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Limanu

Erstes Buch
von

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Prolog

Die Schreie erstickten im Schnee, lautlos, unbemerkt. Die Stille war der einzige Zeuge der Nacht.

Die Bestie hatte das Gesicht des jungen Mannes verdeckt, ihm seine Würde, sein Selbst genommen. Und so hatte es auch für ihn keine Rettung gegeben. Weder für sein Leben, noch auf sein Seelenheil.

Die Schreie hatte er nicht wahrgenommen, nur den Schnee, der kalt und unbarmherzig von oben auf ihn niedersank.

Hilflos, kraftlos sank er zu Boden, in die Kälte seines Herzens, den Körper voll Blut, das Herz voll Hass auf die Bestie, die in ihm ruhte, jetzt. Das Leben war ihm genommen worden, und es jetzt an diesem Orte auszuhauchen, im Schnee, gab ihm den Frieden, den er in den letzten Stunden vermisst hatte.

Die Stille sah ihn an. Tränen rannen über sein blutverschmiertes Gesicht, gepeinigt von Schmerz und Leid, voll Trauer um diejenigen, die er hatte beschützen wollen.

Versteck

Nowosibirsk, 2012
 

Die Dunkelheit hielt das Gesicht der Person, welche in einem geräumigen, fast komplett leer stehenden Zimmer in einem komfortablen Sessel saß, im Schatten versteckt.

Der Vollmond jedoch schien hell in dieser Nacht und tauchte den Raum in ein unheimliches,, unbehagliches Licht.

Der wolkenlose Himmel ermöglichte einen freien Blick auf den Erdtrabanten und all die anderen Himmelskörper.

Er saß da, die dunklen Augen auf das rege Treiben draußen auf der nächtlichen Straße gerichtet, die Finger ineinander verschränkt, die Ellbogen auf den Sessel gestützt.

Die Fahrzeuge, die der Herr unter sich auf der Hauptstraße sehen konnte, waren aus dieser Perspektive in weite Ferne gerückt.

Er vernahm ein Geräusch. Atmete dann tief ein und aus und drehte dann seinen Kopf in Richtung der sich hinter ihm befindenden Tür. Darauf folgend öffnete sich diese knarzend.

Es trat eine große Person männlicher Statur ein, schlacksig, aber dennoch breitschultrig, was von dem doch recht hellen Mondlicht enthüllt wurde. Die Tür schloss sich geräuschvoll, die Schritte des Eintretenden hallten auf dem gefliesten Boden und an den Wänden des Raumes wider, sein Schatten folgte ihm auf jeden Schritt. Die Gestalt näherte sich und beugte sich dann zu dem Herrn im Sessel hinunter.

Es war ein leises Zischen zu hören, als er die Botschaft seines Gastes erhalten und aufgenommen hatte.

Der Sitzende hob kurz darauf die Hand und deutete seinem Gast mit einer raschen Bewegung eben dieser, den Raum wieder zu verlassen. Der Gast nickte, seine schulterlangen Haare fielen ihm dabei in sein karges, kantiges Gesicht. Dann begab er sich wieder auf den Weg nach draußen und schloss die Tür mit einem lauten Poltern hinter sich.

Es blieb zunächst vollkommen still. Doch dann …

In einer geschmeidigen Bewegung kam die Gestalt letztendlich zum Stehen, machte ein paar Schritte nach vorne und stand dann direkt vor der Glasfront, welche das Appartement an der Vorderseite von der Außenwelt abschirmte.

Weder das Mondlicht noch das Scheinwerferlicht außerhalb des hohen Gebäudes schienen ihn zu blenden. Er beobachtete weiterhin das Treiben im Abgrund.

Und dann verzogen sich seine Mundwinkel unwillkürlich, unerwartet zu einem breiten, erfreuten Grinsen.

„Sie ist also tot.“ Er klang unberührt von dem, was er sagte, das melodische Summen in seiner Stimme jedoch zeugte davon, dass er dies doch irgendwie belustigend fand.

Er machte erneut einige Schritte, entfernte sich damit vom Fenster und befand sich dann vor einem großen Schreibtisch, öffnete eine seitlich liegende Schublade und holte daraus ein kleines silbernes Kästchen hervor. In Windeseile hatte er die Zigarrenbox geöffnet und eine Zigarre entnommen. Mit zwei Fingern hielt er diese nun in der Hand, legte die Box dann wieder in die Schublade, schloss sie. Seine freie Hand flog in Richtung des Tisches. Er nahm eine Packung Streichhölzer zur Hand, die auf dem Tisch lag. Dann entfernte er den Kopf der Zigarre und war nun daran, diese mithilfe des Streichholzes anzuzünden.

Den ersten Zug nehmend, starrte die hellhaarige Gestalt wieder hinaus auf die Straßen der östlichen Großstadt.

Er paffte den Zug schließlich wieder aus und steckte die freie Hand in seine Hosentasche.

Wieder verzog sich sein Gesichtsausdruck zu dem breiten Grinsen.

Ja, er freute sich. Nun endlich konnte er seinen ersten Triumph feiern. Es gab so viel zu tun und jetzt konnte er alles in die Wege leiten. Der erste Schritt war getan. Nach all dem Warten war es nun endlich so weit.

Sein Grinsen wurde immer breiter und breiter und schließlich war ein finsteres, tiefes lautes Lachen zu hören. „Tot.“

Ja, es war eine denkwürdige Nacht. Der heutige Anlass war es demnach umso mehr wert, eine seiner teuren Zigarren zu rauchen. Er würde dieses exklusive Exemplar umso mehr genießen.

Also zog der Herr genüsslich den zweiten Zug.

Er lachte sodann laut in die dunkle Nacht hinein, um den Beginn einer neuen Ära zu begrüßen.

Einer Ära, nach der er sich eine gefühlte Ewigkeit lang gesehnt hatte. Die mit dem heutigen Tage nun endlich angebrochen war. Einer Ära, die SIE hatte mit aller Macht verhindern wollen.

Alltagssorgen

Emily raste durch die Bahnhofshalle, ihren Rollkoffer im Schlepptau. Es war niemand mitgekommen, um ihr dabei zu helfen, ihr schweres Gepäck zu tragen. Sie hatte liebend gerne darauf verzichtet, damit sie schneller von zuhause weg kam, doch nun hetzte sie sich ja doch wieder ab, wie immer.

Ihr Rucksack behinderte sie im Rennen, baumelte bei jedem Schritt im Rücken herum, und zu allem Übel leierte ihr jetzt auch noch dessen Befestigungsgurt aus.

„Durchhalten!“, dachte sie, „Es ist nicht mehr weit!“

Endlich kam sie an der Treppe an, die hinauf zum Gleis führte. Die junge Frau wagte einen Blick nach oben. Mit Schrecken sah sie, dass der Zug bereits da stand. Es blieb ihr keine Zeit für eine Pause, sie musste diesen verdammten Zug einfach bekommen, denn falls nicht, würde sie zu spät kommen, die Eröffnungsfeier des neuen Akademiejahres verpassen und man würde ihr die Standpauke des Jahrhunderts halten, und das wollte Emily Whatts auf keinen Fall.

Panisch schnappte sie den Koffer mit beiden Händen, schleppte ihn die Treppe hinauf und hastete stürmisch auf die letzte geöffnete Tür des Zuges zu. Mit letzter Kraft stolperte sie in den Innenraum, ehe auch schon ein geller Pfiff ertönte und sich dann die Tür hinter ihr schloss, geräuschvoll und donnernd.

Schwer atmend wandte Emily sich der Tür ab. Es standen zwei Personen im Eingangsbereich, ein hagerer Herr mit Hut und einer runden Brille, der Andere war eher klein und hatte einen Bierbauch. Beide starrten sie entgeistert an, als sie den Koffer in Richtung der Durchgangstür zog. Doch das Starren war ihr egal. Sollten die doch gucken.

Sie öffnete die Tür und trat ins Abteil ein. Es war voll, so wie immer zu jener Jahreszeit.

Der erste September, der Tag des Aufbruchs und der Arbeitsamkeit. Der Zug voller Schüler, deren Schuljahr am heutigen Tag begann, so wie ihres auch. Jedoch musste sie im Gegensatz zu ihnen diese Strecke nur zwei Mal in der Woche zurücklegen.

Die Geräuschkulisse war phänomenal. Laut, voller pöbelnder, greller Stimmen. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht allzu lang. Die Geschäftsleute, die mit im Abteil saßen und sich entweder emsig unterhielten oder den Sport- sowie Finanzteil einer Zeitung lasen, würde der Weg direkt nach London führen. Und auch Emily war auf dem Weg dorthin.

Die Reisende fand zu ihrer Verwunderung einen Platz direkt hinter der Eingangstür, am Fenster. Ihre Laune hob sich schlagartig. Ein Fensterplatz war immer gut, da konnte man ganz gut vom Geschehen abschweifen und einen klaren Kopf bekommen.

Ihren Koffer hievte sie hinauf auf die Gepäckablage, mit recht wackligen Füßen, was der Bewegung des Zuges zuzuschreiben war. Der Herr, der neben ihr saß, stand auf und half ihr beim Anpacken.

„Danke“, sagte sie und setzte sich, als der Koffer sicher und fest verstaut war. Sie nahm ihren Rucksack auf den Schoß und kramte dann eine Vesperdose hervor. In der Dose befand sich ein kleines Obsttörtchen. Emily lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Lawrence hatte sich damit wieder einmal selbst übertroffen.

Sie grinste das Törtchen an, voller Vorfreude darauf, dieses Stück Gaumenfreude zu genießen, in Gedenken an den Abschluss ihrer Sommerpause. Ab morgen würde es wieder stressig werden an der Akademie. Doch heute, heute würde sie den Tag einfach nur noch genießen und gemeinsam mit Carrie und Lucy ins neue Lehrjahr starten.

„Wohin des Weges?“, fragte der freundliche Herr, der ihr mit dem Koffer geholfen hatte, ehe Emily in das Törtchen hinein beißen konnte.

„Nach Greenwich“, sagte Emily daraufhin.

„Doch so nah? Ich dachte, Sie würden verreisen“, lachte der Mann und zeigte auf die Ablage über ihnen. „Aufgrund der Größe Ihres Koffers.“

Emily lächelte und sah hinauf zu ihrem Gepäck. „Ach so, nein. Wissen Sie, es ist so, dass meine Schule in Greenwich liegt. Ich gehe auf ein Internat.“

Der Herr nickte. „Ich verstehe.“

Das Gespräch kam ins Laufen. „Und wohin führt Sie der Weg?“, fragte Emily ihn folgend.

„Zum Flughafen. Ich hole dort jemanden ab.“

„Das ist interessant“, sagte Emily. „Sehen Sie? Wir sind beide von etwas Anderem ausgegangen.“

„Wohin dachten Sie, würde ich denn fahren?“, wollte der Herr nun wissen.

„Also, wenn ich ehrlich bin … Ich kann Ihnen nicht genau sagen, was ich gedacht habe. Allerdings habe ich ausgeschlossen, dass Ihr Weg Sie zum Flughafen bringen würde.“ Sie lachte. „Auch aufgrund der Größe Ihres Gepäcks.“ Sie sah auf die kleine Aktentasche, die der Mann mit sich trug. „Vielleicht Bank oder Canary Wharf … um etwas Geschäftliches zu erledigen.“

„Da liegen Sie gar nicht so falsch, Miss.“ Er lächelte. „Ich hole einen Geschäftspartner ab.“

Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, ehe der Herr sich entschuldigte und eine Zeitschrift zur Hand nahm. Emily lächelte und zog Handy und Kopfhörer aus der Tasche, um etwas Musik zu hören.

Der Stress ließ augenblicklich nach.

Obwohl Emily durch die Nähe ihrer Heimatstadt zur Großstadt London sehr an ihr Zuhause gebunden war, genoss sie es doch auch, durch die Akademie etwas mehr Abstand zu ihrer Familie zu bekommen. Das Haus ihrer Familie lag außerhalb der Stadt Watford, im Grünen. Es lebten nicht viele Personen im Anwesen der Familie Whatts - genau gesagt waren dies nur sie, ihr Bruder mitsamt den Eltern, die Großeltern und die beiden Urgroßeltern - dennoch gab es da so manches Problem.

Alles im Allem fühlte sich Emily zwar sehr wohl bei ihrer Familie, doch kam sie nicht umher, sich nach etwas mehr Freiheit zu sehnen, wo doch ihr Familienname innerhalb der Gesellschaft der Magier bekannt war und auch im Anwesen ihrer Familie immer wieder hohe Tiere ein und aus gingen. Auch die Tagungen, die oft in ihrem Zuhause stattfanden, waren immer eine sehr zähe, nervenaufreibende Angelegenheit, sogar für die relativ unbeteiligten Familienangehörigen, die nicht an den Sitzungen teilnahmen. Die angespannte Lage war dann immer im ganzen Haus spürbar. Und aus eben diesem Punkt war Emily froh und überaus dankbar darum, dass sie während dieser stressigen Zeit in London war und nur an den Wochenenden nach Watford fahren musste. Das genügte ihr auch vollkommen.

Was Emily den Alltag in der Akademie versüßte, waren Carolina und Lucy. Carolina, meistens wurde sie von allen nur Carrie genannt, war die Enkeltochter der Akademieleiterin und Emilys beste Freundin. Carrie lebte in London in nächster Nähe der St. Andrews Academy, doch hatte sich die Academy als Wahlheimat ausgesucht. Sie teilten sich zu dritt im Wohnheim ein Zimmer. Lucy, Emilys Cousine, brachte immer frischen Wind in öde und schnarchige Tage, sie war ein willkommener Gast in Sachen Ablenkung und Freizeitvergnügen, ihrem aufgeweckten und neugierigen Charakter sei Dank.

Carolina war in derselben Stufe wie Emily, beide waren sie jetzt im fünften Jahr ihrer magischen Ausbildung. Lucy war ein Jahr unter ihren beiden Mitbewohnerinnen.

Ihr Trio war unzertrennlich. Emily freute sich auf die beiden Freigeister. Sie machten den anstrengenden und oftmals doch recht eintönigen Alltag in der Academy erträglicher.

Dieses Jahr würden sie ein Zimmer zu viert beziehen, entgegen ihrer Tradition mit drei Bewohnern. Die noch fehlende Bewohnerin würden sie am nächsten Tag vom Flughafen abholen. Emily wusste schon, um wen es sich dabei handelte. Das Mädchen war eine Austauschstudentin aus Japan, die nun folgend ein Jahr in England verbringen würde, um sich die westliche Kultur näher zu bringen. Emily hoffte, dass das Mädchen hier eine schöne, unvergessliche Zeit mit ihnen verbrachte. Sie würden schon dafür sorgen, dass sie sich wohlfühlte. Da würde es dem Mädchen auch nicht so schwer fallen, in einem fremden Land zu leben.
 

Sie lächelte. Ob die Menschen, mit denen sie gerade im Zug saß, überhaupt ahnten, dass es Magie tatsächlich gab?

Gedankenverloren strich die junge Magierin sich eine Strähne schwarzen Haars aus dem Gesicht.

Das Törtchen schmeckte vorzüglich. Der Pudding, der auf dem Biskuitboden aufgestrichen worden war, schmeckte schokoladig, nicht nach Vanille, wie es sonst üblich war. „Komm zu Mama“, dachte sie und biss das nächste Stückchen ab.

Eigentlich wäre Emily zusammen mit ihrem Bruder Harry in die Stadt gefahren. Doch dieser war bereits seit ein paar Tagen in der Stadt und so nahm Emily den Weg also allein auf sich. Emily konnte mit ihm sprechen wie mit kaum einer anderen Person. Ihr Bruder war tatsächlich ihre erste Bezugsperson innerhalb der Familie. Er verstand genau, was sie stresste, befand er sich doch in derselben Situation wie sie.

Von der Mentalität her waren sie beide gleich, wenn sie sich auch interessenhalber vielerorts sehr unterschieden, Emily den Musikgeschmack ihres Bruders nicht ganz teilte.

Emily war vielmehr der belesene Typ. Sie flüchtete sich, um dem Trubel rund um ihre Familie zu entgehen, oft in allerlei Romane hinein. Dort störte niemand ihren Gedankengang, sie konnte abschalten und genießen.
 

Der Weg nach Greenwich war gepaart mit mehreren Umstiegen auf verschiedene Linien der Londoner Tube. Emily zog ihren Koffer weiter hinter sich her, immer weiter, als sie in die Tube einstieg.

Der Trubel der Großstadt überraschte sie immer wieder. Es gab mindestens ein Ereignis pro Tag, über das dann wie wild geredet wurde. Sie schätzte das geschäftige Treiben der Stadt. Es war so anders als ihr Leben im Anwesen ihrer Familie, wo im Vergleich zur Stadt kaum etwas geboten war. Nicht, dass sie etwas gegen die Ruhe und Beschaulichkeit des Landes hatte, im Gegenteil. Es war ihr am liebsten, ungestört zu sein, die Stille genießen zu können, sich auf ihre Weise den Tag zu vertreiben – sei es durch ein Buch, Spaziergänge rund um Watford oder Erledigungen für die Akademie hinter sich zu bringen. Sie genoss die Ausgeglichenheit all derer, die gut gelaunt lebten und wie sie nicht preisgeben mussten, was ihnen auf der Seele lag, die wie sie schweigen konnten.

Auf der anderen Seite war die Metropole London selbst beruhigend. Die Stadt legte zwar jederzeit einen Wandel nach dem anderen hin, nichts blieb gleich, es war laut und geschäftig, doch für Emily hatte dies umso mehr Wert.

Die Welt der Menschen war vergänglich, ihr Körper und ihr Geist alterten nicht wie der der Magier. Sie, die Magier hatten massenhaft Zeit, sich an Veränderungen zu gewöhnen. Anders würden sie da auch nicht durchkommen. Die stetigen Veränderungen waren Teil ihres Lebens. Die Menschen lebten zwar auch in dem Glauben, dass ihnen durch zu viel Neues die Zeit davon liefe, jedoch konnten sie nichts von dem aufnehmen, was sich veränderte, sondern gingen stetig weiter, bis sie dann nach achtzig, neunzig Jahren starben und vergingen wie eben jene Veränderungen, denen sie hinterher gejagt waren. Emily schätzte die Menschen dafür, beobachtete gern ihr Treiben. Es bot ihr einen gelungenen Kontrast zu dem, was ihre Familie, was ihr Leben ausmachte.

Die Menschen sollten natürlich nicht davon Wind bekommen, dass etwas anders ablief, als ihnen bekannt war und aufgrund dessen waren die Magier seit jeher dazu gezwungen worden, sich etwas einfallen zu lassen, das ihnen ein handfestes Alibi verschaffte. Da selbst die Regierungen der Länder von der Magie keine Kenntnis nahmen, obwohl einigen der Regierungschefs sehr wohl bekannt war, dass es diese Art von Geheimgesellschaften gab, die unter gewöhnlichen Menschen lebte, versteckt und in Sicherheit vor Entdeckung, Ausnutzung und Missfallen, waren die Magier die Meister der Unkenntlichkeit, des illusionären Moments.

Es blieb den Magiern, Hexen und Zauberern also nichts Anderes übrig, als sich zu tarnen. Getarnt als Menschen übten sie also bodenständige Berufe aus und legten alle fünfzig Jahre einen Karrierewechsel hin. So kam es auch manchmal dazu, dass ein Magier sich kreuz und quer durch alle Bereiche der Öffentlichkeit rackerte.

Emilys Mutter arbeitete als Arzthelferin in einer Praxis ihres Heimatortes, ihr Vater leitete ein Unternehmen in London, das Kunsthandwerk vermarktete. Inoffiziell verkauften sie jedoch auch magische Gegenstände in alle Teile der Welt, selbstverständlich nur an Magier.
 

Das Leben an der Akademie stand dem einer gewöhnlichen Schule in nichts nach. Emily konnte das zwar nicht genau beurteilen, weil sie dank ihrer Historie niemals eine solche besucht hatte, doch konnte sie sich kaum vorstellen, dass sich der Unterricht einer Schule, die von Menschen besucht wurde, stark von dem der Akademie unterschied. Bis auf das Magische an Fächern mussten die Schüler auch den ganz normalen Alltagswahnsinn wie Mathematik oder Geschichte über sich ergehen lassen. Denn damit die Sprösslinge der Magie nicht wie Vollidioten da standen, war es nötig, dass auch das Allgemeine zu erlernen.

Was dieses Jahr an Kuriositäten auf dem Stundenplan stand, das würde Emily erst später erfahren, auf der Einführungsveranstaltung der Akademie, die zu Beginn eines jeden neuen Jahres abgehalten wurde.

Die Ansage der Tube riss Emily aus den Gedanken. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz und spannte sich den Rucksack auf. Dann verließ sie mitsamt ihres Gepäcks den Zug.

Es ging durch den Bahnhof und über die Straße. Sie lief vorbei am Old Royal Naval College, eine Lokalität am Ufer der Themse, das einst eine Schule für angehende Seefahrer und Geburtsstätte so mancher Könige gewesen war, und dann ging es hinein in den Greenwich Park. Sie durchquerte diesen halbwegs und wurde dabei von so manchem Touristmanchem Touristen schräg beäugt. London war an jeder Ecke eine Touristenstadt, es wimmelte von Reisenden, da sollte es eigentlich auch nicht verwunderlich sein, jemanden mit einem Koffer zu erspähen - sei es auf den ersten Blick auch noch so komisch, jemanden mit einem Rollkoffer im Schlepptau durch den Park trotten zu sehen.

Und da war sie. Emily hatte ihr Ziel in Greenwich erreicht und stand nun vor den Toren zum Gelände der Akademie. Es war jedes Mal aufs Neue wieder ein Eindruck, den man nicht so schnell wieder vergaß. Das Gebäude war in neogotischer Bauweise errichtet worden, zumindest der neuere Teil davon. Der Rest davon bestand mehr oder minder aus Backstein aus der Zeit der Könige mit Namen George, mit großen, weißen Fenstern.

Die Anlage befand sich zur Hälfte im Park, an einer Seite grenzte sie an eine Straße an. Der Gebäudekomplex war nicht auffällig groß, das Gelände bestand aber aus mehreren Häusern. Im Hauptgebäude selbst war die Akademie, das Herzstück des Ganzen, das Lehrzentrum, untergebracht. Darin befanden sich allerlei Kursräume und Hörsäle, eine Bibliothek, um Wissen aufzuschnappen, eine Cafeteria sowie der daran angrenzende Speisesaal. Zudem gab es auch einen zentralen Sammelpunkt, einen Aufenthaltsbereich mit einem riesigen Infobrett auf der Wand, der sich direkt am Eingang zum Hauptgebäude befand.

Und genau auf dieses Gebäude lief Emily geradewegs zu. Sie musste sich im Sekretariat anmelden und dann an der Infotafel nachsehen, welches Zimmer ihr im Wohnheim zugeteilt worden war.

Emily öffnete die schwere Tür und durchquerte den Eingangsbereich, in dem einige Tische standen. Zudem gab es mehrere Sitzecken mit einem übergroßen Kissenhaufen davor, von dem man sich jederzeit ein Kissen aus dem Stapel nehmen konnte. Diese gemütliche Atmosphäre war es, die dem ganzen Bereich ein angenehmes Ambiente verlieh.

Emily sah sich um und bemerkte einige Mädchen, die es sich in einer der Sitzecken bequem gemacht hatten. Sie sahen Emily entgeistert an, welche mit ihrem Geräuscheihrem Geräusch produzierenden Rollkoffer an ihnen vorbei lief und sie anlächelte.

„Hallo“, sagte sie und ging weiter.

Die überraschte Reaktion, die die Anwesenden soeben an den Tag gelegt hatten, war Beweis dafür, dass die Whatts gar nicht erst ihren Namen zu nennen brauchte, damit man sie erkannte. Allein ihr Name reichte aus, um die Stille zu vertreiben. Immer wurde daraus ein PrimboriumBrimborium gemacht. Mit der Zeit hatte sie sich ja daran gewöhnt, dass ihr magisches Umfeld beim Ertönen ihres Nachnamens erstaunt reagierte.

Wenn sie sich unter Menschen begab, dann war das eine völlig andere Dimension, da wurde sie so behandelt, wie sie am liebsten behandelt werden wollte - normal. Normalsterbliche kannten ihren Namen nicht, und selbst wenn sie diesen doch einmal preisgeben musste, so war dies nichts Verwunderliches, sondern etwas Gewöhnliches.

Die Mädchen erwiderten ihren Gruß und wandten dann den Kopf wieder von ihr ab, um sich weiterhin emsig zu unterhalten.

Vom Sehen her war Emily gewiss mit den jungen Frauen bekannt, doch konnte sie sich nicht an deren Namen erinnern. Sie glaubte zumindest, dass eine der Mädchen mit Namen Judy genannt wurde. Sie gab sich Mühe, mit jedem in dem Umfang auszukommen, wie es sein musste. Dabei half es ihr ganz besonders, wenn sie sich kollegial gab und so machte sie schon einmal nichts falsch, das man ihr dann vorhalten konnte. Es war besser, sich nichts zu Schulden kommen zu lassen, so lautete ihre Devise.

Das Sekretariat war zu dieser Tageszeit gewohnter Weise mit nur einer Person besetzt. Eine Fehlentscheidung, denn heute, an einem der Anreisetage, war schon relativ viel los. Vor Emily standen jetzt schon mindestens fünf weitere Mädchen.

Die junge Magierin ließ den Blick über die Menge schweifen und entdeckte zu ihrer Freude ihre Cousine und Mitbewohnerin Lucy in der Schlange. Und wie es aussah, war Lucy gerade eben an der Reihe. Emily sah, wie der elfenhafte Haarschopf der Jüngeren sich bewegte, sie nickte anscheinend der Sekretärin zu. Dann nahm sie einige Papierformulare auf die Hand und kehrte dem Empfangstresen den Rücken zu. Dabei erblickte sie Emily und sofort breitete sich ein Grinsen auf dem Gesicht der Kleineren aus.

„Emilyy!“, sang sie fröhlich und hüpfte auf die Schwarzhaarige zu, streckte die Arme nach ihr aus und umschloss diese überschwänglich.

„Hallo, Lucy!“, lachte Emily und ließ ihren Koffer los, um die Umarmung zu erwidern. „Na, alles klar?“

„Jaaah, insbesondere jetzt, wo ich dich wieder hab!“, summte sie freudig und grinste ihre Cousine an.

„Noch hast du das aber nicht, ich muss erst mal noch hier durch und dann unser Zimmer suchen“, lächelte Emily entschuldigend und ruckte auf, da die Nächste an der Reihe war.

„Kein Ding, ich warte auf dich.“

„Das musst du nicht, geh ruhig schon mal vor. Könnte ne Weile dauern hier.“

„Ach was, ich war auch ganz schnell dran.“ Sie wurde etwas leiser im Ton und beugte sich zu Emilys Ohr hin. „Sieh mal, wer am Empfang sitzt.“

Emily tat, wie ihr geheißen und sofort verzog sich ihr Gesicht zu einer genervten Grimasse.

Veronica Quaid. Eigentlich war sie Lehrerin für Zukunftsdeutungen und die mit großem Abstand am meisten verhasste Dozentin der Akademie. Was sie jetzt hier im Sekretariat zu suchen hatte, das war die Frage.

Ihre dicke, runde Hornbrille und die blonden Haare, die die Frau heute ausnahmsweise einmal zu einem Dutt hoch gesteckt hatte, waren die eine Sache, doch ihr strenger, unbeteiligter und desinteressierter Charakter die andere. Sie war eine Person des mittleren Datums und meistens versuchte sie, ihr wahres Alter zu vertuschen, indem sie sich tonnenweise Make-Up ins Gesicht schmierte. Wenn Mrs Quaid etwas konnte, dann war das, Emily und Lucy als Mitglieder des Whatts-Clans fertig zu machen und zu provozieren, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam. Wieso das so war, das wussten weder Emily noch Lucy genau. Immerhin war sie doch eine Vertrauensperson und Ansprechpartnerin für die Mädchen, zeigte sich allerdings niemals erfreut darüber. Auch das Unterrichten schien ihr kein Vergnügen zu bereiten. Emily reichte es schon, sie zwei Stunden pro Woche ertragen zu müssen – im Unterricht.

Kein Wunder also, dass sich die Schlange in Windeseile in Luft auflöste.

„Die Nächste“, erklang es monoton und die junge Magierin realisierte, dass sie nun an der Reihe war.

Sie drückte Lucy den Griff des Koffers in die Hand und rückte auf.

„Name?“, kam es monoton vom Schreibtisch, Veronica Quaid hob nicht einmal den Blick, sondern war weiterhin auf ihren Papierkram fixiert.

„Emily Whatts.“

Da regte sich doch tatsächlich etwas und die Sitzende sah Emily direkt und unverwandt an. „Ah, Miss Whatts“, kam es monoton von dem Gruselkabinett.

„Wie Sie sehen…“

„Gut, hier sind Ihre Unterlagen.“ Die Ältere kramte in den Stapeln Papier herum, suchte einige Formulare heraus und händigte diese dann der jungen Frau aus.

„Danke“, gab Emily von sich. „Ähm…Mrs Quaid…“

Sie sah wieder auf und der Jüngeren direkt in die Augen.

„Die Zimmerschlüssel…“

„Hat Miss Connor bereits für Sie alle abgeholt. Wenn Sie nun draußen nach Ihrer Unterkunft sehen würden, die Schlange wird nicht kürzer, wenn Sie hier bleiben.“

Zehn Sekunden waren schon wieder zu viel des Guten für diese Frau.

Emily drehte ihr wortlos den Rücken zu und sah Lucy an, verdrehte die Augen.

Lucy lachte.

Die beiden Mädchen verließen das Sekretariat wieder und liefen auf die Infotafel zu. Die Informationen zur Zimmerverteilung waren sofort ersichtlich, befanden sich neben den offiziellen Ankündigungen und Neuigkeiten der Akademie. Emily ließ den Blick über das Schwarze Brett schweifen und entdeckte das Rücktrittsgesuch ihrer Urgroßmutter Mary Whatts, die bis vor Kurzem ebenfalls an der Akademie gelehrt hatte. „Ah stimmt, diese Neuigkeiten waren ja hier noch gar nicht bekannt.“

„Ist ja immerhin auch erst zwei Monate her, dass Großmutter Mary aufgehört hat“, meinte Lucy, die sich jetzt ebenfalls das Geschriebene durchlas.
 

Wir danken unserer langjährigen Kollegin Mary Whatts, die mit dem kommenden Lehrjahr 2011/2012 ihr geschätztes Amt verlässt, für die überaus angenehme Zusammenarbeit und wünschen ihr für die Zukunft alles erdenklich Gute.
 

- Die Belegschaft der St. Andrews Academy -
 

An anderen Neuigkeiten stand nichts sonderlich Bedeutsames am Brett, die Mädchen gingen also davon aus, dass die wichtigsten Nachrichten am späten Nachmittag angekündigt werden würden, auf der Eröffnungsveranstaltung.

Sie besahen sich dann also der Zimmerbelegung und entdeckten ihre Namen sobald in der Mitte, auf Augenhöhe.

Westflügel Ebene 2, Zimmer 10

Carolina Connor

Yuki Masaoka

Emily Whatts

Lucy Whatts
 

Sie machten sich auf dem Weg aus dem Hauptgebäude. Das Wohnheim befand sich in einem der beiden nebenstehenden Häuser.

Es war nur wenige Meter entfernt und auch gleich zu sehen, wenn man das Hauptgebäude einmal verlassen hatte. Die Tür ließ sich leichter öffnen, bestand diese doch nicht aus Metall, sondern aus buntem Glas, ähnlich einem Kirchenfenster.

Lucy nahm den Türknauf in die Hand und zog an der Tür, machte dann eine einladende Geste und winkte Emily durch den Eingang.

„Danke dir“, lächelte sie und legte einen Knicks dahin.

Lucy tat es ihr gleich und so betraten sie lachend das Haus.

Die Treppe zu den weiteren Stockwerken befand sich gleich zur Linken. Sie war aus leicht rosigem Marmor und führte hinauf bis in den dritten Stock, dann gab es noch einen Dachboden, auf dem es einen Aufenthaltsraum samt kleiner Bibliothek gab, wo die Mädchen so manchen Abend ausklingen lassen konnten.

Emily und Lucy jedoch waren jetzt auf dem Weg in den zweiten Stock, wo sich ihr Viererzimmer befand. Der Westflügel war gleich rechts, wenn man die Treppe nach oben kam und so bogen die beiden Mädchen in eben jenen Bereich des Gebäudes ein. Das Zimmer mit der Nummer zehn darauf befand sich zur Rechten, in der Mitte des Ganges, der zu beiden Seiten mit einer Ahnengalerie der Lehrer dekoriert und am hinteren Ende mit einem breiten und ebenso hohen, malerischen Glasfenster bestückt war.

Carrie hatte ja bereits all ihre Zimmerschlüssel in Beschlag genommen, also brauchten die Mädchen nur anzuklopfen oder gleich einzutreten. Emily stellte sodann ihren Koffer vor der Tür ab und klopfte. Von innen hörte man ein geräuschvolles „Einen Moment, bitte!“ und kurze Zeit später erschien Carries blonder Bob in der Tür. Sofort breitete sich auch auf ihrem Gesicht ein breites Grinsen aus. „Hallihallo und herein spaziert, meine Lieben!“, trällerte Carolina und drückte zuerst ihre beste Freundin und dann Lucy ganz fest.

Emily war die Letzte, die das Zimmer betrat und als sie ihren Koffer hinein geschoben hatte, schloss die junge Magierin sofort die Tür hinter sich.

Das Zimmer war geräumig. An jeder Seite des Raumes befanden sich zwei Betten, der Tür gegenüber befand sich ein Fenster. Der Mittelgang teilte den Raum in zwei nahezu gleich aussehende Bereiche. Zur Rechten und Linken der Tür und des Fensters standen Kleiderschränke. Dann befand sich noch ein Regal zur gemeinschaftlichen Nutzung darin, das direkt neben der Tür stand. Links der Tür war das Waschbecken.

„Ich hab‘ mir die Freiheit genommen, all unsere Betten zu beziehen. Hatte vorhin nichts zu tun“, sagte Carolina.

„Oh, danke dir!“, sagte Lucy.

„Ich nehme dann das Bett hinten links!“, meinte Emily und ging den Gang entlang, bog dann vor dem Fenster nach links.

„Okay, dann nehme ich das neben dir“, sagte Carolina.

Lucy ging nach rechts, Emily gegenüber. Sie stellte den Koffer vor ihren Schrank.

Emily schnappte sich als erstes die Bettwäsche und bezog das Bett. Danach setzte sie sich darauf.

„So, Carrie … Dann erzähl doch mal … wie war es in den USA?“, fragte Lucy neugierig. Man konnte an ihrer Stimmlage erkennen, dass sie sehr gespannt darauf war, was ihre Freundin wohl so erlebt hatte.

Emily hatte Carolina erst vor einigen Tagen gesehen und daher die Geschichte schon gehört. Was andere Gesprächsthemen betraf, so würde sich dies sicher gleich ergeben.

„Ach, du kennst das ja … Verwandtenbesuche sind doch immer anstrengend. Insbesondere, wenn ich als Bleichgesicht zum Stamm meiner Großmutter komme. Da ist immer so viel Trubel, dass ich gar nicht dazu komme, mich zu entspannen.“

Claire Mason, die Akademieleiterin und augenscheinlich Carries Großmutter, stammte gebürtig aus den Vereinigten Staaten und war Mitglied eines Indianerstammes. Mindestens ein Mal pro Jahr ging es mit der ganzen Familie zurück in die Staaten, meist blieben sie dann den ganzen Sommer über dort. Carrie allerdings war diesen Sommer schon früher zurückgekommen, um mit Emily an einem liegen gebliebenen Studienprojekt zu arbeiten. Dieses hatten die Beiden auch erst die Woche zuvor fertig bekommen. Und nun wartete bald schon wieder neuer Kram auf sie, der erledigt werden musste. Emily seufzte und ließ sich auf das Bett sinken.

„Und trotzdem war es echt schön. Die Traditionen sind so wahnsinnig toll anzusehen, das vermisse ich hier immer so.“ Carolinas Lächeln wurde etwas wehmütig.

Emily versenkte den Kopf im Kissen. Eigentlich sollte sie jetzt gleich ihren Koffer leer räumen und den Inhalt dessen in den Schrank packen, bevor später die Veranstaltung los ging, doch die Matratze war einfach zu verlockend und bequem. Sie würde wenigstens eine Weile lang so liegen bleiben und dann ganz gemächlich ihre Sachen verräumen.

„Irgendwann begleite ich dich und schaue mir das mal selber an. Das muss man mit eigenen Augen gesehen haben!“, gab sie von sich. „Fliegen wäre schon mal toll!“ Emily lächelte ihre Freundin an.

„Sehr gerne!“, grinste Carolina. „Ich pack euch dann einfach in meinen Koffer, als blinde Passagiere geht ihr durch.“ Sie lachte. Carrie setzte sich auf ihr Bett. Dann fuhr sie mit einem neuen Thema fort. „Hat es jetzt eigentlich geklappt mit deiner Verabredung?“, fragte sie jetzt Lucy.

Sie waren also beim Thema Männer angelangt.

Lucy seufzte. „Nein. Wie immer. Ich glaub, dass ich meine Hoffnungen auf ein Treffen mit dem Kerl so langsam endgültig vergraben kann.“ Weiterhin schwieg sie, wollte also nicht weiter darüber sprechen.

„Emily, hat sich bei dir wieder was ergeben?“

Emily hörte das Grinsen ihrer Freundin aus deren Äußerung heraus, drehte ihr wieder den Kopf zu und sah Carrie wütend an. „Wenn sich was entwickelt hätte, dann wüsstest du das schon. Aber um deine Frage zu beantworten: Nein, es hat sich nichts getan. Dieser Vollidiot ist für mich gestorben.“

Carrie sah sie mitleidig an.

Emily seufzte und fuhr fort: „Gut, okay … Er hat sich gestern bei mir gemeldet.“ Sie sah zu Boden und wich den Blicken ihrer beider Mitbewohnerinnen aus, die sie nun freudig angrinsten.

„Na bitte!“, freute sich Lucy. „Jetzt musst du nur noch einen Schritt auf ihn zu machen und…“

“Nein. Ich möchte nicht mehr mit Timothy sprechen und ihn auch nicht sehen. Er soll mich einfach in Ruhe lassen.” Die Schwarzhaarige blieb hart und stand nun auf.

“Timothy weiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Wer weiß, was der Grund dafür war“, meinte nun auch Carrie.

“Darüber haben wir schon mindestens hundert Mal gesprochen, Carrie. Er hat keine zweite Chance verdient.” Die Whatts drehte sich weg und wandte ihre Aufmerksamkeit erst ihrem Koffer und dann dem Schrank zu.

“Wie du meinst”, sagte Carolina weiterhin und zuckte mit den Schultern.

„Ist das Thema jetzt vom Tisch? Ich hab‘ keine Lust, weiter darüber zu sprechen.“ Man konnte ganz deutlich hören, wie verletzt Emily noch immer war. Sie gab sich Mühe, dies zu verstecken, aber klappen musste dies deswegen noch lange nicht.

Ihre Emotionalität hatte ihr wieder einen Streich gespielt. Seufzend legte sie einen Stapel Socken in eine der sich im Schrank befindenden Schubladen.

Dieser Idiot brauchte sich nicht einzubilden, dass Emily jemals wieder zu ihm zurückkehren würde.

Timothy war bis vor Kurzem Emilys erste große Liebe gewesen. Er war ein junger Mann aus einer Zaubererfamilie. Nach Emilys Gefühl war eigentlich bis zu jenem Zeitpunkt alles gut mit ihnen gelaufen. Sie waren glücklich gewesen.

Dann aber war er unerwartet ins Ausland gefahren, um seinem Vater mit dessen Firma zu helfen.

Und als er dann wieder für kurze Zeit nach England zurückgekehrt war, da hatte er sie von sich gestoßen. Einfach so.

Hatte gesagt, dass er sie nicht mehr sehen wollte. Dass es vorbei war.

Er hatte ihr nicht einmal erklärt, warum. Sie einfach allein gelassen.

Timothy hatte sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr gemeldet. Sie hatte vergeblich versucht, ihn zu erreichen, doch auch sein Mobiltelefon schien nicht funktioniert zu haben, die Nummer war unerreichbar gewesen. Sie hatte ihm daraufhin etliche Nachrichten an sein Mailpostfach geschickt, ohne dass er auch nur ein einziges Mal darauf geantwortet hätte. Dass er sie gelesen hatte, davon war sie überzeugt.

So war das in etwa zwei Monate lang gelaufen. Gegen Ende hatte sie nur noch betont, was für ein Weichei er doch sei, nicht einmal zu sich selbst stehen zu können.

Nach dieser Enttäuschung war sie nun endlich wieder so weit, zu sagen, dass sie darüber hinweg war. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, so fand sie, dass er nicht einmal diese Mails hätte bekommen sollen. Verschwendete Lebensenergie.

Umso mehr hatte es sie dann verwundert, dass er sich einen Tag zuvor telefonisch bei ihr gemeldet hatte. Aus heiterem Himmel war ein Anruf gekommen. Er hatte sich eine neue Nummer zugelegt, deshalb hatte Emily auch nicht erkannt, dass es Timothy gewesen war, der sie angerufen hatte, und somit überrascht abgehoben.

Sie hatte dann auch gleich wieder aufgelegt. Dieser Kerl konnte ihr auch in Zukunft gestohlen bleiben. Über was hatte er denn mit ihr sprechen wollen? Sie hatte keine Lust darauf, sich von ihm einlullen zu lassen, und sie interessierte sich auch nicht für das, was er zu sagen hatte.
 

Sie begrüßten später ihre Zimmernachbarinnen, drei Mädchen, Neulinge, die recht aufgeregt durch die Gegend schnatterten und ihrer Panik freien Lauf ließen. Doch wer konnte ihnen das verübeln? So war es ihnen doch allen schon ergangen.

Die große Stadt war ja schon anstrengend genug, hinzu kam auch noch, dass man hier an der Akademie – in den meisten Fällen zumindest - von der Familie getrennt und zu Beginn auf sich allein gestellt war. Die Mädchen kamen hier aus den verschiedensten Orten Britanniens zusammen, viele von ihnen aus so manch entlegenem Winkel. Für sie war das alles eine extreme Umstellung.

Emily, Carrie und Lucy unterhielten sich eine Weile mit den jungen Frauen. Alles in allem schienen die Drei sehr nett und umgänglich zu sein.

Am späten Nachmittag führten sie die Frischlinge etwas über das Gelände der Akademie und machten sich anschließend auf den Weg zur Eröffnungsveranstaltung.

Die Feier fand in einem Saal im Hauptgebäude statt. Der große Raum war bestuhlt worden, der gläserne Kronleuchter an der Decke erstrahlte alles in einem prächtigen Glanz.

Die Stühle zeigten in Richtung der Bühne, wo ein langer Tisch aufgestellt war, an dem die Lehrpersonen später Platz fanden. Es gab wie immer, wenn hier eine Veranstaltung statt fand, einen Mittelgang, der die Sitzreihen teilte.

Es war zu diesem Zeitpunkt schon relativ viel los, darum teilten die Mädchen sich auf. Emily und Lucy erhaschten noch Plätze in einer der ersten Reihen auf der linken Seite des Saales, Carrie half den Neulingen dabei, sich durch die Menge zu quälen und sie zu platzieren. Sie selbst ließ sich in der Mitte des Saales nieder, auf der rechten Seite.

Lange würde es jetzt nicht mehr dauern, bis die Veranstaltung begann. Emily kramte ihr Handy aus der Hosentasche hervor.

Da sah sie, dass sie vor kurzem eine Nachricht aus Japan bekommen hatte, von ihrem Freund Minoru. Dieser war der Bruder des Mädchens, das ab morgen mit in ihrem Zimmer wohnen würde. Ein absoluter Wirbelwind, sehr jung und doch erfahren. Er saß mit Emilys Großvater Peter und auch mit der Akademieleiterin Claire Mason im Magierrat. Und bald, schon diese Woche, würden die Sitzungen des Rates im Anwesen der Familie Whatts stattfinden.

Sie öffnete den Chat und las die Nachricht gleich durch. „Konnichi wa, Emily! Ich wollte dir noch einige Infos zu unserem morgigen Flug durchgeben.“

Ein paar Sekunden lang dachte sie sich nichts weiter dabei, das Gerät lud gerade ein Bild herunter, das Minoru ihr geschickt hatte. Wahrscheinlich war das ein Notizzettel mit der Flugnummer und der Ankunftszeit des Fliegers, den er wohl abfotografiert hatte.

Doch als sie über das von ihm Geschriebene nachdachte, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und sie sagte: „Unseren Flug?“

Lucy drehte ihr den Kopf zu. „Hm? Was ist los?“

„Minoru hat gerade geschrieben.“ Und schon schrieb sie dem Japaner eine Antwort. „Unser Flug? Minoru, kommst du etwa auch mit? Die Ratssitzungen beginnen doch erst in ein paar Tagen.“

Sie fühlte sich wieder einmal vor den Kopf gestoßen. Das war typisch Minoru. Verpeilt wie eh und je. Trotzdem konnte sie es dem jungen Mann nicht verübeln.

Sofort kam eine Nachricht zurück. „Ja, ich komme auch mit. Ich muss etwas mit Claire und Peter besprechen, eine wichtige Angelegenheit. Darum reise ich schon eher an. Außerdem kann ich mein Schwesterherz bei ihrem ersten Flug doch kaum alleine lassen“. Dahinter setzte er ein Smiley, das die Zunge heraus streckte.

Emily lachte. Dann sah sie sich sein Foto mit den Flugdetails genauer an. Sie konnte der Datei entnehmen, dass die Japaner am morgigen Nachmittag landeten.

„Okay“, schrieb Emily weiter, „Danke! Dann freu ich mich, dich morgen zu sehen! Wir werden da sein. Guten Flug!“

„Es geht los!“, flüsterte Lucy neben ihr und sofort packte Emily das Mobiltelefon zurück in ihre Hosentasche. Dann sah sie nach vorn auf die Erhöhung.

Der Raum hatte sich verdunkelt und das vorherige, aufgeregte Stimmengewirr war einer gespannten, erwartungsvollen Ruhe gewichen.

Nach etwa einer Minute betraten dann endlich die Unterrichtenden den Saal, sie kamen durch einen vorne liegenden Seiteneingang. Angeführt wurden sie von Claire Mason, der guten Seele der Akademie, die wie immer sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog. Ihre anmutige Ausstrahlung wurde begleitet von einer unabdingbaren Würde. Ein jeder, der sie ansah, kam gar nicht umher, sie mit dem ersten Blick sofort zu respektieren.

Claire war eine Frau des mittleren Alters, sie hatte mittig gescheiteltes, schwarzes Haar, das in zwei seitlichen Strähnen ihr Gesicht entlang fiel und im Nacken zu einem Dutt zusammen gebunden war. Ihre Haut war von rotbrauner Natur, zeugend von ihrer indianischen Abstammung. Sie trug einen langen Umhang, der einem Talar ähnelte, gesäumt von vielerlei aufgedruckter Muster in einer dunkelroten Farbe, der von einer Art Amulett und weiteren Halsketten gesäumt war.

Der Lehrstuhl bestieg die Treppe, die zu dem Podest hinauf führte und jeder nahm auf einem freien Stuhl an dem länglichen Tisch Platz. Insgesamt waren es sieben Frauen und fünf Männer. Emily sah eine unbekannte Person unter den Erschienenen. Das musste dann wohl der neue Lehrer sein, der den Platz ihrer Urgroßmutter eingenommen hatte.

Claire beriet sich noch kurz mit einem Herrn, der ein Monokel trug und eine wilde, wuschelige Frisur mit Pferdeschwanz hatte. Dies war ihr Ehemann. Sie nickte, als sie mit diesem sprach, ehe sie dann vor das Rednerpult trat und ihren Blätterstapel ordnete, das Mikrofon zu sich drehte und den Blick durch den Saal schweifen ließ.

„Guten Tag, Mädchen“, sagte sie mit ihrer erhabenen, gebieterischen Stimme und gab die ersten Worte an alle Anwesenden preis.

Die Eröffnungsfeier, das neue Akademiejahr mit all seinen anstehenden Aufgaben konnte nun also beginnen.

Welcome to London

Claire Mason lächelte ermutigend in die Runde. Sie besah sich kurz der Notizen auf dem Pult vor ihr, dann hob sie wieder den Blick und ließ ihn über die Reihen schweifen.

„Ich heiße euch ganz herzlich in unserer schönen Academy im Herzen der Stadt London willkommen. London ist, wie ihr wisst, die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs und heute das Zentrum des Wissens der britischen Magiergesellschaft, zu der wir ja alle zugehörig sind. Nun, ich hoffe, ihr habt alle eine gute Anreise gehabt, ganz gleich, woher ihr gekommen seid. Mein Name ist Claire Mason, ich bin die Leiterin der Akademie und, wie viele von euch wissen, auch ein Mitglied des Rates der Magier.“

Getuschel, Erstaunen. Es ging ein Raunen durch die Runde.

„Hey, Emily!“, flüsterte Lucy.

„Was denn?“, kam von Emily zurück.

„Wie wär’s? Das altbekannte Spiel?“ Sie hatte einen freudigen Ausdruck in den Augen.

Emily grinste. Ihr Spiel bestand seit jeher darin, zu zählen, wie oft die Akademieleiterin „Lasst euch sagen“ verwendete, wenn sie redete. Die Mädchen machten sich auch im Unterricht einen Hehl daraus, insofern Claire Mason überhaupt einen Kurs anbot. Diese eine Macke an dem Ratsmitglied war es, die fast die gesamte Schülerschaft belustigend fand – auch wenn Claire selbst das gar nicht zu bemerken schien. „Okay!“, sagte Emily im Flüsterton.

„Der Rat ist, wie ein jeder von euch wissen sollte, das oberste gesetzgebende Organ der Magier, unsere höchste und wichtigste Institution. Doch, Mädchen, lasst euch sagen, dass diese Tatsache rein gar nichts mit eurem Leben hier an der Akademie zu tun haben wird.“

Emily beugte sich zu Lucy hinüber und flüsterte: „Eins.“

Lucy grinste.

„Die Aufgabe, die ich hier an der Akademie zu erledigen habe, ist sehr erfüllend. Sie hat mit dem Alltagsgeschäft des Rates nichts zu tun, denn lasst euch sagen, dass die politischen Entscheidungen, die der Rat trifft, unseren Schulalltag nicht im Geringsten beeinflussen. Die Schulpolitik ist nicht Angelegenheit des Rates, sondern der Landesebene.“ Sie blickte wieder ermutigend durch die Reihen.

Lucy sagte: „Zwei.“

„Unsere Akademie rühmt sich damit, eine der besten magischen Schulen des europäischen Kontinents zu sein. Gegründet wurde sie im Jahre 1715 durch die Gelehrte Joanne Mary Andrews. Und damit dieses Institut von den Menschen da draußen nicht als verdächtig angesehen wird, nennt man sie auch St. Andrews Academy, nach dem Apostel, den die Christen verehren. Nach außen hin wirkt unsere Akademie wie eine christliche Privatschule.“

Die beiden Mädchen sahen sich schräg an. Die Geschichte ihrer Schule kannte fast jedes Mädchen nun schon beinahe auswendig, und trotzdem erzählte Claire Mason diese jedes Jahr so voller Stolz und Elan. Damit jeder Neuling auch das Gefühl hatte, eine vertrauens- und ehrwürdigen Institution zu besuchen.

„Zur damaligen Zeit gab es kaum magische Schulen, meistens bekamen die Kinder magischer Familien Heimunterricht von Eltern und Großeltern oder besuchten gemeinsam den Unterricht im Hause einer der Magierfamilien, so wie es auch heute noch der Fall ist, bevor man dann auf eine Akademie wie die unsere wechselt. Im achtzehnten Jahrhundert war das aber nicht mehr so einfach, denn wie ihr wisst, war damals die Kolonialisierung der Welt bereits in vollem Gange und auch die Magier verließen das Land, um Neues zu entdecken. Die Daheimgebliebenen ließen sich dann etwas einfallen. Es musste in ihren Augen eine einfachere Methode geben als den Heimunterricht, der ja auch verlangte, dass die geschäftigen Familienmitglieder Zeit dafür aufbringen konnten. Es wurde ein Rat einberufen, in dem die Familienangehörigen dann gemeinsam besprachen, wie sie ihren zahlreichen Nachwuchs unterbringen konnten. Joanne Mary Andrews war eines dieser Mitglieder und so wurde der Grundstein für unsere Lehre geschaffen.“ Sie lächelte wieder. „So viele neue Gesichter sehe ich da … So, dann wollen wir doch mal schauen … Wer ist denn dieses Jahr neu an der Akademie? Nur zu, hebt eure Hände. Ich beiße nicht.“

Es schnellten viele der anwesenden Hände in die Höhe, als Emily sich umsah. Das junge Mädchen neben ihr war ebenfalls Teil jener Personen.

Claire verließ ihren Posten und schritt an dem länglichen Tisch entlang. „Wir haben an unserer Academy den Vorteil, dass Hexen wie auch Magierinnen gemeinsam unterrichtet werden können. Wir haben ein besonderes Lehrkonzept, das es ermöglicht, unsere Lehrmethoden in dem Maße weiterzugeben, dass niemand von euch benachteiligt wird. Das garantiert unser Lehrstuhl und dafür stehe auch ich mit meinem Namen ein. Lasst euch gesagt haben, dass ich euch hiermit das Versprechen gebe, dass wir alle auf eure Probleme eingehen werden, sollte es welche geben. Bei Beanstandungen könnt ihr immer sehr gern zu mir kommen oder meinen Mann aufsuchen. “ Sie zeigte auf den Monokelträger, der darauf in die Runde winkte.

Emily und ihre Cousine sahen sich erneut an.

„Zählt das?“, meinte Emily aufgrund der anderen Wortwahl der Akademieleiterin.

Lucy nickte und sagte: „Drei.“

„Ihr könnt euch aber auch an die Vertrauensschülerinnen wenden. Es gibt für jeden Jahrgang eine. Ach … Mädchen, würdet ihr bitte kurz aufstehen?“, meinte sie dann an die Vertrauensschülerinnen gerichtet. Zehn Mädchen erhoben sich, unter diesen befand sich auch Carolina.

„Name und Zimmernummer derjenigen Vertrauensschülerin, die für euren Jahrgang zuständig ist, könnt ihr dem Schwarzen Brett entnehmen. Fürs Erste reicht es, wenn ihr euch ihre Gesichter merkt.“ Sie deutete den Aufgestandenen, dass sie sich wieder setzen konnten. „Ich danke euch. Lasst mich nun fortfahren.“

Kurz ordnete sie wieder ihre Gedanken. „Ganz gleich, wie hoch euer Magiegrad ist, wir werden unseren Unterricht darauf einstellen und uns nach euch richten, sodass gewährleistet wird, dass alles fair abläuft.“

Sie kehrte zum Rednerpult zurück und warf wieder einen Blick auf die Notizen, die vor ihr lagen. „Ich weiß, dass es einigen von euch sehr schwerfällt, dass ihr hier so fern der Heimat lernt, aber ich garantiere euch, dass ihr euch schon sehr bald gut eingelebt haben werdet. London ist eine tolle Stadt mit vielen Gesichtern. Man sieht an jeder Ecke etwas Neues und auch wenn man, wie ich, schon Jahrzehnte hier lebt, gibt es immer Geheimnisse zu entdecken. Wir sind das beste Beispiel.“

Gelächter.

„Ja, seht uns doch an. Optisch unterscheiden wir uns nicht von den Menschen und doch … Wir leben in einer anderen Dimension als sie. Wir leben unter ihnen und müssen doch darauf achten, dass wir nicht zu viel von uns preisgeben, unser kleines Geheimnis für uns behalten.“ Sie legte eine Pause ein und musterte die Anwesenden der ersten Reihe. „Ja, die Geheimhaltung ist unser oberstes Anliegen, sie hat absolute Priorität. Das geht jetzt in erster Linie an die Frischlinge unter Euch, der Rest dürfte jetzt wieder die Augen verdrehen, denn diesen Spruch bringe ich jedes Jahr. Hier an unserer Akademie werdet ihr in den kommenden Jahren lernen, wie das mit der Geheimhaltung funktioniert und wie ihr eure Magie gezielt einsetzen könnt. Ihr werdet erfahren, was der Magiegrad über einen Magier, eine Hexe oder einen Zauberer aussagt und was es mit der Alchemie auf sich hat. Was euch sicher allen gegen den Strich gehen wird, ist das menschliche Allgemeinwissen. Denn auch das müssen wir euch lehren. Wir müssen die Illusion aufrechterhalten – und dazu gehört eben auch, dass man sich in der menschlichen Gesellschaft auskennt. Ich kann euch nur darin bestärken, auch in diesen…- naja, sagen wir mal, nicht ganz so spannenden Fächern – euer Bestes zu geben, denn eure Noten, meine Lieben, werden in diesem Bereich genau so viel gewichtet wie die Noten im magischen Bereich.“

Sie schritt wieder am Tisch entlang. „Unsere Akademie ist bekannt dafür, einen hohen Bildungsstandard zu haben. Daher bitte ich euch alle darum, dass dies auch so bleibt. Ich will, dass ihr mit uns Lehrern kooperiert und das Wissen vorantreibt. Seid fleißig und strengt euch an und ihr werdet dafür belohnt werden. Arbeitet mit uns, lasst uns wissen, wenn euch etwas auffällt, das man verbessern könnte oder euch etwas stört. Wir werden uns Mühe geben, euch den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“ Kurze Pause.

„Ich weiß, dass unser Konzept, das Mädchen von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren hier zusammenbringt, an manchen Stellen ... etwas unangemessen erscheint, doch lasst mich euch versichern, dass es gerade diese Ungereimtheit ist, die das Leben hier so lebenswert macht. Darin liegt unser Potenzial. Wir versammeln viele geniale Köpfe des Landes unter einem Dach, bedenkt das. Wir wollen euch allen eine fundierte Grundausbildung geben, wir wollen, dass ihr selbständig reift und die Gesellschaft der Magier bereichert.“

Sie trat wieder vor das Pult und sortierte die Blätter um. „So … bevor wir dann also zum formellen Teil kommen, will ich euch noch eine Weisheit mit auf den Weg geben.“ Sie schaute wieder in die Tiefen des Saales und sofort war die Ehrfurcht zu spüren, die von der Akademieleiterin ausging. Ungefähr vierhundert Augenpaare waren jetzt auf sie gerichtet.

„Die Magie ist ein Geschenk, die uns allen in die Wiege gelegt wurde. Wir vermögen es, Leben zu retten, Gestalten umzuwandeln und Andere so von etwas zu überzeugen, das wir geschaffen haben. Doch lasst euch sagen…“

Die Cousinen nickten sich mit vielsagendem Blick zu.

„Wer die Magie missbraucht, dem wird sofort ins eigene Fleisch geschnitten. Darum setzt eure Gabe nicht unbedacht ein. Achtet darauf, sie sauber und gewissenhaft zu gebrauchen. Missachtet nicht die Regeln. Wir werden euch dabei helfen, die Magie in dem Rahmen anzuwenden, wie er benötigt wird und euch lehren, wie ihr sie korrekt und sicher einzusetzen vermögt. Solltet ihr euch allerdings zu weit aus dem Fenster lehnen, kann euch keiner mehr helfen. Dies wird dann in jedem Fall Konsequenzen mit sich tragen. Ein Verweis von unserer Akademie ist hierbei noch das geringste Übel. Wer Magie falsch einsetzt, dem ist in vielen Fällen nicht mehr zu helfen. Ein Missbrauch endet nicht selten tödlich.“

Und als sie dieses Wort sagte, trat tatsächlich eine Totenstille ein. Sie sah hinunter in die sprachlosen Gesichter und lächelte. „Aber keine Sorge, wir werden euch einen gefahrlosen Umgang mit der Magie garantieren und gewährleisten. Bei praktischen Übungen sind mindestens zwei Lehrpersonen anwesend.“

Wieder machte sie eine kurze Pause und dann ruhte ihr Blick auf Emily, ehe er weiter durch die Reihen ging. „Nun gut, dann lasst uns den formellen Teil dieser Zeremonie einleiten. Bei eurer Anmeldung im Sekretariat habt ihr unter anderem den Lehrplan dieses Akademiejahres erhalten. Darauf sind alle Kurse zu sehen, die wir dieses Jahr anbieten.“

Man hörte das Geraschel von Papier. Emily und Lucy hatten ihre Sachen auf dem Zimmer gelassen, da sie schon wussten, was als nächstes kommen würde.

„Ich werde jetzt – ganz kurz - die diesjährigen Kurse vorstellen und in den Veranstaltungen selbst werdet ihr dann erfahren, was die Inhalte des Kurses sein werden. Allgemeine Fragen können wir euch selbstverständlich gleich hier beantworten, aber alles Fachliche solltet ihr dann in den jeweiligen Seminaren erfragen.“

Mit diesen Worten schritt sie an den Tisch, an dem die restlichen Lehrer saßen und kramte ein Laptop aus der Tasche zu Füßen ihres Mannes, setzte sich neben ihn, klappte den Rechner auf und schloss diesen an einen Projektor an. Claire schnippte kurz mit dem Finger und schon kam eine Leinwand hinter dem Lehrertisch zum Vorschein, die sich von der Decke herunter ausrollte. Als Außenstehender mochte man den Eindruck haben, dass dies ein automatischer Mechanismus sein musste, der durch Elektronik hervorgerufen wurde, doch sie als Mitglieder der magischen Gesellschaft wussten es in diesem Falle besser. Die Magie vermochte es ebenso, solch einen Effekt zu erzeugen, sie konnte dabei helfen, dass sich Objekte durch einen kleinen Zauber bewegten.
 

„Nun denn … Kommen wir zur Vorstellung der Kurse, oder?“ Sie sah ihre Kollegen an, die ihr mit Nicken zustimmten. „Gut, dann beginne ich. Nun, durch meine Mitgliedschaft im Rat der Magier kann ich bedauerlicherweise nicht allzu viele Kurse leiten. Ich leite zwei Veranstaltungen im Wahlbereich, ein Seminar zur Geschichte des Rates der Magier sowie eine Vorlesung zu den politischen Institutionen der Magiergesellschaft. Ich bitte um zahlreiches Erscheinen!“, scherzte sie und gab das Wort an ihren benachbarten Ehemann weiter.

„So … ich heiße Millweard Mason und mache im allgemeinbildenden Bereich die Mathematik.“ Er kicherte. „Und dann leite ich noch ein Seminar zum Thema ‚Mathematik und Zauberformeln‘. Darunter kann man sich vorstellen, oder besser – wir werden herausfinden, inwiefern uns Zahlen in Zaubersprüchen begegnen. Wir werden ebenfalls untersuchen, was die Zahl 666 uns über dunkle Magie verrät und dergleichen … Nun, wenn ihr neugierig seid, dann kommt vorbei. Falls nicht – wir sehen uns auf jeden Fall in der Mathematik.“

Dann war eine blonde Frau mittleren Alters an der Reihe. Sie hatte ihr Haar zu einem Dutt verknotet und große Ringe prangten an ihren Ohren. „Hallo, ich bin Ilka Edvardsson und komme gebürtig aus Schweden. Ich mache hier an der Academy Geschichte und Politik im allgemeinbildenden Teil. Wir werden uns also auf jeden Fall kennen lernen.“ Ihr Akzent klang mit, als sie dies sagte. Sie zwinkerte.

Als nächstes kam ein junger Mann zu Wort. Ein neuer Dozent. Er war mit großer Wahrscheinlichkeit derjenige, der den Lehrstuhl ihrer Urgroßmutter Mary übernommen hatte, die ja in den Ruhestand gegangen war.

„Mein Name ist Chase Anderson“, sagte der Neuling. „Ich bin neu an der Akademie und unterrichte Alchemie.“ Er fuhr sich durch das kurz geschnittene, blonde Haar und Emily hörte, wie hinter ihr jemand sagte: „Verdammt, wieso muss der Typ denn Lehrer sein? So ein Sahneschnittchen.“

„Außerdem biete ich noch ein Seminar zur Wandelbarkeit von Körpern an. Um daran teilnehmen zu können, solltet ihr zumindest im fünften Jahr sein, da wir angewandte Magie praktizieren werden und dies im Bereich der Alchemie durchaus kompliziert werden kann, selbst für Fortgeschrittene. Ansonsten … hoffe ich natürlich, viele von euch dort zu sehen.“ Seine Augen blitzten aufgeregt, er schien sich richtig darüber zu freuen, in Aktion treten zu können.

Dann ergriff eine Frau im mittleren Alter das Wort und Lucy lächelte. Die Sprechende war ihre Mutter, die bereits seit gut zehn Jahren an der Akademie beschäftigt war. Emilys Tante. „Guten Tag, mein Name ist Valerie Whatts und ich unterrichte im Pflichtteil das Fach Zaubertränke. Für diejenigen unter euch, die im fünften Jahr aufwärts sind, biete ich dieses Jahr auch ein Seminar an, das die Wirkung von Zaubertränken auf Menschen behandelt. Dieses Seminar ist das erste, das ich zu diesem Thema anbiete und ich hoffe, dass auch ihr es ansprechend findet und mich besucht.“ Sie deutete ihrem Nachbarn, einem Herrn mit kreisrunder Brille und ernstem Blick, dass dieser nun an der Reihe war.

„Winfrid Horn, Literatur im Pflichtbereich. Im Wahlteil biete ich ein Studienprojekt an.“ Kurz und knapp, so wie immer.

Als nächstes war eine junge Frau mit kurzem Haar an der Reihe. „Ich bin Laura Harris, komme aus Schottland und unterrichte für euch alle Englisch und Wirtschaft. Ich biete noch ein Wirtschaftsseminar zum Thema Vermarktung an. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch ein Studienprojekt bei mir machen, für Vorschläge bin ich jederzeit offen. Ziel soll es dabei sein, dass ihr ein Produkt versucht zu vermarkten, das kann gerne auch ein magisches sein.“

Dann war Veronica Quaid dran, die Schreckschraube. „Veronica Quaid, Zukunftsdeutung.“ Noch kürzer als knapp.

„Mein Name ist Anne Chasey. Ich unterrichte Sport und Bewegungslehre. Wir werden die unterschiedlichsten Sportarten ausprobieren und unsere Beweglichkeit fördern“, sagte dann eine Frau, die ein Cappy und Reitkleidung trug, ebenfalls im mittleren Alter.

„Ich bin Eadgar Eadwine, der Historiker unter uns. Ich unterrichte Magiergeschichte und mache dann noch eine Vorlesung mit dem Namen ‚Die Magiergesellschaft im Wandel‘. Wir werden verschiedene Epochen betrachten und uns das Leben der Magier dieser Epochen veranschaulichen. Alles sehr interessant“, sagte ein älterer Herr mit bereits ergrauter Haarpracht. Er hatte einen Flechtzopf und an seinem Kinn prangte ein Ziegenbart. Im Ohr trug er ein Plug, was so gar nicht zu seinem strengen Aussehen zu passen schien.

Eine jüngere Frau mit Pferdeschwanz und strubbeligem Pony war jetzt an der Reihe. „Erica Ford, ich unterrichte im Pflichtbereich die ‚Einflussnahme auf die magische Kraft‘, also wie wir unseren Magiegrad beeinflussen können, in welchem Umfang dies möglich ist und so weiter, außerdem mache ich noch … eine Vorlesung zum Thema ‚Deutung des Magiegrades‘.“

Dann war auch schon der Letzte an der Reihe. „So, ich bin dann wohl zum Schluss dran, nicht wahr? Nun gut … Ich heiße Claude Bonaventure und werde euch in die Magie einführen, beziehungsweise werden wir unsere Kenntnisse festigen und erweitern. Ich leite den Fächerverbund Magie - Theorie und Magie - Anwendung. Dann … habe ich noch eine Lehrveranstaltung. Oder waren es sogar zwei? Lasst mich kurz einen Blick auf das Blatt werfen.“ Claude Bonaventure wirkte wie immer etwas zerstreut, dennoch minderte es den guten Eindruck, den man von ihm gewann, in keiner Weise. Der Brite war mit großem Abstand der beliebteste Unterrichtende der Akademie, abgesehen von Claire Mason natürlich. Er war kompetent, zuverlässig und hilfsbereit, lustig war er obendrein auch noch. Während man sich in manchen Veranstaltungen oftmals fragte, wie man die verbleibende Zeit am ehesten überstehen konnte, so war man von seiner Wortwahl und den Unterrichtsinhalten immer so gefesselt, dass man gar nicht anders konnte, als ihm zuzuhören. „Ah ja, genau. Doch nur ein Seminar. Es trägt den Namen ‚Das magische Erbe: Magiegrad im Vergleich‘. Hier werden wir untersuchen, wie sich der Magiegrad bei Menschen, Hexen und Zauberern und bei Magiern unterscheidet und das dann deuten. Ihr könnt gern eure eigenen Themenvorschläge mit einbringen, dann können wir das gemeinsam durchsprechen.“

Er nickte Claire über die Köpfe der anderen zu, diese sagte dann: „Zudem haben wir noch eine weitere Vorlesung in Planung, wir werden Sie diesbezüglich in den nächsten Tagen informieren. Diese Vorlesung wird dann für Sie alle zugänglich sein, egal ob Sie im ersten oder zehnten Jahr sind.“

Und dann sah sie wieder zu Emily. „Miss Whatts“, fing die Ältere an und die junge Magierin wusste, dass die Akademieleiterin nun mit ihr sprach. „Kommen Sie doch nachher kurz zu mir nach vorn, ja? Ich möchte Sie um etwas bitten.“

Verdutzt antwortete die Whatts darauf. „Ja … Natürlich.“ Worüber die Ältere wohl mit ihr sprechen wollte? Irgendwie machte sie das jetzt doch nervös.

Daraufhin lächelte Claire sie dankbar an und fuhr fort. „Nun denn … Gibt es abschließende Fragen? Ansonsten können Sie auch gerne noch nach vorne kommen, wenn Sie etwas wissen wollen. Wir werden Ihnen Rede und Antwort stehen.“ Aus dem Publikum hörte man zwar Getuschel, doch keine Hand erhob sich.

„Nun gut, dann schätze ich, dass Sie Ihre neugewonnenen Eindrücke erst einmal verarbeiten müssen. Das ist viel auf ein Mal. Und denken Sie daran, das Essen in der Kantine steht in Bälde bereit. Ich lade Sie ein, mit uns zu speisen.“ Sie lächelte wieder. „Ich entlasse Sie hiermit.“

Es ertönte Beifall und das Stühlerücken begann, die Anwesenden erhoben sich. Emily blieb fürs Erste sitzen, da sie denjenigen den Vortritt lassen wollte, die Fragen hatten und dafür erst einmal nach vorne mussten.

Lucy leistete ihr Gesellschaft, Carrie war schon von Schülerinnen umringt, die etwas von ihr wissen wollten. Das brachte so ein Vertrauensschülerjob mit sich, dennoch wirkte Carolina immer ausgeglichen. Sie machte diesen Job sehr gern.
 

Nach einer Weile dann waren sie fast die letzten im Raum, also erhoben sie sich von ihren Stühlen. Lucy wandte sich zu Carrie.

Claire war noch in ein Gespräch mit Claude Bonaventure vertieft, die Beiden lachten.

Dann sah Claude, dass Emily sich näherte und unterbrach somit ihre Unterhaltung. Claire wandte den Kopf und kam auf sie zu.

„Guten Tag, Mrs Mason“, sagte Emily.

„Ahh, Miss Whatts! Es freut mich sehr, Sie zu sehen. Hatten Sie eine schöne Sommerpause?“

„Ja, sehr. Wie immer etwas anstrengend, auch mit der Familie, aber das ist doch immer so“, lachte sie.

„Das stimmt. Carolina hat Ihnen sicher auch schon erzählt, wie es bei uns in Amerika gelaufen ist. Dies ist ein altbekanntes Problem, nicht wahr?“ Die Leiterin zuckte mit den Schultern. „Nun, Miss Whatts, wie vorhin schon angedeutet … ich habe eine Bitte an Sie.“

„Ja. Um was geht es denn?“, wollte Emily wissen.

„Sie fahren doch morgen zum Flughafen Heathrow, um die Austauschschülerin aus dem Hause Masaoka abzuholen, oder irre ich da?“

„Das ist korrekt.“

„Nun, das ist gut.“ Sie schien erleichtert. „Dann würde ich Sie darum bitten, sie und ihren Bruder Minoru direkt hier in die Akademie zu bringen.“

„Ach so, stimmt. Minoru meinte, dass er mit Ihnen und Großvater Peter über etwas reden muss.“

„Genau. Und der Junge kennt sich doch hier gar nicht aus. Der verläuft sich doch sogar in seinem eigenen Haus in Japan.“

„Keine Sorge, Mrs Mason, ich bringe ihn heil zu Ihnen“, meinte die Jüngere daraufhin und ihr entfuhr ein belustigtes Lachen. „Darf ich denn fragen, um was es geht?“

Claire Mason dachte kurz angestrengt und mit überaus ernstem Blick nach, wie um zu überlegen, ob sie dem nachgeben sollte, dann lächelte sie wieder. „Nun, Ihnen werde ich es verraten, Sie sind immer so engagiert. Es ist zwar noch nicht ganz spruchreif, aber wir haben zumindest vor, dass er einen Gastvortrag hält. Und dann gibt es noch eine weitere Sache, die er mit uns besprechen will… Allerdings hat er nicht erwähnt, um was es geht, nur, dass es wohl etwas Schwerwiegendes sein muss.“ Emily spürte, dass Claire diese Ungewissheit unbehaglich war.

Emily wusste nicht so recht, was sie daraufhin sagen sollte. Es schien dem Jungen ja wirklich dringend zu sein, wenn er dafür eine Woche vorher anreiste. „Nun … Sie werden es ja morgen herausfinden. Ich bin mir sicher, dass diese Angelegenheit zu lösen sein wird. Mit ersterem Punkt ... habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.“

„Finden Sie das seltsam? Glauben Sie, er schafft es nicht?“, wollte Claire in Bezug auf die geplante Vorlesung wissen. Sie sah Emily zögernd an.

„Doch doch, da sehe ich kein Problem. Er kriegt das ganz sicher hin und ich bin mir sicher, dass es super wird. Das kommt nur … etwas überraschend.“

„Nun, seitdem Ihre liebe Frau Großmutter nicht mehr bei uns ist, muss eben ein frischer Wind ins Haus. Sie sehen sie doch morgen, oder?“

„Ja, ich denke schon. Lucy und ich wollten am Vormittag kurz zu ihr fahren. Hatten wir zumindest vor.“

„Richten Sie ihr einen lieben Gruß aus, ja?“ Claires gütiges Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Sie war solch eine Bereicherung für unsere Akademie und es ist so schade, dass sie ging. Sagen Sie ihr, dass sie jederzeit gerne einspringen kann.“

Emily lachte. „Ja, das mache ich. Wissen Sie, ich kann mir gut vorstellen, dass auch sie gern ein paar Gastvorträge halten würde.“

„Oh, das wäre ganz fantastisch! Wenn es geht, dann trichtern Sie ihr das ein, ja? Ist sie denn schon fertig mit der Neuinterpretation der Enzyklopädie?“

„Noch nicht ganz, aber soweit ich weiß, hat sie es fast geschafft.“

„Dann toi toi toi.“ Die Mason drückte die Daumen. „Haben Sie vielen Dank, Miss Whatts. Am besten, Sie geben Carolina Bescheid, wann Sie wieder da sind, damit sie mich anruft und ich Minoru dann selbst empfangen kann.“ Die Leiterin ging wieder zu ihren Kollegen.

„Mache ich.“
 

Später begaben sie sich in den Speisesaal, wo zur Feier zum Beginn des Jahres ein riesiges Buffet angerichtet worden war. Im gewöhnlichen Schulalltag war dies nicht der Fall, es gab zwar jeden Tag eine Auswahl an Speisen, aus man sich dann selbst sein Lieblingsgericht aussuchen konnte, aber ein Buffet, von dem man sich nehmen konnte, was man wollte, das gab es nur zu besonderen Anlässen. An Weihnachten, Ostern, zum Erntedankfest oder eben, wie zu diesem Tag, als Eröffnungsessen.

Doch diese christlichen Feste waren für sie ja nur da, um den Schein zu waren. An was Magier, Hexen und Zauberer stattdessen glaubten, war das Leben selbst. Sie verdankten ihrem Urvater, dem ersten Magier Juleska, ihre verlängerte Lebenszeit, hervorgerufen durch die in ihnen wohnende Magie.

Heute standen wieder einmal die verschiedensten Gerichte zur Auswahl. Angefangen bei dreierlei Arten von Suppe über Fisch und eine breite Auswahl an Fleischsorten und Beilagen gab es zudem noch ein wahrhaft grandioses Dessertbuffet. Lucys Augen blitzten vor Freude auf.

Solch ein Festmahl musste genutzt werden, darum schlugen sie zu und probierten sich durch alles durch, Stück für Stück.

Emily freute sich auch schon auf den folgenden Tag, wo eine Eröffnungsfeier zur Begrüßung für die Austauschstudentinnen stattfand, an die ebenfalls ein Buffet angeschlossen sein würde - diesmal allerdings noch vielfältiger, mit allerlei Köstlichkeiten aus den verschiedensten Teilen der Welt. Dieser besondere Abend war jedes Jahr ein Highlight, auf das man sich schon lange Zeit im Voraus freute.

Carrie, Lucy und Emily setzten sich an einen der kreisrunden Tische, mit denen der Raum bestückt war. Der ganze Speisesaal war voll, überall sirrten aufgeregt schnatternde Stimmen durch den Raum. Das war jedes Mal so, wenn die Einführungsveranstaltung ihr Ende gefunden hatte.

Emily fühlte sich zurückversetzt in den vollen Zug am Mittag.

Ihre drei Zimmernachbarinnen setzten sich zu ihnen. Sie wirkten viel entspannter als zuvor.

„Wahrscheinlich hat sich ihre Unsicherheit in Aufregung verwandelt“, dachte Emily und lächelte.

„Wie heißt ihr eigentlich?“, fragte dann Lucy. „Daran haben wir vorhin ja gar nicht gedacht! Peinlich…“ Sie schüttelte sich.

„Stimmt! Ich bin Corin“, sagte die Kleinste unter den Neulingen, ein Mädchen mit brauner Bobfrisur und kreisrunder Brille.

Die Größte fuhr dann fort. „Und ich Margret.“ Ihr Haar war besonders auffällig – ihre Naturhaarfarbe, ein Blondbraun, war im oberen Teil durch blaue Strähnchen verziert. „Ich bin aber nicht im ersten Jahr.“ Sie lachte.

„Oh, wie kommt’s?“, fragte Emily und spießte ein Stück Brokkoli auf.

„Naja, ich bin mit meinen Eltern herumgereist und hatte quasi Heimunterricht bei ihnen“, erklärte Margret. „Seitdem ich damals von der Grundschule gegangen bin. Und jetzt, mit achtzehn, gehe ich dann also in die Vierte.“

Lucy grinste. „Hey, dann bist du mit mir zusammen! Ich geh auch in die Vierte.“

„Cool! Ich freu mich!“, sagte Margret lächelnd. „Ich hoff nur, dass ich da nichts verpasst habe. Meine Eltern hatten zwar die gleichen Lehrbücher, die wir hier verwenden, aber ich bin da etwas skeptisch.“

„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, ermutigte Carolina sie. „Wir wiederholen zu Beginn des Jahres das Wichtigste aus dem Vorjahr, so dass man wieder schnell reinkommt.“ Sie schaufelte gerade Reis auf ihren Löffel.

„Ich heiße Violet“, meinte dann die Dritte im Bunde, ein rothaariges Mädchen mit lockiger Haarpracht und Sommersprossen. „Ich komme aus Irland. Und wie heißt ihr?“

„Ich bin Emily. Wohne gleich außerhalb der Stadt, in Watford. Aber hier ist’s cooler, deshalb lebe ich unterm Jahr eher hier als im Anwesen meiner Familie.“

„Oh, warum?“, wollte Corin wissen. „Ich meine … du hast doch dann gar keinen Anlass dazu, du kannst doch ganz schnell nach Hause düsen.“

„Es ist … anstrengend.“

Margret ahnte etwas. „Ahh, ich weiß warum! Die Akademieleiterin hat dich doch vorhin kurz angesprochen, oder? Du bist aus dem Whatts-Clan!“

Emily lächelte. „Genau. Bei uns daheim ist ständig Halligalli und mal ganz unter uns … diese politische Sache ist manchmal echt nervig.“

„Verstehe, dann ist dein … Großvater im Rat der Magier mit Claire Mason, oder?“

„Ja.“ Das klitzekleine Detail, dass Peter eigentlich sogar ihr Urgroßvater war, ließ sie einfach einmal unkommentiert. Da machte sie selbst ja kaum einen Unterschied. Sie nannte beide immer Großvater.

„Wahnsinn!“, staunte Violet. „Dann kennst du die Mitglieder des Rates ja alle persönlich!“

„Naja … Ich habe die meisten von ihnen schon mehrmals getroffen. Aber dadurch, dass die Ratssitzungen eben nicht … öffentlich sind, bekommt man als Anhängsel nicht so viel davon mit. Meistens reden wir ja nur über so alltägliches Zeug, da kann man sich nicht so wirklich kennen lernen. Am ehesten kenne ich da Claire Mason, natürlich meinen Urgroßvater Peter Whatts, Constantine de Ferro aus Frankreich, Ignacio de Sanchez aus Argentinien und Minoru Masaoka aus Japan.“

„Das sind aber schon mal einige!“

Sie zuckte mit den Schultern, lächelte und gabelte ein Stück Fleisch auf, das sie dann in die Pfeffersoße tauchte und sich in den Mund schob.

„Gibt es sonst noch prominente Persönlichkeiten hier an der Academy, von denen wir was wissen sollten?“, fragte Corin und Lucy und Carrie sahen sich daraufhin belustigt an.

Carolina fing an. „Ich bin die Enkeltochter von Claire Mason.“ Ganz unbeteiligt, um den Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben.

Jetzt sahen die drei Neuen sie mit offenen Mündern an.

„Nicht dein Ernst! Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein“, gab Carolina nun schulterzuckend von sich und kicherte.

„Haha! Sieh mal einer an, und dann noch Vertrauensschülerin!“, lachte Margret aus voller Kehle. „Das finde ich absolut herrlich!“

Sie stimmten in das Lachen mit ein.

Lucy wollte weiter machen. „Und meine Mutter ist die Lehrerin für Zaubertränke. Oh, und Peter Whatts ist auch mein Großvater.“

Sofort verstummte das Lachen wieder.

„Nee, oder?! Vetternwirtschaft ist das hier!“, scherzte Margret.
 

Der Tag fand dann recht schnell sein Ende, die Mädchen verbrachten den Rest des Abends im Aufenthaltsbereich auf dem Dachboden, wo sie sich mit anderen Neuankömmlingen austauschten sowie ihren gleichaltrigen Kameraden von der langen Sommerpause erzählten. Dann wanderten sie recht zügig ins Bett.

Emily checkte nochmals ihre Nachrichten. Sie stöhnte auf.

„Schon wieder eine SMS von Timothy“, dachte sie genervt und klickte auf das Mülleimer-Symbol, ohne die Nachricht auch nur anzusehen. Sie schrieb ihrem Bruder Harry, dass sie ihn am kommenden Tag um elf Uhr in der Innenstadt, am Trafalgar Square, abholen würde, um dann mit ihm und Lucy ihrer Urgroßmutter Mary einen Besuch im Stadthaus der Familie abzustatten.

Emily war schon sehr gespannt, wie weit Mary wohl mit ihrem Projekt gekommen war, seit sie sich vorige Woche zuletzt gesehen hatten.

Mary Whatts schrieb noch immer an einem Manuskript, an der Neuinterpretation eines Standard-Lehrwerks, das man auch an der St. Andrews Academy benutzte, der „Enzyklopädie der Zaubersprüche sowie der magischen und nichtmagischen Wesen“. Das Buch stammte ursprünglich aus dem sechzehnten Jahrhundert, war also schon ein Titel des älteren Semesters. Jeder Magier, jede Hexe und jeder Zauberer kannte dieses Werk, doch es war aufgrund seines Alters und der verwendeten Wortwahl schon dementsprechend verstaubt. Darum hatte Mary sich der Neuauflage dieses Wälzers angenommen. Und das ließ sich in der Stadt selbst eben viel besser erledigen als auf dem Lande. Hier hatte sie vermehrt Quellen und Zugriff auf Literatur, die ihr im Familienanwesen fehlte, hier konnte die Dame jederzeit in anderen Werken nachschlagen und sich somit behelfen.
 

Am nächsten Morgen machten sie sich recht früh auf, ihre Bücher auszuleihen. Für jedes der Fächer gab es eines - im Falle des Faches Magie waren es sogar drei Bücher - also kamen sie schlussendlich schwer bepackt zurück auf ihre Zimmer und legten ihre Ausbeute in das gemeinsame Bücherregal, das sich rechts hinter der Tür befand. Dann gingen sie in das Hauptgebäude zum Frühstück und gegen zehn Uhr dreißig machten sich Emily und Lucy dann mitsamt Täschchen, Rucksäcken und Reiseproviant vom Frühstücksbuffet bereit, um in die Innenstadt zu fahren.

„Dann treffen wir uns um dreizehn Uhr am Piccadilly Circus?“, sicherte sich Carrie nochmals ab.

„Ja, genau. Wir fahren dann von dort aus weiter zum Flughafen“, sagte Emily und schob Lucy vor sich her, die sich gerade wieder mit einem Mädchen vom Nachbartisch verquatschen wollte. „Bis der Flieger ankommt, haben wir dann noch mehr als eine Stunde.“

„Okay, dann bis später. Und richtet liebe Grüße aus, ja?“

„Wird gemacht!“

Die beiden Mädchen verließen das Grundstück der Akademie und liefen dann durch den Park. Die Sonne schien, wie um sie an diesem Tag zu begrüßen. Sie waren guter Laune.

Es war Freitag und das Wochenende stand vor der Tür. Sie würden ihre geliebten Urgroßeltern sehen und auch auf den restlichen Teil des Tages freuten sie sich. Die Beiden waren gespannt darauf, was wohl passieren würde und schnatterten aufgeregt über die anstehenden Ereignisse, als sie den Weg unterhalb des Observatoriums, der Sternwarte, die mitten im Park gelegen war, entlang schritten.

Sie begaben sich zur nächstgelegenen Haltestation der Tube, dann stiegen sie ein und erreichten nach einer Weile ihr Ziel in Westminster.

Sie verließen die Bahnstation und sofort, nachdem sie die Treppe herauf geschritten waren, kamen Big Ben mitsamt Parlamentsgebäude sowie die Westminster Abbey zum Vorschein.

Emily kramte ihr Handy heraus, um ihrem Bruder Bescheid zu geben, dass sie bereits da waren.

Lucy jedoch war da anderer Meinung. „Du brauchst das nicht mehr zu machen, Emily. Sieh doch, Harry ist schon da.“

Sie hob den Kopf wieder und sah ihren jüngeren Bruder vor einem Zeitungskiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Die Mädchen überquerten die Straße.

Harry schien vertieft in ein Magazin zu sein, das er wahrscheinlich bei dem Kiosk gekauft hatte. Er stand lässig angelehnt an der Wand und hatte das Heft halb aufgeschlagen. Bei sich hatte er noch eine Umhängetasche, welche an seiner Schulter hing, sowie eine Jeansjacke, die an eben jener Tasche herunterbaumelte.

Harry hatte langes, dunkelbraunes Haar. Auf der einen Hälfte des Gesichts hatte er einen Pony, der der anderen Seite war schon länger und hinter sein Ohr gestrichen. Er trug ein schwarzes Bandshirt und Jeans, das Standardoutfit für Metalfans.

„Harry!“, rief Emily und sofort riss sich der Junge von dem Artikel los, sah in ihre Richtung und lächelte die beiden Herannahenden an.

„Hey!“

Lucy kam sofort auf ihren Cousin zugestürmt und warf sich diesem um den Hals. Die Beiden hatten sich einige Monate nicht gesehen.

„Harry, deine Haare sind ja so lang geworden“, fing Lucy gleich an, nachdem der Größere sie wieder losgelassen hatte. Sie griff ihm in die Mähne hinein. „Willst du sie nicht mal wieder schneiden?“

„Wieso?“ Harry lachte und nahm dann auch seine Schwester in den Arm, die er zuletzt vorige Woche gesehen hatte. Denn anders als sie war der junge Magier schon seit einigen Wochen wieder im Wohnheim seiner Schule eingezogen, wo er die letzten Wochen seiner Sommerpause eine Hausarbeit zu Ende hatte schreiben müssen.

„Weil … das ist so unmodern!“, beschwerte sich die elfenhafte Lucy.

„Ach was, alle Metalheads haben langes Haar. Das gehört einfach zu unserer Lebenseinstellung. Und solange ich diese Art von Musik höre, will ich das auch offen zeigen.“

„Lass ihn doch, Lucy. Ist ja nur sein Haar“, gluckste Emily. Daraufhin streckte Harry ihr die Zunge heraus.

„Also … machen wir uns auf den Weg, oder?“

„Jup jup, auf geht’s!“

Sie überquerten den Parliament Square, eine Grünanlage in nächster Nähe des Parlamentsgebäudes, wo etliche Statuen zu Ehren bedeutender Persönlichkeiten aufgestellt waren, und passierten die Abbey in Richtung Süden, immer weiter am Parlament vorbei. Es war gar nicht weit, nur ein kleines Stück, und sie kamen an einer weiteren Grünanlage an, wo sie nach rechts in eine schmalere Straße abbogen. Diese liefen sie entlang, dann noch eine Biegung nach links, noch eine – und sie waren am Ziel angekommen.

Die Cowley Street in Westminster bestand größtenteils aus Häusern der georgianischen Ära, demselben Baustil, wie ihn auch die St Andrews Academy vorwies. Der rote Backstein und die länglichen, weißen Fenster waren es, die Emily ein Gefühl der Heimseligkeit vermittelten. Sie mochte dieses Haus sehr.

Insofern Emily wusste, war das Stadthaus ihrer Familie eines der ältesten dieser Straße, zumindest hatte das Großmutter Mary immer erzählt. Das Haus war schon seit geraumer Zeit in Familienbesitz, mehrere Generationen bereits, und hatte zu früherer Zeit auch schon als Unterkunft für gastierende Ratsmitglieder gedient – und als Wohnsitz für die ehemalige Verlobte ihres Urgroßvaters Peter. Dieses Haus hatte schon viele Persönlichkeiten kommen und gehen sehen, und nun waren die Drei an der Reihe, es erneut zu betreten und mit Leben zu füllen.

Sie machten die letzten Meter auf das Gebäude zu und traten den kleinen Treppenabsatz hinauf. Emily betätigte die Klingel, welche seitlich angebracht worden war. Vor Emilys Zeit hatte es nur einen Türklopfer gegeben, der wohlgemerkt noch vorhanden war, dennoch nicht mehr allzu häufig zum Einsatz kam.

Es dauerte kaum mehr zehn Sekunden und die Tür öffnete sich.

Im Türrahmen stand ein junger Mann mit ordentlich frisiertem, mittig gescheiteltem Pony, daraus abfallenden Strähnen und einem Pferdeschwanz. Edle Kleidung in Form eines Hemds, einer weinroten Krawatte und einer dunkelgrauen Weste. Ebenfalls trug er eine schwarze Hose aus Stoff, an der eine Taschenuhr befestigt war, sowie gepflegtes schwarzes Schuhwerk. Der Butler und Haushälter des Hauses Whatts.

„Lawrence! Wie immer eine Freude, dich zu sehen!“, quiekte Lucy und rannte auf den Angesprochenen zu, drückte sich an ihn. Neben dem jungen Herrn wirkte sie beinahe wie ein Zwerg. Lawrence war mindestens zwei Köpfe größer als die Whatts und sogar Emily, die eine durchschnittliche Größe besaß, wurde von ihm um mehr als einen Kopf überragt.

„Ganz meinerseits, kleine Lucy!“ Der Schwarzhaarige lächelte und tätschelte der Jüngeren den Kopf. „Bitte tretet ein“, sagte er dann und wies sie alle mit einer Geste hinein.

Die Ankömmlinge überquerten die Türschwelle und der Herr schloss hinter ihnen ab.

„Ganz der Butler, zu jedem Zeitpunkt“, sagte Harry an den Mann gewandt.

„Nun, das ist eben mein Job. Auch wenn ich ein jeden von euch in- und auswendig kenne, so kann ich selbst bei euch keine Ausnahme machen, tut mir leid. Das würde mir mein Boss nicht vergeben!“ Er lachte.

„Ach was, Großmutter Mary ist doch super umgänglich! Die würde dich doch niemals anpampen!“

Lawrence warf Lucy daraufhin einen eindringlichen Blick zu, der so klar war, dass er keinen Raum für Unklarheiten bot. „Das denkst du! Wenn du wüsstest … Ich kenne sie schon viel länger als ihr alle, ich kenne Seiten an ihr, die sind euch allen verborgen. Düstere Geheimnisse“, meinte er schließlich grinsend und nahm ihnen dann die Jacken ab, hängte diese an die im Eingangsbereich befindliche Garderobe.

Lawrence war ein Mensch, doch so ganz zuordnen konnte man ihn dieser Spezies dann doch nicht. Gewöhnlich war er auf keinen Fall. Denn welcher normale Mensch konnte denn schon von sich behaupten, in einem Haushalt voller Magier zu arbeiten? Lawrence Bradford war in das Geheimnis um die Existenz der Magie eingeweiht, er kannte alle Einzelheiten. Und dann gab es da noch so einige andere Dinge an ihm, die äußerst erstaunlich waren.

Lawrence war der Familie Whatts nicht nur ein ausgezeichneter und gewissenhafter Butler, das Mädchen für alles. Er war ihnen auch ein treuer Freund, auf den man sich stets verlassen konnte. Mit ihm konnte man durch Dick und Dünn gehen und wenn es sein musste, auch Pferde stehlen. Der Bradford war ein Gentleman der alten Schule, hatte ein einwandfreies Benehmen. Emily hatte ihn noch nie ausrasten sehen.

„Ah, Lawrence!“, sagte Emily, als sie durch den modern angehauchten, renovierten Eingangsbereich schritten. Lawrence deutete ihnen, die sich rechts befindliche Treppe hinauf zu schreiten. Emily erreichte diese als erstes, dann Harry. „Das Obsttörtchen war wieder mal erste Sahne! Wirklich hervorragend! Ich liebe dein Gebäck!“

„Danke“, grinste er. „Ich backe eben für mein Leben gern.“

„Ich will auch ein Obsttörtchen!“, verlangte Lucy, die als dritte die Treppe betrat, nur noch gefolgt von Lawrence.

„Vielleicht schaffe ich es zum nächsten Wochenende hin, wenn die Ratssitzungen nicht meiner Aufmerksamkeit bedürfen.“

„Okay, ich werde dich beim Wort nehmen und vorbeikommen!“

Sie erreichten den oberen Treppenabsatz und Lawrence führte sie durch den Flur rechts hinein in den Wohnbereich. Sie machten es sich auf einer Couch, die aus dem viktorianischen Zeitalter stammte, bequem.

Der kunstvoll gehaltene, hölzerne Tisch war bereits gedeckt und auch der Kuchen war angerichtet.

„Du hast dich mal wieder selbst übertroffen“, meinte jetzt Harry und betrachtete diesen, ein wahres Kunststück einer Torte.

„Das ist doch nicht wahr, ihr macht mich nur wieder verlegen!“, lachte der Butler und ging dann zum Tagesgeschäft über. „Nun denn, ich werde Peter und Mary aus dem Arbeitszimmer holen und Tee und Kaffee aufsetzen“, sagte der Butler und reichte ihnen eine Schale Kekse.

„Die hast du aber nicht selber gebacken, oder?“, fragte Lucy mit Blick zu ihm nach oben.

Lawrence lächelte. „Wer weiß? Vielleicht habe ich das, vielleicht auch nicht.“ Dann verließ er den Raum.

Es legte sich eine Stille über das Geschehen.

Emily schnappte sich einen der Kekse und knabberte daran. Harry lehnte sich in die Couch hinein und kramte sein Handy hervor, sah auf das Display. Lucy erhob sich und schritt im Raum umher.

Kurz darauf hörte man Geräusche aus dem Vorraum, Fetzen eines Gesprächs, und die drei Persönlichkeiten traten ein. Die erste Person, die sich ihnen näherte, war Mary. Ihr ergrautes Haar war zu einem sauberen Dutt im Nacken zusammen gerollt, sie trug wie gewohnt einen bequemen, locker anliegenden Rock und eine Bluse, darüber eine wärmende Weste. „Hallo, meine Lieben!“, begrüßte sie ihre Urenkel freudestrahlend. Auf ihrem Mund zeichnete sich ein gütiges Lächeln ab.

Emily und ihr Bruder erhoben sich von der Couch und kamen zu den Erwachsenen.

Sofort warf sich die kleine Lucy in die Arme der Dame.

Peter, das Oberhaupt des Hauses Whatts, trat an die Seite seiner Frau und legte ihr die Hand auf deren Schulter. Auch er lächelte und warf den Jüngeren durch die kreisrunden Gläser seiner Brille einen freudigen Blick zu, meinte dann: „Eure Großmutter war schon der Meinung, dass ihr uns vergessen habt“, sagte er, ehe er sodann auch gleich von der Blonden umarmt wurde.

Emily drückte sich nun an ihre Urgroßmutter und küsste deren Wange. „Das würden wir doch nie tun!“, lachte sie und nahm daraufhin Peters Hand.

„Warum hast du das gedacht, Großmutter Mary?“, lachte Harry, als er die ältere Dame ebenfalls umarmte.

„Das habe ich doch gar nicht“, protestierte Mary daraufhin und drückte die Hand ihres Ehemannes. „Euer Großvater hat sich das mal wieder ausgedacht, dieser Schlingel.“

„Naja, es hält mich eben jung, wenn ich etwas herumalbere, ihr kennt mich doch“, meinte Peter scherzhaft.

„Jaa ja!“, lachte Mary und küsste die Hand ihres Mannes.

Dann schritten alle auf die Couch zu, Peter und Mary setzten sich auf die eine, Emily und Lucy auf die andere Seite, und Harry nahm im Sessel Platz, der an einer dritten Seite des Tisches stand, Lawrence blieb stehen.

„So, was gibt es Neues aus der Heimat?“, fragte Mary, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Hmm, lass mich mal überlegen“, fing dann Lucy an und versank in Gedanken.

Dass Mary wissen wollte, was die jungen Leute an Neuigkeiten zu berichten hatten, lag daran, dass sie einen großen Anteil ihrer Zeit in eben dem Stadthaus verbrachte, wo sie nun gerade waren. Hier konnte sie das Menschsein genießen, abseits des groß angelegten Familienanwesens. So war sie auch die letzte Woche über in der Stadt geblieben, hatte an ihrem Projekt gearbeitet. Peter, der ihr zwar oft Gesellschaft leistete, hatte nichts dagegen, dass seine Frau hauptsächlich in London war. Er selbst kehrte meist wieder auf den Familiensitz zurück, nachdem er einige Tage bei Mary gewesen war.

„Zuerst, Großmutter…“, sagte Emily, „Wie weit bist du denn mit der Enzyklopädie der Zaubersprüche?“

„Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich habe es heute tatsächlich fertig geschafft!“, gab Mary stolz von sich und lächelte. „Es war eine Heidenarbeit, aber ich denke, dass es sich nun besser lesen lässt. Jetzt muss es nur noch korrigiert werden und wenn alles gut läuft, habt ihr Ende des Jahres die Neuauflage in der Hand.“

Die Gäste freuten sich. „Das ist wunderbar!“, sagte Lucy. „Ich freue mich richtig drauf!“

„Mich erstaunt, dass du das so schnell hinbekommen hast, Großmutter. Diesen fetten Wälzer da…“, sagte Harry.

Marys Blick wanderte somit weiter zu dem Sprechenden. Dieser sah sie grinsend an und packte das Handy weg, das er soeben in Händen hielt. „Dann fange ich halt mit den News an … Ich habe seit drei Tagen eine Freundin.“

Sofort lächelten alle. Das hatte auch Emily noch nicht gewusst, ihr Bruder hatte sich da recht bedeckt gehalten, wo er doch geschäftig seine Aufgaben erledigte.

Mary und Peter war die Freude förmlich anzusehen. Die Beiden beugten sich zu ihrem Urenkel hin, Peter tätschelte ihm anerkennend die Schulter – es wirkte allerdings eher belustigend und Mitleid bekundend auf Emily.

Harry verschluckte sich, ausgelöst durch die Berührung, an dem Biskuit, den er sich vom Teller mit Keksen, den Lawrence zuvor auf den Tisch gestellt hatte, genommen und in den er hineingebissen hatte. Peter schlug ihm nun also auf den Rücken, um ihn dabei zu unterstützen, die Krümel aus seiner Luftröhre zu schleudern.

„Ups“, war das Einzige, was das Oberhaupt des Magierclans von sich gab, inklusive eines Glucksens.

Mary lachte, Lucy ebenso. Emily nahm sich einen weiteren Keks und sah Harry direkt an, biss genüsslich in das Gebäck hinein und schluckte dieses ohne weitere Probleme hinunter. Harry sah seine Schwester genervt an und streckte ihr die Zunge heraus, woraufhin sie eine Grimasse zog und den nächsten Bissen nahm.

Lawrence indes kam mit einer Teekanne herein und zuerst auf Mary zu, die ihm zustimmend in die Augen sah und ihm die Tasse entgegenstreckte. Er füllte diese und Emily schnupperte, versuchte, die Teesorte auszumachen. Sicher war sie sich nicht bei ihrer Vermutung, doch sie äußerte sie trotzdem. „Ist das … Ceylon?“

„Exakt. Du bist gut“, lächelte der Butler und kam nun zu ihr, um auch ihre Tasse zu füllen.

„Langsam kann ich ein paar Sorten auseinanderhalten“, lachte sie.

Er schritt weiter zu Lucy, die ihre Tasse schon parat hatte.

„Lawrence! Du hast die neueste Entwicklung im Leben unseres zarten Buben verpasst!“, meinte Peter und tätschelte ein weiteres Mal die Schulter des benachbarten Jungen, der augenscheinlich darauf achtete, ja nicht zu atmen, während sich noch Krümel in seinem Mund befanden. Sein Blick zeugte von Entrüstung, dass man ihn als einen „zarten Buben“ bezeichnet hatte.

„Was gibt es denn, Harry?“, fragte der Bedienstete und trat nun direkt hinter besagten Jungen, um auch ihm die Tasse zu füllen, die ihm hin gereicht wurde.

Der Angesprochene schluckte. „Erstens … bin ich nicht zart. Zweitens … ein Bube bin ich auch nicht, zumindest jetzt nicht mehr, und drittens … ich hab jetzt eine Freundin.“ Er grinste.

„Wirklich? Na dann herzlichen Glückwunsch!“, meinte Lawrence erheitert, stellte die Kanne auf dem Tisch ab und klopfte Harry auf die Schulter, der sich nun nochmals verschluckte und wild zappelnd aufstand.

Dann griff der Butler wieder zur Kanne und füllte auch dem Letzten im Bunde, Peter, Tee hinein. „Danke, Lawrence“, sagte Peter und deutete dem Jüngeren, sich zu ihnen zu gesellen. Der Butler lächelte und nickte, dann stellte er die Teekanne auf einem kleinen Beistelltisch ab und kam dann zu Tisch, um sich ebenfalls auf einem Sitz niederzulassen.

Er schnitt den Kuchen in gleich große Teile und nahm zuerst Marys Teller, um diesen zu belegen.

Harry setzte sich wieder auf den Sessel.

„Wie heißt sie denn?“, fing Mary an, als der Atem ihres Urenkels sich wieder normalisiert und beruhigt hatte.

„Ihr Name ist Gwynyth.“ Emily sah, dass er nun über beide Ohren strahlte und sich der Ton seiner Haut etwas verdunkelte.

„Wie süß! Ein schöner Name“, sagte Lucy. „Ist sie …“

Harry sah seine Cousine fragend an.

„Sie müsste doch auch auf unsere Schule gehen“, fuhr sie fort und sah dabei Emily an. „In welchem Jahr ist sie?“

Harrys Blick wandte sich ab, er schnitt mit der Kuchengabel ein Stück seines Kuchens ab, den Lawrence in der Zwischenzeit an alle serviert hatte. Dabei wirkte der Junge zunehmend nervös. „Sie … Sie geht nicht auf die St. Andrews.“

Die beiden Mädchen sahen sich verdutzt an. „Nicht?“

„Dann … Geht sie auf deine Schule?“, fragte Emily.

Harry nickte. „Ja.“

„Hä, das verstehe ich nicht. Als Mädchen sollte sie doch nicht auf einer Jungenschule sein“, sagte Lucy und machte ihre Verwirrung offensichtlich Raum. „Geht das denn überhaupt?“

„Es kommt zwar nicht häufig vor, kann aber genehmigt werden, wenn die Familie der betreffenden Person es ausdrücklich wünscht“, erklärte Peter Whatts und nippte an seinem Ceylon-Tee.

„Dann muss es einen bestimmten Grund dafür geben, dass sie nicht bei uns ist“, meinte Emily.

Harry nickte und wirkte dabei etwas bedrückt.

„Ich hoffe, wir lernen sie bald kennen!“, lächelte sie aufmunternd, um jetzt das Thema abzuwenden, da sie spürte, dass ihrem Bruder dieses Thema etwas unangenehm zu werden schien. Wer sprach schon gerne über die Probleme eines Anderen, während dieser Jemand nicht anwesend war? Emily hoffte, dass das somit vom Tisch war.

„Also, in welchem Jahr ist sie? Und hast du ein Foto von ihr?“, wollte Lucy jetzt wissen.

„Sie ist im vierten Jahr, wie wir beide.“ Er lächelte wieder. „Und ein Foto habe ich, aber nicht auf dem Handy, sorry.“

„So?“, warf Mary ein und legte den Kopf schief, „Ihr Jungen seid doch so an die neumodische Technik gewöhnt, ihr druckt euch doch kaum etwas aus, warum also hast du denn kein digitales Bild?“

„Großmutter“, sagte Harry. „Unsere Beziehung ist doch noch ganz frisch. Ich hab noch kein Bild drauf, weil ich nicht will, dass alle darüber reden. Außerdem lernt ihr sie ja sowieso bald kennen.“

„Na dann“, sagte Mary und nahm einen Bissen Kuchen.

„Sie hat ein Foto von uns beiden gemacht. Mit einer Polaroid-Kamera. Die werden heute nicht mehr hergestellt. Sie hat sie auf einem Flohmarkt in Wales gekauft und sie dann mit mir eingeweiht.“

„Interessant“, kam es von Peter. „Ich mag das Mädchen schon jetzt. Sammelt sie auch andere alte Gerätschaften? Wenn ja, kannst du sie mal zu uns auf den Wohnsitz einladen, da könnt ihr in die Gerümpelkammer gehen und du zeigst ihr ein paar der alten Sachen, die wir haben.“

„Ähm … Ja, ich glaube schon, dass sie alte Sachen mag.“ Harry schien verwirrt durch dieses Angebot zu sein, er sah nun fragend drein. „Ich frag sie mal, ob sie Interesse hätte, unseren Dachboden zu durchwühlen …“ Er zuckte belustigt mit den Schultern. „Ich denke, dass ich sie euch bald vorstelle.“

„Das hoffen wir doch! Dass du uns so eine Überraschung bringst, muss ja auch gebührend gefeiert werden!“, meinte Mary hoffnungsvoll und warf ihrem Ehemann einen vielsagenden Blick zu.

„Nein, tut das bitte nicht“, sagte Harry und in seine Augen trat ein genervter Ausdruck, der Emily nur allzu bekannt vorkam. Sie grinste. Ihre Urgroßeltern hatten das seltsame Talent - und dem gingen die Beiden gerne gemeinsam nach - Begrüßungsfeste zu organisieren und diese dann missglücken zu lassen. Selbst ihre Eltern waren der Meinung und weigerten sich, Familienfeste von dem älteren Ehepaar ausführen zu lassen.

„Was denn?“, fragte Mary unbeteiligt.

„Ich seh ganz genau, dass ihr schon wieder Pläne schmiedet, Großmutter. Ich will keine Feier.“

„Wieso denn nicht?“, wollte Peter wissen.

„Weil ihr ein augenscheinlich schönes Fest immer in peinlichen Situationen ausarten lasst“, sagte Lucy und schüttelte den Kopf. „Ich habe immer noch ein Trauma von meinem achten Geburtstag…“

Emily lachte. „Dabei ist das doch schon echt lange her.“

„Jaa!“

„Emily“, sagte Mary, „Weißt du denn schon, wie du nächsten Monat deinen Geburtstag verbringen möchtest?“

„Nein, noch nicht. Ich bin mir unsicher, ob ich überhaupt etwas machen soll.“ Sie lächelte und zuckte mit den Schultern.

„Ich kann dir dabei helfen“, fuhr Mary fort, daraufhin kassierte sie von den jungen Leuten kritische Blicke.

„Bloß nicht!“, meinte Harry. „Das Thema hatten wir doch gerade eben schon, Großmutter!“

„Ich schätze euren Elan, Großmutter, aber … Ich denke, ich muss passen“, erklärte Emily entschuldigend.

„Das war doch nur ein Scherz, Kinder“, giggelte Mary. „Dennoch finde ich, dass du etwas machen solltest, immerhin wirst du nun zwanzig Jahre alt. Die lange Phase des langsamen Alterns rückt immer näher.“

Emily versteckte das Gesicht hinter ihren Händen. „Jaaa, noch sind es immer noch fast fünf Jahre, also pssst.“

„Zweihundert Jahre sind eine lange Zeit. Genieß es, noch schnell zu altern“, sagte Peter.

„Ich lass das auf mich zukommen. Ihr sagt das so leicht daher, aber für mich sind zweihundert Jahre … eine Ewigkeit.“

„Das ist auch ne lange Zeit, mein Kind. Du wirst merken, was sich alles verändert. Die Welt steht niemals still. Wir verändern uns mit ihr.“
 

Die Zeit verstrich und nachdem Mary und Peter mehrmals hoch und heilig versprochen hatten, kein Willkommensfest für Harrys Freundin zu organisieren, war auch schon die Zeit des Aufbruchs gekommen. Lawrence geleitete die Gäste zur Tür und reichte ihnen die Jacken.

„Gute Fahrt“, sagte der Schwarzhaarige. „Wir sehen uns später eventuell, ich bringe Peter zur Academy.“

„In Ordnung. Lawrence, ich hab‘ noch eine Bitte an dich“, sagte Emily, der diese Idee gekommen war, als sie sich darüber unterhalten hatten, ob Mary in ihrer neuen Auflage des Lehrbuches auch ja das Kapitel über „Unsichtbare Unsichtbarkeiten“ behandelt hatte, das bei Beleg- und Schülerschaft unbeliebt und über das immer heiß diskutiert wurde, weil es in solch umständlicher Sprache formuliert worden war, dass man jedes Mal den Faden verlor.

„Was denn?“, fragte er, als sie schon an der Türschwelle waren.

„Bläu Großmutter ein, dass Claire Mason sie als Gastdozentin haben will. Wenn du es tust, hört sie vielleicht auf dich. Claire würde sich wirklich sehr darüber freuen und auch wir Schülerinnen, alle wären sehr dankbar.“

„Ich versuche es“, grinste der Butler. „Vielleicht spricht Mrs Mason das Thema später an, wenn sie mit Peter und Minoru Masaoka konferiert.“

Die drei Magier machten sich auf den Weg zum Piccadilly Circus und gabelten dort Carrie auf, die sich darüber freute, Harry zu sehen und, wie auch schon Lucy zuvor, lauthals bemerkte, wie lang sein Haar doch geworden war. Er quittierte diese Bemerkung mit einem entnervten Blick.

Sie stiegen am Piccadilly in die Tube in Richtung Flughafen und erreichten ihr Ziel nach gut vierzig Minuten. Schon an der Bahnstation bemerkten sie den Trubel, den solch ein Ort mit sich brachte.

Bis auf Carolina kannte sich keiner der anwesenden Jungmagier am Flughafen Heathrow aus und so übernahm die Blonde die Führung.

Emily besuchte diesen Ort nur höchst selten – nur, wenn es einmal wieder an der Zeit war, Carrie abzugeben oder abzuholen, um gemeinsam in die Stadt zu fahren. Sie war noch nie geflogen, auch Lucy nicht – Harry war in den Sommerferien nach Wales gereist und nun wussten sie ja auch, wieso. Irgendwann, irgendwann einmal würde sie Carolina begleiten und auch Minoru in Japan einen Besuch abstatten.

Es war auch heute wieder ein reines Gewusel an Koffern und Personen, allesamt hektisch und betriebsam. Die Vier hielten Ausschau nach einer Anzeigetafel. „Dort drüben“, meinte Carolina und eilte voraus, der Rest folgte ihr. „Seht ihr, der Flieger ist bereits gelandet. Terminal 5, aus Tokio.“

„Wir hätten doch eher herkommen sollen“, sagte Harry, als sie dann das Tempo erhöhten und Carolina weiter folgten. „Die sind bestimmt schon an der Gepäckausgabe.“

„Ach was. Sie waren etwas früher dran als erwartet. Sie werden gerade beim Kontrollieren der Pässe sein. Du vergisst, dass Japan nicht in der EU ist.“

„Ach ja, stimmt.“

Emily fühlte sich an den vergangenen Tag erinnert. Wieder baumelte ihr der Rucksack im Rücken und wieder war sie in Eile. Doch heute war sie nicht allein unterwegs, zudem freute sie sich, den Japaner endlich wieder zu sehen und auch darauf, seine kleine Schwester kennen zu lernen.

Sie eilten durchs Terminal und erreichten einige Minuten später besagten Ankunftsort.

Da war die Wand, die die Ankommenden vom Rest der Besucher abschirmte. Durch das Glas konnte Emily schon bald den wuscheligen Rotschopf des jungen Magiers erkennen und grinste sogleich breit. „Da ist er!“

Minoru stand mit einem kleineren schwarzhaarigen, etwas nervös dreinblickenden Mädchen am Kofferband. Der Masaoka trug ein hellblaues Shirt, darüber eine Weste, um die Schultern einen Rucksack. Das Mädchen hingegen bildete einen krassen Kontrast zu dem jungen Mann. Yuki, so schlussfolgerte Emily, hatte eine rosa Schleife im Haar, trug ein auffälliges buntes Kleidchen und Jeans darunter. Die Beiden unterhielten sich, der Größere warf hin und wieder einen Blick auf die vorbeikommenden Koffer und dann zeigte das Mädchen mit dem Zeigefinger auf einen großen, dunkelblauen Koffer. Sie traten näher an das Band und hievten das Teil herunter – es schien wohl Yuki zu gehören, denn das Gepäckstück war fast so groß wie sie selbst und da das Mädchen mehr Zeit in England verbringen würden als ihr Bruder, musste sie logischerweise auch mehr Gepäck mit sich haben. Wobei sie natürlich noch nicht wussten, wie viel Minoru im Schlepptau hatte. Dies sollte sich gleich darauf herausstellen, denn dann schleifte er einen kleineren Koffer herunter. Die Beiden hinter der Scheibe schienen noch auf etwas zu warten, ungeduldig warteten sie weitere Koffer ab, bis dann ein mittelgroßer erschien, den Yuki sich schnappte.

Der Rothaarige reichte der Kleineren den Rucksack und nahm im Gegenzug auch den kleineren Koffer an sich, sodass er neben dem riesigen Gepäckstück seiner Schwester auch noch diesen zog. Das schien kein Problem für ihn zu sein, denn beide waren auf Rollen.

Minorus Blick schweifte in die Richtung der Glasscheibe und sofort grinste und winkte er. Emily, Carrie, Lucy und Harry winkten zurück. „Endlich hat er uns bemerkt!“, meinte Lucy.

Er sprach zu seiner Schwester und deutete mit dem Finger auf die vier Magier hinter der Scheibe. Auch Yuki lächelte und winkte ihnen zu.

Nur noch wenige Meter trennten sie jetzt noch voneinander. Emily stürmte los an die Glastür und schon nach einigen Sekunden waren sie Reisenden da.

„Minoru!“, trällerte sie und hüpfte vor lauter Freude auf und ab.

Minoru Masaoka rauschte vor und warf sich gleich in die Arme der Whatts. „Emily Whatts! Wie schön, dich zu sehen!“

„Ahh, es ist toll, dich wieder zu sehen, Minoru!“, sagte sie und drückte ihn noch fester, „Willkommen in London!“



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