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Limanu

Erstes Buch
von

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Welcome to London

Claire Mason lächelte ermutigend in die Runde. Sie besah sich kurz der Notizen auf dem Pult vor ihr, dann hob sie wieder den Blick und ließ ihn über die Reihen schweifen.

„Ich heiße euch ganz herzlich in unserer schönen Academy im Herzen der Stadt London willkommen. London ist, wie ihr wisst, die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs und heute das Zentrum des Wissens der britischen Magiergesellschaft, zu der wir ja alle zugehörig sind. Nun, ich hoffe, ihr habt alle eine gute Anreise gehabt, ganz gleich, woher ihr gekommen seid. Mein Name ist Claire Mason, ich bin die Leiterin der Akademie und, wie viele von euch wissen, auch ein Mitglied des Rates der Magier.“

Getuschel, Erstaunen. Es ging ein Raunen durch die Runde.

„Hey, Emily!“, flüsterte Lucy.

„Was denn?“, kam von Emily zurück.

„Wie wär’s? Das altbekannte Spiel?“ Sie hatte einen freudigen Ausdruck in den Augen.

Emily grinste. Ihr Spiel bestand seit jeher darin, zu zählen, wie oft die Akademieleiterin „Lasst euch sagen“ verwendete, wenn sie redete. Die Mädchen machten sich auch im Unterricht einen Hehl daraus, insofern Claire Mason überhaupt einen Kurs anbot. Diese eine Macke an dem Ratsmitglied war es, die fast die gesamte Schülerschaft belustigend fand – auch wenn Claire selbst das gar nicht zu bemerken schien. „Okay!“, sagte Emily im Flüsterton.

„Der Rat ist, wie ein jeder von euch wissen sollte, das oberste gesetzgebende Organ der Magier, unsere höchste und wichtigste Institution. Doch, Mädchen, lasst euch sagen, dass diese Tatsache rein gar nichts mit eurem Leben hier an der Akademie zu tun haben wird.“

Emily beugte sich zu Lucy hinüber und flüsterte: „Eins.“

Lucy grinste.

„Die Aufgabe, die ich hier an der Akademie zu erledigen habe, ist sehr erfüllend. Sie hat mit dem Alltagsgeschäft des Rates nichts zu tun, denn lasst euch sagen, dass die politischen Entscheidungen, die der Rat trifft, unseren Schulalltag nicht im Geringsten beeinflussen. Die Schulpolitik ist nicht Angelegenheit des Rates, sondern der Landesebene.“ Sie blickte wieder ermutigend durch die Reihen.

Lucy sagte: „Zwei.“

„Unsere Akademie rühmt sich damit, eine der besten magischen Schulen des europäischen Kontinents zu sein. Gegründet wurde sie im Jahre 1715 durch die Gelehrte Joanne Mary Andrews. Und damit dieses Institut von den Menschen da draußen nicht als verdächtig angesehen wird, nennt man sie auch St. Andrews Academy, nach dem Apostel, den die Christen verehren. Nach außen hin wirkt unsere Akademie wie eine christliche Privatschule.“

Die beiden Mädchen sahen sich schräg an. Die Geschichte ihrer Schule kannte fast jedes Mädchen nun schon beinahe auswendig, und trotzdem erzählte Claire Mason diese jedes Jahr so voller Stolz und Elan. Damit jeder Neuling auch das Gefühl hatte, eine vertrauens- und ehrwürdigen Institution zu besuchen.

„Zur damaligen Zeit gab es kaum magische Schulen, meistens bekamen die Kinder magischer Familien Heimunterricht von Eltern und Großeltern oder besuchten gemeinsam den Unterricht im Hause einer der Magierfamilien, so wie es auch heute noch der Fall ist, bevor man dann auf eine Akademie wie die unsere wechselt. Im achtzehnten Jahrhundert war das aber nicht mehr so einfach, denn wie ihr wisst, war damals die Kolonialisierung der Welt bereits in vollem Gange und auch die Magier verließen das Land, um Neues zu entdecken. Die Daheimgebliebenen ließen sich dann etwas einfallen. Es musste in ihren Augen eine einfachere Methode geben als den Heimunterricht, der ja auch verlangte, dass die geschäftigen Familienmitglieder Zeit dafür aufbringen konnten. Es wurde ein Rat einberufen, in dem die Familienangehörigen dann gemeinsam besprachen, wie sie ihren zahlreichen Nachwuchs unterbringen konnten. Joanne Mary Andrews war eines dieser Mitglieder und so wurde der Grundstein für unsere Lehre geschaffen.“ Sie lächelte wieder. „So viele neue Gesichter sehe ich da … So, dann wollen wir doch mal schauen … Wer ist denn dieses Jahr neu an der Akademie? Nur zu, hebt eure Hände. Ich beiße nicht.“

Es schnellten viele der anwesenden Hände in die Höhe, als Emily sich umsah. Das junge Mädchen neben ihr war ebenfalls Teil jener Personen.

Claire verließ ihren Posten und schritt an dem länglichen Tisch entlang. „Wir haben an unserer Academy den Vorteil, dass Hexen wie auch Magierinnen gemeinsam unterrichtet werden können. Wir haben ein besonderes Lehrkonzept, das es ermöglicht, unsere Lehrmethoden in dem Maße weiterzugeben, dass niemand von euch benachteiligt wird. Das garantiert unser Lehrstuhl und dafür stehe auch ich mit meinem Namen ein. Lasst euch gesagt haben, dass ich euch hiermit das Versprechen gebe, dass wir alle auf eure Probleme eingehen werden, sollte es welche geben. Bei Beanstandungen könnt ihr immer sehr gern zu mir kommen oder meinen Mann aufsuchen. “ Sie zeigte auf den Monokelträger, der darauf in die Runde winkte.

Emily und ihre Cousine sahen sich erneut an.

„Zählt das?“, meinte Emily aufgrund der anderen Wortwahl der Akademieleiterin.

Lucy nickte und sagte: „Drei.“

„Ihr könnt euch aber auch an die Vertrauensschülerinnen wenden. Es gibt für jeden Jahrgang eine. Ach … Mädchen, würdet ihr bitte kurz aufstehen?“, meinte sie dann an die Vertrauensschülerinnen gerichtet. Zehn Mädchen erhoben sich, unter diesen befand sich auch Carolina.

„Name und Zimmernummer derjenigen Vertrauensschülerin, die für euren Jahrgang zuständig ist, könnt ihr dem Schwarzen Brett entnehmen. Fürs Erste reicht es, wenn ihr euch ihre Gesichter merkt.“ Sie deutete den Aufgestandenen, dass sie sich wieder setzen konnten. „Ich danke euch. Lasst mich nun fortfahren.“

Kurz ordnete sie wieder ihre Gedanken. „Ganz gleich, wie hoch euer Magiegrad ist, wir werden unseren Unterricht darauf einstellen und uns nach euch richten, sodass gewährleistet wird, dass alles fair abläuft.“

Sie kehrte zum Rednerpult zurück und warf wieder einen Blick auf die Notizen, die vor ihr lagen. „Ich weiß, dass es einigen von euch sehr schwerfällt, dass ihr hier so fern der Heimat lernt, aber ich garantiere euch, dass ihr euch schon sehr bald gut eingelebt haben werdet. London ist eine tolle Stadt mit vielen Gesichtern. Man sieht an jeder Ecke etwas Neues und auch wenn man, wie ich, schon Jahrzehnte hier lebt, gibt es immer Geheimnisse zu entdecken. Wir sind das beste Beispiel.“

Gelächter.

„Ja, seht uns doch an. Optisch unterscheiden wir uns nicht von den Menschen und doch … Wir leben in einer anderen Dimension als sie. Wir leben unter ihnen und müssen doch darauf achten, dass wir nicht zu viel von uns preisgeben, unser kleines Geheimnis für uns behalten.“ Sie legte eine Pause ein und musterte die Anwesenden der ersten Reihe. „Ja, die Geheimhaltung ist unser oberstes Anliegen, sie hat absolute Priorität. Das geht jetzt in erster Linie an die Frischlinge unter Euch, der Rest dürfte jetzt wieder die Augen verdrehen, denn diesen Spruch bringe ich jedes Jahr. Hier an unserer Akademie werdet ihr in den kommenden Jahren lernen, wie das mit der Geheimhaltung funktioniert und wie ihr eure Magie gezielt einsetzen könnt. Ihr werdet erfahren, was der Magiegrad über einen Magier, eine Hexe oder einen Zauberer aussagt und was es mit der Alchemie auf sich hat. Was euch sicher allen gegen den Strich gehen wird, ist das menschliche Allgemeinwissen. Denn auch das müssen wir euch lehren. Wir müssen die Illusion aufrechterhalten – und dazu gehört eben auch, dass man sich in der menschlichen Gesellschaft auskennt. Ich kann euch nur darin bestärken, auch in diesen…- naja, sagen wir mal, nicht ganz so spannenden Fächern – euer Bestes zu geben, denn eure Noten, meine Lieben, werden in diesem Bereich genau so viel gewichtet wie die Noten im magischen Bereich.“

Sie schritt wieder am Tisch entlang. „Unsere Akademie ist bekannt dafür, einen hohen Bildungsstandard zu haben. Daher bitte ich euch alle darum, dass dies auch so bleibt. Ich will, dass ihr mit uns Lehrern kooperiert und das Wissen vorantreibt. Seid fleißig und strengt euch an und ihr werdet dafür belohnt werden. Arbeitet mit uns, lasst uns wissen, wenn euch etwas auffällt, das man verbessern könnte oder euch etwas stört. Wir werden uns Mühe geben, euch den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.“ Kurze Pause.

„Ich weiß, dass unser Konzept, das Mädchen von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren hier zusammenbringt, an manchen Stellen ... etwas unangemessen erscheint, doch lasst mich euch versichern, dass es gerade diese Ungereimtheit ist, die das Leben hier so lebenswert macht. Darin liegt unser Potenzial. Wir versammeln viele geniale Köpfe des Landes unter einem Dach, bedenkt das. Wir wollen euch allen eine fundierte Grundausbildung geben, wir wollen, dass ihr selbständig reift und die Gesellschaft der Magier bereichert.“

Sie trat wieder vor das Pult und sortierte die Blätter um. „So … bevor wir dann also zum formellen Teil kommen, will ich euch noch eine Weisheit mit auf den Weg geben.“ Sie schaute wieder in die Tiefen des Saales und sofort war die Ehrfurcht zu spüren, die von der Akademieleiterin ausging. Ungefähr vierhundert Augenpaare waren jetzt auf sie gerichtet.

„Die Magie ist ein Geschenk, die uns allen in die Wiege gelegt wurde. Wir vermögen es, Leben zu retten, Gestalten umzuwandeln und Andere so von etwas zu überzeugen, das wir geschaffen haben. Doch lasst euch sagen…“

Die Cousinen nickten sich mit vielsagendem Blick zu.

„Wer die Magie missbraucht, dem wird sofort ins eigene Fleisch geschnitten. Darum setzt eure Gabe nicht unbedacht ein. Achtet darauf, sie sauber und gewissenhaft zu gebrauchen. Missachtet nicht die Regeln. Wir werden euch dabei helfen, die Magie in dem Rahmen anzuwenden, wie er benötigt wird und euch lehren, wie ihr sie korrekt und sicher einzusetzen vermögt. Solltet ihr euch allerdings zu weit aus dem Fenster lehnen, kann euch keiner mehr helfen. Dies wird dann in jedem Fall Konsequenzen mit sich tragen. Ein Verweis von unserer Akademie ist hierbei noch das geringste Übel. Wer Magie falsch einsetzt, dem ist in vielen Fällen nicht mehr zu helfen. Ein Missbrauch endet nicht selten tödlich.“

Und als sie dieses Wort sagte, trat tatsächlich eine Totenstille ein. Sie sah hinunter in die sprachlosen Gesichter und lächelte. „Aber keine Sorge, wir werden euch einen gefahrlosen Umgang mit der Magie garantieren und gewährleisten. Bei praktischen Übungen sind mindestens zwei Lehrpersonen anwesend.“

Wieder machte sie eine kurze Pause und dann ruhte ihr Blick auf Emily, ehe er weiter durch die Reihen ging. „Nun gut, dann lasst uns den formellen Teil dieser Zeremonie einleiten. Bei eurer Anmeldung im Sekretariat habt ihr unter anderem den Lehrplan dieses Akademiejahres erhalten. Darauf sind alle Kurse zu sehen, die wir dieses Jahr anbieten.“

Man hörte das Geraschel von Papier. Emily und Lucy hatten ihre Sachen auf dem Zimmer gelassen, da sie schon wussten, was als nächstes kommen würde.

„Ich werde jetzt – ganz kurz - die diesjährigen Kurse vorstellen und in den Veranstaltungen selbst werdet ihr dann erfahren, was die Inhalte des Kurses sein werden. Allgemeine Fragen können wir euch selbstverständlich gleich hier beantworten, aber alles Fachliche solltet ihr dann in den jeweiligen Seminaren erfragen.“

Mit diesen Worten schritt sie an den Tisch, an dem die restlichen Lehrer saßen und kramte ein Laptop aus der Tasche zu Füßen ihres Mannes, setzte sich neben ihn, klappte den Rechner auf und schloss diesen an einen Projektor an. Claire schnippte kurz mit dem Finger und schon kam eine Leinwand hinter dem Lehrertisch zum Vorschein, die sich von der Decke herunter ausrollte. Als Außenstehender mochte man den Eindruck haben, dass dies ein automatischer Mechanismus sein musste, der durch Elektronik hervorgerufen wurde, doch sie als Mitglieder der magischen Gesellschaft wussten es in diesem Falle besser. Die Magie vermochte es ebenso, solch einen Effekt zu erzeugen, sie konnte dabei helfen, dass sich Objekte durch einen kleinen Zauber bewegten.
 

„Nun denn … Kommen wir zur Vorstellung der Kurse, oder?“ Sie sah ihre Kollegen an, die ihr mit Nicken zustimmten. „Gut, dann beginne ich. Nun, durch meine Mitgliedschaft im Rat der Magier kann ich bedauerlicherweise nicht allzu viele Kurse leiten. Ich leite zwei Veranstaltungen im Wahlbereich, ein Seminar zur Geschichte des Rates der Magier sowie eine Vorlesung zu den politischen Institutionen der Magiergesellschaft. Ich bitte um zahlreiches Erscheinen!“, scherzte sie und gab das Wort an ihren benachbarten Ehemann weiter.

„So … ich heiße Millweard Mason und mache im allgemeinbildenden Bereich die Mathematik.“ Er kicherte. „Und dann leite ich noch ein Seminar zum Thema ‚Mathematik und Zauberformeln‘. Darunter kann man sich vorstellen, oder besser – wir werden herausfinden, inwiefern uns Zahlen in Zaubersprüchen begegnen. Wir werden ebenfalls untersuchen, was die Zahl 666 uns über dunkle Magie verrät und dergleichen … Nun, wenn ihr neugierig seid, dann kommt vorbei. Falls nicht – wir sehen uns auf jeden Fall in der Mathematik.“

Dann war eine blonde Frau mittleren Alters an der Reihe. Sie hatte ihr Haar zu einem Dutt verknotet und große Ringe prangten an ihren Ohren. „Hallo, ich bin Ilka Edvardsson und komme gebürtig aus Schweden. Ich mache hier an der Academy Geschichte und Politik im allgemeinbildenden Teil. Wir werden uns also auf jeden Fall kennen lernen.“ Ihr Akzent klang mit, als sie dies sagte. Sie zwinkerte.

Als nächstes kam ein junger Mann zu Wort. Ein neuer Dozent. Er war mit großer Wahrscheinlichkeit derjenige, der den Lehrstuhl ihrer Urgroßmutter Mary übernommen hatte, die ja in den Ruhestand gegangen war.

„Mein Name ist Chase Anderson“, sagte der Neuling. „Ich bin neu an der Akademie und unterrichte Alchemie.“ Er fuhr sich durch das kurz geschnittene, blonde Haar und Emily hörte, wie hinter ihr jemand sagte: „Verdammt, wieso muss der Typ denn Lehrer sein? So ein Sahneschnittchen.“

„Außerdem biete ich noch ein Seminar zur Wandelbarkeit von Körpern an. Um daran teilnehmen zu können, solltet ihr zumindest im fünften Jahr sein, da wir angewandte Magie praktizieren werden und dies im Bereich der Alchemie durchaus kompliziert werden kann, selbst für Fortgeschrittene. Ansonsten … hoffe ich natürlich, viele von euch dort zu sehen.“ Seine Augen blitzten aufgeregt, er schien sich richtig darüber zu freuen, in Aktion treten zu können.

Dann ergriff eine Frau im mittleren Alter das Wort und Lucy lächelte. Die Sprechende war ihre Mutter, die bereits seit gut zehn Jahren an der Akademie beschäftigt war. Emilys Tante. „Guten Tag, mein Name ist Valerie Whatts und ich unterrichte im Pflichtteil das Fach Zaubertränke. Für diejenigen unter euch, die im fünften Jahr aufwärts sind, biete ich dieses Jahr auch ein Seminar an, das die Wirkung von Zaubertränken auf Menschen behandelt. Dieses Seminar ist das erste, das ich zu diesem Thema anbiete und ich hoffe, dass auch ihr es ansprechend findet und mich besucht.“ Sie deutete ihrem Nachbarn, einem Herrn mit kreisrunder Brille und ernstem Blick, dass dieser nun an der Reihe war.

„Winfrid Horn, Literatur im Pflichtbereich. Im Wahlteil biete ich ein Studienprojekt an.“ Kurz und knapp, so wie immer.

Als nächstes war eine junge Frau mit kurzem Haar an der Reihe. „Ich bin Laura Harris, komme aus Schottland und unterrichte für euch alle Englisch und Wirtschaft. Ich biete noch ein Wirtschaftsseminar zum Thema Vermarktung an. Wenn ihr wollt, könnt ihr auch ein Studienprojekt bei mir machen, für Vorschläge bin ich jederzeit offen. Ziel soll es dabei sein, dass ihr ein Produkt versucht zu vermarkten, das kann gerne auch ein magisches sein.“

Dann war Veronica Quaid dran, die Schreckschraube. „Veronica Quaid, Zukunftsdeutung.“ Noch kürzer als knapp.

„Mein Name ist Anne Chasey. Ich unterrichte Sport und Bewegungslehre. Wir werden die unterschiedlichsten Sportarten ausprobieren und unsere Beweglichkeit fördern“, sagte dann eine Frau, die ein Cappy und Reitkleidung trug, ebenfalls im mittleren Alter.

„Ich bin Eadgar Eadwine, der Historiker unter uns. Ich unterrichte Magiergeschichte und mache dann noch eine Vorlesung mit dem Namen ‚Die Magiergesellschaft im Wandel‘. Wir werden verschiedene Epochen betrachten und uns das Leben der Magier dieser Epochen veranschaulichen. Alles sehr interessant“, sagte ein älterer Herr mit bereits ergrauter Haarpracht. Er hatte einen Flechtzopf und an seinem Kinn prangte ein Ziegenbart. Im Ohr trug er ein Plug, was so gar nicht zu seinem strengen Aussehen zu passen schien.

Eine jüngere Frau mit Pferdeschwanz und strubbeligem Pony war jetzt an der Reihe. „Erica Ford, ich unterrichte im Pflichtbereich die ‚Einflussnahme auf die magische Kraft‘, also wie wir unseren Magiegrad beeinflussen können, in welchem Umfang dies möglich ist und so weiter, außerdem mache ich noch … eine Vorlesung zum Thema ‚Deutung des Magiegrades‘.“

Dann war auch schon der Letzte an der Reihe. „So, ich bin dann wohl zum Schluss dran, nicht wahr? Nun gut … Ich heiße Claude Bonaventure und werde euch in die Magie einführen, beziehungsweise werden wir unsere Kenntnisse festigen und erweitern. Ich leite den Fächerverbund Magie - Theorie und Magie - Anwendung. Dann … habe ich noch eine Lehrveranstaltung. Oder waren es sogar zwei? Lasst mich kurz einen Blick auf das Blatt werfen.“ Claude Bonaventure wirkte wie immer etwas zerstreut, dennoch minderte es den guten Eindruck, den man von ihm gewann, in keiner Weise. Der Brite war mit großem Abstand der beliebteste Unterrichtende der Akademie, abgesehen von Claire Mason natürlich. Er war kompetent, zuverlässig und hilfsbereit, lustig war er obendrein auch noch. Während man sich in manchen Veranstaltungen oftmals fragte, wie man die verbleibende Zeit am ehesten überstehen konnte, so war man von seiner Wortwahl und den Unterrichtsinhalten immer so gefesselt, dass man gar nicht anders konnte, als ihm zuzuhören. „Ah ja, genau. Doch nur ein Seminar. Es trägt den Namen ‚Das magische Erbe: Magiegrad im Vergleich‘. Hier werden wir untersuchen, wie sich der Magiegrad bei Menschen, Hexen und Zauberern und bei Magiern unterscheidet und das dann deuten. Ihr könnt gern eure eigenen Themenvorschläge mit einbringen, dann können wir das gemeinsam durchsprechen.“

Er nickte Claire über die Köpfe der anderen zu, diese sagte dann: „Zudem haben wir noch eine weitere Vorlesung in Planung, wir werden Sie diesbezüglich in den nächsten Tagen informieren. Diese Vorlesung wird dann für Sie alle zugänglich sein, egal ob Sie im ersten oder zehnten Jahr sind.“

Und dann sah sie wieder zu Emily. „Miss Whatts“, fing die Ältere an und die junge Magierin wusste, dass die Akademieleiterin nun mit ihr sprach. „Kommen Sie doch nachher kurz zu mir nach vorn, ja? Ich möchte Sie um etwas bitten.“

Verdutzt antwortete die Whatts darauf. „Ja … Natürlich.“ Worüber die Ältere wohl mit ihr sprechen wollte? Irgendwie machte sie das jetzt doch nervös.

Daraufhin lächelte Claire sie dankbar an und fuhr fort. „Nun denn … Gibt es abschließende Fragen? Ansonsten können Sie auch gerne noch nach vorne kommen, wenn Sie etwas wissen wollen. Wir werden Ihnen Rede und Antwort stehen.“ Aus dem Publikum hörte man zwar Getuschel, doch keine Hand erhob sich.

„Nun gut, dann schätze ich, dass Sie Ihre neugewonnenen Eindrücke erst einmal verarbeiten müssen. Das ist viel auf ein Mal. Und denken Sie daran, das Essen in der Kantine steht in Bälde bereit. Ich lade Sie ein, mit uns zu speisen.“ Sie lächelte wieder. „Ich entlasse Sie hiermit.“

Es ertönte Beifall und das Stühlerücken begann, die Anwesenden erhoben sich. Emily blieb fürs Erste sitzen, da sie denjenigen den Vortritt lassen wollte, die Fragen hatten und dafür erst einmal nach vorne mussten.

Lucy leistete ihr Gesellschaft, Carrie war schon von Schülerinnen umringt, die etwas von ihr wissen wollten. Das brachte so ein Vertrauensschülerjob mit sich, dennoch wirkte Carolina immer ausgeglichen. Sie machte diesen Job sehr gern.
 

Nach einer Weile dann waren sie fast die letzten im Raum, also erhoben sie sich von ihren Stühlen. Lucy wandte sich zu Carrie.

Claire war noch in ein Gespräch mit Claude Bonaventure vertieft, die Beiden lachten.

Dann sah Claude, dass Emily sich näherte und unterbrach somit ihre Unterhaltung. Claire wandte den Kopf und kam auf sie zu.

„Guten Tag, Mrs Mason“, sagte Emily.

„Ahh, Miss Whatts! Es freut mich sehr, Sie zu sehen. Hatten Sie eine schöne Sommerpause?“

„Ja, sehr. Wie immer etwas anstrengend, auch mit der Familie, aber das ist doch immer so“, lachte sie.

„Das stimmt. Carolina hat Ihnen sicher auch schon erzählt, wie es bei uns in Amerika gelaufen ist. Dies ist ein altbekanntes Problem, nicht wahr?“ Die Leiterin zuckte mit den Schultern. „Nun, Miss Whatts, wie vorhin schon angedeutet … ich habe eine Bitte an Sie.“

„Ja. Um was geht es denn?“, wollte Emily wissen.

„Sie fahren doch morgen zum Flughafen Heathrow, um die Austauschschülerin aus dem Hause Masaoka abzuholen, oder irre ich da?“

„Das ist korrekt.“

„Nun, das ist gut.“ Sie schien erleichtert. „Dann würde ich Sie darum bitten, sie und ihren Bruder Minoru direkt hier in die Akademie zu bringen.“

„Ach so, stimmt. Minoru meinte, dass er mit Ihnen und Großvater Peter über etwas reden muss.“

„Genau. Und der Junge kennt sich doch hier gar nicht aus. Der verläuft sich doch sogar in seinem eigenen Haus in Japan.“

„Keine Sorge, Mrs Mason, ich bringe ihn heil zu Ihnen“, meinte die Jüngere daraufhin und ihr entfuhr ein belustigtes Lachen. „Darf ich denn fragen, um was es geht?“

Claire Mason dachte kurz angestrengt und mit überaus ernstem Blick nach, wie um zu überlegen, ob sie dem nachgeben sollte, dann lächelte sie wieder. „Nun, Ihnen werde ich es verraten, Sie sind immer so engagiert. Es ist zwar noch nicht ganz spruchreif, aber wir haben zumindest vor, dass er einen Gastvortrag hält. Und dann gibt es noch eine weitere Sache, die er mit uns besprechen will… Allerdings hat er nicht erwähnt, um was es geht, nur, dass es wohl etwas Schwerwiegendes sein muss.“ Emily spürte, dass Claire diese Ungewissheit unbehaglich war.

Emily wusste nicht so recht, was sie daraufhin sagen sollte. Es schien dem Jungen ja wirklich dringend zu sein, wenn er dafür eine Woche vorher anreiste. „Nun … Sie werden es ja morgen herausfinden. Ich bin mir sicher, dass diese Angelegenheit zu lösen sein wird. Mit ersterem Punkt ... habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet.“

„Finden Sie das seltsam? Glauben Sie, er schafft es nicht?“, wollte Claire in Bezug auf die geplante Vorlesung wissen. Sie sah Emily zögernd an.

„Doch doch, da sehe ich kein Problem. Er kriegt das ganz sicher hin und ich bin mir sicher, dass es super wird. Das kommt nur … etwas überraschend.“

„Nun, seitdem Ihre liebe Frau Großmutter nicht mehr bei uns ist, muss eben ein frischer Wind ins Haus. Sie sehen sie doch morgen, oder?“

„Ja, ich denke schon. Lucy und ich wollten am Vormittag kurz zu ihr fahren. Hatten wir zumindest vor.“

„Richten Sie ihr einen lieben Gruß aus, ja?“ Claires gütiges Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Sie war solch eine Bereicherung für unsere Akademie und es ist so schade, dass sie ging. Sagen Sie ihr, dass sie jederzeit gerne einspringen kann.“

Emily lachte. „Ja, das mache ich. Wissen Sie, ich kann mir gut vorstellen, dass auch sie gern ein paar Gastvorträge halten würde.“

„Oh, das wäre ganz fantastisch! Wenn es geht, dann trichtern Sie ihr das ein, ja? Ist sie denn schon fertig mit der Neuinterpretation der Enzyklopädie?“

„Noch nicht ganz, aber soweit ich weiß, hat sie es fast geschafft.“

„Dann toi toi toi.“ Die Mason drückte die Daumen. „Haben Sie vielen Dank, Miss Whatts. Am besten, Sie geben Carolina Bescheid, wann Sie wieder da sind, damit sie mich anruft und ich Minoru dann selbst empfangen kann.“ Die Leiterin ging wieder zu ihren Kollegen.

„Mache ich.“
 

Später begaben sie sich in den Speisesaal, wo zur Feier zum Beginn des Jahres ein riesiges Buffet angerichtet worden war. Im gewöhnlichen Schulalltag war dies nicht der Fall, es gab zwar jeden Tag eine Auswahl an Speisen, aus man sich dann selbst sein Lieblingsgericht aussuchen konnte, aber ein Buffet, von dem man sich nehmen konnte, was man wollte, das gab es nur zu besonderen Anlässen. An Weihnachten, Ostern, zum Erntedankfest oder eben, wie zu diesem Tag, als Eröffnungsessen.

Doch diese christlichen Feste waren für sie ja nur da, um den Schein zu waren. An was Magier, Hexen und Zauberer stattdessen glaubten, war das Leben selbst. Sie verdankten ihrem Urvater, dem ersten Magier Juleska, ihre verlängerte Lebenszeit, hervorgerufen durch die in ihnen wohnende Magie.

Heute standen wieder einmal die verschiedensten Gerichte zur Auswahl. Angefangen bei dreierlei Arten von Suppe über Fisch und eine breite Auswahl an Fleischsorten und Beilagen gab es zudem noch ein wahrhaft grandioses Dessertbuffet. Lucys Augen blitzten vor Freude auf.

Solch ein Festmahl musste genutzt werden, darum schlugen sie zu und probierten sich durch alles durch, Stück für Stück.

Emily freute sich auch schon auf den folgenden Tag, wo eine Eröffnungsfeier zur Begrüßung für die Austauschstudentinnen stattfand, an die ebenfalls ein Buffet angeschlossen sein würde - diesmal allerdings noch vielfältiger, mit allerlei Köstlichkeiten aus den verschiedensten Teilen der Welt. Dieser besondere Abend war jedes Jahr ein Highlight, auf das man sich schon lange Zeit im Voraus freute.

Carrie, Lucy und Emily setzten sich an einen der kreisrunden Tische, mit denen der Raum bestückt war. Der ganze Speisesaal war voll, überall sirrten aufgeregt schnatternde Stimmen durch den Raum. Das war jedes Mal so, wenn die Einführungsveranstaltung ihr Ende gefunden hatte.

Emily fühlte sich zurückversetzt in den vollen Zug am Mittag.

Ihre drei Zimmernachbarinnen setzten sich zu ihnen. Sie wirkten viel entspannter als zuvor.

„Wahrscheinlich hat sich ihre Unsicherheit in Aufregung verwandelt“, dachte Emily und lächelte.

„Wie heißt ihr eigentlich?“, fragte dann Lucy. „Daran haben wir vorhin ja gar nicht gedacht! Peinlich…“ Sie schüttelte sich.

„Stimmt! Ich bin Corin“, sagte die Kleinste unter den Neulingen, ein Mädchen mit brauner Bobfrisur und kreisrunder Brille.

Die Größte fuhr dann fort. „Und ich Margret.“ Ihr Haar war besonders auffällig – ihre Naturhaarfarbe, ein Blondbraun, war im oberen Teil durch blaue Strähnchen verziert. „Ich bin aber nicht im ersten Jahr.“ Sie lachte.

„Oh, wie kommt’s?“, fragte Emily und spießte ein Stück Brokkoli auf.

„Naja, ich bin mit meinen Eltern herumgereist und hatte quasi Heimunterricht bei ihnen“, erklärte Margret. „Seitdem ich damals von der Grundschule gegangen bin. Und jetzt, mit achtzehn, gehe ich dann also in die Vierte.“

Lucy grinste. „Hey, dann bist du mit mir zusammen! Ich geh auch in die Vierte.“

„Cool! Ich freu mich!“, sagte Margret lächelnd. „Ich hoff nur, dass ich da nichts verpasst habe. Meine Eltern hatten zwar die gleichen Lehrbücher, die wir hier verwenden, aber ich bin da etwas skeptisch.“

„Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen“, ermutigte Carolina sie. „Wir wiederholen zu Beginn des Jahres das Wichtigste aus dem Vorjahr, so dass man wieder schnell reinkommt.“ Sie schaufelte gerade Reis auf ihren Löffel.

„Ich heiße Violet“, meinte dann die Dritte im Bunde, ein rothaariges Mädchen mit lockiger Haarpracht und Sommersprossen. „Ich komme aus Irland. Und wie heißt ihr?“

„Ich bin Emily. Wohne gleich außerhalb der Stadt, in Watford. Aber hier ist’s cooler, deshalb lebe ich unterm Jahr eher hier als im Anwesen meiner Familie.“

„Oh, warum?“, wollte Corin wissen. „Ich meine … du hast doch dann gar keinen Anlass dazu, du kannst doch ganz schnell nach Hause düsen.“

„Es ist … anstrengend.“

Margret ahnte etwas. „Ahh, ich weiß warum! Die Akademieleiterin hat dich doch vorhin kurz angesprochen, oder? Du bist aus dem Whatts-Clan!“

Emily lächelte. „Genau. Bei uns daheim ist ständig Halligalli und mal ganz unter uns … diese politische Sache ist manchmal echt nervig.“

„Verstehe, dann ist dein … Großvater im Rat der Magier mit Claire Mason, oder?“

„Ja.“ Das klitzekleine Detail, dass Peter eigentlich sogar ihr Urgroßvater war, ließ sie einfach einmal unkommentiert. Da machte sie selbst ja kaum einen Unterschied. Sie nannte beide immer Großvater.

„Wahnsinn!“, staunte Violet. „Dann kennst du die Mitglieder des Rates ja alle persönlich!“

„Naja … Ich habe die meisten von ihnen schon mehrmals getroffen. Aber dadurch, dass die Ratssitzungen eben nicht … öffentlich sind, bekommt man als Anhängsel nicht so viel davon mit. Meistens reden wir ja nur über so alltägliches Zeug, da kann man sich nicht so wirklich kennen lernen. Am ehesten kenne ich da Claire Mason, natürlich meinen Urgroßvater Peter Whatts, Constantine de Ferro aus Frankreich, Ignacio de Sanchez aus Argentinien und Minoru Masaoka aus Japan.“

„Das sind aber schon mal einige!“

Sie zuckte mit den Schultern, lächelte und gabelte ein Stück Fleisch auf, das sie dann in die Pfeffersoße tauchte und sich in den Mund schob.

„Gibt es sonst noch prominente Persönlichkeiten hier an der Academy, von denen wir was wissen sollten?“, fragte Corin und Lucy und Carrie sahen sich daraufhin belustigt an.

Carolina fing an. „Ich bin die Enkeltochter von Claire Mason.“ Ganz unbeteiligt, um den Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben.

Jetzt sahen die drei Neuen sie mit offenen Mündern an.

„Nicht dein Ernst! Das ist ein Scherz, oder?“

„Nein“, gab Carolina nun schulterzuckend von sich und kicherte.

„Haha! Sieh mal einer an, und dann noch Vertrauensschülerin!“, lachte Margret aus voller Kehle. „Das finde ich absolut herrlich!“

Sie stimmten in das Lachen mit ein.

Lucy wollte weiter machen. „Und meine Mutter ist die Lehrerin für Zaubertränke. Oh, und Peter Whatts ist auch mein Großvater.“

Sofort verstummte das Lachen wieder.

„Nee, oder?! Vetternwirtschaft ist das hier!“, scherzte Margret.
 

Der Tag fand dann recht schnell sein Ende, die Mädchen verbrachten den Rest des Abends im Aufenthaltsbereich auf dem Dachboden, wo sie sich mit anderen Neuankömmlingen austauschten sowie ihren gleichaltrigen Kameraden von der langen Sommerpause erzählten. Dann wanderten sie recht zügig ins Bett.

Emily checkte nochmals ihre Nachrichten. Sie stöhnte auf.

„Schon wieder eine SMS von Timothy“, dachte sie genervt und klickte auf das Mülleimer-Symbol, ohne die Nachricht auch nur anzusehen. Sie schrieb ihrem Bruder Harry, dass sie ihn am kommenden Tag um elf Uhr in der Innenstadt, am Trafalgar Square, abholen würde, um dann mit ihm und Lucy ihrer Urgroßmutter Mary einen Besuch im Stadthaus der Familie abzustatten.

Emily war schon sehr gespannt, wie weit Mary wohl mit ihrem Projekt gekommen war, seit sie sich vorige Woche zuletzt gesehen hatten.

Mary Whatts schrieb noch immer an einem Manuskript, an der Neuinterpretation eines Standard-Lehrwerks, das man auch an der St. Andrews Academy benutzte, der „Enzyklopädie der Zaubersprüche sowie der magischen und nichtmagischen Wesen“. Das Buch stammte ursprünglich aus dem sechzehnten Jahrhundert, war also schon ein Titel des älteren Semesters. Jeder Magier, jede Hexe und jeder Zauberer kannte dieses Werk, doch es war aufgrund seines Alters und der verwendeten Wortwahl schon dementsprechend verstaubt. Darum hatte Mary sich der Neuauflage dieses Wälzers angenommen. Und das ließ sich in der Stadt selbst eben viel besser erledigen als auf dem Lande. Hier hatte sie vermehrt Quellen und Zugriff auf Literatur, die ihr im Familienanwesen fehlte, hier konnte die Dame jederzeit in anderen Werken nachschlagen und sich somit behelfen.
 

Am nächsten Morgen machten sie sich recht früh auf, ihre Bücher auszuleihen. Für jedes der Fächer gab es eines - im Falle des Faches Magie waren es sogar drei Bücher - also kamen sie schlussendlich schwer bepackt zurück auf ihre Zimmer und legten ihre Ausbeute in das gemeinsame Bücherregal, das sich rechts hinter der Tür befand. Dann gingen sie in das Hauptgebäude zum Frühstück und gegen zehn Uhr dreißig machten sich Emily und Lucy dann mitsamt Täschchen, Rucksäcken und Reiseproviant vom Frühstücksbuffet bereit, um in die Innenstadt zu fahren.

„Dann treffen wir uns um dreizehn Uhr am Piccadilly Circus?“, sicherte sich Carrie nochmals ab.

„Ja, genau. Wir fahren dann von dort aus weiter zum Flughafen“, sagte Emily und schob Lucy vor sich her, die sich gerade wieder mit einem Mädchen vom Nachbartisch verquatschen wollte. „Bis der Flieger ankommt, haben wir dann noch mehr als eine Stunde.“

„Okay, dann bis später. Und richtet liebe Grüße aus, ja?“

„Wird gemacht!“

Die beiden Mädchen verließen das Grundstück der Akademie und liefen dann durch den Park. Die Sonne schien, wie um sie an diesem Tag zu begrüßen. Sie waren guter Laune.

Es war Freitag und das Wochenende stand vor der Tür. Sie würden ihre geliebten Urgroßeltern sehen und auch auf den restlichen Teil des Tages freuten sie sich. Die Beiden waren gespannt darauf, was wohl passieren würde und schnatterten aufgeregt über die anstehenden Ereignisse, als sie den Weg unterhalb des Observatoriums, der Sternwarte, die mitten im Park gelegen war, entlang schritten.

Sie begaben sich zur nächstgelegenen Haltestation der Tube, dann stiegen sie ein und erreichten nach einer Weile ihr Ziel in Westminster.

Sie verließen die Bahnstation und sofort, nachdem sie die Treppe herauf geschritten waren, kamen Big Ben mitsamt Parlamentsgebäude sowie die Westminster Abbey zum Vorschein.

Emily kramte ihr Handy heraus, um ihrem Bruder Bescheid zu geben, dass sie bereits da waren.

Lucy jedoch war da anderer Meinung. „Du brauchst das nicht mehr zu machen, Emily. Sieh doch, Harry ist schon da.“

Sie hob den Kopf wieder und sah ihren jüngeren Bruder vor einem Zeitungskiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Die Mädchen überquerten die Straße.

Harry schien vertieft in ein Magazin zu sein, das er wahrscheinlich bei dem Kiosk gekauft hatte. Er stand lässig angelehnt an der Wand und hatte das Heft halb aufgeschlagen. Bei sich hatte er noch eine Umhängetasche, welche an seiner Schulter hing, sowie eine Jeansjacke, die an eben jener Tasche herunterbaumelte.

Harry hatte langes, dunkelbraunes Haar. Auf der einen Hälfte des Gesichts hatte er einen Pony, der der anderen Seite war schon länger und hinter sein Ohr gestrichen. Er trug ein schwarzes Bandshirt und Jeans, das Standardoutfit für Metalfans.

„Harry!“, rief Emily und sofort riss sich der Junge von dem Artikel los, sah in ihre Richtung und lächelte die beiden Herannahenden an.

„Hey!“

Lucy kam sofort auf ihren Cousin zugestürmt und warf sich diesem um den Hals. Die Beiden hatten sich einige Monate nicht gesehen.

„Harry, deine Haare sind ja so lang geworden“, fing Lucy gleich an, nachdem der Größere sie wieder losgelassen hatte. Sie griff ihm in die Mähne hinein. „Willst du sie nicht mal wieder schneiden?“

„Wieso?“ Harry lachte und nahm dann auch seine Schwester in den Arm, die er zuletzt vorige Woche gesehen hatte. Denn anders als sie war der junge Magier schon seit einigen Wochen wieder im Wohnheim seiner Schule eingezogen, wo er die letzten Wochen seiner Sommerpause eine Hausarbeit zu Ende hatte schreiben müssen.

„Weil … das ist so unmodern!“, beschwerte sich die elfenhafte Lucy.

„Ach was, alle Metalheads haben langes Haar. Das gehört einfach zu unserer Lebenseinstellung. Und solange ich diese Art von Musik höre, will ich das auch offen zeigen.“

„Lass ihn doch, Lucy. Ist ja nur sein Haar“, gluckste Emily. Daraufhin streckte Harry ihr die Zunge heraus.

„Also … machen wir uns auf den Weg, oder?“

„Jup jup, auf geht’s!“

Sie überquerten den Parliament Square, eine Grünanlage in nächster Nähe des Parlamentsgebäudes, wo etliche Statuen zu Ehren bedeutender Persönlichkeiten aufgestellt waren, und passierten die Abbey in Richtung Süden, immer weiter am Parlament vorbei. Es war gar nicht weit, nur ein kleines Stück, und sie kamen an einer weiteren Grünanlage an, wo sie nach rechts in eine schmalere Straße abbogen. Diese liefen sie entlang, dann noch eine Biegung nach links, noch eine – und sie waren am Ziel angekommen.

Die Cowley Street in Westminster bestand größtenteils aus Häusern der georgianischen Ära, demselben Baustil, wie ihn auch die St Andrews Academy vorwies. Der rote Backstein und die länglichen, weißen Fenster waren es, die Emily ein Gefühl der Heimseligkeit vermittelten. Sie mochte dieses Haus sehr.

Insofern Emily wusste, war das Stadthaus ihrer Familie eines der ältesten dieser Straße, zumindest hatte das Großmutter Mary immer erzählt. Das Haus war schon seit geraumer Zeit in Familienbesitz, mehrere Generationen bereits, und hatte zu früherer Zeit auch schon als Unterkunft für gastierende Ratsmitglieder gedient – und als Wohnsitz für die ehemalige Verlobte ihres Urgroßvaters Peter. Dieses Haus hatte schon viele Persönlichkeiten kommen und gehen sehen, und nun waren die Drei an der Reihe, es erneut zu betreten und mit Leben zu füllen.

Sie machten die letzten Meter auf das Gebäude zu und traten den kleinen Treppenabsatz hinauf. Emily betätigte die Klingel, welche seitlich angebracht worden war. Vor Emilys Zeit hatte es nur einen Türklopfer gegeben, der wohlgemerkt noch vorhanden war, dennoch nicht mehr allzu häufig zum Einsatz kam.

Es dauerte kaum mehr zehn Sekunden und die Tür öffnete sich.

Im Türrahmen stand ein junger Mann mit ordentlich frisiertem, mittig gescheiteltem Pony, daraus abfallenden Strähnen und einem Pferdeschwanz. Edle Kleidung in Form eines Hemds, einer weinroten Krawatte und einer dunkelgrauen Weste. Ebenfalls trug er eine schwarze Hose aus Stoff, an der eine Taschenuhr befestigt war, sowie gepflegtes schwarzes Schuhwerk. Der Butler und Haushälter des Hauses Whatts.

„Lawrence! Wie immer eine Freude, dich zu sehen!“, quiekte Lucy und rannte auf den Angesprochenen zu, drückte sich an ihn. Neben dem jungen Herrn wirkte sie beinahe wie ein Zwerg. Lawrence war mindestens zwei Köpfe größer als die Whatts und sogar Emily, die eine durchschnittliche Größe besaß, wurde von ihm um mehr als einen Kopf überragt.

„Ganz meinerseits, kleine Lucy!“ Der Schwarzhaarige lächelte und tätschelte der Jüngeren den Kopf. „Bitte tretet ein“, sagte er dann und wies sie alle mit einer Geste hinein.

Die Ankömmlinge überquerten die Türschwelle und der Herr schloss hinter ihnen ab.

„Ganz der Butler, zu jedem Zeitpunkt“, sagte Harry an den Mann gewandt.

„Nun, das ist eben mein Job. Auch wenn ich ein jeden von euch in- und auswendig kenne, so kann ich selbst bei euch keine Ausnahme machen, tut mir leid. Das würde mir mein Boss nicht vergeben!“ Er lachte.

„Ach was, Großmutter Mary ist doch super umgänglich! Die würde dich doch niemals anpampen!“

Lawrence warf Lucy daraufhin einen eindringlichen Blick zu, der so klar war, dass er keinen Raum für Unklarheiten bot. „Das denkst du! Wenn du wüsstest … Ich kenne sie schon viel länger als ihr alle, ich kenne Seiten an ihr, die sind euch allen verborgen. Düstere Geheimnisse“, meinte er schließlich grinsend und nahm ihnen dann die Jacken ab, hängte diese an die im Eingangsbereich befindliche Garderobe.

Lawrence war ein Mensch, doch so ganz zuordnen konnte man ihn dieser Spezies dann doch nicht. Gewöhnlich war er auf keinen Fall. Denn welcher normale Mensch konnte denn schon von sich behaupten, in einem Haushalt voller Magier zu arbeiten? Lawrence Bradford war in das Geheimnis um die Existenz der Magie eingeweiht, er kannte alle Einzelheiten. Und dann gab es da noch so einige andere Dinge an ihm, die äußerst erstaunlich waren.

Lawrence war der Familie Whatts nicht nur ein ausgezeichneter und gewissenhafter Butler, das Mädchen für alles. Er war ihnen auch ein treuer Freund, auf den man sich stets verlassen konnte. Mit ihm konnte man durch Dick und Dünn gehen und wenn es sein musste, auch Pferde stehlen. Der Bradford war ein Gentleman der alten Schule, hatte ein einwandfreies Benehmen. Emily hatte ihn noch nie ausrasten sehen.

„Ah, Lawrence!“, sagte Emily, als sie durch den modern angehauchten, renovierten Eingangsbereich schritten. Lawrence deutete ihnen, die sich rechts befindliche Treppe hinauf zu schreiten. Emily erreichte diese als erstes, dann Harry. „Das Obsttörtchen war wieder mal erste Sahne! Wirklich hervorragend! Ich liebe dein Gebäck!“

„Danke“, grinste er. „Ich backe eben für mein Leben gern.“

„Ich will auch ein Obsttörtchen!“, verlangte Lucy, die als dritte die Treppe betrat, nur noch gefolgt von Lawrence.

„Vielleicht schaffe ich es zum nächsten Wochenende hin, wenn die Ratssitzungen nicht meiner Aufmerksamkeit bedürfen.“

„Okay, ich werde dich beim Wort nehmen und vorbeikommen!“

Sie erreichten den oberen Treppenabsatz und Lawrence führte sie durch den Flur rechts hinein in den Wohnbereich. Sie machten es sich auf einer Couch, die aus dem viktorianischen Zeitalter stammte, bequem.

Der kunstvoll gehaltene, hölzerne Tisch war bereits gedeckt und auch der Kuchen war angerichtet.

„Du hast dich mal wieder selbst übertroffen“, meinte jetzt Harry und betrachtete diesen, ein wahres Kunststück einer Torte.

„Das ist doch nicht wahr, ihr macht mich nur wieder verlegen!“, lachte der Butler und ging dann zum Tagesgeschäft über. „Nun denn, ich werde Peter und Mary aus dem Arbeitszimmer holen und Tee und Kaffee aufsetzen“, sagte der Butler und reichte ihnen eine Schale Kekse.

„Die hast du aber nicht selber gebacken, oder?“, fragte Lucy mit Blick zu ihm nach oben.

Lawrence lächelte. „Wer weiß? Vielleicht habe ich das, vielleicht auch nicht.“ Dann verließ er den Raum.

Es legte sich eine Stille über das Geschehen.

Emily schnappte sich einen der Kekse und knabberte daran. Harry lehnte sich in die Couch hinein und kramte sein Handy hervor, sah auf das Display. Lucy erhob sich und schritt im Raum umher.

Kurz darauf hörte man Geräusche aus dem Vorraum, Fetzen eines Gesprächs, und die drei Persönlichkeiten traten ein. Die erste Person, die sich ihnen näherte, war Mary. Ihr ergrautes Haar war zu einem sauberen Dutt im Nacken zusammen gerollt, sie trug wie gewohnt einen bequemen, locker anliegenden Rock und eine Bluse, darüber eine wärmende Weste. „Hallo, meine Lieben!“, begrüßte sie ihre Urenkel freudestrahlend. Auf ihrem Mund zeichnete sich ein gütiges Lächeln ab.

Emily und ihr Bruder erhoben sich von der Couch und kamen zu den Erwachsenen.

Sofort warf sich die kleine Lucy in die Arme der Dame.

Peter, das Oberhaupt des Hauses Whatts, trat an die Seite seiner Frau und legte ihr die Hand auf deren Schulter. Auch er lächelte und warf den Jüngeren durch die kreisrunden Gläser seiner Brille einen freudigen Blick zu, meinte dann: „Eure Großmutter war schon der Meinung, dass ihr uns vergessen habt“, sagte er, ehe er sodann auch gleich von der Blonden umarmt wurde.

Emily drückte sich nun an ihre Urgroßmutter und küsste deren Wange. „Das würden wir doch nie tun!“, lachte sie und nahm daraufhin Peters Hand.

„Warum hast du das gedacht, Großmutter Mary?“, lachte Harry, als er die ältere Dame ebenfalls umarmte.

„Das habe ich doch gar nicht“, protestierte Mary daraufhin und drückte die Hand ihres Ehemannes. „Euer Großvater hat sich das mal wieder ausgedacht, dieser Schlingel.“

„Naja, es hält mich eben jung, wenn ich etwas herumalbere, ihr kennt mich doch“, meinte Peter scherzhaft.

„Jaa ja!“, lachte Mary und küsste die Hand ihres Mannes.

Dann schritten alle auf die Couch zu, Peter und Mary setzten sich auf die eine, Emily und Lucy auf die andere Seite, und Harry nahm im Sessel Platz, der an einer dritten Seite des Tisches stand, Lawrence blieb stehen.

„So, was gibt es Neues aus der Heimat?“, fragte Mary, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Hmm, lass mich mal überlegen“, fing dann Lucy an und versank in Gedanken.

Dass Mary wissen wollte, was die jungen Leute an Neuigkeiten zu berichten hatten, lag daran, dass sie einen großen Anteil ihrer Zeit in eben dem Stadthaus verbrachte, wo sie nun gerade waren. Hier konnte sie das Menschsein genießen, abseits des groß angelegten Familienanwesens. So war sie auch die letzte Woche über in der Stadt geblieben, hatte an ihrem Projekt gearbeitet. Peter, der ihr zwar oft Gesellschaft leistete, hatte nichts dagegen, dass seine Frau hauptsächlich in London war. Er selbst kehrte meist wieder auf den Familiensitz zurück, nachdem er einige Tage bei Mary gewesen war.

„Zuerst, Großmutter…“, sagte Emily, „Wie weit bist du denn mit der Enzyklopädie der Zaubersprüche?“

„Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich habe es heute tatsächlich fertig geschafft!“, gab Mary stolz von sich und lächelte. „Es war eine Heidenarbeit, aber ich denke, dass es sich nun besser lesen lässt. Jetzt muss es nur noch korrigiert werden und wenn alles gut läuft, habt ihr Ende des Jahres die Neuauflage in der Hand.“

Die Gäste freuten sich. „Das ist wunderbar!“, sagte Lucy. „Ich freue mich richtig drauf!“

„Mich erstaunt, dass du das so schnell hinbekommen hast, Großmutter. Diesen fetten Wälzer da…“, sagte Harry.

Marys Blick wanderte somit weiter zu dem Sprechenden. Dieser sah sie grinsend an und packte das Handy weg, das er soeben in Händen hielt. „Dann fange ich halt mit den News an … Ich habe seit drei Tagen eine Freundin.“

Sofort lächelten alle. Das hatte auch Emily noch nicht gewusst, ihr Bruder hatte sich da recht bedeckt gehalten, wo er doch geschäftig seine Aufgaben erledigte.

Mary und Peter war die Freude förmlich anzusehen. Die Beiden beugten sich zu ihrem Urenkel hin, Peter tätschelte ihm anerkennend die Schulter – es wirkte allerdings eher belustigend und Mitleid bekundend auf Emily.

Harry verschluckte sich, ausgelöst durch die Berührung, an dem Biskuit, den er sich vom Teller mit Keksen, den Lawrence zuvor auf den Tisch gestellt hatte, genommen und in den er hineingebissen hatte. Peter schlug ihm nun also auf den Rücken, um ihn dabei zu unterstützen, die Krümel aus seiner Luftröhre zu schleudern.

„Ups“, war das Einzige, was das Oberhaupt des Magierclans von sich gab, inklusive eines Glucksens.

Mary lachte, Lucy ebenso. Emily nahm sich einen weiteren Keks und sah Harry direkt an, biss genüsslich in das Gebäck hinein und schluckte dieses ohne weitere Probleme hinunter. Harry sah seine Schwester genervt an und streckte ihr die Zunge heraus, woraufhin sie eine Grimasse zog und den nächsten Bissen nahm.

Lawrence indes kam mit einer Teekanne herein und zuerst auf Mary zu, die ihm zustimmend in die Augen sah und ihm die Tasse entgegenstreckte. Er füllte diese und Emily schnupperte, versuchte, die Teesorte auszumachen. Sicher war sie sich nicht bei ihrer Vermutung, doch sie äußerte sie trotzdem. „Ist das … Ceylon?“

„Exakt. Du bist gut“, lächelte der Butler und kam nun zu ihr, um auch ihre Tasse zu füllen.

„Langsam kann ich ein paar Sorten auseinanderhalten“, lachte sie.

Er schritt weiter zu Lucy, die ihre Tasse schon parat hatte.

„Lawrence! Du hast die neueste Entwicklung im Leben unseres zarten Buben verpasst!“, meinte Peter und tätschelte ein weiteres Mal die Schulter des benachbarten Jungen, der augenscheinlich darauf achtete, ja nicht zu atmen, während sich noch Krümel in seinem Mund befanden. Sein Blick zeugte von Entrüstung, dass man ihn als einen „zarten Buben“ bezeichnet hatte.

„Was gibt es denn, Harry?“, fragte der Bedienstete und trat nun direkt hinter besagten Jungen, um auch ihm die Tasse zu füllen, die ihm hin gereicht wurde.

Der Angesprochene schluckte. „Erstens … bin ich nicht zart. Zweitens … ein Bube bin ich auch nicht, zumindest jetzt nicht mehr, und drittens … ich hab jetzt eine Freundin.“ Er grinste.

„Wirklich? Na dann herzlichen Glückwunsch!“, meinte Lawrence erheitert, stellte die Kanne auf dem Tisch ab und klopfte Harry auf die Schulter, der sich nun nochmals verschluckte und wild zappelnd aufstand.

Dann griff der Butler wieder zur Kanne und füllte auch dem Letzten im Bunde, Peter, Tee hinein. „Danke, Lawrence“, sagte Peter und deutete dem Jüngeren, sich zu ihnen zu gesellen. Der Butler lächelte und nickte, dann stellte er die Teekanne auf einem kleinen Beistelltisch ab und kam dann zu Tisch, um sich ebenfalls auf einem Sitz niederzulassen.

Er schnitt den Kuchen in gleich große Teile und nahm zuerst Marys Teller, um diesen zu belegen.

Harry setzte sich wieder auf den Sessel.

„Wie heißt sie denn?“, fing Mary an, als der Atem ihres Urenkels sich wieder normalisiert und beruhigt hatte.

„Ihr Name ist Gwynyth.“ Emily sah, dass er nun über beide Ohren strahlte und sich der Ton seiner Haut etwas verdunkelte.

„Wie süß! Ein schöner Name“, sagte Lucy. „Ist sie …“

Harry sah seine Cousine fragend an.

„Sie müsste doch auch auf unsere Schule gehen“, fuhr sie fort und sah dabei Emily an. „In welchem Jahr ist sie?“

Harrys Blick wandte sich ab, er schnitt mit der Kuchengabel ein Stück seines Kuchens ab, den Lawrence in der Zwischenzeit an alle serviert hatte. Dabei wirkte der Junge zunehmend nervös. „Sie … Sie geht nicht auf die St. Andrews.“

Die beiden Mädchen sahen sich verdutzt an. „Nicht?“

„Dann … Geht sie auf deine Schule?“, fragte Emily.

Harry nickte. „Ja.“

„Hä, das verstehe ich nicht. Als Mädchen sollte sie doch nicht auf einer Jungenschule sein“, sagte Lucy und machte ihre Verwirrung offensichtlich Raum. „Geht das denn überhaupt?“

„Es kommt zwar nicht häufig vor, kann aber genehmigt werden, wenn die Familie der betreffenden Person es ausdrücklich wünscht“, erklärte Peter Whatts und nippte an seinem Ceylon-Tee.

„Dann muss es einen bestimmten Grund dafür geben, dass sie nicht bei uns ist“, meinte Emily.

Harry nickte und wirkte dabei etwas bedrückt.

„Ich hoffe, wir lernen sie bald kennen!“, lächelte sie aufmunternd, um jetzt das Thema abzuwenden, da sie spürte, dass ihrem Bruder dieses Thema etwas unangenehm zu werden schien. Wer sprach schon gerne über die Probleme eines Anderen, während dieser Jemand nicht anwesend war? Emily hoffte, dass das somit vom Tisch war.

„Also, in welchem Jahr ist sie? Und hast du ein Foto von ihr?“, wollte Lucy jetzt wissen.

„Sie ist im vierten Jahr, wie wir beide.“ Er lächelte wieder. „Und ein Foto habe ich, aber nicht auf dem Handy, sorry.“

„So?“, warf Mary ein und legte den Kopf schief, „Ihr Jungen seid doch so an die neumodische Technik gewöhnt, ihr druckt euch doch kaum etwas aus, warum also hast du denn kein digitales Bild?“

„Großmutter“, sagte Harry. „Unsere Beziehung ist doch noch ganz frisch. Ich hab noch kein Bild drauf, weil ich nicht will, dass alle darüber reden. Außerdem lernt ihr sie ja sowieso bald kennen.“

„Na dann“, sagte Mary und nahm einen Bissen Kuchen.

„Sie hat ein Foto von uns beiden gemacht. Mit einer Polaroid-Kamera. Die werden heute nicht mehr hergestellt. Sie hat sie auf einem Flohmarkt in Wales gekauft und sie dann mit mir eingeweiht.“

„Interessant“, kam es von Peter. „Ich mag das Mädchen schon jetzt. Sammelt sie auch andere alte Gerätschaften? Wenn ja, kannst du sie mal zu uns auf den Wohnsitz einladen, da könnt ihr in die Gerümpelkammer gehen und du zeigst ihr ein paar der alten Sachen, die wir haben.“

„Ähm … Ja, ich glaube schon, dass sie alte Sachen mag.“ Harry schien verwirrt durch dieses Angebot zu sein, er sah nun fragend drein. „Ich frag sie mal, ob sie Interesse hätte, unseren Dachboden zu durchwühlen …“ Er zuckte belustigt mit den Schultern. „Ich denke, dass ich sie euch bald vorstelle.“

„Das hoffen wir doch! Dass du uns so eine Überraschung bringst, muss ja auch gebührend gefeiert werden!“, meinte Mary hoffnungsvoll und warf ihrem Ehemann einen vielsagenden Blick zu.

„Nein, tut das bitte nicht“, sagte Harry und in seine Augen trat ein genervter Ausdruck, der Emily nur allzu bekannt vorkam. Sie grinste. Ihre Urgroßeltern hatten das seltsame Talent - und dem gingen die Beiden gerne gemeinsam nach - Begrüßungsfeste zu organisieren und diese dann missglücken zu lassen. Selbst ihre Eltern waren der Meinung und weigerten sich, Familienfeste von dem älteren Ehepaar ausführen zu lassen.

„Was denn?“, fragte Mary unbeteiligt.

„Ich seh ganz genau, dass ihr schon wieder Pläne schmiedet, Großmutter. Ich will keine Feier.“

„Wieso denn nicht?“, wollte Peter wissen.

„Weil ihr ein augenscheinlich schönes Fest immer in peinlichen Situationen ausarten lasst“, sagte Lucy und schüttelte den Kopf. „Ich habe immer noch ein Trauma von meinem achten Geburtstag…“

Emily lachte. „Dabei ist das doch schon echt lange her.“

„Jaa!“

„Emily“, sagte Mary, „Weißt du denn schon, wie du nächsten Monat deinen Geburtstag verbringen möchtest?“

„Nein, noch nicht. Ich bin mir unsicher, ob ich überhaupt etwas machen soll.“ Sie lächelte und zuckte mit den Schultern.

„Ich kann dir dabei helfen“, fuhr Mary fort, daraufhin kassierte sie von den jungen Leuten kritische Blicke.

„Bloß nicht!“, meinte Harry. „Das Thema hatten wir doch gerade eben schon, Großmutter!“

„Ich schätze euren Elan, Großmutter, aber … Ich denke, ich muss passen“, erklärte Emily entschuldigend.

„Das war doch nur ein Scherz, Kinder“, giggelte Mary. „Dennoch finde ich, dass du etwas machen solltest, immerhin wirst du nun zwanzig Jahre alt. Die lange Phase des langsamen Alterns rückt immer näher.“

Emily versteckte das Gesicht hinter ihren Händen. „Jaaa, noch sind es immer noch fast fünf Jahre, also pssst.“

„Zweihundert Jahre sind eine lange Zeit. Genieß es, noch schnell zu altern“, sagte Peter.

„Ich lass das auf mich zukommen. Ihr sagt das so leicht daher, aber für mich sind zweihundert Jahre … eine Ewigkeit.“

„Das ist auch ne lange Zeit, mein Kind. Du wirst merken, was sich alles verändert. Die Welt steht niemals still. Wir verändern uns mit ihr.“
 

Die Zeit verstrich und nachdem Mary und Peter mehrmals hoch und heilig versprochen hatten, kein Willkommensfest für Harrys Freundin zu organisieren, war auch schon die Zeit des Aufbruchs gekommen. Lawrence geleitete die Gäste zur Tür und reichte ihnen die Jacken.

„Gute Fahrt“, sagte der Schwarzhaarige. „Wir sehen uns später eventuell, ich bringe Peter zur Academy.“

„In Ordnung. Lawrence, ich hab‘ noch eine Bitte an dich“, sagte Emily, der diese Idee gekommen war, als sie sich darüber unterhalten hatten, ob Mary in ihrer neuen Auflage des Lehrbuches auch ja das Kapitel über „Unsichtbare Unsichtbarkeiten“ behandelt hatte, das bei Beleg- und Schülerschaft unbeliebt und über das immer heiß diskutiert wurde, weil es in solch umständlicher Sprache formuliert worden war, dass man jedes Mal den Faden verlor.

„Was denn?“, fragte er, als sie schon an der Türschwelle waren.

„Bläu Großmutter ein, dass Claire Mason sie als Gastdozentin haben will. Wenn du es tust, hört sie vielleicht auf dich. Claire würde sich wirklich sehr darüber freuen und auch wir Schülerinnen, alle wären sehr dankbar.“

„Ich versuche es“, grinste der Butler. „Vielleicht spricht Mrs Mason das Thema später an, wenn sie mit Peter und Minoru Masaoka konferiert.“

Die drei Magier machten sich auf den Weg zum Piccadilly Circus und gabelten dort Carrie auf, die sich darüber freute, Harry zu sehen und, wie auch schon Lucy zuvor, lauthals bemerkte, wie lang sein Haar doch geworden war. Er quittierte diese Bemerkung mit einem entnervten Blick.

Sie stiegen am Piccadilly in die Tube in Richtung Flughafen und erreichten ihr Ziel nach gut vierzig Minuten. Schon an der Bahnstation bemerkten sie den Trubel, den solch ein Ort mit sich brachte.

Bis auf Carolina kannte sich keiner der anwesenden Jungmagier am Flughafen Heathrow aus und so übernahm die Blonde die Führung.

Emily besuchte diesen Ort nur höchst selten – nur, wenn es einmal wieder an der Zeit war, Carrie abzugeben oder abzuholen, um gemeinsam in die Stadt zu fahren. Sie war noch nie geflogen, auch Lucy nicht – Harry war in den Sommerferien nach Wales gereist und nun wussten sie ja auch, wieso. Irgendwann, irgendwann einmal würde sie Carolina begleiten und auch Minoru in Japan einen Besuch abstatten.

Es war auch heute wieder ein reines Gewusel an Koffern und Personen, allesamt hektisch und betriebsam. Die Vier hielten Ausschau nach einer Anzeigetafel. „Dort drüben“, meinte Carolina und eilte voraus, der Rest folgte ihr. „Seht ihr, der Flieger ist bereits gelandet. Terminal 5, aus Tokio.“

„Wir hätten doch eher herkommen sollen“, sagte Harry, als sie dann das Tempo erhöhten und Carolina weiter folgten. „Die sind bestimmt schon an der Gepäckausgabe.“

„Ach was. Sie waren etwas früher dran als erwartet. Sie werden gerade beim Kontrollieren der Pässe sein. Du vergisst, dass Japan nicht in der EU ist.“

„Ach ja, stimmt.“

Emily fühlte sich an den vergangenen Tag erinnert. Wieder baumelte ihr der Rucksack im Rücken und wieder war sie in Eile. Doch heute war sie nicht allein unterwegs, zudem freute sie sich, den Japaner endlich wieder zu sehen und auch darauf, seine kleine Schwester kennen zu lernen.

Sie eilten durchs Terminal und erreichten einige Minuten später besagten Ankunftsort.

Da war die Wand, die die Ankommenden vom Rest der Besucher abschirmte. Durch das Glas konnte Emily schon bald den wuscheligen Rotschopf des jungen Magiers erkennen und grinste sogleich breit. „Da ist er!“

Minoru stand mit einem kleineren schwarzhaarigen, etwas nervös dreinblickenden Mädchen am Kofferband. Der Masaoka trug ein hellblaues Shirt, darüber eine Weste, um die Schultern einen Rucksack. Das Mädchen hingegen bildete einen krassen Kontrast zu dem jungen Mann. Yuki, so schlussfolgerte Emily, hatte eine rosa Schleife im Haar, trug ein auffälliges buntes Kleidchen und Jeans darunter. Die Beiden unterhielten sich, der Größere warf hin und wieder einen Blick auf die vorbeikommenden Koffer und dann zeigte das Mädchen mit dem Zeigefinger auf einen großen, dunkelblauen Koffer. Sie traten näher an das Band und hievten das Teil herunter – es schien wohl Yuki zu gehören, denn das Gepäckstück war fast so groß wie sie selbst und da das Mädchen mehr Zeit in England verbringen würden als ihr Bruder, musste sie logischerweise auch mehr Gepäck mit sich haben. Wobei sie natürlich noch nicht wussten, wie viel Minoru im Schlepptau hatte. Dies sollte sich gleich darauf herausstellen, denn dann schleifte er einen kleineren Koffer herunter. Die Beiden hinter der Scheibe schienen noch auf etwas zu warten, ungeduldig warteten sie weitere Koffer ab, bis dann ein mittelgroßer erschien, den Yuki sich schnappte.

Der Rothaarige reichte der Kleineren den Rucksack und nahm im Gegenzug auch den kleineren Koffer an sich, sodass er neben dem riesigen Gepäckstück seiner Schwester auch noch diesen zog. Das schien kein Problem für ihn zu sein, denn beide waren auf Rollen.

Minorus Blick schweifte in die Richtung der Glasscheibe und sofort grinste und winkte er. Emily, Carrie, Lucy und Harry winkten zurück. „Endlich hat er uns bemerkt!“, meinte Lucy.

Er sprach zu seiner Schwester und deutete mit dem Finger auf die vier Magier hinter der Scheibe. Auch Yuki lächelte und winkte ihnen zu.

Nur noch wenige Meter trennten sie jetzt noch voneinander. Emily stürmte los an die Glastür und schon nach einigen Sekunden waren sie Reisenden da.

„Minoru!“, trällerte sie und hüpfte vor lauter Freude auf und ab.

Minoru Masaoka rauschte vor und warf sich gleich in die Arme der Whatts. „Emily Whatts! Wie schön, dich zu sehen!“

„Ahh, es ist toll, dich wieder zu sehen, Minoru!“, sagte sie und drückte ihn noch fester, „Willkommen in London!“



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