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Mit Sand und Blut

[Prequel zu Schwarzer Komet]
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir Leid, dass dieses Kapitel mit zwei Tagen Verspätung online kommt, aber abseits vom Schreiben hat sich ziemlich viel bei mir aufgestapelt und obendrein hat dieses Kapitel hier eine Wendung genommen, die ich so vorher nicht im Kalkül hatte. Dafür haben sich daraus ein paar Sachen entwickelt, die später sehr spannend werden! :D

Das Kapitel schlängelt sich durch einige Andeutungen und widmet einem OC relativ viel Aufmerksamkeit. Obendrein gibt es in der zweiten Szene einige Erwähnungen von... härteren Angelegenheiten. Nichts für schwache Nerven?^^'

Viel Spaß beim Lesen und vielen Dank im voraus für jeden Kommentar!
LG
Yosephia Komplett anzeigen

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Die guten Freunde

Der Wind zog und zerrte an Minervas Tagelmust und trieb ihr Sand in die Augen. Unter dem Tuch, welches Mund und Nase vor dem Sand schützte, war die Luft trotz des leichten Stoffs stickig. Ihr Rücken schmerzte wegen der leicht gekrümmten Haltung, in der sie sich seit vielleicht einem Sonnenstreifen befand, und ihre Finger hatten sich um die Griffe der beiden Rebmesser verkrampft.

Aber alles, woran Minerva denken konnte, war das Wesen, auf dessen Rücken sie ritt. Unter den dünnen Sohlen ihrer Lederstiefel spürte sie die harten, zerfurchten Schuppen und darunter das Beben von Muskeln und das gewaltige Grollen im Inneren des Wesens. Manchmal bildete Minerva sich sogar ein, den Herzschlag wahrzunehmen – aber vielleicht war das auch ihr eigener aufgeregter Herzschlag.

Neben sich hörte sie Stings freudiges Lachen. Er klang aufgekratzt, beinahe manisch vor Euphorie, aber Minerva konnte es ihm nicht verdenken.

Es war für sie Beide das erste Mal, dass sie auf einem Basilisken ritten!

Das knochenharte Training mit Kettensichel und Rebmessern, das sie sich in den letzten zwei Zyklen abverlangt hatten, hatte sich endlich bezahlt gemacht. Alle anderen Altersgenossen in der Reiterausbildung waren noch nicht einmal ansatzweise so weit wie sie Beide.

Es war bedeutungslos, dass Adrim hinter ihnen stand und sie Beide im Auge behielt, während Elias mehrere Schrittlängen vor ihnen zwischen den Ohrwülsten des Drachenartigen stand und das Wesen lenkte. Die Seile, die zur Sicherheit um ihrer Beider Taillen geknotet und an Adrims Gürtel befestigt worden waren, waren nichtig. Was kümmerte es sie, dass sie nur mitritten und nicht bereits selbst den Basilisken lenkten – ja, dass sie sogar noch überwacht wurden –, sie durften endlich auf einem Basilisken reiten!

Minerva konnte sich nicht erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein. Nicht einmal ihre erste Begegnung mit einem Basiliskenschlüpfling vor zwei Zyklen konnte damit mithalten. Ihr ganzer Körper vibrierte vor Freude und als sie einen Blick mit Sting tauschte und das Leuchten in seinen Augen sah, konnte sie sich ein eigenes verwegenes Grinsen nicht verkneifen.

Ein abrupter Halt des Basilisken ließ Sting und Minerva nach vorne torkeln. Beinahe wäre Minerva gestürzt, wenn Adrim das Seil nicht straff gezogen und sie so stabilisiert hätte. Neben ihr stieß Sting einen Fluch aus, als er sein Rebmesser verlor. Es rutschte über die Schuppen und wäre beinahe nach unten in den Sand gefallen, wenn Sting nicht einen gewagten Auswahlschritt gemacht hätte, um danach zu greifen.

„Regel Nummer Eins: Niemals die Rebmesser los lassen“, sagte Minerva, woraufhin der sichtbare Teil von Stings Gesicht ihr eine Grimasse schnitt.

„Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir schon halten“, schmollte der Blondschopf und blickte nach vorn zu Elias, welcher den Blick nach Osten gerichtet hatte. „Warum reiten wir nicht weiter?“

Mit seinem scharfen Lehrerblick, der Adrims ewige Geduld und Gutmütigkeit vermissen ließ, fixierte Elias die beiden Kinder. Seine schmalen Augenbrauen hatten sich zusammen gezogen und obwohl der Tagelmust seine untere Gesichtshälfte verbarg, wusste Minerva, dass er die Lippen geschürzt hatte. Elias war sehr viel strenger als Adrim, gab ihnen weniger Hilfen, hatte weniger Verständnis dafür, dass sie als Kinder noch nicht so stark und ausdauernd wie er waren. Für Minerva war das ein Ansporn, besser zu werden. Bei Sting war sie sich nie sicher, ob er das genauso empfand oder sich einfach aus einem Urinstinkt heraus herausgefordert fühlte und deshalb noch energischer bei allen Übungen war, die Elias ihnen auftrug.

„Sagt ihr es mir.“

Stirnrunzelnd blickte Minerva nach Osten, wie Elias es vorhin getan hatte. Zuerst sah sie nichts anderes als die schier unendliche Wüste. Düne um Düne. Ein Meer aus Sand. Zumindest hatte Minerva als kleines Mädchen gehört, dass das sogenannte Meer genauso endlos wie die Wüste sein sollte – nur dass es aus Salzwasser statt aus Sand bestand – eine absurde Vorstellung!

Es dauerte einige Herzschläge, bis Minerva etwas in der Luft auffiel. Ein gewisser, schwer zu beschreibender Druck und ein fernes, fernes Grollen…

„Ein Sandsturm“, sagte Sting, bevor Minerva den Mund aufmachen konnte.

Für einen Moment war sie frustriert. Immer noch hatte Sting ihr etwas voraus, kannte das Lied der Wüste besser, hatte schärfere Sinne, ein feineres Gespür. Es sollte sie nicht verwundern, da er doch in der Wüste aufgewachsen war, während sie ihre ersten acht Sommer hinter sicheren Mauern verbracht hatte. Doch manchmal ärgerte es sie, immer noch hinterher zu hinken, immer noch unterlegen zu sein.

„Ganz richtig, Kinder“, meldete sich Adrims tiefe, gutmütige Stimme hinter ihnen zu Wort. „Und was schlagt ihr jetzt vor?“

„Wir könnten mit dem Basilisken durch den Sturm reiten!“, rief Sting mit aufgeregt leuchtenden Augen.

Zur Antwort schnaubte Adrim amüsiert, während Elias’ Miene düsterer wurde. Minerva verdrehte die Augen über den Enthusiasmus ihres Freundes und versuchte, so zu tun, als wäre seine Idee für sie ganz und gar nicht reizvoll.

„Wir könnten uns im Sand eingraben und den Sturm hier aussitzen“, ergriff sie schließlich das Wort, damit Elias aufhörte, so auszusehen, als hätte er einen Krampf. „Aber dafür müssten wir den Basilisken ziehen lassen und dann würde er uns wahrscheinlich angreifen. Besser wäre es also, zu den nächsten Felsen zu reiten und dort Unterschlupf zu suchen.“

Elias nickte minimal, mehr Beifall war von ihm einfach nicht zu erwarten. „Und wo sind die nächsten Felsen?“

„Wo sind wir denn?“, stellte Sting eine Gegenfrage und blickte sich suchend um.

„Weißt du das nicht?“

Daran, wie Sting die Augenbrauen zusammen zog, erkannte Minerva, dass er schmollte. Insgeheim pflichtete sie ihm bei, denn Elias’ Frage war wirklich gemein. Um sie herum gab es nichts als Sand, nirgendwo gab es irgendwelche Anhaltspunkte, keine Felsen, keine Oasen, gar nichts.

„Ihr hättet aufpassen müssen, in welche Richtung wir reiten“, erklärte ihr Ausbilder missbilligend.

„Sei nicht zu streng mit ihnen, Elias“, mahnte Adrim. „Es ist ihr Erster Ritt. Wir alle waren beim Ersten Ritt aufgeregt und haben auf nichts anderes als unsere Sandschlange geachtet.“

„Wenn ich mich nicht irre, hatten die Beiden aber ziemlich ehrgeizige Pläne. Da sollten sie es besser wissen, als sich von ihrer Abenteuerlust mitreißen zu lassen. Oder war das nur heiße Luft?“

Unwillkürlich schloss Minerva die Finger so fest um die Griffe ihrer Rebmesser, dass diese zu zittern begannen. Ja, sie hatten in der Zuflucht lauthals verkündet, dass sie Minervas Thron zurück erobern wollten, nachdem sie sich mit einigen der anderen Kinder geprügelt hatten. Rivalitäten unter den Kindern waren unter den Wüstennomaden nichts Ungewöhnliches und gerade Sting und Minerva forderten das durch ihre ehrgeizigen Fortschritte geradezu heraus, aber Stings lautstarke Ankündigung, dass er Minerva auf den Thron von Sabertooth helfen würde, war von vielen entweder spöttisch oder skeptisch aufgenommen worden.

Es gab immer noch nur wenige Wüstennomaden, die eine Notwendigkeit darin sahen, Jiemmas Tyrannei in Sabertooth zu beenden. Dabei hatte jeder Händler, der sich in die große Stadt schlich, nur Schauergeschichten vom Usurpator und seinem berüchtigten Blutschakal zu erzählen. Die Menschen in Sabertooth verarmten, viele von ihnen nagten am Hungertuch, die Kultur kam zum Erliegen

Doch ein Großteil der Wüstennomaden war davon nicht betroffen. Jiemmas Arm war bei weitem nicht lang genug, um sie in der Wüste zu erreichen. So wie sie schon viele Generationen vor der Ankunft der Orlands ihr eigenes Leben in der Stillen Wüste geführt hatten, so taten sie es auch heute. Das Elend der Grünländer rührte sie nicht.

Nur Minerva hielt es immer wieder in den Nächten wach. Im Geiste wanderte sie jede Nacht durch ein anderes der bunten Viertel ihrer Heimatstadt und fragte sich, wie es jetzt dort aussah, versuchte sich an die Namen der Ältesten zu erinnern, die ihren Onkel und sie immer respektvoll begrüßt hatten, dachte an die Wege, denen sie damals gefolgt war…

„Das war keine heiße Luft“, knurrte Sting bedrohlich. Seine sonst noch auf und ab schwankende Stimme klang auf einmal richtig tief und gefährlich, wie ein Raubtier.

„Dann lernt schneller als die Anderen“, erwiderte Elias unbeeindruckt und drehte sich wieder herum, um sein rechtes Rebmesser leicht zu drehen.

Als der Basilisk unter ihnen ein lautes Zischen ausstieß, war das die einzige Warnung für die Kinder, ehe sich der Drachenartige wieder in Bewegung setzte. Träge schlängelte er sich durch den Sand, doch innerhalb weniger Herzschläge beschleunigte er. Die mächtigen Muskeln unter Minerva zuckten, ließen von Zeit zu Zeit ein widerspenstiges Beben durch den gesamten Körper gehen, wenn er gegen die Kontrolle des Reiters ankämpfte. Doch Elias hielt geschickt dagegen und lenkte das Wesen in die neue Richtung. Minerva war sich sicher, dass er schon längst wusste, wo der nächste geeignete Unterschlupf war.

Sie wollte ihrem Lehrer weiter grollen, weil er so abfällig über ihre Ziele gesprochen hatte, aber als sie sich voll und ganz darauf konzentrieren musste, den Griff an ihren Rebmessern nicht zu verlieren und auf den Beinen zu bleiben, gerieten seine harschen Worte in Vergessenheit. Was zählten die schon? Davon hatte Minerva schon mehr als genug gehört, ohne dass es etwas für sie geändert hatte!

Ein Stoß an ihrem Fuß ließ sie zu Sting blicken. Obwohl er wegen des aufgewirbelten Sandes die Augen zu Schlitzen verengt hatte und das Halstuch bis über die Nase hochgezogen worden war, erkannte sie, dass er herausfordernd grinste. Dann nickte er nach unten und als sie seinem Hinweis folgte, ließ er für einen winzigen Moment sein linkes Rebmesser los, ehe er wieder zugriff. Dasselbe machte er mit der rechten Hand, dann wieder mit der linken, dann stieß er Minerva wieder mit seinem Fuß an und grinste noch viel breiter.

Bevor Minerva sich davon anstacheln lassen konnte, spürten sie Beide einen ermahnenden Zug an ihren Taillen und sie blickten über ihre Schultern zu Adrim zurück, der wenig überzeugend den Kopf schüttelte. Dennoch entschied Minerva sich dafür, sich nicht von Sting provozieren zu lassen. Schon allein, weil ihn das immer so schön ärgerte.

Doch als er sie schon wieder mit dem Fuß anstieß, ließ sie es sich nicht nehmen, zumindest einmal kräftig darauf zu steigen.
 

Der Sturm war wie ein tollwütiges Tier. Mordlüstern fiel er über seine Opfer her, drückte sie mal erbarmungslos zu Boden, ohne ihnen auch nur die Chance für eine Bewegung zu geben, und schleuderte sie im nächsten Moment willkürlich hin und her. Es gab keine Regeln, nichts Vorhersehbares. Die unzähligen Luftströmungen innerhalb des Sturms wechselten unablässig die Richtung, peitschten den Sand mit solcher Gewalt herum, dass jedes Stückchen ungeschützter Haut wund gescheuert wurde.

In alter Zeit war es eines der grausamsten Todesurteile gewesen, vor einem herannahenden Sturm ohne irgendwelche Hilfsmittel in der offenen Wüste ausgesetzt zu werden. Die schlimmsten Verbrechen waren mit dieser Strafe belegt worden.

Doch gleichzeitig hatte es auch die sogenannten Sturmprüfungen gegeben. Für einige Generationen hatte es in der Erblinie der Orlands zur Ausbildung der Thronfolger gehört, den Anwärter mit minimaler Ausrüstung in der Wüste auszusetzen, damit er seine Stärke und Besonnenheit im Angesicht der Todesgefahr unter Beweis stellen konnte.

Der Junge namens Raios hatte viel darüber gelesen, seit er nach dem Ableben seines alten Lehrmeisters vor sechs Monden seine Unterrichtseinheiten alleine in der Palastbibliothek abhalten musste. Er hatte die Erfahrungsberichte von Überlebenden gelesen, die Beobachtungsprotokolle von Naturforschern, die Gerichtsurteile über Mörder und Vergewaltiger…

Doch er wäre nie auf die Idee gekommen, diese Erfahrung eines Tages selbst zu machen. Im Nachhinein kam es ihm töricht vor. Er hätte vom Blutschakal nur das Schlimmste erwarten sollen. Natürlich musste der Mann auch ohne das Wissen um die alten Begebenheiten darauf kommen, seinen Sohn zu prüfen, indem er ihn in der Wüste aussetzte, ausgerüstet nur mit einem schweren Wasserschlauch, Proviant für drei Tage, einem Dolch und einer Lederplane. Einen ganzen Tag lang war er mit dem Jungen auf einem Sandschlitten in den Süden gefahren, dann hatte er ihn vom Brett gestoßen und zu ihm gesagt, er solle alleine nach Hause finden, ehe er wieder davon gefahren war, sich des drohenden Sturms im Osten nur zu deutlich bewusst.

Und der Junge war im Sand sitzen geblieben und sich gefragt, ob er wirklich nach Norden zurück gehen sollte. Nach Sabertooth, wo weitere unmenschliche Prüfungen und Elend ihn erwarteten. Zurück in die Stadt, die gar nicht sein Zuhause war und in der die Bewohner tagtäglich unter der brutalen Regierung des Fürstregenten litten, wie er sich selbst immer noch nannte.

Also hatte er gewartet. Auf eine Eingebung, ein Zeichen, irgendein Gefühl, das ihm eine Richtung vorgab. Und er hatte gewartet. Und gewartet…

Bis der Sturm ihn erreicht und alles verschlungen hatte. Der Unterschied zwischen Himmel und Erde war verschwunden. Es gab weder Norden noch Süden, weder Osten noch Westen. Sabertooth war ausgelöscht, die ganze Welt war ausgelöscht. Kein Fürstregent, kein Blutschakal. Keine Demütigungen, keine Prüfungen, keine Schmerzen.

Für den Jungen namens Raios war die Todesgefahr des Sturms wie eine Erlösung gewesen.

In all den Zyklen voller gnadenloser Prüfungen hatte er sich insgeheim nach einem Ausweg gesehnt und hier hatte er ihn sich aufgetan. Denn was sollte der Blutschakal schon tun, wenn sein Sohn hier draußen starb? Dieses Versagen konnte er nicht mit Schlägen bestrafen.

Dann musste er sich einen neuen Welpen heran ziehen. Musste mit der Ausbildung von vorne anfangen. Musste ein anderes Kind verprügeln, mit Hunger und Durst und Freiheitsentzug quälen. Musste es in Brunnen werfen und nach oben klettern lassen. Musste ihm einen Dolch in die Hand drücken und auf das Pferd des Kindes deuten. Musste einen neuen Meister der Bücher finden, den er vor den Augen des Kindes ausweiden konnte…

Der Junge namens Raios nahm einen tiefen, sandigen Atemzug unter dem Tagelmust, den er sich über Mund und Nase gezogen hatte, und überprüfte den Sitz der Plane, die seinen Oberkörper vor den Gewalten des Sturms schützte. Seine Beine hatte er so tief wie möglich neben einem winzigen Felsen in den Sand gegraben. Der langsam abkühlende Stein drückte unangenehm an seine Seite. Von Zeit zu Zeit fielen kleine Bröckchen vom Stein ab und auf Rücken und Kopf des Jungen, als wollten sie ihn ermahnen, sich nicht der Müdigkeit hinzugeben, die ihn bereits seit so vielen Zyklen quälte.

Seine Finger hatten sich um die Zipfel der Plane verkrampft, sein Kopf reagierte auf das Jaulen des Sturms mit einem unablässigen Pochen und seine Kehle fühlte sich an, als sei sie mit Sand gefüllt. Der Gedanke an den Wasserschlauch, den er unter sich im Sand eingegraben hatte, war so furchtbar verlockend.

Doch er blieb still liegen und ertrug. Die Taubheit in seinen Beinen. Den Druck des sich anhäufenden Sandes auf seinem Rücken. Das Brennen seiner Augen, die nicht schlafen durften.

Noch ein wenig, sagte er sich immer wieder. Nur noch ein wenig. In den Aufzeichnungen, die er gelesen hatte, waren sich alle Autoren einig gewesen: Jeder Sturm hatte irgendwann ein Ende.

Und hinter ihm blieb eine neue alte Wüste zurück. Ein Land für neue Spuren und Wege, für neue Hoffnungen und Ideen. Ein Land zum Weitermachen. Oder zum Neuanfangen. Und derjenige, der den Sturm überlebte, war ein stärkerer Mensch.

Denn wer einen Sturm überleben konnte, konnte alles überleben.

Vielleicht konnte so ein Mensch auch den Blutschakal überleben.
 

Als Minerva erwachte, war das Heulen des Sandsturms immer noch ohrenbetäubend laut, aber das war es nicht, was sie geweckt hatte. Sie hatte schon in der Zuflucht Sandstürme erlebt und auch wenn sie in der Kinderhöhle nicht einmal annähernd so laut zu hören waren, war dafür die allgemeine Geräuschkulisse von Menschen, die normalerweise nur zum Schlafen in ihren Höhlen waren, laut genug. Daran hatte Minerva sich bereits einige Monde nach ihrer Ankunft in der Zuflucht gewöhnt – selbst an die befremdlichen Grunzlaute von Loirg und Zarah.

Es war ein Fuß, der versehentlich gegen ihr Schienbein stieß, der sie geweckt. Stings Fuß, um genau zu sein. Unwillig knurrend öffnete sie die Augen, auch wenn das kaum einen Unterschied machte. Adrim und Elias hatten es nicht für nötig befunden, ein Feuer zu entfachen. Bei der Enge der Höhle, die sie in einer kleinen Felsinsel gefunden hatten, wäre ein Feuer nur störend und keiner von ihnen brauchte das Licht oder die Wärme. Oder zumindest Minerva und die beiden Erwachsenen nicht.

„Was tust du?“, brummte Minerva.

„Ich muss mal“, flüsterte Sting ungeniert.

„Nicht hier.“

„Hatte ich doch auch gar nicht vor“, schmollte der Junge sofort beleidigt. „Ich habe den Ausgang gesucht.“

Augen rollend richtete Minerva sich auf. „Du blinde Echse.“

Zur Antwort schnaufte Sting, erhob jedoch keinen Protest. Es war allgemein bekannt, dass er im Dunkeln große Schwierigkeiten hatte, auch nur etwas zu erahnen. Während alle anderen Wüstennomaden schnell lernten, normal in unbeleuchteten Höhlen zu laufen – zumal in ihnen bekannten –, musste er sich dort immer an den Wänden entlang tasten. Vielleicht hing das mit seiner Vorliebe für Sonnenlicht zusammen. Zumindest kannte Minerva niemand anderen, der selbst in der grellen Mittagssonne so gut sehen konnte wie Sting.

Ihres Spotts zum Trotz nahm sie ihren Freund bei der Hand und führte ihn durch die kleine Höhle und einen niedrigen Gang entlang. Als sie vor sich Stimmen hörte, hielt sie jedoch inne. Es waren Adrim und Elias, die sich eine eigene Höhle gesucht hatten, um unter sich zu sein. Allerdings klang es gerade nicht so, als würden sie sich miteinander vergnügen – normalerweise der Hauptgrund, warum sie die ihnen anvertrauten Kinder auch mal etwas abseits abluden.

„Du solltest nicht zu streng mit ihnen sein, Elias. Sie machen bemerkenswerte Fortschritte. Wir Beide waren nicht so weit in ihrem Alter.“

„Wir Beide haben uns auch nicht so hohe Ziele gesetzt.“

Die Stimme des jüngeren Reiters klang angespannt und war stärker gedämpft, als befürchtete er, dass sie trotz des Sturms bis zur Höhle der Kinder zu hören sein könnte.

„Machst du dir etwa Sorgen um die Kleinen?“, schmunzelte Adrim und der folgende Protestlaut ließ Minerva erahnen, dass Adrim seinen Partner an sich gezogen hatte. „Wurde ja auch mal Zeit, dass du zugibst, dass sie dir ans Herz gewachsen sind.“

„Es sind lästige Springmäuse“, protestierte Elias. „Haben lauter Flöhe im Kopf und mehr Temperament, als ihnen in ihrem Alter gut tut.“

„Wie Seral und deine Schwester.“

Dieser Feststellung folgte langes Schweigen, durchbrochen nur vom unablässigen Heulen des Sturms. Minerva fragte sich, was Elias’ Schwester mit Stings Mutter zu tun gehabt hatte. Waren sie Freundinnen gewesen? Das Alter würde zumindest stimmen. Viel wussten Sting und Minerva nicht über die viel bewunderte Reiterin, die ihn zur Welt gebracht hatte. Für Wüstennomaden genügte es, zu sagen, dass Seral ihren Beitrag für das Überleben des Volkes geleistet hatte. Sie schwelgten nicht in Erinnerungen an Tote. Deshalb waren ihnen auch die Namen im Geschichtsunterricht nicht wichtig. Es ging immer nur um das Große Ganze, nicht um die einzelnen Personen.

Schließlich seufzte Elias ergeben. „Die Beiden haben mich immer genervt.“

„Ja, du hast dich lieber an Athenaeos gehalten und ihn bewundert“, gluckste Adrim.

Zuerst schnaubte Elias widerwillig, aber die folgenden Laute ließen darauf schließen, dass er sich dann doch von seinem Partner milde stimmen ließ. Als Elias ein leises, erregtes Keuchen ausstieß, nahm Minerva das zum Anlass, um mit Sting kehrt zu machen und einen anderen Weg zu einer Stelle zu suchen, an der er seinem Drang nachkommen konnte.

Es war nicht so überraschend, dass Adrim und Elias ihren Onkel kannten. Er hatte viele Zyklen bei den Wüstennomaden verbracht, hatte ihre Lebensweise kennen gelernt und verinnerlicht, war zum Reiter ausgebildet worden. Natürlich hatte er dabei auch Kontakte zu den Bewohnern der Zuflucht geknüpft. Höchst wahrscheinlich kannte beinahe jeder Wüstennomade ihn, aber der Einzige, der bisher mit Minerva über ihn gesprochen hatte, war der Wüstenweise gewesen. So unvermittelt ihre Ausbilder über ihn reden zu hören, hatte Minerva kalt erwischt.

Als sie einen Ausgang fanden, ließ Minerva Stings Hand los, damit er nach draußen gehen und sich erleichtern konnte. Er beeilte sich damit und wusch sich die Finger mit ein paar Schlucken Wasser aus der Feldflasche, die er am Gürtel trug. Schließlich kehrte er zu Minerva zurück und ergriff mit einem Grinsen ihre Hand, um sie kräftig zu drücken.

„Was ist?“, fragte sie irritiert.

„Na ja, nach dem, was Adrim und Elias eben gesagt haben, könnte es doch sein, dass dein Onkel und meine Mutter Freunde gewesen sind“, erklärte Sting fröhlich.

„Was spielt das für eine Rolle? Sie sind Beide tot“, erwiderte Minerva stirnrunzelnd, auch wenn sie dabei einen schmerzhaften Stich verspürte.

„Na und? Deshalb müssen wir doch nicht so tun, als hätte es sie nie gegeben.“

Verdutzt sah Minerva ihren Freund an. Es gab Momente, in denen Sting unglaublich tiefsinnige Sachen von sich gab und dabei dennoch so schlicht und herzerwärmend grinste, als wäre es vollkommen selbstverständlich. Woher nahm Sting bloß solche Einsichten? Wieso hatte er sich von Anfang an um Minerva bemüht, eine Fremde, die sich lange Zeit überhaupt keine Mühe gegeben hatte, sich in die Gemeinschaft der Wüstennomaden einzugliedern, und gerade zu ihm sehr unfreundlich gewesen war?

Es war Minerva vollkommen unverständlich.

Bevor sie etwas dazu sagen konnte, erklang von draußen ein Geräusch. Zuerst glaubte Minerva, es sich beim Heulen des Sturms nur eingebildet zu haben, aber dann erklang es wieder.

„Da draußen ist jemand“, flüsterte sie Sting zu.

Der Junge nickte aufgeregt und wollte sich zum Ausgang umdrehen, aber Minerva hielt ihn fest. „Bleib’ hier, du Dattelkopf! Wir wissen doch gar nicht, wer das ist.“

Zur Antwort erhielt sie ein herausforderndes Grinsen. „Hast du etwa Angst?“

Angriffslustig knurrte sie zurück. Sie hatte keine Angst, nur weil sie nicht blindlings in jede potenzielle Gefahr rannte. Mit ziemlicher Sicherheit musste das da draußen ein Wüstennomade sein – wer sonst sollte sich so tief in die Stille Wüste hinein wagen? –, aber etwas Vorsicht konnte doch nicht schaden.

Dennoch folgte Minerva dem Blondschopf, als er neben den Ausgang trat und, eine Hand schützend auf Mund und Nase gedrückt, mit zusammen gekniffenen Augen nach draußen starrte, wo das abgehackte Husten nun deutlicher zu hören war.

Unwillkürlich tastete Minerva nach dem Übungssäbel, der an ihrem Gürtel hing. Die Waffe mochte aus Sicherheitsgründen stumpf sein, aber mit genug Kraft konnte sie damit auch einem Erwachsenen Schmerzen zufügen.

Das Husten kam näher. Wer auch immer da draußen unterwegs war, hatte entweder unverschämt viel Glück oder er kannte diese winzige Felsenansammlung hier gut genug, um zu wissen, wie er in die Höhle gelangte. Aber hatte Adrim ihnen nicht bei ihrer Ankunft hier erklärt, dass die Reiter solche kleinen Felsen eher ungern als Unterschlupf einrichteten? Immerhin war man hier selbst in den Höhlen nicht voll und ganz vor dem Sturm sicher und Elias hatte sogar die Sorge geäußert, dass die Felsen unter der Wucht eines besonders starken Sturms marode würden und irgendwann einbrechen könnten…

Der umherwirbelnde Sand machte es den beiden Kindern schwer, irgendetwas zu erkennen. Als endlich die Konturen einer Person auftauchten, wurde Minerva klar, was für einen verhängnisvollen Fehler sie gemacht hatten. Sie hätten Adrim und Elias einfach aufschrecken sollen!

Doch als die Person in die Höhle hinein stolperte und hustend zu Boden fiel, verpuffte die drohende Gefahr sofort wieder. Denn dort zu ihren Füßen kauerte ein winziges Mädchen – jünger als sie Beide, abgemagert, mit zerlumpten Kleidern, nackten Füßen und dreckigen, weißen Haaren. Es zitterte vor Erschöpfung und kauerte sich schützend über drei Wasserknollen zusammen.

Minerva tauschte einen Blick mit Sting, um sich vollkommen sicher zu sein, dass sie sich nicht irrte. Aber nein, dieses Mädchen gehörte definitiv nicht zu den Wüstennomaden!

Als ihm klar wurde, dass es nicht alleine war, sprang das Kind überraschend schnell auf die Beine und wich vor den beiden Älteren zurück, die Knollen wie einen überlebenswichtigen Schatz an sich gedrückt – und wahrscheinlich waren sie das auch, wenn Minerva sich die ausgetrockneten Lippen des Mädchens so ansah.

Große, braune Augen zuckten zwischen Minerva und Sting hin und her, erfüllt von Misstrauen und einem beinahe animalischen Überlebenswillen. Mit völliger Sicherheit tasteten sich die nackten Füße über die grobkantigen Felsen und nicht einen Herzschlag lang wandte das Mädchen ihnen den Rücken zu.

„Wir tun dir nichts“, sagte Sting und streckte demonstrativ seine Hände aus. „Wer bist du? Was machst du hier?“

Ganz kurz blickte das Mädchen über seine Schulter ins Innere der Höhle, dann betrachtete es die Knollen in seinen Händen. Zu spät wurde Minerva klar, was es vor hatte.

„Sting, duck’ dich!“

Die Warnung kam zu spät. Eine der Knollen traf Sting voll am Kopf und die wenigen Herzschläge, die Minerva darauf verwendete, zu ihrem Freund zu blicken, nutzte das Mädchen aus, um die Flucht zu ergreifen. Schneller als das bei den Sicht- und Raumverhältnissen möglich sein sollte, war das Kind aus Minervas Blickfeld verschwunden, ohne auch nur einen Laut zu verursachen.

Wäre die Knolle nicht, welche Sting nun jammernd verfluchte, könnte Minerva nicht beschwören, sich das alles nicht nur eingebildet zu haben.



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