 

„Ist doch aber so. Es ist Blödsinn.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er erst seinen Freund, dann wieder Ataru an. „Mit Verdienen hat das doch gar nichts zu tun! Es geht doch viel mehr darum–“ Nun war er es, der innehielt, in einer fahrigen Bewegung die Hände in seinem noch immer nassen Haar vergrub.

 

„Worum geht es?“, fragte Ataru schließlich, als er nicht weitersprach. Es war seltsam, ihn so zu sehen, selbst jetzt, als er seine Hände wieder sinken ließ.

 

„Darum, dass ich es mir gewünscht habe.“

 

Für ein paar Sekunden, in denen sie das Gefühl hatte, ihr Herz wäre einfach stehen geblieben, konnte sie ihn nur sprachlos ansehen. Dann richtete sie sich mit einem warmen Lächeln auf den Lippen vorsichtig auf, um ihre Arme um seinen Nacken zu schlingen.

 

„Ach du“, murmelte sie gegen seine Wange, ließ nur zu gern zu, dass er sie an sich zog, bis sie eng an ihn geschmiegt auf seinem Schoß saß.

 

„Ich will dich einfach nicht wieder aufgeben müssen“, erklärte Die leise. Seine Stimme klang dabei ungewöhnlich rau, als müsste er bewusst dagegen ankämpfen, dass sie brach.

 

„Du glaubst doch nicht, dass ich euch einfach so wieder aufgeben würde, nur weil wir nicht zur gleichen Spezies gehören, oder?“, scherzte Ataru leise, entlockte ihm damit ein zittriges Lachen.

 

„Ich hatte es zumindest gehofft.“

 

„Manchmal bist du wirklich schlimm“, erklang nun Toshiyas Stimme, die so voller Wärme war, dass Ataru ein wohliger Schauer über den Rücken rieselte, noch bevor er sich von hinten an sie schmiegte. Er legte einen Arm um ihre Mitte, während er seine freie Hand in Dies Nacken ruhen ließ. „Sonst redest du ohne Punkt und Komma, aber bei den wirklich wichtigen Dingen bist du immer wieder der Meinung, du musst sie mit dir selbst ausmachen.“

 

Die setzte daraufhin an etwas zu sagen, ließ stattdessen aber letztlich nur ein tiefes Seufzen hören.

 

„Ich weiß …“ Für einen Moment rieb er seine Wange an Atarus, drehte den Kopf dann so, dass er einen Kuss in ihren Mundwinkel setzen konnte, bevor er schließlich fortfuhr. „Es ist nur … seit du das erste Mal gesagt hast, dass du Ataru bei uns gesehen hast – mir ist ja klar, dass du bei so etwas selten falschliegst, aber ich wusste auch nicht wirklich, wie es funktionieren sollte.“ Er lehnte sich etwas nach hinten, um Ataru ansehen zu können. „Ich hatte einfach Angst, dich zu verlieren.“

 

„Glaubst du, mir ging das anders?“ Ohne darüber nachzudenken, überwand Ataru den wenigen Abstand zwischen sich und Die, um ihn zu küssen. Sie wusste nicht wirklich, wie sie ihm zeigen konnte, dass sie es ernst meinte. Wie sie ihm zeigen konnte, dass ihn und Toshiya zu verlieren vermutlich eines der schlimmsten Dinge war, das ihr gerade hätte passieren können. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Die auf sie einging, doch dann konnte sie förmlich fühlen, wie die Anspannung seinen Körper verließ und er begann den Kuss wirklich zu erwidern.

 

Für eine kleine Weile schien Toshiya damit zufrieden zu sein, sie zu betrachten und zuzulassen, dass sie den Älteren ein wenig beruhigte. Dann fühlte sie für einen kurzen Moment seine kühlen Lippen auf ihrer Schulter, bevor er zu sprechen begann.

 

„Deswegen wollte ich dir erst nicht davon erzählen“, gab er fast schon reumütig zu. „Ich hatte Ataru bei uns gesehen und gesehen, dass es ihr gut ging, aber ich wusste nicht, wann oder wie es dazu kommen würde.“

 

Sie spürte, wie Die innehielt, seufzte leise, als er schließlich von ihr abließ, um seinen Freund anzusehen. Wortlos löste er einen Arm von Ataru, um mit den Fingerspitzen über die Innenseite von Toshyias Handgelenk zu streicheln. Dann zuckte er mit den Schultern.

 

„Schon okay. Für dich ist das ja auch nicht einfacher.“ Und damit schien sich sein eben noch so aufgewühltes Gemüt wieder beruhigt zu haben. Erleichtert atmete Ataru durch, verharrte ruhig zwischen den beiden. Zwar war das alles ein weiteres Thema, über das sie irgendwann würden reden müssen, aber für den Moment konnte sie sich guten Gewissens mit dem Hier und Jetzt zufriedengeben.

 
 

~*~

 

Sie sah von ihrem Laptop auf, als es leise an ihrer Zimmertür klopfte, schenkte ihrer Großmutter, die gerade eintrat, ein Lächeln. Die ältere Frau betrachtete sie einen Moment lang, so wie sie es in den letzten Tagen schon des Öfteren gemacht hatte.

 

„Würdest du mir beim Abendessen helfen, Ataru?“, bat sie dann, wirkte dabei untypischerweise ein wenig angespannt.

 

„Na klar, ich komme gleich in die Küche, okay?“ Diesmal bekam sie nur ein knappes Nicken als Antwort, bevor sich die Schiebetür wieder schloss.

 

Ataru sah ihr hinterher, kaute unschlüssig auf ihrer Unterlippe herum. Die Gründe für das Verhalten ihrer Großmutter konnte sie sich vorstellen, denn bisher hatten sie nach der ‚großen Aussprache‘, wie sie es selbst gedanklich nannte, ihren Beziehungsstatus noch nicht wieder angesprochen. Und es war nicht einmal so, als ob ihre Großmutter ihr aus dem Weg ging, aber in ihren schwächeren Momenten kam es Ataru vor, als würde sie Situationen vermeiden, in denen sie beide allein waren.

Sie stieß ein leises Seufzen aus, stellte dann ihren Laptop zur Seite und stand auf. Vermutlich kam die Anspannung daher, dass ihre Oma anscheinend endlich zu dem Schluss gekommen war, dass ein weiteres Gespräch unvermeidlich war. Und so seltsam sie diesen Umstand selbst fand: Von der Panik, die dieser Gedanke anfangs in ihr ausgelöst hatte, war nicht mehr wirklich viel übrig. Es blieb nur eine gewisse unbestimmte Nervosität, mit der sie aber im Vergleich gut leben konnte. Vielleicht, weil sie sich in ihrer Beziehung jetzt sicherer fühlte.

Fast schon aus Reflex griff sie nach der dünnen Kette, die sie um den Hals trug, umschloss die Perle mit ihren Fingern. Die leichte Kälte, die von ihr ausging, verursachte ihr Gänsehaut, was sie aber nur schwach lächeln ließ. Wenn dieses Kleinod wirklich halten konnte, was Die und Toshiya ihr versprochen hatten, dann konnte sie für ihre Zukunft einen ungewohnt klaren Weg vor sich sehen.

 

Als sie die Küche betrat, zwirbelte sie das Schmuckstück immer noch zwischen ihren Fingern hin und her, ließ es erst los, als die Blicke ihrer Großmutter darauf fielen.

 

„Solchen Schmuck kenne ich von dir ja gar nicht“, bemerkte sie. Sie wirkte warmherzig und interessiert wie sonst auch, sodass Ataru sich schon beinahe fragte, ob sie sich die Anspannung, die die eben noch zu sehen geglaubt hatte, nur eingebildet hatte. Sie zog die Kette über ihren Kopf und reichte sie der anderen, damit sie sie in Augenschein nehmen konnte.

 

„Sie war ein Geschenk.“

 

Eine Sekunde lang herrschte Schweigen.

 

„Oh. Von deinen … Freunden?“ Die Frage kam zögerlich, kostete die Ältere offensichtlich Überwindung, aber Ataru war froh, dass ihre Großmutter es zumindest versuchte.

 

„Von einer gemeinsamen Bekannten der beiden“, erklärte sie deswegen. „Lustigerweise hatte ich sie als Kind schon mal getroffen, ohne es zu wissen.“

 

Sie ließ den Schmuck vorsichtig in der Hosentasche ihrer Jeans verschwinden und trat an die Arbeitsfläche, auf der bereits einiges an Gemüse lag und auf sie wartete.

 

„Du scheinst diesen Sommer viele Kontakte zu knüpfen“, merkte ihre Oma an. Sie stellte sich neben Ataru und begann ihrerseits einige Hähnchenbrustfilets in passende Stücke zu schneiden, um sie später auf Spieße aufzureihen. „Zumindest im Vergleich zu früher meine ich.“ Sie warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, ehe sie weitersprach. „Ich bin froh darüber. Ich habe mir oft Sorgen gemacht, dass du dich zu sehr isolierst.“

 

„Selbst, wenn das heißt, dass ich Dinge tue, die du nicht verstehst?“, fragte Ataru nur halb scherzhaft, versuchte auszuloten, wohin dieses Gespräch führen sollte.

 

„Ich bin deine Großmutter, ich weiß nicht, ob ich alles verstehen sollte, was du tust.“ Die gutmütige Belustigung war in der Antwort deutlich zu hören und erfüllte sie mit unsagbarer Erleichterung. Mit einem kleinen Lächeln im Gesicht begann sie Möhren in feine Scheiben zu schneiden, steckte sich eine davon in den Mund, ehe sie einen Schritt weiter ging.

 

„Gilt das auch für meine Freunde?“ Es war seltsam, dass sie sich selbst zwingen musste, ihren Satz nicht ebenso zu pausieren, wie die Ältere es getan hatte. Und das, obwohl sie keinerlei Zweifel daran hegte, dass sie und ihre beiden Nixen zusammengehörten.

 

„Ich schätze schon. Ich weiß nicht, ob ich es je wirklich verstehen werde, da muss ich ehrlich sein, aber ich sehe, dass es dir besser geht, seit du sie kennst. Dass du glücklicher bist. Und vielleicht muss mir das einfach mehr wert sein.”

 

„Das … wäre für mich auch vollkommen in Ordnung.“ Ataru musste ein paar Mal heftig blinzeln, um die Tränen, die sich in ihren Augen sammeln wollten, zurückzuhalten. Sie sah ihre Großmutter nicht an, hielt ihre Blicke stattdessen weiter auf das Gemüse gerichtet, das sie schnitt. „Ich hatte wirklich Angst, dass das zwischen uns stehen würde … oder etwas verändern würde. Weil ich, wenn ich mit den beiden zusammen bin, vielleicht nicht mehr so bin, wie ihr es wollt.“

 

Während sie sprach, war ihre Stimme immer leiser geworden, verlor sich beinahe in der kleinen Küche, in der einige Sekunden lang nur noch das Ticken der Wanduhr zu hören war.

 

„Nicht doch …“ Die Stimme ihrer Oma klang genauso brüchig, wie ihre eigene sich anfühlte.

 

Für einen Moment griff ihre warme Hand auf Atarus Unterarm, ehe sie in eine feste Umarmung gezogen wurde, zu der sie sich etwas nach unten beugen musste. Sie legte ihr Messer etwas umständlich beiseite, erwiderte die Geste dann ebenso fest.

 

„Ataru, wir haben dir damals, als du zu uns gekommen bist, versprochen, dass wir dich nie im Stich lassen oder dich wieder wegschicken, nur weil du du bist. Und daran wird sich auch nie etwas ändern, egal wie dein Leben in Zukunft aussieht.“

 

Ihre Großmutter lockerte ihren Griff um sie etwas, damit sie sich wieder ansehen konnten, und jetzt konnte Ataru auch in ihren Augen unvergossene Tränen erkennen, während sie selbst vorerst nur mit einem Nicken reagieren konnte.

 

„Okay“, brachte sie schließlich hervor. „Ich weiß ja, dass ihr nicht so seid … Es ist nur in solchen Momenten schwer, das nicht zu vergessen.“

 

„Ich weiß, mein Schatz. Deswegen sage ich es ja. Du wirst immer unsere Enkelin bleiben, egal was passiert. Wir sehen dich doch ohnehin eher als unser Kind, auch wenn du mittlerweile erwachsen geworden bist. Genug, um deinen eigenen Weg zu gehen.“ Sie seufzte kurz, lächelte Ataru dann an. „Und wenn dieser Weg eine etwas andere Beziehung bedeutet, dann ist das eben so.“

 

Sie konnte nicht anders, als ihre Großmutter noch einmal eng an sich zu ziehen und sich von ihrer wohltuenden Nähe ein wenig beruhigen zu lassen.

 

„Danke. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet“, flüsterte sie ihr ins Ohr, nur um ihr gleich darauf einen Kuss auf die Wange zu drücken. Erst dann löste sie die Umarmung und trat einen kleinen Schritt zurück, um sich gegen die Anrichte zu lehnen.

 

Ihre Großmutter zog indes ein geblümtes Stofftaschentuch aus ihrer Hosentasche hervor und tupfte sich damit über die Augenwinkel. Als sie es seufzend wieder verstaut hatte, hob sie einen fast belehrenden Zeigefinger.

 

„Jetzt kann ich deinem Opa immerhin sagen, dass der Haussegen wieder begradigt ist“, meinte sie ein wenig verschmitzt, setzte dann erneut an: „Wobei ich dafür noch eine Bedingung habe.“

 

„Welche wäre das?“ Ataru hatte erstaunt die Augenbrauen ein wenig nach oben gezogen.

 

„Ich möchte deine beiden Herren der Schöpfung persönlich kennenlernen. Bisher weiß ich ja nur ihre Namen, und dass sie in meinen Gäste-Yukatas erstaunlich gut aussehen.“

 

Daraufhin konnte Ataru nicht anders, als in Lachen auszubrechen. Allein schon, weil sie wieder einmal unglaublich erleichtert war, eine so großartige Familie zu haben, selbst wenn sie es manchmal nicht recht glauben konnte.

 

„In Shorts sehen sie noch besser aus“, konnte sie sich allerdings nicht verkneifen zu sagen, spürte im gleichen Moment, wie ihre Wangen rot anliefen. Ganz automatisch fing sie wieder an zu kichern, während ihre Großmutter nur die Augen verdrehte und den Kopf schüttelte. Schließlich musste Ataru sich räuspern, bevor sie erneut zum Sprechen ansetzte: „Ich denke nicht, dass das ein Problem wäre.“

 

Jetzt da alle großen Geheimnisse aus dem Weg geräumt waren, gab es schließlich keinen Grund mehr, der dagegen sprach. Ganz im Gegenteil – als sie sich wieder den zwischenzeitlich vergessenen Möhren zuwandte, meinte sie fast, die kleine goldene Perle in ihrer Tasche spüren zu können. Und die war eigentlich ein Argument, das klar für ein Kennenlernen sprach. Vor allem, weil sie sich selbst immer wieder dabei erwischte, sich eine Zukunft mit Die und Toshiya vorzustellen, die sich nicht nur an Land abspielte.

 
 

~*~

 

Als sie zum Strand hinunterging, war die Sonne bereits im Begriff hinterm Horizont zu versinken und tauchte das kleine Küstenstädtchen in warmes, oranges Licht, das dem Sand einen Ton von Bronze verlieh. Schon auf dem Weg zum Wasser konnte sie das Feuer knistern hören, das ihr Großvater entzündet hatte und auf das er eben noch einige Holzscheite legte, so Funken in die Abendluft aufstieben ließ. In der Ferne lärmten die Zikaden, untermalt vom sanften Rauschen der Wellen, die mit zufriedener Trägheit in Richtung Strand rollten.

 

Atarus Hand wanderte, wie so oft in den letzten Tagen erst zu ihren Brustkorb, umfasste für einen Moment die goldene Perle, die sie um den Hals trug und dann weiter nach unten. In einer beruhigenden Geste strich sie sich über ihre Magengegend, versuchte, die Schmetterlinge zu beruhigen, die sich bereits seit dem Morgen immer wieder dort bemerkbar gemacht hatten.

Obwohl sie noch einmal mit beiden Großeltern darüber gesprochen hatte, wie ein Kennenlernen zwischen ihrer Familie und ihren Partnern aussehen sollte, war es dennoch etwas gänzlich anderes zu wissen, dass es heute tatsächlich passieren würde.

Der Perfektionist in ihr ging bereits seitdem sie aufgewacht war immer wieder jedes Detail durch, das eventuell schiefgehen konnte, auch wenn sie ihr Bestes tat, um diese Gedanken beiseitezuschieben. Sie würden ihr nicht helfen. Schließlich war sie ohnehin schon nervös genug, selbst wenn es trotz ihrer Sorgen keine wirklich negative Anspannung war. Ataru traute sich kaum, diesen Gedanken zu formulieren: Sie freute sich auf den Abend. Es würde zwar sicher nicht ganz einfach werden und die Stimmung vermutlich zumindest – oder hoffentlich nur – anfangs eher unbehaglich sein, aber sie konnte es kaum erwarten, endlich einmal alle, die ihr wirklich wichtig waren, um sich zu haben. Zu Beginn ihres persönlichen Sommer-Wunders hätte sie sich das, wenn sie ehrlich war, niemals träumen lassen.

Allerdings schienen ihr in den letzten Wochen allgemein viele Dinge zu passieren, die in diese Kategorie fielen, und vielleicht musste sie lernen zu akzeptieren, dass es nicht nur Gutes in ihrem Leben gab, sondern sie es verdient hatte, Gutes zu erfahren. Dass sie es verdiente, geliebt zu werden und glücklich zu sein – eben all diese großen Worte, vor denen sie immer instinktiv zurückgeschreckt

 

„Und du bist sicher, dass unsere … Gäste sich um den Fisch zum Grillen kümmern werden?“, unterbrach ihr Großvater Atarus Gedanken, stocherte mit einem Stock im Glutbett der Feuerstelle herum.

 

„Sehr sicher.“ Sie konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. „Sie haben mir mehr als glaubhaft versichert, dass sie ziemlich gute Angler sind.“ Tatsächlich hatte Toshiya nur gelacht und Die theatralisch die Augen verdreht, als sie sie danach gefragt hatte, aber das musste sie ja so nicht sagen.

 

„Na, dann hoffe ich mal, dass sie auch was Brauchbares mitbringen.“

 

„Ach komm schon, Opa.“ Ataru setzte sich dicht neben ihn, stieß mit ihrer Schulter gegen seine. „Gib ihnen eine Chance, ja?“ Mit großen Augen und dem unschuldigsten Lächeln, das sie gerade zustande bekam, sah sie ihn an und es dauerte nicht lange, bis der grummelnd begann zu lachen.

 

„Nur dir zuliebe.“

 

„Das reicht mir vollkommen aus. Abgesehen davon“, sie neigte den Kopf etwas zur Seite, „es gibt doch quasi keinen Fisch, aus dem du und Oma nicht etwas Leckeres zaubern könntet.“

 

Sie duckte sich leicht weg, als er ihr mit einer Hand durch die Haare streichen wollte, griff in derselben Bewegung nach der kleinen Kühlbox, die sie vom Haus schon eher mit hierher genommen hatte. Wortlos bot sie ihm eine der kalten Bierdosen an, bediente sich dann ebenfalls. Statt sie zu öffnen, drehte sie die Dose aber nur in den Händen hin und her, sah für einige Zeit still in die Flammen. Gedanklich wiederholte sie immer wieder, dass alles gut werden würde.

 

Vor zwei Tagen hatte sie Die und Toshiya das letzte Mal sehen können, aber es kam ihr wie eine wahre Ewigkeit vor. Anscheinend hatte sie bisher tatsächlich nicht gewusst, wie sehr man jemanden vermissen konnte, an dem man wirklich hing. Oder das Ganze war noch schlimmer, wenn man gleich zwei jemande vermisste, ohne die man eigentlich nicht mehr sein wollte. Gleichzeitig hatten diese achtundvierzig Stunden ihr Zeit gegeben, darüber nachzudenken, was Shioris Geschenk tatsächlich bedeutete – oder bedeuten konnte, wenn sie sich darauf einließ.

Es war nicht, dass sie das alles nicht wollte, ganz im Gegenteil. Spätestens nach Dies kleinem Ausbruch und dem, was Toshiya ihr über die Zukunft, die er sehen konnte, erzählt hatte, wollte sie nichts mehr, als zu erleben, wie es war, sich gemeinsam mit ihnen unter Wasser zu bewegen. Sie wollte ihre Welt kennenlernen, genauso wie sie es andersherum taten. Sie wollte wissen, wie die Nixen lebten und wie es sich anfühlte, sich ohne jede Furcht vor dem Ertrinken im Meer zu bewegen. Aber dieses Leben würde auch bedeuten, dass sie ihre Großeltern zurücklassen musste. Und das war der Punkt, an dem sie gerade nicht weiterkam. Denn so sehr sie auch bei ihren Freunden sein und ein Leben mit ihnen teilen wollte – ganz ohne ihre Großeltern konnte sie sich das alles nicht vorstellen. Abgesehen davon, dass es ihnen das Herz brechen würde, wenn sie einfach verschwand. Das konnte sie weder sich noch ihnen antun. Es musste irgendeine Art von Lösung für diesen Zwiespalt geben, auch wenn sie diese bisher nicht gefunden hatte.

 

„Sieht aus, als hätten sie zumindest irgendetwas gefangen“, merkte ihr Großvater an, deutete mit seinem Bier in die Ferne und hatte ganz offensichtlich recht.

 

Selbst jetzt in der Dämmerung schien Dies helles Haar das restliche Sonnenlicht noch einzufangen, aber ausnahmsweise blieb ihr Blick nicht daran hängen, sondern an dem nicht eben kleinen Fisch, den er auf beiden Armen vor sich hertrug. Ataru schlug sich eine Hand vor den Mund, versuchte ihr Möglichstes um ein Kichern zu unterdrücken – wenn sie sich damit nicht den Respekt ihres Großvaters verdienen konnten, dann wusste sie auch nicht mehr weiter. Normalerweise wäre sie ihnen ohne zu Zögern entgegengelaufen, aber jetzt und hier hielt sie sich lieber zurück, um das Ganze beobachten zu können. Erst als die beiden jungen Männer bei ihrer Feuerstelle angekommen waren, tat sie es ihrem Opa gleich und stand auf, nachdem sie ihre Bierdose sicher abgestellt hatte.

 

„Ich befürchte zwar, dass das hier ein bisschen viel des Guten ist, aber ich schätze, so wird heute zumindest niemand hungern“, eröffnete Die ohne jegliche Begrüßung das Gespräch und legte seinen Fang auf dem Campingtisch ab, den sie für Essen und Getränke schon früher am Tag an den Strang getragen hatten.

 

„Ist das eine Große Bernsteinmakrele?“, wollte ihr Großvater neugierig wissen, schob Die mehr oder minder beiseite, um sich den Fisch näher ansehen zu können, und bekam dessen eher als Frage formuliertes „… ja?“ anscheinend gar nicht so recht mit.

 

Auch Toshiya zuckte nur mit den Schultern, stellte dann einen kleinen Eimer auf dem Tisch ab.

 

„Austern, zum Grillen“, erklärte er kurz, was ihm immerhin ein Nicken von Atarus Familienoberhaupt einbrachte, das noch immer akribisch die Makrele inspizierte.

 

Ataru selbst konnte nur mit dem Kopf schütteln. Sie würde vermutlich nie verstehen, wie der alte Mann nach einem Leben als Fischer immer noch so begeistert von allem sein konnte, was im Meer so kreuchte und fleuchte. Aber auf der anderen Seite – sie trat näher zu Toshiya, ließ sich nur zu gern in seine Arme ziehen – eine gewisse Faszination für gewisse Meeresbewohner hatte sie ja seit einiger Zeit auch gepackt. Mit einem Lächeln auf den Lippen erwiderte sie den liebevollen, aber verhältnismäßig zurückhaltenden Kuss, den Toshiya ihr zur Begrüßung gab, blieb dann an ihn gelehnt stehen.

 

„Schön, dass ihr da seid“, sagte sie leise, während sie dabei zusah, wie ihr Opa damit begann, Die anscheinend alles zu erzählen, was er über diese spezielle Fischart wusste „Ihr seht gut aus“, fügte sie einen Moment später hinzu, denn erst jetzt wurde ihr wirklich bewusst, dass die beiden, anders als sonst, tatsächlich nicht nur in Schwimmshorts aufgetaucht waren, sondern Jeans und T-Shirts trugen. Vielleicht sollte es sie irritieren, dass sie sich daran gewöhnen musste.

 

„Danke, danke. Was tut man nicht alles, mh?“ Toshiya zwinkerte ihr zu, zog sie für einen Moment noch etwas näher zu sich. Sie nutzte die Gelegenheit, um sich etwas zu strecken und ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen zu drücken, bevor sie einen Schritt zurücktrat.

 

„Opa, bevor du dein gesammeltes Wissen an Die weitergibst, darf ich ihm kurz Hallo sagen?“, neckte sie den Ältesten in ihrer Runde liebevoll, erntete dafür aber nur ein Schulterzucken, bevor er sich wieder dem Fisch zuwandte.

 

Sie selbst ging um den Tisch herum, streckte ihre Hände nach Die aus, während er seine gerade unzeremoniell an seiner Hose abwischte. Das Lächeln, das er ihr schenkte, ließ ihre Knie einmal mehr weich werden.

 

„Hey, du“, sagte sie leise, legte sie Arme um seinen Nacken und ließ sich von ihm für einen kleinen Moment hochheben, bevor ihre Lippen sich fanden. Auch dieser Kuss war zahmer als gewohnt, allerdings war sie dafür durchaus dankbar. 

 

„Selbst hey.“

 

Bevor er mehr sagen konnte, spürte sie, wie auch Toshiya näher kam. Er lehnte sich gegen sie, sodass er sein Kinn auf ihrer Schulter ablegen konnte, und griff an ihr vorbei nach Dies Hüfte. Für einen Sekundenbruchteil schoss Adrenalin durch ihren Körper und sie wollte sich aus Reflex aus dieser Geste befreien – bis ihr wieder einfiel, dass ihre Großeltern Bescheid wussten und es keinen Grund gab, sich zu verstecken. Ataru seufze leise und lehnte ihre Stirn gegen Dies Brustkorb, genoss die Nähe zu den beiden Männern und das Gefühl von Sicherheit, das sie gerade umfing.

 

Erst als Schritte im Sand knirschen hörte, löste sie sich aus der schützenden Umarmung, um ihrer Großmutter entgegenzugehen. Mit einem Lächeln nahm Ataru ihr eine Schüssel Wakame-Salat ab, ehe sie mit ihrer freien Hand in Richtung Feuerstelle deutete.

 

„Ich würde dir gern jemanden vorstellen.“

 

Damit, dass dieses Kennenlernen nicht genau so ablief, wie sie es sich irgendwann einmal erhofft hatte, hatte sie mittlerweile ihren Frieden gemacht. Vielleicht hatte ihr Großvater sogar recht damit, dass es auf diese Weise besser war. Immerhin wussten ihre Großeltern nun, was auf sie zukam und konnten die Situation nicht missverstehen.

 

Ihre Großmutter schenkte ihr ebenfalls ein kurzes Lächeln, auch wenn sie noch nicht zu einhundert Prozent von dem überzeugt zu sein schien, was hier passierte. Sie beobachtete die beiden jungen Männer, die in der Nähe des Feuers standen und sich leise unterhielten, während sie ihrem Mann dabei zusahen, wie dieser mit geübten Bewegungen die Makrele zerlegte. Und wenn Ataru ihren Gesichtsausdruck richtig deutete, waren sie ihr zumindest nicht von Grund auf unsympathisch.

Die schenkte ihr eines seiner unbeschwerten Lächeln, als sie das Feuer wieder erreichten, und streckte eine Hand nach ihr aus, sodass Ataru den nun vollkommen natürlich erscheinenden Platz in ihrer Mitte einnehmen konnte.

 

„Oma, das sind Die und Toshiya“, sagte sie schlicht und ehe sie anfangen konnte um den heißen Brei herumzureden. „Und das ist meine Großmutter, der ich quasi zu verdanken habe, dass ich zu dem Menschen werden konnte, der ich bin.“

 

Ehe ihre Großmutter gegen diese Formulierung protestieren konnte – und Ataru kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie dazu ansetzte – verbeugte Toshiya sich leicht vor ihr.

 

„Es ist wirklich schön, Sie endlich kennenzulernen. Ataru hat viel von Ihnen und Ihrem Mann erzählt. Davon, wie viel Sie für sie getan haben.“ Er wirkte dabei so grundehrlich, dass Ataru einmal mehr Schmetterlinge in ihrem Bauch aufstieben fühlte. Aus dem Augenwinkel sah sie zu Die, der sich anscheinend ein breites Grinsen verkneifen musste, und sie konnte es ihm nicht verübeln, wenn sie sich den Gesichtsausdruck ihrer Großmutter ansah. Es war nicht zu übersehen, dass sie so viel offener Aufrichtigkeit nicht viel entgegensetzen konnte. Ganz offensichtlich war Die nicht der Einzige, dem es leicht fiel, seinen Willen zu bekommen. Oder Toshiya hatte ihre Großeltern irgendwann gesehen und wusste, dass dieses Treffen unter einem guten Stern stand. Das würde zumindest seine Gelassenheit erklären.

 

Mit einem kleinen Räuspern durchbrach Atarus Großmutter die Stille, die abgesehen vom leisen Summen ihres Großvaters, während er den Barsch ausnahm, für einige Sekunden geherrscht hatte.

 

„Die Freude ist ganz meinerseits.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay, hätte ich gewusst, dass es bis zu diesem Kapitel ein Jahr dauert, hätte ich das letzte definitiv nicht auf einem Quasi-Cliffhanger enden lassen, aber wie sagt man so schön: hinterher ist man eben immer schlauer. Ich fühl mich auch immer noch schlecht, weil ich diese Story so hab brachliegen lassen, das war definitiv nicht geplant und ich werde mein Möglichstes tun, dass es bis zum nächsten (letzten?) Kapitel nicht wieder so lang dauert. Kleiner Trost ist, dass ich, bevor ich das hier hochgeladen habe, alle vorherigen Kapitel nochmal überarbeiten und da noch einige Fehler raushauen konnte. Ist ja auch schon mal was wert ^^° Komplett anzeigen

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